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6. Der Mensch der Neuen Welt

Mumford-1956       02   03   04   05

 

  § 1  

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Selbst Zeitgenossen des Kolumbus, wie der Florentiner Humanist Poliziano, erkannten, daß die Entdeckung der Neuen Welt ein Ereignis von größter Bedeutung war.

Doch die Neue Welt, auf die Kolumbus zufällig stieß, war eine geographische Tatsache, ein Teil des Planeten, der lange Zeit ohne Verbindung mit Europa und Asien geblieben war, während die Kultur der Neuen Welt, die ich hier definieren will, ein weiterer Begriff ist, ein neues Territorium des Verstandes, eine neue Provinz menschlicher Aktivität, in deren Entwicklung der geographische Bereich eine wichtige, aber untergeordnete Rolle spielt.

Die Führer dieser größeren Bewegung verstanden deren Bedeutung nicht weniger als Poliziano. »Das Auftauchen von alten Wahrheiten«, schrieb Campanella an Galileo, »von neuen Welten, neuen Ordnungen, neuen Nationen ist der Beginn einer neuen Ära.«

Mit dem Begriff der Kultur der Neuen Welt verbinde ich die Vorstellung von zwei grundverschiedenen Ideologien, die zwei ebenso unterschiedliche, fast gegensätzliche, menschliche Idealtypen hervorgebracht haben. Man kann sie im erweiterten Sinne den romantischen und den technischen Menschen nennen. Den ersten begleitete ein Wiederaufleben der Vitalität und Sexualität in Europa. Dies wurde sichtbar in der Architektur und Malerei des frühen Barock und erreichte seinen Scheitelpunkt in Michelangelos Gemälden in der Sixtinischen Kapelle.

Zur Eroberung neuer Länder bedurften die Entdecker, Konquistadoren und Pioniere eines Wagemutes von homerischer Größe und der Bereitwilligkeit, dem Unerprobten und Unbekannten mit unerschütter­lichem Selbstvertrauen zu begegnen. Der zweite nutzte die gesteigerte Vitalität zur Vergrößerung seiner Macht; durch systematische Organisierung seines Strebens nach Gewinn setzte er den materiellen Triumphzug, aber auch die Nivellierung und Uniformierung der Zivilisation fort.

Während der letzten zwei Jahrhunderte gediehen und wirkten diese beiden Typen nebeneinander, Menschen entgegengesetzten Charakters anziehend und hervorbringend, der eine die dem Fortschritt zugewandten, der andere die rückwärtsschauenden.

In einem einzigen Ausnahmefall gingen sie eine ideale Personalunion ein, und zwar in Defoes Mythos des Robinson Crusoe. Was sie zu historischen Schicksalsgenossen und zeitweilig zu Verbündeten machte, war die Tatsache, daß sie beide gegen die Kultur der Alten Welt revoltierten. Doch als die Neue Welt sich mit Einwanderern füllte und die Erdbevölkerung im allgemeinen rascher zu wachsen begann, erlangte die technische Neue Welt fast automatisch das Übergewicht und die Führung. Die ursprünglichen, nur in der Natur verhafteten Lebensäußerungen des romantischen Menschen wurden bald zum dekorativen Beiwerk der zivilisatorischen Großtaten des technischen Menschen, ähnlich einem Picknick mit offenem Feuer im gepflasterten Hof einer großstädtischen Mietskaserne.

Beide Typen des Menschen der Neuen Welt suchten die Kultur der Alten Welt zu überwinden; sie wollten eigene Wege gehen anstatt weiter der Tradition zu folgen. Der romantische Mensch kehrte zur Natur zurück und versuchte einen neuen Start auf kulturellem Urgelände, das vor den Anfängen der historischen Zivilisation lag; der technische Mensch wandte sich in die Zukunft, der Maschine zu. Diese beiden Tendenzen kreuzten sich gleichsam auf der Insel Utopia. Doch ich will mich zunächst mit dem Teil der Kultur der Neuen Welt befassen, dessen uniforme Errungenschaften den ganzen Erdball beherrschen und jetzt jede andere Kultur zu vernichten oder zu absorbieren drohen.

Philosophisch gesehen, war diese Neue Welt ein Produkt aus Rationalismus, Utilitarismus und wissen­schaft­lichem Positivismus. Objektivität und Kausalität waren die dominierenden Prinzipien dieser neuen Ideologie; nur diejenigen Aspekte der menschlichen Erfahrung, die äußerlich und wiederholbar, der Prüfung durch andere Menschen zugänglich und entweder durch Experiment oder durch exakte Induktion und Deduktion beweisbar waren, wurden als wirklich angesehen. In dieser Sicht hatten Subjektivität und Teleologie keinen Platz in diesem neuen Gedanken­gebäude; alles, was selbstschöpferisch, nach innen orientiert, einmalig, unwieder­holbar oder Selbstzweck war, war als unwirklich ausgeschlossen. Kultur der Neuen Welt bedeutete Organisation, Standardisierung, Regelmäßigkeit und Kontrolle in allen Lebensbereichen. Der Zweck, aus seinen organischen und menschlichen Zusammen­hängen gelöst, verkörperte sich in der Maschine und in dem technischen Kollektiv.

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Wenn man die historische Entwicklung unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, wird es klar, daß die Elemente einer Ideologie und einer Wirtschaft der Neuen Welt seit mehreren Jahrtausenden auf Abruf bereit lagen. In gewissem Sinne nahm die Neue Welt lediglich den Prozeß der Organisierung, der mit der Zivilisation begonnen hatte, wieder auf und erweiterte ihn. Mit der Erfindung des Geldes war der Grundstein zum Kapitalismus bereits vor langer Zeit gelegt worden. In der Ordnung und der Taktik der sumerischen Phalanx, dieser Konzeption der Armee als Maschine, die aus spezialisierten, ineinandergreifenden, einer Befehls­zentrale gehorchenden Teilen bestand, lag ein Schema, das für alle Organisationen verwandt werden konnte. Das Messen von Zeit und Raum war nicht unbekannt in der antiken Welt; die römischen Wagen waren oft mit Taximetern ausgerüstet, und die Wasseruhr, Clepsydra, war weitverbreitet.

So hatte das geordnete, regelmäßige Leben, das frei war von sinnlicher Ablenkung und einen betont wiederholenden Charakter besaß, seine Form bereits in den Klöstern gefunden; hier führte der Wunsch nach Regelmäßigkeit zum Urtypus aller Erfindungen der Kultur der Neuen Welt, der mechanischen Uhr. Auch die wissenschaftliche Basis dieser Kultur war bereits vorhanden; Thales und Demokrit, Pythagoras und Euklid, Archimedes und Hero von Alexandrien hatten die Beobachtung der Natur von mythischen Erklärungen und willkürlicher Subjektivität befreit. So spielte die Wiederentdeckung ihrer Schriften eine entscheidende Rolle in der Forschung der Neuen Welt; die Statik des Archimedes inspirierte die Mechanik des Galilei. In ihrem Glauben an die Möglichkeit der Aufstellung universaler wissenschaftlicher Gesetze wurden die Wissenschaftler unterstützt durch die christlich-theologische Annahme einer allumfassenden göttlichen Ordnung; obwohl sie sich mit Teilwahrheiten beschäftigten, dienten sie der ewigen Wahrheit.

So waren die verstreuten Urelemente der technischen Neuen Welt zu verschiedenen Zeitpunkten zur Wirkung gekommen und hatten ihre spezifische Anwendung im Gesamtplan der Kultur der Alten Welt gefunden. Doch diese einzelnen Erfindungen und Denkmethoden hatten sich vorher nie zu einem einheitlichen System vereinigt, geschweige denn das menschliche Bewußtsein gleichgeschaltet. Als die mazedonische Phalanx den Nahen Osten und Indien eroberte, brachte sie den fremden Völkern die griechische Kunst und die griechische Philosophie, doch sie verbreitete nicht die Idee der Organisierung aller Lebensbereiche.

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So ausschließlich waren die Gärtner der Kultur der Alten Welt auf ihre eigenen Lieblingsblumen eingeschworen, daß sie den Samen der Rationalisierung und Mechanisierung, selbst wenn er in ihrem Boden zu gedeihen versprach, als Unkraut ausrotteten; er konnte nur Wurzel fassen an vereinzelten Stellen in Breschen der Umfassungsmauern, wo er jedoch nie genug Boden fand, um voll zur Blüte zu gelangen. Selbst eine so dynamische Erfindung wie die des Drückens, die bereits potentiell gemacht war im Guß der Tonsiegel im antiken Mesopotamien, nicht zu reden von den späteren Münzen, schlummerte Jahrtausende. Solange die Kultur der Alten Welt als geschlossene Einheit bestand, waren so radikale Veränderungen, wie sie nach dem 17. Jahrhundert stattfanden, unmöglich.

Daß die Kultur der Neuen Welt ihren Anfang in einer Zeit schwerer sozialer und ideologischer Zerrissenheit nahm, dürfte uns also nicht überraschen. Im Westen reichen die ersten Anfänge der neuen Kultur zurück bis in die Zeit der großen Katastrophe des 14. Jahrhunderts, des Schwarzen Todes, der Pestepidemie, die zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung Westeuropas dahinraffte. Dies war das Jahrhundert, in dem. die christliche Kirche sich spaltete und zwei Päpste um die Macht kämpften, während die wiederholten Anstrengungen des Protestantismus (Waldes, Wiclif, Fox) zu einem einfacheren Christentum zurückzukehren, diese Spaltung noch vertieften. Im Zeitraum weniger Jahrhunderte verschob sich der Brennpunkt des Interesses von der inneren Welt auf die äußere Welt, von einer verwirrten und streitsüchtigen Subjektivität auf eine straff geordnete Objektivität, deren Schema allein schon die Übereinstimmung garantierte.

Für zerrissene, gespaltene Seelen kam diese neue Ordnung als Segen, und die neuen Güter und Kräfte, die die Maschine produzierte, belebten rasch die schwindenden Kräfte des Geistes. Das Messen von Zeit und Raum, die Vermehrung der anorganischen Energiequellen, die Verminderung der Entfernungen durch Beschleunigung des Verkehrs, die Perfektionierung der Produktionsprozesse, alle diese Funktionen der Wirtschaft der Neuen Welt entfalteten sich gemeinsam, zunächst langsam, doch dann mit zunehmender Geschwindigkeit.

Schon im 13. Jahrhundert hatten Roger Bacon und Albertus Magnus in ihren Phantasievorstößen diesen neuen Kontinent gesichtet und die ersten Vermessungen vorgenommen. Roger Bacon sagte das Kommen von Fahrzeugen mit Eigenantrieb und der sekunden­schnellen Übermittlung von Nachrichten über große Entfernungen voraus, stellte sie als Möglichkeiten der weiteren Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse dar.

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In den Eisenerzbergwerken Sachsens des frühen 16. Jahrhunderts bewies Dr. Georg Bauer (Agricola), daß die Welt der Maschine damals bereits im Embrionalzustand vorhanden war, vertreten durch Eisenbahn, Aufzug, künstliche Belüftung der Schachtanlagen und kraftgetriebene Maschinen.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden die letzten Schritte in der Planung dieser Neuen Welt getan; Francis Bacon beschrieb die Rolle der weiteren technischen Entwicklung, und Galilei vervollkommnete eine Methode, die Erkenntnis gleichsetzte mit quantitativem Messen und alle subjektiven Qualitäten und organischen menschlichen Absichten ausschloß. Die Methodologie der Neuen Welt verdrängte zusehends die Ideologie der Alten Welt. Wissen diente nicht länger der Macht, es produzierte Macht.

Die Sorge um Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit im Zusammenwirken mit dem Drang zum Unpersönlichen und Automatischen verband den Erfinder, den Wissenschaftler, den Geschäftsmann und den Bürokraten immer enger miteinander. »Regelmäßig wie ein Uhrwerk« wurde ein Ausdruck des Lobes; der neue Mensch regelte seine Verdauung und sogar sein Geschlechtsleben nach Uhr und Kalender, ohne Rücksicht auf den organischen Rhythmus. 

So verschieden ihre Berufe auch waren, diese Menschen der Neuen Welt verstanden einander. Innerhalb der neuen technisierten Organisationsformen, die sie schufen, der Armee, dem Kontor und der Fabrik, hing ihr Erfolg ab von ihrer Geschicklichkeit in der Herstellung uniformer, austauschbarer, zu einer Maschine zusammenmontierbarer Einzelteile. Ihr Universum war ein Universum der Materie und der Bewegung, des Messens und der Berechnung; es war zusammengesetzt aus Elementen, die aus dem organischen Ganzen herausgenommen, in kleinste Teilchen zerlegt und wieder zu einer Maschine vereinigt werden konnten. Die sekundären Eigenschaften der Materie, die in der Welt so wirklich und so wichtig sind, Farbe, Form, Rhythmus, Muster, Entwurf, wurden als irrelevant abgetan, wenn nicht als rein subjektive Illusion negiert.

Kurz, im Leben zählte nur das, was meßbar war, Einheiten des Gewichts, des Maßes, der Zeit, des Raumes, der Energie und des Geldes. Dann kamen die Riesenbauten der Neuen Welt und schufen eine neue Umgebung, in der schließlich die Menschen nur zugelassen waren, wenn sie die Attribute von Maschinen annahmen, und in der in absehbarer Zukunft Maschinen entwickelt werden sollten, den Menschen zu übertreffen und zu ersetzen.

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Der Geist der Neuen Welt schuf sich in der Wissenschaft ein gewaltiges Werkzeug zur systematischen Erforschung der Naturkräfte Und schließlich des Menschen selbst, den er als ihr Produkt betrachtete. Durch methodisches Experimentieren und objektives Beobachten, durch logische und mathematische Analyse überwand der Mensch der Neuen Welt die Befangenheit der Subjektivität. Dies stellte neben der schrittweisen Enthüllung, Deutung und Beherrschung eines ungeheuren mikrokosmischen und makrokosmischen Universums einen bleibenden Beitrag der Neuen Welt zur Entwicklung des Menschen dar.

Doch der Prozeß der methodischen Isolierung der Natur vom Menschen, der physikalischen Kräfte von menschlichen Zielen, war für die frühen Wissenschaftler, wie z.B. Galilei, kein Selbstzweck; er war im Anfang nur eine nützliche Erweiterung des aristotelischen und christlichen Kosmos, an dem Galilei, wie de Santillana betont, gläubig festhielt. Keiner der frühen Wissen­schaftler konnte die volle Bedeutung ihrer eigenen revolutionären Gedanken ermessen, die sich offenbarte, als die subjektiven Hemmungen der Kultur der Alten Welt überwunden waren, und die Expansion von Wissen und Macht ihr eigenes, sich angeblich selbst rechtfertigendes Endziel wurde.

Obwohl reine Wissenschaft oft noch in relativer Unabhängigkeit von den Bedürfnissen der Technik und der Industrie betrieben wurde, unterwarfen sich die Wissenschaftler den Gesetzen der Wirtschaftlichkeit, die im Interesse eines quantitativ größeren Ausstoßes eine wachsende Teilung der Arbeit und Spezialisierung der Produkte forderten. Da sie die organischen Zusammen­hänge und Gesamtaspekte nicht zu beachten brauchten, konnten die neuen Forscher ihre Einzelgebiete genauer und schneller bearbeiten. Doch indem sie strenge Arbeitsteilung als Voraussetzung für objektives Denken anerkannten, übernahmen sie in ihren Beruf leider auch die typischen Beschränkungen und Mängel des zivilisierten Menschen.

Für die absolute Autorität auf seinem engen Fachgebiet opferte der Wissenschaftler zunehmend den Kontakt mit dem Ganzen, selbst mit benachbarten Gebieten, und vor allem und am meisten mit dem Leben selbst. Dies lieferte ihm eine Ausrede für seine Unwissenheit in Dingen, die außerhalb seines Spezialgebietes lagen, und eine Begründung seines Anspruches auf die Freiheit von jeder sozialen Verantwortung, und schuf ideale Bedingungen für eine ungehemmte Produktion, die jedem andern Zweck, nur nicht der systematischen Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit diente. 

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Das letzte Ziel der Expansion der Neuen Welt auf dem Feld der Wissenschaft — wenn man bei einem System von letzten Zielen sprechen kann, das sich brüstete, keine zu haben —, blieb den großen Geistern, die ursprünglich die Ideologie der Neuen Welt geformt hatten, verborgen. Selbst heute sind die irrationalen Ergebnisse dieser rationalen Methoden und die geistige Verwirrung, die sie durch ihren Verrat am Geist verursacht haben, noch nicht in ihrer vollen Tragweite erkannt worden. Solange Expansion an sich letztes Ziel bleibt, gibt es keinen Maßstab, der anders als mit Quantitäten rechnet, wenigstens keinen, den anzuerkennen Wissenschaftler sich verpflichtet fühlen. Wie bei einer rein expansiven Produktionswirtschaft würde hier eine qualitative Wertbemessung zu einer Deflation führen, zur Bankrotterklärung zwingen und eine totale Reorganisation notwendig machen.

 

  § 2  

 

Die Wirtschaft der Neuen Welt entstand selbstverständlich nicht über Nacht; erst im 20. Jahrhundert erreichte sie einen Punkt ihrer Entwicklung, der klar ihren Charakter einer neuen Gesamtordnung enthüllte. Doch wohin sie vordrang, schuf sie schnell ihre eigene enthumanisierte, entpersönlichte, mechanisierte und uniforme Umwelt. Wo die Kultur der Alten Welt standhielt, wie in Italien, Spanien und Frankreich, konnte die Kultur der Neuen Welt nur langsam Fuß fassen; die Macht der katholischen Zivilisation ließ auch in Lateinamerika viele typische Merkmale der Neuen Welt nicht zur Entfaltung kommen. Das von der Maschine beherrschte Leben gedieh am besten in kulturell rückständigen, dünn besiedelten und isolierten Gegenden, und die neuen Städte, die es entstehen ließ, waren Dschungel moderner Wildnis, strotzend von Vitalität, doch ärmer an menschlicher Gesittung und barbarischer in ihrem Mangel an zivilisatorischen Annehmlichkeiten als die ersten Siedlungen des nordamerikanischen Westens.

Doch keine Kultur setzt sich durch auf Grund ihrer Schwächen. Von Anfang an erkannte die neue technische Ordnung gewisse menschliche Grundbedürfnisse an, die die Kultur der Alten Welt, selbst in ihren höchsten durch den axialen Menschen geschaffenen Formen, entweder ignoriert oder unterdrückt hatte.

Zunächst zerbrach die Ideologie der Neuen Welt die erstarrte Hierarchie der Kultur der Alten Welt. Indem die Ideologie der Neuen Welt die Zukunft ihrer Planung und Kontrolle unterwarf, befreite sie den Menschen aus der Abhängigkeit von seiner unmittelbaren historischen Umgebung.

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Was in der Renaissance als Rückkehr zu einer rationaleren Vergangenheit begonnen hatte, wandelte sich jetzt in die Vorwegnahme einer rationaleren Zukunft. Indem sie sich auf das Studium der Natur und die Beherrschung der Naturkräfte konzentrierte, versprach die Ideologie der Neuen Welt, die seit je als lästig empfundenen Beschränkungen der menschlichen Kraft aufzuheben; anstatt von Riesen und Geisterwesen zu träumen, die über Nacht einen Palast bauen konnten, bauten die neuen Erfinder Maschinen, die die Kräfte des Menschen vergrößerten und vervielfältigten. Physische Energien, die früher nur großen Monarchen zu Gebot standen, waren jetzt Allgemeingut, und zwar in weit größerem Umfang. Die technischen Grenzen, die einst die einfachsten Pläne des Menschen vereitelt hatten, waren jetzt überwunden.

Außer ihren konkreten Triumphen bot die Wirtschaft der Neuen Welt dem Menschen verlockende theoretische Perspektiven; die Erkenntnisse, die sie in seine Reichweite rückte, waren nicht länger Zufallsprodukte seines Unbewußten. Anstatt ihm gnädige Einblicke in das Ganze zu erlauben, wie z. B. in mystischer Schau, versetzte ihn die neue Wissenschaft in die Lage, kleinste Teilerkenntnisse systematisch zusammenzusetzen und mit Hilfe von durch Abstraktion gewonnenen Formeln zu beweisbarem und praktisch anwendbarem Wissen zu machen. Wo unkontrollierte Offenbarungen früher falsche, von ebenso unkontrollierbaren Autoritäten sanktionierte Erklärungen für natürliche Vorgänge gegeben hatten, stellte die Wissenschaft jetzt nach sich selbst korrigierenden Methoden und in einem Geist der Demut und Selbstverleugnung beweisbare Tatsachen fest. Die Autorität der Person, die sie aussprach, hörte auf, das Kriterien der Wahrheit zu sein, das Fundament der Glaubwürdigkeit wurde jetzt der durch Versuch und Experiment erbrachte Beweis. Es hieß jetzt nicht mehr: »Ich sage, daß es so ist«, sondern: »Ich stelle fest, daß es sich so verhält.«

Wenn auch die neue Erkenntnismethode der menschlichen Erfahrung nicht in ihrer Ganzheit, einschließlich des Subjektiven, Autonomen, Einmaligen gerecht wurde, so sicherte sie wenigstens eine beschränkte Beherrschung desjenigen Teils des Lebens, der überblickbar und meßbar war. In einer Zeit höchster subjektiver Unordnung, die auch die Fundamente der Religion unterhöhlte, bot die wissenschaftliche Weltsicht allen, die festen Halt suchten, einen gemeinsamen sicheren Grund, der mit seinen eigenen Begriffen nach allen Richtungen grenzenlos ausgedehnt werden konnte.

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So drang die Oberflächenbearbeitung der Naturwissenschaft schließlich auch in die untergründigen Schichten des Unbewußten und führte zu der die mystische Einsicht ersetzenden Tiefenpsychologie.

Diese neue Weltsicht inkarnierte sich in einer Reihe von Persönlichkeiten, von Jakob Fugger bis Benjamin Franklin, von Bacon und Galilei bis Watt und Arkwright; doch ihre gültigste Verkörperung erfuhr sie in der Maschine selbst und in der neuen Ordnung, die sie ermöglichte. Die Maschine erschien als ein Werkzeug der Erlösung in einem Augenblick, da Zweifel, Zersetzung und innerer Verrat den Glauben an die Heilsmittel der axialen Welt erschüttert hatten. Die Ideologie der Neuen Welt führte nicht nur in der Wissenschaft zu neuen allgemeingültigen Denkmethoden, sie schuf auch eine gemeinsame straffe Lebensordnung für alle Menschen, oder richtiger gesagt, sie dehnte die Zucht der axialen Religionen auf alle Verrichtungen des täglichen Lebens aus, die bisher unter den menschlicheren Gesetzen des Eigeninteresses oder der Indifferenz, des Eifers oder der Trägheit gestanden hatten.

Die Funktion der Wiederholung, seit langem Element der religiösen Riten, erwies sich als wirksames Heilmittel gegen die Angst. Durch Konzentration auf das Unmittelbare und Praktische wurden die unlösbaren Rätsel, die den Menschen der Alten Welt fruchtlos beunruhigt hatten, das Warum des Universums und das Woher und Wohin des Menschen, ihres Stachels beraubt, und die frei werdenden Energien konnten für nützlichere Zwecke verwandt werden. Der Mensch der Neuen Welt wandte sich Problemen zu, die klein genug waren, um erfaßt und gelöst werden zu können; er gab sich Tätigkeiten hin, bei denen seine operative Tüchtigkeit und seine taktische Methodik einen unmittelbaren, vielleicht sogar dauernden Erfolg versprachen. Das Uniforme, Regelmäßige, Voraussagbare erzeugte, gerade weil es den Bereich der freien Entscheidung und Wahl einengte, ein Gefühl innerer Sicherheit und Zufriedenheit; innerhalb selbstgesetzter Grenzen hatte man alles unter Kontrolle. Der Erfolg war in jedem Fall gesichert; der Prozeß hatte den Zweck verdrängt, und »das Funktionieren war das Endziel«. Innerhalb weniger Jahrhunderte hatten diese Ideen Gestalt angenommen und waren zu wirkenden Kräften geworden.

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In der Kultur der Neuen Welt traten natürlich die von der Alten Welt betonten Persönlichkeitsattribute in den Hintergrund; Familienerbe, vornehme Herkunft, ästhetische Empfindsamkeit und Standesvorurteile spielten eine geringe Rolle beim Erfolg des Kaufmanns oder des Erfinders. Die Frage lautete: »Kann er liefern, was gebraucht wird?« Diese neuen Menschentypen waren oft stolz darauf, »Selfmademan« zu sein, und noch spät im Verlauf dieser Entwicklung waren viele von ihnen Autodidakten, von Palissy und Franklin bis zu Faraday und Bell. 

Lesen, Schreiben und Rechnen, Fertigkeiten, die sich nach dem 14. Jahrhundert schnell verbreiteten, halfen, alte Privilegien aufzuheben und Klassen­schranken zu durchbrechen. Und mehr noch vielleicht als die Uhr war die Druckerpresse das Vorbild für alle späteren Maschinen, die auf dem Prinzip der auswechselbaren Einzelteile beruhen; sie war auch die erste Etappe in der vollmechanisierten Massenproduktion. Soweit die Kultur sich auf geschriebene Symbole gründete, brach das gedruckte Buch das Klassenmonopol der Bildung. Die Geheimnisse der herrschenden Klassen, zumindest das Buchwissen, das seit der Bronzezeit mitgeholfen hatte, ihre autoritative Stellung zu festigen und zu erhalten, standen nun der Allgemeinheit offen.

Im 17. Jahrhundert war das System der Ausdehnung von Erziehung und Bildung auf die breiten Massen durch die Gemeinschafts­schule von Johann Amos Comenius im Prinzip schon ausgearbeitet worden. Dieses System beruhte auf der Möglichkeit der Entwicklung einheitlicher Methoden, die das persönliche pädagogische Talent überflüssig machten, und der Anwendung dieser Methoden in einer Folge von Klassen oder Stufen, die von der Grundschule zur Universität führten. Uniformität, Unpersönlichkeit und Massenproduktion hatten nie zuvor Eingang gefunden in der Erziehung. Sicher ist es kein Zufall, daß die erste Verwirklichung dieser Methoden auf breiterer Basis im 18. Jahrhundert nicht in demokratischen Ländern erfolgte, sondern unter dem absolutistischen und militaristischen Regime Preußens; die preußische Schule wurde zum Muster für andere öffentliche Schulen, die napoleonische und spätere, die den Effekt straffer Organisation suchten. Wir haben sowohl den Triumph dieses Systems erlebt, als auch seine fatale Unzulänglichkeit, die sich zeigt, wenn seine Tendenz zur Vermassung und Nivellierung kein Gegengewicht findet in dem aristokratischen Streben nach persönlicher Einzelleitung.

In der Zurückführung aller Naturerscheinungen auf meßbare Einheiten konnte dieser Entwicklungsprozeß vor dem Menschen nicht plötzlich haltmachen. Rene Descartes erklärte, Tiere könnten behandelt werden, als seien sie nichts anderes als hochkomplizierte Maschinen, und obwohl er den Menschen von dieser Qualifizierung

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ausnahm, meinte er, nur die theologische Natur der Seele verbiete es, auch den Menschen als bessere Maschine zu betrachten. Nachdem er sich selbst durch den Prozeß der technischen Analyse zu einem beweglichen Einzelteil gemacht hatte, behandelte der Mensch der Neuen Welt dieses erkennbare und kontrollierbare Stück seines Selbst als seine Gesamtpersönlichkeit.

Dieses Prinzip fand vielseitige Anwendung in der Armee und in der Fabrik und konnte fast unbegrenzt über diese Bereiche hinaus ausgedehnt werden. In Massenwahlen vermittels Stimmzettel wurde die gleiche mechanistische Methode auch in der Politik angewandt, doch ohne die Folgen vorauszusehen. Jedes Individuum wurde ohne Rücksicht auf Bildung, Erfahrung, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Stellung und Macht als Zahleneinheit betrachtet. Als demokratische Kontrolle willkürlicher Machtausübung tat der Stimmzettel seinen Dienst; doch der politische Apparat wäre durch ihn zum Stillstand gebracht worden, wenn nicht nichtstatistische Kräfte und persönliche Verantwortung hinter der Szene weitergewirkt hätten. Die Demokratie hat diese Schwäche noch nicht überwunden.

Doch man braucht nur die verschiedenen Elemente der Kultur der Neuen Welt in ihrem Zusammenwirken zu betrachten, um zu verstehen, warum sie trotz ihrer verächtlichen Ablehnung der Grundsätze der Alten Welt schrittweise in Europa Fuß faßte und ihre Methoden nicht nur über die ganze Erde verbreitete, sondern jetzt auch in alten Kulturzentren wie Indien, China und Persien die alten Wertsysteme zu verdrängen droht. Durch die nivellierende Wirkung ihrer mechanischen Ordnung gab sie dem Massemenschen einen Rang, den er vorher nie besessen hatte; denn in einer technisierten Gesellschaft zählen nur Menge und Zahl.

Obwohl der Zuwachs an Energie und Produktivität dem gemeinen Mann nur langsam zugute kam, förderte die Massen­produktion zwangsläufig den gleichmachenden Massenkonsum. War der mit Maschinen hergestellte Schmuck, eins der ersten Erzeugnisse der Industrie von Birmingham, nicht billig genug, um auch von den Ärmsten gekauft werden zu können? Dieses Faktum war symbolisch. Welcher Richtung die Politik eines Landes auch sein mag, die Maschine ist immer kommunistisch. Daher sah sich der Kapitalismus, der auf dem Prinzip der Klassendifferenzierung der Alten Welt beruhte, aus Selbsterhaltungsgründen schließlich gezwungen, den »Wohlfahrtsstaat« mit seinen weitreichenden Gleichmachungs-bestrebungen anzuerkennen.

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Der Übergang von einer subjektiv orientierten Alten Welt zu einer objektbezogenen Neuen Welt war mehr als nur eine Abwendung von der Kunst zur Technik; er war auch die Ablösung eines darbenden, gehemmten Daseins, in dem Anspruchslosigkeit fast als Heiligkeit galt, durch ein Leben höchster Vitalität, gekennzeichnet durch wachsenden Appetit und eine reichere und vielfältigere Ernährung, durch Ansteigen der Geburtenziffer, das gefördert wurde durch frühe Heirat und verbesserte Sorge für die Kinder. Selbst das eherne Lohngesetz, das geschaffen war, aus der Not der Arbeiter Profite zu ziehen, widerstand dieser Entwicklung nicht lange. Man beachte, was aus den sieben Todsünden der christlichen Theologie geworden ist; alle bis auf eine, die Faulheit, wurden zu positiven Tugenden. Habgier, Geiz, Neid, Völlerei, Verschwendung und Stolz wurden die treibenden Kräfte der neuen Wirtschaftsordnung, und während sie früher in der Hauptsache die Laster der Reichen waren, erfaßten sie jetzt nach dem Gesetz der wachsenden Bedürfnisse alle Klassen der Gesellschaft. So folgte der Entfesselung der Macht zwangsläufig die Entfesselung der Wünsche.

Die Kultur der Alten Welt dagegen hatte allen Betätigungen des Menschen Grenzen gesetzt. Arzt, Priester und Weiser vereinten sich, zur Mäßigung in allen Lebensbereichen zu ermahnen; die Gefahren des Stolzes und des Übermuts waren sowohl den antiken griechischen Dramatikern als auch den Moraltheologen des Mittelalters bekannt. Das Wissen um organische Grenzen, in der Biologie so natürlich, faßte Aristoteles in klassisch gewordenen Sätzen zusammen: »Der Größe eines Staates sind ebenso Grenzen gesetzt wie ändern Dingen, den Pflanzen, Tieren und Geräten; denn keines von diesen behält seine natürliche Kraft, wenn es zu groß oder zu klein wird, sondern verliert vollkommen seine Natur oder entartet.« Die Kultur der Neuen Welt hob im Gegensatz hierzu alle Grenzen auf und ließ die Dinge treiben; »Laissez faire« lautete eine ihrer Devisen. Jede Einengung, jede Behinderung, jeder Zwang, jedes nichtmaterielle Interesse bedrohte ihre Expansionskraft.

So funktionierte die Wirtschaft der Neuen Welt, da sie auf natürlichen menschlichen Begierden und Trieben basierte, automatisch, solange die Voraussetzungen für unbeschränkte Ausdehnung natürlich gegeben waren; ihre Kräfte flössen abwärts, so wie ein Fluß das Meer sucht. Diese Ideologie brauchte keinen Lenker, keine wachsame Gottheit, keinen Organisationsplan, kein sichtbares Ziel; nach einer »prästabilierten Harmonie« würden die egoistischsten Bestrebungen immer sozialen Nutzen erzielen, solange dieser »Nutzen« mit der Expansion Schritt hielt.

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In diesem Lebensschema waren alle Zwecksetzungen, die fähig waren, innere Veränderungen zu verursachen, verpönt; die mechanische Expansion an sich war höchstes Ziel geworden. Die Maschine war sowohl notwendiges Mittel als auch letzter Zweck.

So gedieh die Kultur der Neuen Welt, indem sie jenen Impulsen freien Lauf ließ, die der axiale Mensch zu beherrschen und dem Kanon der Vernunft und dem Dienste Gottes unterzuordnen gesucht hatte. So eingewurzelt wurde das antiteleologische Prinzip im Denken der Neuen Welt, daß Vorschläge, einen Teil der Produktionsmaschine zu bremsen oder anzuhalten, als unerhörte Ketzerei betrachtet wurden.

  

  § 3  

 

Eine Zeitlang wurde die mechanische Zwangsläufigkeit der technischen Kultur unterbrochen durch Abenteuer, die sich aus der Neuen Welt anboten; Meere und Kontinente, die der Mensch der Alten Welt bis zum 15. Jahrhundert nur sehr zaghaft und unmethodisch erforscht hatte, reizten nun zur Inbesitznahme. Denn der westliche Mensch erforschte diese Länder nicht nur systematisch, er eroberte sie, und er eroberte sie nicht nur, er besiedelte sie und begann, in ihnen einen Lebensstil zu entwickeln, der vollkommen verschieden war von dem, den er aufgegeben hatte.

Wie für die technische Phase der Kultur der Neuen Welt, so waren auch die Elemente für den romantischen Mythos und das romantische Leben seit langem vorhanden. Eine der Forderungen, die in der Kultur der Alten Welt als Reaktion auf die Beschränkungen der Zivilisation und auf die Verbote der axialen Religion immer wieder laut wurden, war die der Rückkehr zur Natur. Sie wurde zuerst erhoben von Lao-tse und Theokrit, wurde wiederholt vom heiligen Hieronymus, als er erwog, Rom zu verlassen, und inkarnierte sich dann in Franz von Assisi, der nackt vor seiner Gemeinde predigte und als ihr Bruder auch den wilden Tieren das Wort Gottes verkündete. In der romantischen Bewegung suchte der Mensch der Alten Welt den Teil seines Selbst wiederzugewinnen, den die Zivilisation ihm entfremdet und die axiale Religion unterdrückt hatte, die Gefühle, die ihn organisch mit allem kreatürlichen Leben verbanden.

Für den romantischen Philosophen ist die Natur ein Prozeß, der sich sowohl im Kosmos als auch im Menschen vollzieht. Lao-tse nannte ihn den Weg.

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Alle Lebewesen folgen diesem Weg, doch der Mensch ist durch seine zivilisatorischen Institutionen und Gebräuche von ihm abgewichen; nur die Primitiven und die Unverbildeten, der edle Wilde und das kleine Kind, sind diesem Weg nah genug, um in der Fülle ihrer eigenen Natur zu leben, sich zu ihrer vollen Höhe und Breite zu entfalten, wie ein frei stehender Baum, der nie beschnitten oder durch den Schatten anderer Bäume in seinem Wachstum behindert wurde.

Um diesen Weg zu finden, muß der Mensch die Städte, Institutionen und Bräuche, den ganzen Betrieb des automatischen Nehmens und Gebens, der die spontanen Gefühle erstickt, hinter sich lassen. Der Wald wird sein Tempel, die Bäche und Steine sprechen zu ihm, die wilden Tiere werden seine Freunde. Besonders im Liebesleben sollen Natürlichkeit und gegenseitige Beglückung wieder in ihre Rechte treten, und die »Rückkehr zur Natur« begann tatsächlich im sexuellen Bereich, und die romantischen Vorstellungen der provenzalischen Troubadoure fanden lange vor Rousseau durch die Schriften von William Penn Eingang in das häusliche Leben. Alle Überlegungen des Besitzes, des Standes und der Klasseneinteilung, die selbst die primitiven Gemeinschaften verdorben hatten, mußten über Bord geworfen werden. Die erotische Leidenschaft durchbrach alle Schranken; die einzige Familie, die die Romantik anerkannte, war die aus der Liebe hervorgegangene. Durch den Kult des Liebhabers und den Kult des Kindes während seiner romantischen Phase hat der Mensch der Neuen Welt seine Zeit am nachhaltigsten geprägt. Was wild, eigenwillig, un-gezähmt, spontan, naiv und unschuldig primitiv blieb, was der Organisierung und Uniformierung entging, in der Seele oder in der Landschaft, ist Erbe der Romantiker, von Petrarca an.

Doch um im Einklang mit der Natur zu leben, muß man in ihr leben. Hier bot die Erschließung der Neuen Welt eine Möglichkeit, die in den fortgeschrittenen, dichter besiedelten Ländern Europas und Asiens gefehlt hatte. Das erste Versprechen der Neuen Welt war die Verwirklichung eines Lebens in mühelosem Überfluß, das der Mensch der Alten Welt resigniert als Legende in das längst vergangene Goldene Zeitalter zurückverlegt hatte. Hier warteten unermeßliche Urwälder mit unberührtem Wildbestand, riesige Flächen jungfräulichen Bodens, üppiges Wachstum an wilden Beeren, unbekannten Früchten, Getreidearten und eßbaren Knollengewächsen, vor allem der Mais und die Kartoffel; hier gab es Küstengewässer, in denen es wimmelte von Muscheln, Austern, Krabben und Fischen aller Art, hier wurde der Himmel am hellen Tag verdunkelt durch die Schwärme wilder Tauben.

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Solange Bevölkerungsstärke und natürliches Nahrungsvorkommen sich ausglichen, und bevor der Überfluß zu schwinden begann, befreite die Neue Welt ihre Siedler von der Furcht vor Armut, Mangel und Übervölkerung, die den Menschen der Alten Welt weiterbedrückte. Hier überstieg das freiwillige Angebot der Natur vorübergehend die menschliche Nachfrage, vorausgesetzt, daß man nur das verlangte, was die Natur mit einem Minimum an menschlicher Nachhilfe geben konnte, und daß man auf die Raffinements der Zivilisation verzichtete. Die Neue Welt stellte ein wahres Füllhorn des Überflusses dar; sie gab umsonst, was die technische Zivilisation nur versprach als Gegenleistung für ein an die Maschine gefesseltes Leben angestrengter Arbeit. Hier boten sich für diejenigen, die ohne Eigentum waren, die gleichen Chancen, die zugleich die natürlichen Ungleichheiten in der Begabung und der persönlichen Tüchtigkeit erweisen würden.

Wenn die Dörfer und Städte der Neuen Welt im Anfang auch noch nach alten Vorbildern gebaut wurden, so hatten sie sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts schon hinreichend der neuen Umgebung angepaßt, um einen neuen Lebensstil zu entwickeln und einen neuen Menschen hervorzubringen, der den Träumen und Prophezeiungen Rousseaus entsprach, z.B. einen Daniel Boone und einen John James Audubon, und später einen Thoreau und einen Lincoln. 

In dem neuen Grenzerleben, in dem Feuer und Axt wichtiger waren als der Pflug, in dem der Jäger und der Trapper den Hauptanteil des Lebensbedarfes lieferten, kamen die Eigenschaften des vorzivilisierten Daseins wieder zur Geltung. Die neuen Lebensbedingungen förderten den Sinn für gegenseitige Hilfe und die nachbarliche wechselseitige Abhängigkeit der kleinen Gemeinschaft mit ihrer Verachtung für die Geldwirtschaft und die Vorurteile von Vermögens- und Rangunterschieden und ihrer Bewunderung für Charakter und Persönlichkeitswerte. Dieser urtümliche Sinn für die Gleichheit aller Menschen wurde ein Wesenszug der Neuen Welt. Wenn die politische Demokratie des 19. Jahrhunderts in diesem Boden, der in den Bürgerversammlungen der Städte Neuenglands in idealer Weise vorbereitet war. Wurzeln geschlagen hätte, hätte sie wahrscheinlich gesündere Früchte hervorgebracht.

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Für eine gewisse Zeit schien das Goldene Zeitalter in dieser Kultur der Neuen Welt verwirklicht zu sein, und zwar auf einer höheren Ebene, ohne seine abergläubischen Vorstellungen und andern Archaismen und genügend durchsetzt mit Ideen und Bräuchen anderer historischer Kulturen, einschließlich der eigenen technischen Errungenschaften der Neuen Welt, um stürmisches Wachstum und abenteuerliches Höherstreben zu fördern. 

In den großen Werken des Goldenen Tages, in den Essays von Emerson und Horatio Greenough, in Thoreaus Walden, in Melvilles Moby Dick und Weißjacke, in Walt Whitmans Grashalme und Demokratische Ausblicke kam der ideale Geist dieser Kultur, bereichert durch die Erfahrung von drei Jahrhunderten eines Lebens in der Wildnis, zum Ausdruck, im Gartenbau und in der Landschaftsgärtnerei der fünfziger Jahre und in der Schindel-Architektur der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts wurden die äußeren Formen dieser Kultur geprägt. Diese ureigenen Kunstwerke der Kultur der Neuen Welt versprachen noch größere Leistungen für die Zukunft. Doch als die romantische Phase der Kultur der Neuen Welt bereit war, sich zur vollen Blüte zu entfalten, begann die technische Phase sich auszuwirken; in unwiderstehlichem Vordringen vernichtete die Maschine nacheinander alle selbständigen Regionalkulturen.

Doch in den biologischen Wissenschaften — und vielleicht nur hier — vereinigten sich die beiden Aspekte der Ideologie der Neuen Welt zu fruchtbarer Zusammenarbeit; rationale Organisation und abenteuerliche Forschung unterstützten einander. Die Geographen und Naturwissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts, die Bartrams, die von Humboldts und die Darwins, erkundeten und vermaßen die großen Bereiche des Lebens in einer Ausdehnung, die Aristoteles, Theophrastus und Plinius den Älteren überwältigt hätte, und legten Gesetzmäßigkeiten der Abstammung und Verwandtschaft frei, die bisher als unabhängig geltende Arten zueinander in Beziehung brachte und Zufallsverbindungen zu engen Partnerschaften machte. Sogar im physikalischen Verhalten und in der Verteilung der Elemente enthüllte die Erde selbst, wie L. J. Henderson nachwies, eine Prädisposition zu unstabilen aber autonomen Lebensprozessen, die sich über Beharrungsvermögen und Entropie hinwegsetzten. Die Selbstverwandlung des Menschen war in dieser Sicht nur ein Teil in einem viel gewaltigeren Evolutionsprozeß, der ihn sowohl band als ihm auch die Freiheit zu abenteuerlichen Alleingängen gab.

Wenn dieser Trieb, eine menschliche Kultur in engerem Verhältnis zur Natur selbst und zum wachsenden Natursinn des Menschen zu schaffen, Zeit gehabt hätte. Wurzeln zu schlagen, hätte er vielleicht sowohl die Neue wie auch die Alte Welt genügend verjüngt und befähigt, den technischen Fortschritt höheren menschlichen Zwecken nutzbar zu machen. 

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Doch es kam anders; die Entdeckung der Neuen Welt war ein Werk der Wissenschaft und der Technik gewesen, undurchführbar ohne den Kompaß, den Sextanten, den Dreimaster und die Seekarte. Die beiden Entwicklungen setzten gleichzeitig ein, und die technische Phase gewann rasch die Oberhand, da sie nicht eine seelische Bereicherung des Lebens, sondern einen Zuwachs an Gewinn und Macht versprach. Die Mittel und Werkzeuge, die den westlichen Pionier in die Lage versetzten, die Wildnis zu erobern, zerstörten auch die Romantik, die ihn zum Teil verlockt hatte, in sie einzudringen. Die Gebote der gegenseitigen Hilfe entarteten zu einem Kampf ums Dasein, und die rücksichtslosen Methoden des viktorianischen Industrialismus wurden auf die Natur angewandt in einem Geist, der Vernichtung mit Neuschöpfung und Überleben mit Entwicklung verwechselte.

Fünf Jahrtausende »Zivilisation« unterstützten das Versprechen der Technik; die Kräfte des Lebens waren noch nicht wach genug, dieser verlockenden Aussicht zu widerstehen, noch waren die unheilvollen Aspekte der Automatismen und Zwangs­läufigkeiten der technischen Zivilisation offensichtlich genug, um als Warnung zu dienen. Der romantische Ausweg war versperrt durch das altehrwürdige soziale Prestige von Gesetz und Ordnung, von Eigentum und Stand. Bevor er es erkannte, hatte der Abenteurer seine Freiheit für Sicherheit und Komfort eingetauscht.

Dieser hoffnungsvolle Aspekt der Kultur der Neuen Welt war also nur eine vorübergehende Erscheinung; das jungfräuliche Land, einmal bestellt, brachte Früchte anderer Art hervor. Der Reichtum und die Vielfalt des Lebens wurden erstickt unter der Uniformität des technischen Fortschritts, das Abenteuer wurde in fernere Bereiche vertrieben, und hinter den tapferen Eroberern folgten sogleich die kapitalistischen Unternehmer, um den Kontinent mit Eisenbahnschienen und Telegrafendrähten zu fesseln. Anstatt mit den Völkern, deren Länder er erobert hatte, fruchtbare Beziehungen einzugehen, um die Werte, die durch die Kultur der Alten Welt unterdrückt worden waren, zu erhalten und zu pflegen, zeigte sich der Mensch der Neuen Welt allzuoft weniger kultiviert als die Wilden, deren primitive Kultur er zerstörte. Imperialistischer Wettbewerb und imperialistische Ausbeutung beschworen eine Flut von Kriegen herauf, die ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert erreichte und unsere Zeit zur blutigsten und grausamsten der Menschheits­geschichte machte.

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Als die Gebiete der Neuen Welt besetzt und besiedelt waren, die rasche Zunahme der Bevölkerung auf der ganzen Erde ihre Ernährung zu gefährden anfing und immer mehr Menschen in den Sog der Maschine gerieten, suchte die überschüssige Vitalität der Neuen Welt einen ändern, unheilvollen Ausweg. Nicht persönliche Freiheit und Entfaltung, sondern Macht, Organisation, Konformität und Absolutismus wurden nun die dominierenden Elemente in der Kultur der Neuen Welt, nicht zuletzt in den Ländern, in denen ein totalitaristischer Automatismus groteskerweise »freies Unternehmertum« genannt wird, und Generale und Geschäftsleute in austauschbaren Rollen agieren.

Zum größten Teil vergeudete der Mensch der Neuen Welt die Schätze, die er erschlossen hatte, und erstickte das Leben, das er im Anfang ermutigte. Doch einige der Erzeugnisse und Bräuche der primitiven und archaischen Kulturen wurden Bestandteil der Kultur der Neuen Welt. Das Tabakrauchen und Gummikauen, eine Variation des Betelkauens, verbreitete sich in der ganzen westlichen Welt, der dunkle, sonnengebräunte Körper der primitiven Naturkinder wurde die begehrte Uniform der westlichen Bleichgesichter, und der Gummi der Eingeborenen des Amazonasstromes revolutionierte die gesamte Technik der Neuen Welt, vor allem seinen Verkehr und nicht zuletzt seine Methoden der Empfängnisverhütung. 

Hätte der Mensch der Neuen Welt seine Auswahl unter den Geschenken der Primitiven klüger getroffen, hätte er die Menschheit vielleicht um manche Genüsse gebracht, aber bestimmt um einige echte Lebenswerte bereichert. In ihrem engeren Bereich hatten die primitiven Völker besser als diejenigen, die durch die Schule der Zivilisation gegangen waren, den persönlichen Kontakt mit den zentralen Lebensvorgängen bewahrt; sie zeigten größere Achtung vor dem Geheimnis des Geschlechts und des körperlichen Wachstums, schöpften noch aus den unbewußten Lebensquellen des Traumes und der Mythen, fühlten sich eins mit dem All und besaßen die naive Daseinsfreude unverdorbener Naturkinder.

  

  § 4  

 

Auf Grund ihrer zeitlichen Parallelität und ihrer Rebellion gegen die gleichen Fesseln der Alten Welt, haben die beiden Aspekte der Kultur der Neuen Welt gewisse gemeinsame Züge. Ich schlage vor, diese gemeinsamen Züge näher zu untersuchen, um das schnelle Vordringen und den Sieg des Menschen der Neuen Welt besser zu verstehen; sie sind außerdem ein wichtiger Beitrag zur nächsten Phase der Entwicklung des Menschen.

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Der erste große Aufbruch vollzog sich mit dem Auftauchen des Begriffs der menschlichen Gleichheit, nicht als ein Versprechen für die »andere Welt« der axialen Religionen, sondern als gerechte Forderung in jeder irdischen Gesellschaft. Mit diesem neuen Ideal verbunden war die stillschweigende Zurückweisung aller Ansprüche von seiten einer Klasse oder Gruppe auf einen größeren Anteil am Grundkapital des Wissens, der Erfindungen, des materiellen Reichtums und der Naturschätze. 

Die Forderung nach dieser Gleichheit aller Menschen wurde seit dem 14. Jahrhundert mit wachsender Eindringlichkeit und zunehmender Hoffnung immer wieder von neuem ausgesprochen; sie war der Traum des John Ball, über den Froissart mit seelenverwandter Beredsamkeit berichtete, war Prinzip des von Thomas Morus in seinem Utopia entworfenen Idealstaates, war der Schrei der Leveller in der Revolution der Puritaner, war Parole der Wiedertäufer und der rebellischen Bauern zu Luthers Zeiten, ertönte dann wie ein Donnerschlag in der Großen Französischen Revolution und wurde von allen Feudalstaaten bewilligt durch ihren Verzicht auf ihre Vorrechte und Privilegien. Schließlich wurde die Gleichheit der mächtige Appell des Sozialismus des 19. Jahrhunderts, und dieser Appell war so stark, daß er der Wirklichkeit der kommunistischen Diktaturen trotz ihres brutalen Absolutismus, ihres wachsenden inneren Wettbewerbs und ihrer steigenden Tendenz zu neuer Kastenbildung immer noch einen falschen humanen Glanz verleiht.

Als Alexis de Tocqueville in <Demokratie in Amerika> die Geschichte der letzten sieben Jahrhunderte als die Geschichte von der fortschreitenden Annahme der Idee der Gleichheit beschrieb, irrte er nicht; er hatte den ewigen Pulsschlag der Zeit vernommen, denn das Prinzip der Gleichheit aller Menschen ist »Bestandteil der göttlichen Vorsehung«. 

Das Versprechen der Gleichheit war das verlockendste moralische Ziel der Kultur der Neuen Welt, soweit man von ihr überhaupt sagen kann, daß sie moralische Ziele verfolgte; jedenfalls hat dieses Versprechen am stärksten dazu beigetragen, daß diese Kultur so schnell die Einbildungskraft der Menschen fesselte. Nicht nur sollten alle Güter der Neuen Welt allen Menschen unter gleichen Bedingungen zustehen, es sollte auch das, was nicht allen Menschen zugute kommen konnte, nicht länger als gut betrachtet werden. So beging das neue Prinzip, indem es eine alte Ungerechtigkeit korrigierte, einen neuen Fehler; es hob alle qualitativen Unterscheidungen und Unterschiede auf.

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Während die Wirtschaft der Neuen Welt mit einer Aufwärtsentwicklung begann, zeigte sie im Verlauf ihrer Verbreitung immer mehr die Tendenz eines Abgleitens auf ein Niveau der Mittelmäßigkeit und Gleichförmigkeit. Schließlich suchte sie alle Unterschiede zwischen hoch und niedrig, gut und böse, entwickelt und entartet auszulöschen, indem sie die Bedeutung der Werte leugnete oder zumindest die Möglichkeit, sie einer steigenden Rangordnung zu unterwerfen. 

Doch das Positive dieses Wandels ist ein wichtigeres Merkmal als seine spätere Verfälschung. In der Kultur der Neuen Welt wurde die menschliche Rasse als Ganzes wiederanerkannt; jedes Individuum zählte zumindest als Einheit, wenn auch nicht als Persönlichkeit. Und die Teilhaberschaft an den höchsten Gütern der Gesellschaft war nicht länger auf die »Auserwählten« beschränkt. Dies stellte einen großen Gewinn an Menschlichkeit dar. Das hierdurch im gemeinen Mann geförderte Gefühl der Selbstachtung ist heute noch eins der anziehendsten Merkmale der amerikanischen Kultur.

Mit der Forderung nach Gleichheit war eine stärkere Ausrichtung auf die Zukunft verbunden; sie war ein Teil des großen allgemeinen Abrückens von der Alten Welt in Raum und Zeit. Das Hauptziel des Denkens und Handelns der Neuen Welt war nicht länger die Vergangenheit, die Tradition, die Erinnerung, die überlieferte Form; ihre ganze Energie richtete sich auf den Bruch mit dem Alten, den Aufbruch ins Neue, die Entdeckung der Zukunft. Die Kultur der Neuen Welt war nicht mehr statisch und formgebunden, sie war dynamisch, entfesselt, bedacht auf Bewegung und Veränderung um der Bewegung und Veränderung willen. Die Zukunft trug jetzt die idealen Attribute, die man einst der Vergangenheit gegeben hatte. 

Nach dem rasch volkstümlich gewordenen Fortschrittsglauben war die Menschheit allmählich und automatisch aus einem Zustand der Unwissenheit und Ohnmacht in einen Zustand des Wissens und der Macht gelangt; in dieser Entwicklung, die sich mit der steten Verbesserung von Werkzeugen und Maschinen deckte, sah man den wahren Sinn der Geschichte. »Laßt die große Erde für immer die kreisenden Bahnen des Wandels ziehen.« »Laßt uns so handeln, daß jedes Morgen uns ein Stück weiter findet als das Heute.« Mit diesen Sätzen beschworen zwei repräsentative Dichter der viktorianischen Ära, Tennyson und Longfellow, den Geist der Neuen Welt.

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Als Korrektiv betrachtet, hatte diese Herausforderung der Neuen Welt eine gesunde Wirkung. Trotz vereinzelter philosophischer Einsichten, wie der des Heraklit, war die Kultur der Alten Welt im wesentlichen statisch gewesen; die jüdische Anschauung, daß Zeit und Geschichte eine Bedeutung hatten, änderte nichts an dem viel weiter verbreiteten Glauben, daß jeder Wechsel von Anfang an in seinem Zweck vorbestimmt und entweder dem Gesetz der zyklischen Rückläufigkeit unterworfen sei oder ein letztes Endereignis darstelle. Die höchste Bewußtseinsstufe der Alten Welt war ein Zustand reinen Seins. In der Kontemplation war jeder Augenblick ein Muster der Ewigkeit, und wenn der Mensch tausend Jahre lebte, würde sich ihm kein tieferer Sinn des Lebens enthüllen.

Die Kultur der Neuen Welt sprengte diese geschlossene Welt, verwarf das Sein als Illusion und machte das Werden zur wahren Wirklichkeit; ihre einzige Konstante wurde der Wechsel. Dies war eine einseitige Schau des Lebens, doch sie erschloß die Möglichkeit des Fortschritts, der Entwicklung, der Erneuerung und der Entfaltung ungeahnter Kräfte. Die Evolution hatte so eine neue Art von Hierarchie geschaffen, eine Rangordnung der Tüchtigkeit, nicht begründet auf ererbte Werte der Vergangenheit, sondern auf die Leistungen der Gegenwart und die Hoffnungen der Zukunft.

Hier zeigt sich ein bezeichnender Gegensatz zur axialen Kultur. Die charakteristischsten Leistungen der axialen Kultur stellten die höchsten Anforderungen an die geistigen Fähigkeiten des Menschen, verlangten subtilste Differenzierung des Geschmacks, des Fühlens und des Denkens; sie zu vollbringen oder auch nur zu verstehen, bedurfte der Mensch des konzentrierten Bemühens eines ganzen Lebens. Wenn auch nicht die bewußte Absicht bestanden haben mochte, ein Monopol in geistigen Dingen zu errichten, so setzten die axialen Werte eine umfassende Bildung voraus, und schließlich war nur noch eine kleine Minderheit fähig, ihrer auf Grund ihrer intellektuellen Schulung teilhaftig zu werden.

Doch obwohl die Wissenschaft der Neuen Welt ebenso exklusiv ist und das Begriffsvermögen der Massen in gleichem Maß übersteigt, sind ihre Früchte allen zugänglich; man braucht nicht den komplizierten Mechanismus des Selbstwählsystems zu verstehen, um ein Telefongespräch zu führen, so wie man die griechische Grammatik beherrschen muß, um einen griechischen Text zu lesen. Im allgemeinen braucht man an Geschmack und Intelligenz nicht über dem Durchschnitt zu stehen, um die Segnungen der technischen Kultur zu genießen.

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Hier kann man, um das vorausschauende günstige Urteil de Tocquevilles zu kontrastieren, seine negative Schlußfolgerung zitieren: 

»Der Vorwurf, den ich gegen das Prinzip der Gleichheit erhebe, ist nicht der, daß sie den Menschen verleitet, nach verbotenen Genüssen zu streben, sondern daß sie ihn sich verzehren läßt im Verlangen nach den erlaubten. Auf diese Weise könnte eine Art von tugendhaftem Materialismus in der Welt entstehen, der die Seele nicht verderben, sondern entkräften und die Triebfedern des Handelns geräuschlos entspannen würde.«

Doch trotz der Unreife ihrer Anschauungen, wie z.B. jener, daß der automatische technische Fortschritt ein Ersatz für die zweckbewußte Entwicklung des Menschen sei, zeigte die Kultur der Neuen Welt ein anerkennenswertes wachsendes Selbst­vertrauen, das der Kultur der Alten Welt in ihrer greisenhaften Illusionslosigkeit fehlte. Die axialen Religionen nahmen eine pessimistische Grundhaltung gegenüber dem Leben in dieser Welt ein; sie suchten die Menschen nicht nur von dem Streben nach den falschen Gütern abzubringen, sondern ihnen audi die echten Güter, die das Leben bieten mochte, zu verleiden. Die axialen Propheten betonten immer wieder die Unmöglichkeit einer Erlösung hier auf Erden und aus eigener Kraft.

Die Kultur der Neuen Welt brach mit diesem Pessimismus; sie wandte sich an das Jugendliche, das Abenteuerliche im Menschen und versprach ihm den Himmel auf Erden, zumindest für die nächste Zukunft. Wenn sie auch keine Unsterblichkeit versprechen konnte, so würde sie das Leben durch Verjüngung verlängern, prophezeite Francis Bacon zuversichtlich; wenn sie auch die Ursache des Schmerzes nicht beseitigen konnte, so erfand sie doch die Anästhetika. Wo immer ein biologischer Mangel oder ein menschliches Übel sich in ändern Kulturen bemerkbar machte, die Technik der Neuen Welt erfand kühn, allzu kühn, ein Heilmittel oder einen Ersatz.

Diese Leistungen dürfen nicht gering geschätzt werden; doch um von echtem menschlichem Wert zu sein, fehlte ihnen der höhere Zweck, den ihnen der sinnentleerte reine Fortschrittsglaube nicht geben konnte. Energie an sich, auch in kosmischem Ausmaß, hat keinen Sinn in einer sinnlosen Welt, und Werte werden wertlos in einer wertelosen Kultur. Solange die Kultur der Alten Welt intakt war, bot ihre bloße Existenz einen Ausgangspunkt und wenigstens ein negatives Ziel für die neuen Vorgänge. Man konnte den Wert der technischen Fortschritte messen an der Strecke, um die sie die Menschheit von den feststehenden Grenzen der Alten Welt entfernten.

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Die beschleunigten Prozesse der Veränderung ohne Zweck, die sich auf den Bereich der Technik beschränkten oder höchstens die technischen Aspekte aller andern Bereiche betrafen, bewegten sich nur in einer Richtung; ihr Selbstzweck war die Machterweiterung der Maschine.

So lebt nun der Mensch der Neuen Welt in einem »explodierenden Universum« wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Erfindungen. Die einzelnen Teile dieser Galaxis wachsen immer schneller und entfernen sich immer weiter von ihrem Kern, dem menschlichen Selbst, in dem sie entstanden und einst vereinigt waren. Und während Größe und Entfernung zunehmen, verringert sich die Möglichkeit der Wiedervereinigung und der Steuerung der einzelnen Fragmente. Heute übersteigt der quantitative Wissenszuwachs selbst der engsten Fachgebiete der Wissenschaft und der Technik die Möglichkeiten verläßlicher Kommunikation, angemessener Würdigung oder persönlicher Beherrschung. Abgesehen von der praktischen Verwertung für militärische, medizinische oder industrielle Zwecke, bleibt ein großer Teil dieses wunderbaren Schatzes an Wissen ungenutzt für das Leben.

Quantitativ gesehen, hat die von menschlichen Normen und Zielen emanzipierte Methodik der Neuen Welt sich durch ihre Ergebnisse gerechtfertigt; keine andere Epoche der Geschichte kann ein solches Ansteigen der Produktionszahlen auf allen Gebieten und eine solche Zunahme an Bevölkerung, technischer Organisation und wissenschaftlicher Erkenntnis aufweisen. Diese neue Kultur hat über das Maß aller Erwartung hinaus ein Problem gelöst, das die Kultur der Alten Welt kaum noch beachtet hatte, nachdem der zivilisierte Mensch auf den Plan getreten war, das Problem des Mangels und der Armut. Doch auf Grund seines Erfolges sieht sich der Mensch der Neuen Welt mit einem Problem gleichen Ausmaßes konfrontiert, mit dem Problem des Überschusses. Wie soll er den Überfluß an Energie und Produktivität dirigieren, um Verstopfungen zu vermeiden und die menschliche Entwicklung zu fördern, wenn seine eigenen Grundsätze den Wert von Kontrollen, Beschränkungen, Normen und Zielen leugnen?

Wir wissen, daß bei allen organischen Vorgängen ungeregeltes Wachstum oder ungehemmte Expansion ebenso gefährlich ist wie Mangel und Beschränkung; sowohl »zuviel« als auch »zuwenig« sind verhängnisvoll für das Leben. Physiologisch erzeugt ungehemmtes Wachstum Tumore, Krebsgeschwülste und Anomalitäten; auf höherer Ebene führt rein quantitative Zunahme zu Desorganisation, Zerfall und zu Rückbildungen ins Amorphe, Sinnlose und Irrationale.

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Das Maß an physischer Energie, sensorischen Eindrücken und bewußter Erkenntnis, das ein Mensch aufnehmen soll, muß immer in einem gesunden Verhältnis zu seinen Fähigkeiten und Absichten stehen; dies gilt ebenso für die Gesellschaft.

Heute haben der Betrieb der Wissenschaft und die Anwendung ihrer Entdeckungen den Charakter einer von allen menschlichen Zwecken gelösten automatischen Betätigung angenommen. Obwohl die Wissenschaften die höchsten Produkte dieser rationalen und technischen Kultur sind, sind auch sie in den irrationalen Sog der Expansion und quantitativen Vermehrung, der Veränderung und der Bewegung um ihrer selbst willen geraten und suchen neues Territorium zu gewinnen und Grenzen zu erweitern, anstatt auf sicherem Boden eine stabile neue Ordnung zu schaffen. Und an diesem Punkt ist es schwer zu sagen, was mehr Schaden angerichtet hat, der Prozeß selbst oder die künstlich genährte Illusion, daß er, obwohl menschlichen Ursprungs, jetzt aller menschlichen Steuerung und Kontrolle entwachsen ist.

Solange die Kultur der Neuen Welt noch in der Vergangenheit verhaftet war, das heißt, solange Tradition und Pietät noch als Gegengewicht gegen die Technisierung dienten, blieben die Grundirrtümer der Ideologie der Neuen Welt verborgen; wenn sie die Bedürfnisse des Subjektiven vernachlässigte, so wurden diese von der Alten Welt befriedigt durch museale Erinnerungen oder auch durch neue schöpferische Leistungen. Noch in der Mitte des 19. Jahr­hunderts zweifelten die Propheten des neuen Lebensstils nicht daran, daß er der menschlichen Natur vollkommen adäquat sei; wissenschaft­liche Erkenntnis, versicherte Herbert Spencer gelassen, war die einzig notwendige Grundlage für ein gesundes Leben. Der Industrialismus würde automatisch den Militarismus verdrängen, die Wissenschaft die Religion entthronen und die Technik die Kunst überflüssig machen. Wo die Ideologie der Neuen Welt noch nicht überwunden ist, glauben viele noch an die Wahrheit dieser dogmatischen Prophezeiungen.

Die Weitabgewandtheit des Wissenschaftlers, seine Ehrlichkeit in seiner Suche nach gültigen Beweisen und beweisbaren Wahrheiten, seine fast priesterliche Enthaltung von aller niedrigen Berechnung und selbst von gefühlsmäßiger menschlicher Anteilnahme, kurz, seine unirdische Haltung, machten die moderne Wissenschaft zunächst zur Verbündeten der Religion und der Philosophie, aus deren Tradition sie geboren war.

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Doch diese innere Unverletzlichkeit mit ihrem stillschweigenden Anspruch auf Entbindung von aller sozialen Verantwortlichkeit beruhte auf einer Illusion. Von Anfang an stand die Wissenschaft, im engeren Sinne der Naturwissenschaften, im Dienst der Kriegskunst, der Technik, der Industrie und der Medizin und erweiterte, indem sie ihre eigenen Zwecke verfolgte, deren öffentlichen Machtbereich. So wurden die idealen Ziele der Wissenschaft, die an sich unschuldig waren bis auf ihre gefährliche Selbsttäuschung, die Wahrheit um der Wahrheit willen zu suchen, zur ideologischen Tarnung für die niedrigen realen Interessen einer mechanisierten und entpersönlichten Lebensordnung.

Sie ahnten nicht, diese einfältigen Toren, wohin die Entwicklung in unseren Tagen führen würde, nämlich dazu, daß der Militarismus die Wissenschaft zu seinem Werkzeug machen und daß ihre moralische und soziale Indifferenz in Bundes­genossenschaft mit verbrecherischem Machtwillen, der nicht nur Faschisten leitet, sondern auch Demokratien ansteckt, den kontinuierlichen Bestand des Lebens auf unserem Planeten bedrohen würde. Sie ahnten nicht, daß die Methoden der Massenvernichtung, die Mark Twains einfallsreicher Yankee aus Connecticut ersann, um an König Arthurs Hof die ihm lästigen Vasallen aus dem Weg zu räumen, einmal viel großzügiger zur Anwendung kommen sollten. Fast als einziger von seinen Zeitgenossen sah Henry Adams voraus, daß, wenn die Möglichkeiten dieser Zivilisation zu Bomben von »kosmischer Gewalt« führten, das Recht der Macht weichen und die »Moral zur Polizei werden« würde.

Abgesehen von diesen traurigen Zwangsfolgen der Ideologie der Neuen Welt, barg sie innere Widersprüche, die ihre Bemühungen, alle ändern Kulturformen zu verdrängen, von vornherein vereitelten. Der offensichtlichste dieser Widersprüche liegt in der Tatsache, daß Expansion in einer endlichen Welt nicht endlos fortgesetzt werden kann; es muß der Zeitpunkt kommen, da alle unbekannten Gebiete erforscht sind und alles kultivierbare Land kultiviert ist, da auch die größte Stadt aufhören muß, sich auszudehnen, weil sie sich mit einem Dutzend anderer Großstädte zu einer formlosen Masse vereinigt hat, in der die Funktion der »Stadt« ihren Sinn verloren hat. Wenn jeder Bewohner unseres Planeten ein Auto besäße, wäre schnelle Vorwärtsbewegung, der eigentliche Zweck des Autos, auf dem Land fast ebenso unmöglich, wie sie es heute in den übervölkerten Städten ist.

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Wichtig an einem Wirtschaftssystem ist nicht die Quantität der verbrauchten Güter, sondern das Verhältnis zwischen Verbrauch und schöpferischer Fähigkeit. Eine Wirtschaft, die das Zwanzigfache der augenblicklichen Erdbevölkerung in Wohlstand erhalten könnte, wäre vielleicht ärmer an echten schöpferischen Kräften als eine, die nur die Hälfte der jetzt lebenden Menschen erhält. Ohne Kriterien einer sinnvollen Entwicklung der Menschheit ist jede Form von Expansion wertlos. Vermehrung der Quantität soll verbunden sein mit Erhöhung der Qualität.

Doch eine noch größere Schwäche der Kultur der Neuen Welt hat sich inzwischen enthüllt, nämlich ihre Unfähigkeit, ihrem ursprünglichen Anliegen treu zu bleiben. In ihrer ersten Phase zog sie abenteuerlustige und experimentierfreudige Geister an, die eine Freude daran fanden, schwierige technische Aufgaben zu lösen. Doch die Erfolge der Technisierung haben ihre Mittel unter die Kontrolle von nüchternen Routiniers gebracht, die bequeme Zwangsläufigkeit und überschaubare Uniformität dem unsicheren Wagnis vorziehen und sich darauf beschränken, dafür zu sorgen, daß die Räder sich reibungslos weiterdrehen. Selbst wenn sie die Maschinen nicht ganz unter ihre Herrschaft bringen, so wird ihre Bedienung zur automatischen Verrichtung und für den Menschen langweilig und sinnlos. So findet die Mehrzahl der Arbeiter, ob einfache oder qualifizierte, ihre menschliche Befriedigung nicht in der Tagesarbeit und sucht sie außerhalb ihres Berufes, im Sport, in der Unterhaltung, im Vergnügen.

Ironischerweise sind diese ausgleichenden Betätigungen ebenfalls Gegenstand geschäftlicher Ausbeutung (in den Vereinigten Staaten und England) oder politischer Lenkung (in Sowjetrußland und im kommunistischen China) geworden, und die Erholung wird ebenso standardisiert wie der Arbeitstrott, dem sie entgegenwirken sollten. Das stete Verlangen nach immer kürzerer Arbeitszeit, der Auszug aus den Städten an jedem Wochenende und jedermanns Sehnsucht nach einem Häuschen mit Garten in der Vorstadt, dies alles beweist, daß die technische Neue Welt die Geister der Menschen nicht länger fesselt. 

In Amerika, dem Land, das sich brüstet, die Heimat der Maschine zu sein, beginnt die Jugend, die Mathematik und die exakten Wissenschaften, die Pfeiler einer Maschinenkultur, zu scheuen. Diejenigen, die fortfahren, der Maschine zu dienen, fordern zusätzliche Belohnung, wirtschaftliche Sicherheit, kürzere Arbeits- und längere Freizeit. Die begrabene Romantik der Pioniere erlebt ihre Auferstehung in den uniformen Riten des Sports. Wenn die technische Neue Welt wirklich die Wünsche der Menschen widerspiegelte, würden sie dann in solchen Massen und mit solchem Eifer versuchen, ihr zu entfliehen?

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  § 5  

 

Lassen Sie mich nun versuchen, die Bilanz der durch den Geist der Neuen Welt bewirkten Veränderungen zu ziehen. 

Solange die Kultur der Neuen Welt sich in einer Zivilisation entwickelte, die ihrer historischen Kräfte noch nicht ganz beraubt war, leistete sie dem Menschen große Dienste, denn sie lockerte die erstarrten Gewohnheiten und förderte menschliche Fähigkeiten, die bisher vernachlässigt worden waren. Die Technik der Neuen Welt vereinigte die menschliche Rasse zum erstenmal zu einer wirksamen Einheit, gegründet auf ein weltumfassendes Netz von Verkehrs- und Nachrichten­verbindungen; sie brachte menschlichen Gemeinschaften, die zu lange in Selbstabgeschlossenheit gelebt hatten und durch geistige Inzucht gefährdet waren, ein gemeinsames Gesetz und eine einheitliche Ordnung, oft auch eine einheitliche Sprache. In dieser größeren Welt führte der zunehmende Verkehr zwischen Rassen und Völkern, Ländern und Nationen zum Austausch von Erfahrungen, Kenntnissen und Kulturformen und eröffnete die Perspektiven einer durch gegenseitige Befruchtung im Fluß gehaltenen Entwicklung, die aus dem Kreislauf ewiger Wiederholungen befreit war.

Und nicht zuletzt erweckte die Kultur der Neuen Welt ein neues Vertrauen in die Macht des Menschen und in seine Fähigkeit zu höheren, auf beweisbares Wissen gegründete Leistungen. Durch die Ausbeutung von Naturschätzen, die bisher nur in geringem Maß verwertet worden waren, durch die Erschließung von Kraftquellen, von der Elektrizitätserzeugung bis zur Nutzung der Kernenergie, versprach die Kultur der Neuen Welt, die Menschheit von der Geißel der Armut und des Hungers zu befreien. Indem sie weit voneinander entfernt lebende Völker einander ins Bewußtsein brachte und tiefere Schichten der Vergangenheit bloßlegte, förderte sie kulturelle Reichtümer zutage, die noch wichtiger waren für die weitere Entwicklung des Menschen als materieller Wohlstand. Durch die Institutionen der politischen Demokratie, in deren Rahmen auf friedlichem Wege die Gleichheit aller der Verwirklichung nähergebracht wurde, kurierte die Neue Welt eine der hartnäckigsten Krankheiten der alten Kulturen. Wer könnte sich weigern, anzuerkennen, daß diese Auswirkungen zugleich große Gewinne bedeuten?

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Philosophisch gesehen war diese Neue Welt jedoch nur eine halbe Welt; denn die subjektive Seite der menschlichen Persönlichkeit war in ihr nicht vertreten, oder richtiger gesagt, war nur soweit zugelassen, als sie an den Prozessen systematischen Denkens, experimenteller Beobachtung, mathematischer Symbolisierung und technischer Erfindungen beteiligt war. Diese Kultur hat keine Verwendung für die Götter der Alten Welt, die kosmische, des Menschen eigene weit übersteigende Kräfte symbolisierten, schöpferische Prozesse, die er in sich selbst beobachtete, und vor allem seinen Drang, sich auszudrücken und zu verwandeln.

Hierdurch schloß die Kultur der Neuen Welt vieles an wahrhaft Menschlichem aus und mit ihm alles an Göttlichem. Ihr Wirtschaftsprinzip, das darin besteht, alles in der kürzesten Zeit mit der geringsten Anstrengung zu tun, ist das Gegenteil von jenem, das in den höheren Bereichen des Lebens gilt, wo Verfeinerung, Intensivierung und Vertiefung das Maß der Zeit und der Mühe bestimmen.

Zeit ist der wichtigste Faktor aller organischen Entwicklungsprozesse, und für die Verwirklichung der höchsten menschlichen Werte ist die Dauer eines Lebens kläglich unzureichend. Nicht umsonst träumt der Mensch seit je und so hartnäckig von der Unsterblichkeit; eines Tages, so hört er nicht auf zu hoffen, wird er sie auf eine Weise, die so ganz verschieden ist von seinen Träumen, vielleicht durch einfache Wiederkehr individueller Seelen, erreichen. So wie jetzt der Traum der Alchimisten von der Umwandlung der Elemente, ja selbst der Traum vom Perpetuum mobile in der unerwarteten Form der Atomkernspaltung Wirklichkeit geworden ist.

Nicht die Maschine, sondern der Mensch ist Anliegen und Maßstab der Kultur. Diese Wahrheit, die so alt ist wie das Neue Testament, wurde mit entwaffnender, aber gefährlicher Vereinfachung wiederaufgenommen von den Philosophen der romantischen Bewegung; doch sie hat nie Eingang gefunden in die nüchternen Köpfe der Neuen Welt, die bereitwillig ihr persönliches Leben den Apparaten opferten, die sie bedienten.

Die Kunst, ein immer-menschlicher-sein-wollendes Selbst zu schaffen, das idealen Zielen zugewandt war, um neue Möglichkeiten menschlicher Entwicklung zu erschließen, das war der Einfall, der der Kultur der Neuen Welt fehlte, um sich eine Bestimmung zu geben. Indem er lernte, die physikalischen und chemischen Prozesse zu verstehen und die Naturkräfte in übermenschlichem Maß zu beherrschen, hat der technische Mensch nur einen kollektiven Automaten geschaffen. Um ihn zu perfektionieren, hat er auf einen nicht geringen Teil dessen verzichtet, was eine seiner Art würdigere Entwicklung ermöglicht hätte. Er suchte keine Liebe and war selbst unfähig zu lieben.

Wo die archaischen und axialen Elemente der menschlichen Kultur so abgenutzt sind, daß die Kräfte der Neuen Welt überwiegen, wie es in den Vereinigten Staaten und in Sowjetrußland der Fall ist, drohen die Mächte, die der Mensch der Neuen Welt so vertrauensvoll beschwor, sich gegen ihn zu wenden, wie in der Sage vom Zauberlehrling. Die Menschheit lebt heute unter der Bedrohung der Selbstvernichtung in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß. Ein einziger Befehl, gegeben gegen alle Einwände der Vernunft, könnte eine Weltkatastrophe auslösen.

Selbst wenn das nicht geschieht, scheint bereits eine noch dunklere Zukunft sichtbar zu werden in der Ablösung des historischen Menschen durch den posthistorischen Menschen.

Wir müssen diese Gefahr erkannt haben, bevor wir uns der Erkundung erfreulicherer Alternativen zuwenden.

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 Lewis Mumford 1956