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2.   Der archaische Mensch 

Mumford-1956     §2     §3     §4  

 

  § 1 

30-45

Auf unserem Weg in die Vergangenheit des Menschen sind wir bei einer Binsenwahrheit angelangt, die so lange in Vergessenheit geraten war, daß sie uns paradox erscheint: menschlich zu werden, war das erste Verlangen des Menschen und bleibt vielleicht sein tiefstes.

Die Natur liefert den Stoff für diesen Verwandlungs­prozeß, doch der Mensch selbst muß ihn vorwärtstreiben durch ständiges Bemühen um Selbsterkenntnis, Selbstbestätigung, Selbstbeherrschung und Selbstentfaltung, und wenn auch vieles in diesem Entwicklungsvorgang unbewußte Routine und die Auswirkung ererbter Kulturformen sein mag, das Endergebnis ist in erster Linie der Erfolg willentlicher Anstrengung. Indem er menschlich wird, tauscht der Mensch das stabile natürliche Selbst, das jeder biologischen Spezies angeboren ist, ein gegen eine zahllose Vielheit möglicher Formen des Selbst, die nach einem von ihm selbst mitentworfenen Plan ihre eigenen Wege gehen.

Doch das »Menschliche« ist bis jetzt noch nicht zu einem allgemein gültigen Maßstab geworden. Das Bild, das der Mensch in einer Kultur von sich prägt, gilt in anderen Kulturen noch nicht, oder nur unter schwerem Diskontverlust, als gesetzliches menschliches Zahlungsmittel. Möglicherweise wurde der Übergang von der tierischen Natur zur menschlichen Kultur an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten von Arten mit unterschiedlichen, wenn auch aus einer Linie stammenden, anthropoiden Vorfahren vollzogen.

So wenig zahlreich waren diese Hominiden im Anfang - und, durch Meere, Wüsten und Gebirge getrennt, so weit voneinander entfernt -, daß im Verlauf ihrer langen Entwicklung fünf oder sechs voneinander unabhängige kontinentale Hauptgruppen entstanden, die sichtbare physiologische Unterschiede aufwiesen, wie verschiedene Hautfarben, variierend zwischen Schwarz, Braun, Rot, Gelb und Weiß, und auch andere unterschiedliche Eigenschaften, wie besondere Bluttypen, Immunität gegen bestimmte Krankheiten und zahlreiche kleinere Abweichungen in ihrer Anatomie. Doch auf Grund zweier Merkmale, eines biologischen und eines sozialen, erklären sich alle Menschen als zu einer einzigen Spezies zugehörig: sie paaren sich und bringen fruchtbare Nachkommen hervor, und sie verständigen sich durch die Sprache.

Diese trennenden Eigenschaften, die geprägt waren durch Klima, Vegetation, Nahrung und Beschäftigung, bildeten die Grundlage für weitere kulturelle Differenzierungen. Jede Gruppe neigte dazu, ihre eigene Art mit ihren Besonderheiten in Verhalten und Sprache für die wahrhaft menschliche zu halten, wenn sie auf Angehörige einer anderen Rasse stieß; und so war für jede isolierte Gemeinschaft die eigene Kultur in gewissem Sinne originaler und zentraler als die anderen. Dies hatte seinen Grund darin, daß der Mensch Sinn und Wert seines Lebens mit dem Schicksal einer kleinen Gruppe assoziierte. »Menschheit« als eine offene Gemeinschaft, die alle Gruppen umfaßt, existierte wahrscheinlich nicht einmal als Begriff, bevor die kulturell heterogenen Großreiche entstanden; der Stoizismus war ihr erster bedeutender philosophischer Ausdruck, und heute ist sie noch immer nur eine Idee, wenn diese Idee sich auch dem Zeitpunkt ihrer Verwirklichung nähert.

Während des größeren Teils der Geschichte gewordenen Entwicklungszeit des Menschen und bestimmt während seiner ganzen Vorgeschichte hatten die differenzierenden und isolierenden Elemente das Übergewicht über alle Tendenzen zur Einheit. Nicht daß es an Gelegenheiten zur Berührung und Vermischung fehlte, denn Wanderungen, Heiraten außerhalb der Gemeinschaft, Handel mit bestimmten Waren und schließlich Reisen und militärische Eroberungen hatten ein gewisses Maß von kulturellem Austausch und kultureller Assimilation zur Folge, doch im wesentlichen verliefen die spezifischen Prozesse der menschlichen Höherentwicklung für lange Zeit lokalisiert und isoliert. Um so höher sind ihre Ergebnisse zu schätzen, denn sie waren Leistungen kleinster, an Zahl und Möglichkeiten begrenzter Gemeinschaften.

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In dieser Hinsicht zeigten die ersten menschlichen Gruppen das gleiche »territoriale Verhalten«, das die Biologen vor kurzem bei vielen anderen Spezies entdeckt haben, nämlich die mit der Paarung und der Aufzucht der Nachkommen assoziierte Tendenz, einen begrenzten Lebensraum, eine »Heimat« zu schaffen, die gegen das Eindringen von Außenseitern, besonders von Außenseitern der eigenen Art verteidigt wird. Innerhalb des in Besitz genommenen Bezirks entwickelt sich ein lokal bedingter Lebensstil, geprägt durch Nahrungs­vorkommen, Landschaft und Klima und in seiner Besonderheit noch betont durch Dialekte, die dem Bewohner des nächsten Tales so unverständlich waren wie die Sprache einer anderen Rasse. 

Viele Gruppen, die sich in ihrer so entwickelten Lebensform gesichert fühlten, haben sich wahrscheinlich mit dieser Leistung zufrieden gegeben, und es mag ihnen wichtiger erschienen sein, den einmal erreichten Zustand zu erhalten, als ihn weiter zu verbessern. Es gibt Gegenden im Süden der Vereinigten Staaten, wo — wie man sarkastisch zu sagen pflegte — »weiß zu sein«, eine Lebensbeschäftigung darstellte. So gab es auch gewiß in der Vergangenheit des Menschen lange Perioden, in denen »menschlich zu sein« genügte, die Lebensenergie einer Gruppe zu erschöpfen.

In Landschaften, die genug Früchte und Nüsse hervorbrachten, mag diese frühe Periode der Mensch­werdung eine Zeit des Überflusses und Müßiggangs gewesen sein. Hesiod hat dieses Goldene Zeitalter, in dem »die Menschen fröhlich und unbeschattet vom Leid schmausten« und »starben, als ob sie in Schlaf versänken, und alle guten Dinge im Überfluß besaßen«, in seinem Buch Werke und Tage geschildert. 

Die wehmütige Vorstellung von einer Zeit, da der Fluch der organisierten Arbeit und des systematischen Massenmordens noch nicht über den Menschen gekommen war, ist vielleicht doch weniger eine in die Vergangen­heit zurückprojizierte Wunschillusion, als die Gelehrten einst glaubten. Die Unbilden der Eiszeiten, die den Menschen im Frühstadium seiner Entwicklung periodisch heimsuchten, haben seine Fähigkeiten in der Kunst des Überlebens zweifellos in hohem Maße gefördert, doch die Zwischeneiszeiten mögen relativ idyllische Perioden der Muße und des Überflusses gewesen sein, und die Sage von dem Goldenen Zeitalter ist vielleicht die lebenswahre Überlieferung von einer kurzen Zeitspanne tropischer Fruchtbarkeit.

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Von Anfang an hatte das Leben des Menschen zwei Aspekte, den prometheischen und den orphischen, den technischen und den künstlerischen, den konstruktiven und den expressiven. Unter dem ersteren war es in der Hauptsache ein Kampf mit seiner Umgebung, unter letzterem naiver Ausdruck und ungetrübter Genuß seiner eigenen Natur. Das alternierende Hervortreten dieser beiden Aspekte entspricht vielleicht bis zu einem gewissen Grad dem Rhythmus des Wechsels zwischen einer feindlichen Umgebung, die den Einsatz aller Kräfte als Preis des Überlebens forderte, und einer friedlichen Existenz, die spielerische Experimente erlaubte und sie mit weiterer Selbstentfaltung belohnte.

   

  § 2 

 

Es kam die Zeit, wahrscheinlich nach der jüngeren Altsteinzeit und fast sicher vor dem Neolithikum, da der Übergang vom Tier zum Menschen nicht nur einen Punkt erreicht hatte, wo es keine Umkehr mehr gab, sondern auch alle wichtigen, zur Weiter­entwicklung des Menschen notwendigen Erfindungen, die der Sprache, der Ausdruckskünste, der Moral, des Gebrauches des Feuers und geschärfter Werkzeuge, gemacht waren und eine Erbmasse an Wissen vorhanden war, die genügte, um nicht nur das physische Überleben, sondern auch die Kontinuität der Gemeinschaft zu sichern. 

Der Mensch hatte sich in ein Geschöpf verwandelt, das nicht nur um die Erhaltung seiner Art besorgt war, sondern auch um die Entfaltung des Guten, des Wahren, des Schönen und des Nützlichen als Hauptinstrumente seiner eigenen Verwandlung und als künftige Nebenprodukte dieser Verwandlung.

Was unberechenbar, dumpf, wild, irrational und rückschrittlich an ihm war, hatte der Mensch nie ganz abgestreift, doch es hörte auf, eine Bedrohung für ihn zu sein; er hatte den Weg gefunden, sich nach seinen Vorstellungen zu verändern. Wenn wir dieses Geschöpf den »primitiven Menschen« nennen, dann ist das Adjektivum weniger bedeutsam als das Substantivum; denn wenn dieser Mensch auch noch viel zu lernen hatte, so war doch etwas unendlich Kostbares sein fester Besitz geworden, nämlich die Methode, die das Lernen möglich machte und ihn darüber hinaus befähigte, das Erlernte zu behalten und an seine Nachkommen weiterzugeben. Schon vor der großen neolithischen Revolution wohnte der Mensch, wie Carl Sauer und andere glaubwürdig nachgewiesen haben, in festen Siedlungen, ernährte sich von angebauten Knollenpflanzen und dem Fleisch von Schalentieren und hatte bereits einige der Gemeinschaftsformen und -bräuche entwickelt, die zu einem solchen Leben gehören.

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Der Mensch kann nicht umhin, überall, wo er hinkommt, seine Eindrücke zu hinterlassen; doch im Anfang scheint sich seine umgestaltende Kraft mehr an ihm selbst als an seiner Umgebung ausgewirkt zu haben. Dies änderte sich, als er den bedeutsamen Übergang zur Ackerwirtschaft vollzogen hatte, zum systematischen Anbau ausgewählter Pflanzen auf urbar gemachten Feldern. Mit dem Ackerbau kam die Viehzucht, und sie beide brachten eine weitere Veränderung in der Kultur des Menschen mit sich; denn die Veredelung von Pflanzen und die Aufzucht von Haustieren sind Betätigungen, die Sorgfalt und Überlegung fordern, Eigenschaften von betont weiblichem Charakter. Daher spielte die Vertrautheit der Frau mit den natürlichen Vorgängen des Wachstums und der Vermehrung und ihre stärkere Veranlagung zu Zärtlichkeit und pflegender Fürsorge eine dominierende Rolle in diesen neu erschlossenen Bereichen.

Solange der Mensch als Sammler vornehmlich ein Nomadenleben führte, war die Stellung der Frau notwendigerweise eine untergeordnete. Der Jagdeifer des Mannes zwang die Gruppengemeinschaft zu einem Leben, das fast ebenso rauh und unstet war wie das der großen Büffelherden, die ihr die Nahrung lieferten. Indem sie auf Großwild, z.B. das behaarte Mammut, Jagd machten, entwickelten die steinzeitlichen Jäger differenziertere Gewohnheiten organisierter Zusammenarbeit und größeren physischen Mut, als die alten primitiven Methoden der Nahrungssammler erforderten, und zweifellos auch jene, seither hoch im Kurs stehenden, spezifisch männlichen Tugenden der Fähigkeit zum Blutvergießen und zu Gewalttaten. 

Auch nach der letzten Eiszeit scheint dieser aus der Notwendigkeit geborene Hang zur Brutalität sich in der Gemeinschaft erhalten zu haben und vom Jäger auf den Hirten übergegangen zu sein, dessen kaltblütiges Schlachten sich allerdings unvorteilhaft unterscheidet von dem mehr abenteuerlichen und gefahrvollen Töten des Jägers.

Doch vor etwa achttausend oder zehntausend Jahren vollzog sich eine weitere entscheidende technische und gesellschaftliche Revolution. Wie die meisten Wandlungen des Menschen hat sie ihre Wurzeln wahrscheinlich in einer früheren Periode. Die Paläontologen nennen dieses Zeitalter, in alter Gewohnheit die Wichtigkeit dauerhafter und greifbarer Relikte überschätzend, die neolithische Periode, die jüngere Steinzeit.

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Doch obwohl der Übergang von den geschalteten und gehauenen Werkzeugen und Waffen zu dem geschliffenen und verfeinerten Gerät der neuen Epoche einen beachtlichen Fortschritt an handwerklicher Fertigkeit darstellt, war der wesentliche Wandel in mehrfacher und überwiegender Hinsicht unabhängig von diesen technischen Verbesserungen, er beruhte auf tieferer Einsicht in den Lebensprozeß, die ihren Ausdruck fand in der Auswahl und Kultivierung von Pflanzen, besonders der Hülsenfrüchte und der harten Körnerfrüchte, wie Hirse, Weizen, Gerste und Reis.

Die Kultivierung der Pflanzen war weitgehend das Werk der Frau; statt Leben zu vernichten wie der Jäger, nährte sie es in der Erde, so wie sie es in ihrem eigenen Leib nährte. Durch den Anbau von Getreide wurde der Nahrungsbedarf des Menschen zum erstenmal von Jahr zu Jahr gesichert und war in höherem Maße abhängig von seiner eigenen Leistung als von Glück und Zauber. Es entstand das, was wir Heim und Herd nennen, eine ständige Wohnstatt und eine feste Feuerstätte, und es bildeten sich konstante Lebens­gewohnheiten, die sich auch für die Aufzucht der Kinder günstig auswirkten. 

Obwohl die spätere Domestikation von Tieren und die damit verbundene Suche nach grünen Weideplätzen wieder zu beschränktem Nomadentum führten, so war der Mensch durch die Kultivierung der Pflanzen im Prinzip seßhaft geworden. Das menschliche Leben erlangte eine Kontinuität in Raum und Zeit, die ihm bisher gefehlt hatte. Eine in fester Dorfgemeinschaft lebende Gruppe von Familien sicherte sich durch organisierte Zusammenarbeit nicht nur ihre Ernährung, sondern schuf sich auch bessere Möglichkeiten zur Fortpflanzung und zur sorgfältigeren Aufzucht der Kinder.

Möglicherweise hatte die Seßhaftwerdung des Menschen Nebenwirkungen, die für die Entwicklung des Menschen ebenso wichtig waren wie ihre unmittelbaren und sichtbaren Folgen. Wandte die Frau ihre bei der Pflanzenzucht, die ja eine bewußte Steuerung von Lebensvorgängen darstellt, erworbenen Erfahrungen in der Auslese auch auf die eigene Art an? Hier auch nur Vermutungen zu wagen, hieße, sich wieder in das Reich der Mythen begeben. Doch die moderne Physiologie hat nachgewiesen, daß verbesserte Ernährung die Entwicklung zur Geschlechtsreife beschleunigen und die Fruchtbarkeit fördern kann, und so mag die quantitative und qualitative Bereicherung der Nahrung in der frühen Steinzeit als doppelter Anreiz zur Vermehrung der Bevölkerung gewirkt haben. Ferner wissen wir, daß die Domestikation bei manchen Tieren die Fortpflanzung aus einer jahres­zeitlich festgelegten und mit einer Brunstzeit im Frühling verbundenen Funktion zu einer das ganze Jahr währenden macht.

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Die alten Bindungen des Menschen an den Rhythmus der Jahreszeiten sind immer noch erkennbar, doch seine Anfälligkeit für Sexualreize während des ganzen Jahres und sein vom Wunsch nach Nachkommen­schaft unabhängiges Bedürfnis nach sexueller Vereinigung mögen sich mit seiner eigenen Seßhaftwerdung entwickelt haben, und diese Ausdehnung seiner erotischen Erregbarkeit war vielleicht nicht der unwichtigste Aspekt der neolithischen Revolution, denn sie stärkte seine Einbildungskraft und gab den Anstoß zur erweiterten und verfeinerten Sublimierung seiner Sexualität in Kunst und Ritual.

 

Aus dem begrenzten Charakter seiner Ernährungsbasis und seiner technischen Ausrüstung selbst nach der Kultivierung der Pflanzen schließen wir, daß der frühe Mensch zunächst nur in sehr kleinen Gemeinschaften lebte und daß die Gesamtbevölkerung dieser Gemeinschaften von der gleichen Größenordnung war wie die Bevölkerung des nordamerikanischen Kontinents zur Zeit seiner Entdeckung durch den westlichen Menschen, sowohl in der Zahl als auch in der Dichte, also spärlich und weit verstreut. Der Ackerbau ermöglichte es den Menschen, Generation auf Generation in kleinen Weilern oder Dörfern zu leben, und als der Nahrungs­bedarf sich vergrößerte, müssen weitere derartige Siedlungen entstanden sein, denn mit dem Anwachsen der Bevölkerung wurde die Kultivierung von Neuland erforderlich. 

So wurde der Mensch nicht nur menschlich, sondern heimisch in einer vertrauten, begrenzten Umgebung, in der Welt der Urgesellschaft, die Familie, Stamm, Sippe, Dorfgemeinschaft und Nachbarn umfaßte. Die sichtbare Anwesenheit der Verwandten und Nachbarn, freundlich gesinnter, hilfsbereiter Menschen, die das gemeinsame Schicksal aller teilten, die Sicherheit eines begrenzten, leicht überschaubaren Lebensraums, der alle konkreten Bedürfnisse befriedigte und den Augen, den Ohren und der Nase immer die gleichen charakteristischen Eindrücke vermittelte, alles das bildete einen gemeinsamen menschlichen Bereich, der in der Mitte zwischen der größeren Heimat des Menschen und seinen symbolischen Abstraktionen lag, ein Bereich, in dem die Natur vermenschlicht und der Mensch gewissermaßen naturalisiert war, denn die Umwelt spiegelte sein eigenes Wollen und Wirken wider, bewahrte seine Erinnerungen und ermutigte seine Hoffnungen. 

Dieses Gleichgewicht zu erhalten, war Gebot der Klugheit, und dieser Klugheit entsprang die Furcht vor dem Traditionswidrigen, Ungewohnten, Unbekannten, Fremden und auch die Liebe zum Anerkannten, Konventionellen, oft Wiederholten, Bewährten, also die Ehrfurcht vor der Lebensweise der Vorfahren. »Dies tut man« oder »Dies tut man nicht« ist der einfache Verhaltenskodex, der sich auf die herkömmlichen Gewohnheiten gründet und das gesamte Leben der Gemeinschaft regelt.

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In dieser Dorfkultur gibt es für jede Situation des Lebens ein Stück sprichwörtlicher Weisheit, die alle Entscheidungen festlegt und das Handeln bestimmt. In dieser Sicherheit und in diesem inneren Frieden schauen die Menschen über den Fluß auf eine andere Gemeinde, wie Laotse sagte, und haben nie das Verlangen, den Fluß zu überqueren. 

Das Leben dieser frühen Menschen war nicht frei von bitteren Enttäuschungen, harten Prüfungen und selbst nicht von einfachen seelischen Spannungen; anders wäre es schwer, die frühe Erfindung des Biers und des Weins zu erklären, die die Angst betäuben, über Kummer hinweghelfen und den Schmerz lindern. Doch verglichen mit den Verdrängungen und Konflikten, die das nächste Stadium der menschlichen Entwicklung mit sich bringen sollte, hatte diese Phase nahezu idyllischen Charakter. Die Riten des Säens, Pflanzens und Erntens begleiteten das menschlichen Wachstum, wenn auch vermischt mit blutigen Opferzeremonien. Feste und Schmausereien, Aussaat und Ernte, Zeugung und Geburt folgten einander im Zyklus der Jahreszeiten. Die Göttin der Fruchtbarkeit regierte. Die archaische Gesellschaft begnügt sich damit, nur so viel zu erzeugen, wie sie zu ihrer Erhaltung braucht, und solange sie ihren Prinzipien treu bleibt, macht sie selten gemeinsame Anstrengungen, größere Erträge zu erzielen. Um so mehr begrüßt sie die Zeiten des Überflusses, die sie durch reiche Ernten und andere Glücksfälle für die normale Knappheit entschädigen und Müßiggang und Feste ermöglichen. Was der archaische Mensch an zusätzlichem Reichtum erwirbt, das verwendet er zur Feier der markantesten Ereignisse im Lebensablauf, der Geburt, der Heirat und des Todes.

Indem, wir die Rolle der Erinnerung, der Gewohnheit und der Tradition im Leben des primitiven Menschen überbetonten, haben wir uns im vergangenen Jahrhundert daran gewöhnt, den Sinn für die Zukunft als einen ausschließlich modernen Beitrag zur Menschheits­entwicklung zu betrachten, doch dies bedeutet sowohl eine Verfälschung der historischen Tatsachen als auch der menschlichen Natur. Die menschliche Gesellschaft beweist von Anfang an ein hohes Maß von planendem Vorausdenken, das über die weitverbreitete tierische Gewohnheit, Futter für den Winter zu sammeln, hinausgeht. Der prähistorische Brauch der zeremoniellen Totenbestattung bezieht die Zukunft mit ein, und alle vorsorglichen und vorausschauenden Tätigkeiten, wie das Pflanzen und Pflegen von Bäumen und das Errichten von dauerhaften Steinbauten, zeigen die Absicht, nicht nur unmittelbare Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch künftigen Zwecken zu dienen.

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Jedes Grabmal, sei es auch nur ein Erdhaufen oder ein Stein, ist eine Mahnung und ein Versprechen an die Nachkommen. Wenn die Fähigkeit, die Zukunft bei dem Urteil in Rechnung zu stellen, wie die Psychologen sagen, ein Zeichen von Intelligenz und moralischer Verantwortung ist, so war eine Mischung von Angst und Voraussicht ein ständiges Merkmal der menschlichen Entwicklung.

In der frühen Gesellschaft war die Sorge für die fernere Zukunft, zum Unterschied von der für den nächsten Tag oder die nächste Generation den Göttern überlassen; dem Menschen fehlten die geistigen und die physischen Mittel, für Jahrhunderte oder Jahrtausende zu planen oder gesellschaftliche Veränderungen zu ersinnen und durchzuführen, die allen künftigen Situationen gerecht werden sollten. Doch der Übergang von einer hauptsächlich rückwärts gerichteten zu einer vorausschauenden Haltung ist nur ein Wechsel in der Betonung, denn beide waren in den frühesten Kulturen vorhanden, und beide müssen wirksam sein, wenn unsere heutige Kultur erhalten bleiben soll. »Der Mensch schaut nach vorne und zurück« und plant, »was nicht ist«.

   

   § 3   

 

Wir haben die Entwicklung des Menschen zurückverfolgt bis in ihre Anfänge, wo ihre Spuren im Dunkel der Zeit verblassen und sich nur mit Hilfe der Phantasie rekonstruieren lassen. Doch unter der sichtbaren Oberfläche der Geschichte fließt ein unter­irdischer Strom, der sich in der neueren Steinzeit gebildet zu haben scheint und den Treibsand selbst älterer Kulturen mit sich führt, und den ich nach André Varagnac die »archaische Kultur« nenne. Diese archaische Tradition ist trotz ihrer zahlreichen primitiven Merkmale nicht mit den Kulturen der primitiven Volksstämme, die bis heute überlebt haben, zu verwechseln, obwohl sie viele gemeinsame Züge besitzen. Unsere heutigen Primitiven haben im Verlauf ihrer langen introvertierten Entwicklung einen Grad von psychologischer Komplexität und Überspitzung erreicht, der sich oft der Dekadenz nähert, wie bei jenem Stamm, der den Bau von Kanus mit so vielen tödlichen Tabus assoziiert hat, daß seine Angehörigen es nicht mehr wagen, neue Kanus zu bauen.

Der archaische Mensch formte sich im neolithischen Dorf, und die Attribute seiner Kultur, die sich in Bräuchen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lebendig erhalten haben, waren so weit verbreitet wie die Ackerkultur.

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Selbst heute leben noch fast vier Fünftel der Menschheit unter physischen Bedingungen, die denen eines Dorfes der jüngeren Steinzeit nahekommen.

Das Leben der archaischen Gemeinde ist erdgebunden, ihre Götter sind Götter der Fruchtbarkeit, und ihr gesamtes Brauchtum ist eng verflochten mit dem Zyklus der Jahreszeiten, dem Rhythmus von Saat und Ernte, der Paarung der Tiere und der Verehelichung von Mann und Frau. Nachdem der archaische Mensch die handwerkliche Fertigkeit und das Wissen erworben hatte, die den Anforderungen des Ackerbaus der jüngeren Steinzeit entsprachen, ist es sein Hauptanliegen, das Gleichgewicht dieses Lebens zu erhalten; er arbeitet nur, um seine Ernährung zu sichern und, wenn möglich, einen Vorrat für das nächste Jahr zurückzulegen, doch er empfindet nicht das Bedürfnis, die Energie, die er für sexuelles Spiel und Fortpflanzung, für die Jagd und für Riten, für das Bauen und die Verschönerung seines Heims braucht, auf die Arbeit und zur Mehrproduktion zu verwenden. Auch heute noch haben, wenn die Zahlen von Raymond Pearl stimmen, amerikanische Farmer, deren Leben seit langem frei ist von archaischen Riten, häufigeren Geschlechtsverkehr als ihre städtischen Zeitgenossen.

Der soziale Kern des archaischen Lebens ist die Familie. Der Herd des Hauses ist zugleich sein Altar, und die Kontinuität dieses Lebens ist doppelt gesichert durch das Haus, das Land, die Kinder, die begrenzten Felder, die Tiere, die Ernten und durch die Überlieferung des gesamten Besitzes an Wissen und Weisheit von Eltern auf Kinder, vom Meister auf den Gehilfen, von Generation auf Generation. Kein geringer Teil dieses Erbgutes erweist sich, wenn man es wissenschaftlich beleuchtet, als wunderlicher Aberglaube; alte Tabus, magische Bräuche und mythische Vorstellungen behaupten sich neben vernünftigen empirischen Erfahrungen.

Doch diese ganze Kultur entspricht in so hohem Maße den Erfordernissen des Lebens und der menschlichen Ernährung, die sie sich in der praktischen Wirklichkeit, zumindest was die Lebensdauer betrifft, besser bewährt hat als alle ändern Kulturformen. Wo ihre Prinzipien befolgt werden, sichert sie ausreichende Ernten, fördert Kunst und Handwerk, sorgt für genügenden Nachwuchs an Menschen und Tieren, verjüngt sich immer wieder aus sich selbst und erhält einen gesunden, ausgeglichenen Lebensstil aufrecht.

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Der archaische Mensch ist der Bewahrer des Lebens. Er schützt sich vor der Unsicherheit der Zukunft, indem er sich eng an die Vergangenheit und vor allem an seine Vorfahren hält. In seinen religiösen Bräuchen und den andern sozialen Formen der Tradition verehrt er seine Ahnen und vertraut sich ihrer Führung an, wenn er in kritische Situationen gerät, da er annimmt, daß die gleichen Schwierigkeiten sich früher schon einmal ergeben haben müssen. Er bildet sich keinen Augenblick lang ein, daß die Weisheit der Rasse sich in der Erfahrung eines einzelnen Lebens erschöpft, und noch weniger, daß seine eigenen bruchstück­artigen Erfahrungen genügen könnten, ihn immer richtig handeln zu lassen. 

Der archaische Mensch scheut das Neue und Unerprobte und ist zufrieden damit, nach alter Väter Weise zu leben, den Standard zu erhalten, den seine Vorfahren erreicht hatten, und seinen Kindern das Erbe seiner eigenen Eltern unversehrt und unvermindert weiterzuvererben. Daher stammt seine Achtung vor dem Alter; denn nur die Alten haben lange genug gelebt, um die gesamte Erbschaft erfassen und weitergeben zu können. Die Weisheit der Älteren verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit und verhindert, daß die Zukunft der Vergangenheit nicht mehr entspricht. Im Falle von Zweifeln oder Konflikten ist es die lebendige Vergangenheit, die im Rat der Ältesten das letzte Wort spricht. Brauch und Gesetz, Erziehung und Arbeit, Regierung und Moral sind keine getrennten Bereiche des Lebens, sie sind Aspekte des Ganzen, das intuitiv begriffen wird, da es unmittelbar erlebt wird, und nur innerhalb dieses Ganzen hat jedes einzelne Leben seine Bedeutung.

Alle Elemente dieses archaischen Lebens sind Teil eines sorgfältig ausgearbeiteten Gemeinschaftsrituals, das nicht nur die tägliche Arbeit des Menschen regelt und begleitet, sondern auch die einzelnen Phasen seines Lebens. In diesem Dasein spielt der Geist des Wettbewerbs kaum eine Rolle, ausgenommen vielleicht bei der Jagd und in der sexuellen Rivalität; nur was man mit ändern teilen, was man seinen Verwandten oder Nachbarn weitergeben kann, ist wert, geschätzt zu werden. So tief sind Brauch und Sitte verinnerlicht, daß sie zur zweiten Natur werden. Doch die Wiederholung ist nicht zwangsläufig und uniform; in jeder Verrichtung bleibt ein Maß an Freiheit und Spielraum für die Individualität. Dies kann man deutlich an den künstlerischen Erzeugnissen der archaischen Töpferei, Weberei, Korbflechterei, Holzschnitzerei und Metallbearbeitung erkennen. Obwohl die Arbeit wiederholenden Charakter hat, bleibt Raum für die persönliche Note, für das zufällige Detail, z.B. bei der Glasierung von Töpfen, die verhindern, daß zwei Stücke sich vollkommen gleichen.

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Was für Gebrauchsgegenstände gilt, gilt um so mehr für Kunstwerke. Die archaischen Mythen und Märchen werden von Land zu Land weiterverbreitet, doch in immer neuen Variationen. Ohne diese Spontaneität und Elastizität hätte die archaische Kultur vielleicht nicht überleben können.

In der archaischen Gesellschaft üben das Land und seine Bearbeitung einen bestimmenden Einfluß auf den menschlichen Geist aus, der noch heute wirksam ist. Das Land hört auf, lediglich ein gegen äußere Eindringlinge abgegrenztes Stück Boden zu sein, obwohl es diese Eigenschaft bewahrt; es wird zum Träger von Gefühlen, erfüllt von Erinnerungen und Plänen. Es ist der Platz, wo die Ahnen begraben sind; ihre Füße haben seine Wege ausgetreten, ihre Hände haben seine Bäume gepflanzt, aus seinen Steinen haben sie Mauern errichtet und Häuser gebaut. Es ist die Stätte, deren Erhaltung und ständige Erneuerung den besten Teil der Arbeit jeder Generation bildet.

Wenn die archaische Umwelt begrenzt war, dann war sie es, um sich mit den natürlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten des Menschen zu decken, und ihre Beschränkungen stärkten in ihm das Bewußtsein seiner eigenen Zulänglichkeit, während in unserer heutigen, sich nach allen Richtungen ausdehnenden Welt das Individuum sich immer kleiner und bedeutungsloser vorkommt.

Obwohl die Worte Blut und Boden in unserer Zeit von entwurzelten Menschen mißbraucht und entwertet wurden, hat sich ihr echter Geist in der archaischen Tradition lebendig erhalten und wirkt auch heute noch, selbst in den Schlagworten Patriotismus und Nationalismus. Herodot berichtet, daß die Kimmerier, die sich vor den eindringenden Skythen hätten retten können, wenn sie geflohen wären und ein neues Land gesucht hätten, statt dessen beschlossen. Widerstand zu leisten und in ihrem Vaterland zu fallen und begraben zu werden. Dieser Zug heroischer Pietät gegenüber der Stätte der Geburt und der Jugend kennzeichnet die Geschichte der archaischen Kultur in ihrem gesamten Verlauf, wurde jedoch leider hauptsächlich in der Form von Kriegs­bräuchen an die Zivilisation vererbt und führte bald zur Bildung einer besonderen Kaste, die von der Arbeit ausgenommen war, um sich ganz dem Kriegshandwerk widmen zu können.

Obwohl der Ackerbau die Grundform der Arbeit in der archaischen Kultur ist, finden auch die primitiven Betätigungen, wie Jagen, Fischen, Bootsbau, Holzschnitzerei, Herdenhaltung und Bergbau, ihren organischen Platz in der archaischen Gesellschaft und tragen dazu bei, die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen zu bereichern und ihn in der Individualität seiner speziellen Beschäftigung zu bestärken.

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Durch diese Beschäftigungen gelangen Charakterelemente früherer Epochen in den Hauptstrom der archaischen Kultur, wie die Tapferkeit, Kühnheit und List des Jägers und die Zähigkeit und Geschicklichkeit des Bergmannes, deren Spuren zurückreichen bis in die ältere Steinzeit; sie helfen aber auch, den menschlichen Geist in der vielfältigen Auseinandersetzung mit der durch sie erweiterten Umwelt zu entfalten und zu bilden. Trotz späterer teilweiser Sublimierung erhalten sich diese individualisierten primitiven Züge wie die Maserung des Holzes unter der Farbe oder dem Lack.

Die Vorfahren, die fruchtbare Familie, die Hausgötter, das heilige Ritual und der Zyklus von Wachstum und Fortpflanzung sind die tragenden Realitäten der archaischen Kultur; ihr kollektives Brauchtum ist auf die Erhaltung und Pflege jedes dieser Lebens­aspekte gleichmäßig ausgerichtet, so daß kein Teil der menschlichen Existenz in ein Mißverhältnis zu den ändern geraten kann. Zwar fielen den Menschen alle Güter des Lebens innerhalb des Bannkreises ihrer kleinen Gemeinschaft fast automatisch zu, doch sie zahlten ihren Preis für diese Sicherheit.

Die begrenzte Gemeinschaft bedingte die begrenzte Persönlichkeit und umgekehrt. Wohlwollen bezeigte man nur gegenüber den Verwandten und in verringertem Maße gegenüber dem Nachbarn. Die Gebote der Ehrlichkeit, Nachsicht und Hilfsbereitschaft und die Verbote von Raub und Mord galten nur gegenüber den Angehörigen der Gemeinschaft, nicht aber gegenüber den Außenstehenden. Diese lange Lehrzeit des Menschen in der Isolierung hinterließ ihren Stempel und scheint selbst heute noch eine größere Einheit zu vereiteln. Wir assoziieren Stabilität und Sicherheit immer noch mit Abgeschlossenheit, und vor der Aussicht auf eine offene Welt scheuen wir zurück in einer Art von Furcht vor dem Unbekannten. Diese archaische Kultur war einmal so zentral und universal gewesen und hat so viele Normen für die Entwicklung des Menschen geliefert, daß sie sich unter den verschiedenen Wellen der Zivilisation behauptet und bis in die Gegenwart erhalten hat. Und ihr solidarisches Verhältnis zwischen Ich und Du muß, wenn auch in andern als steinzeitlichen Formen, in jede größere Gemeinschaft mitübernommen werden, wenn diese Gemeinschaft dauern soll.

Wenn es auch stimmt, daß die archaische Gesellschaft aus sich und für sich selbst lebt, so dürfen wir diese Tatsache nicht über­bewerten und nicht vergessen, daß diese Isolierung infolge der Vielfalt der menschlichen Bedürfnisse nie vollständig war. Allmählich nimmt die archaische Kultur die in späteren Stadien der menschlichen Entwicklung gemachten Erfahrungen und Fortschritte auf.

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Der Begriff und die Gesetze des Privateigentums stammen nicht aus einem Dorf der jüngeren Steinzeit, und die Dorfkirche und der Stadttempel, die einer prophetischen universalen Heilsüberlieferung geweiht sind, entstanden nicht aus dem Kult der primitiven Hausgötter. Manche der Balladen, die seit Urzeiten Volksbesitz zu sein scheinen, wurden an einem fernen Königshof zum erstenmal gesungen, so wie auch viele Pflanzen in Feld und Garten die exotische Beute weiter Eroberungszüge oder Forscherfahrten sind, die von ehrgeizigeren oder neugierigeren Menschen unternommen worden waren. Diese fremden Elemente sickern von außen ein und werden von der archaischen Kultur langsam assimiliert. Wenn archaische Kulturen bis zu einem gewissen Grad »zivilisiert« werden, so vollzieht sich jedoch auch der umgekehrte Vorgang, die eindringende Zivilisation oder Religion wird im. gleichen Maß »archaisiert«. Keine neue Form wird von der archaischen Kultur in Gebrauch genommen, bevor sie nicht gleichsam verfault und Bestandteil des eigenen kulturellen Humusbodens geworden ist.

     

   § 4  

Die archaische Kultur hat sich, mit unterschiedlicher Hartnäckigkeit, in allen Teilen der Erde bis in unsere Zeit behauptet, am schwächsten vielleicht in Nordamerika, und am stärksten, so scheint es, in Indien und China. In ganz Europa findet man ihre Spuren in den heidnischen Festen, wie der Johannisnacht und dem Karneval, in der Erhaltung des Sagengutes und der Zauber­bräuche, in den abergläubischen Vorstellungen von Glückszahlen und Glückstagen, die der rationalen Erziehung von Generationen getrotzt haben.

Doch die stärkste Wirkung der archaischen Überlieferung ging vom Tabu aus, demjenigen ihrer Merkmale, das den Forschungs­reisenden in Polynesien zuerst auffiel. Das Tabu belegt einen Gegenstand oder eine Handlung mit einein absoluten Verbot; so darf z. B. ein für Männer bestimmtes Kanu nicht von Frauen benutzt werden, oder derjenige, der einen Toten berührt hat, muß sich reinigen, bevor er einen Lebenden berührt. Wenige Tabus, selbst das fast in der ganzen Welt verbreitete Inzest-Tabu, sind mehr als nur teilweise rationalen Ursprungs, doch das mit dem Tabu verbundene strenge Verbot war eine der großen Sicherungen, die der Mensch gegen Zwangsvorstellungen und unbewußte Kräfte, die ihn überwältigen könnten, erfand.

Wie bei einer gut gedrillten Armee waren auch beim Tabu der gewissermaßen zum Instinkt gewordene Gehorsam und die Scheu vor unverletzlichen Grenzen wichtiger als der besondere Anlaß, der sie hervorrief.

Gerade weil das Tabu jeder praktischen oder vernunftmäßigen Begründung entbehrt, erzieht es in hohem Maße zur Selbst­beherrschung. Wo die Jüngeren weder Verehrung für die Älteren noch Achtung vor Tabus empfinden, wo sie völlig außerhalb der archaischen Kultur aufgewachsen sind, führt ihr mangelndes Pflichtbewußtsein leicht zu Verbrechen, denn jeder heftige Impuls wird bei ihnen ungehemmt zur Tat. Kein heiliges Verbot, keine Schranken der Moral oder der Ehrfurcht stehen dem Raub, der Grausamkeit und dem Mord im Wege. Und was in unserer Zeit als Mißachtung der Vorfahren begann, wird nun zur Mißachtung der Nachkommen. Vor den Konsequenzen eines solchen Gesinnungswandels, die gerade ein Zeitalter, das die Wasserstoffbombe erfunden hat, abschrecken sollten, hat die archaische Kultur die menschliche Rasse lange bewahrt.

Das archaische Leben mit seinen verwitterten und moosbedeckten Formen zieht uns auch heute noch an. Wenn wir der Komplikationen der Zivilisation müde sind, wenn Krankheit unsere Lebenskraft geschwächt hat und seelische Konflikte unser Verhältnis zu unserer Umwelt verwirrt haben, dann flüchten wir in ein kleines Dorf, das unter Bäumen verborgen oder einsam an einer Küste liegt. Dort fühlen wir uns wieder eins mit der äußeren Natur und unserem inneren Selbst. Sind wir je befriedigter vom Augenblick, als wenn wir Beeren pflückend oder Pilze suchend durch den Wald streifen wie der frühe Mensch oder Meeres­versteinerungen und Muscheln sammelnd am Strand entlangspazieren? Wir erleben dann die Freude am reinen Sein, unsere Existenz ist auf den Augenblick konzentriert und von ihm erfüllt, die Arbeit ist wieder Spiel und das Leben kein Problem mehr. Jean-Jacques Rousseau konnte es nicht wissen, doch seine Natur-Romantik war nichts anderes als der Versuch, zu den Lebensformen seiner Ahnen der Steinzeit-Kultur zurückzukehren.

Wenn wir uns in einer solchen harmonischen Umgebung so tief im Frieden fühlen mit unserer Natur, daß wir vergessen, wie mühevoll es war, sie zu erwerben, bevor sie natürlich wurde, fragen wir uns, warum wir diese Umwelt überhaupt wieder verlassen sollen, um in eine komplizierte, unsichere, angsterfüllte und unharmonische Welt zurückzukehren.

Die Antwort auf diese Frage, wenn wir es einmal gewagt haben, sie zu stellen, ist nicht so einfach, wie es scheinen mag, denn sie fordert unsere gesamte Zivilisation vor das Gericht der Vernunft. Es ist die Frage, die Hermann Melville sich in seinem polynesischen Paradies bei den Taipi stellte. »Die Zivilisation kann nicht alle Tugenden der Menschlichkeit für sich allein in Anspruch nehmen ...«, sagte er. »Sie blühen in größerer Fülle und erreichen größere Kraft bei vielen Barbarenvölkern.« 

Und doch verließ Melville bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm bot, dieses Paradies. Und dies tat auch der Mensch, wenn wir jene verstreuten Stammesgemeinschaften ausnehmen, die, mehr als sechshundert­fünfzig an der Zahl, in ihrer Abgeschiedenheit weiterlebten und ohne Berührung mit der Zivilisation blieben.

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Lewis Mumford 1956