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9. Ausblicke

 

Mumford-1956

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  § 1  

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Die Verwirklichung einer Weltkultur geht die Menschheit als Ganzes und jedes Individuum im besonderen an. Jede Gemein­schaft, jede Gruppe, jede Organisation hat ihre besondere Rolle in dieser Verwandlung, und keine Domäne des Lebens wird unberührt bleiben von ihr. Der Wille und die Kraft zu diesem Werk erwachsen dynamisch aus der Krise unserer Zeit, aus der Notwendigkeit, die gefährliche Überentwicklung der technischen Organisation und der physikalischen Energien durch weitreichende soziale und moralische Reformen abzufangen.

Unter diesem Aspekt ist die Schaffung einer Weltkultur eine Maßnahme zur Rettung der Menschheit, doch sie würde viel von ihrer wahren Bedeutung einbüßen, wenn sie es nicht auch als ihre Aufgabe betrachtete, einen neuen Menschentyp hervorzubringen. Daß unsere Situation die Führerschaft und die tätige Anteilnahme ganzheitlicher Persönlichkeiten fordert, ist unbezweifelbar, doch die Höherentwicklung des Menschen bliebe der historische Auftrag unserer Epoche, auch wenn diese Notwendigkeit nicht so gebieterisch wäre.

Der Menschentyp, den unsere Zeit verlangt, ist die geeinte Persönlichkeit, autonom genug, alle Schranken der Kultur und der Geschichte, die bisher die Entfaltung des Menschen behindert haben, zu durchbrechen, ein Mensch, nicht auf ewig gekennzeichnet durch die Tätowierung seines Stammes oder unlösbar gebunden durch die Tabus seines Totems, nicht lebenslänglich eingenäht in die Tracht seiner Kaste oder eingezwängt in den Panzer seines Berufes, den er auch nicht ablegen kann, wenn er sein Leben bedroht, ein Mensch, der durch seine religiösen Diätvorschriften nicht davon abgehalten wird, geistige Kost zu sich zu nehmen, die andere Menschen nahrhaft finden, den seine ideologische Brille nicht daran hindert, je mehr als nur einen kurzen Blick auf die Welt zu werfen, wie sie sich Menschen mit anderen ideologischen Brillen zeigt, oder wie sie sich jenen enthüllt, denen es durch eifriges Üben gelungen ist, ohne Brille normal zu sehen.

Das Nahziel der Weltkultur ist es, die hemmenden Mehrgleisigkeiten, die lähmenden Konflikte und die nutzlosen Wiederholungen der Geschichte zu überwinden. Diese Selbstüberwindung würde den modernen Menschen befähigen, die einmaligen Chancen seiner Zeit zur Verwirklichung eines Universalismus zu nutzen, von dem frühere Epochen nur träumen konnten. Doch der Endzweck der geeinten Welt ist es, die Möglichkeiten des Menschen zu erweitern und neue Bereiche für seine Entwicklung zu erschließen, und zwar auf dieser Erde und nicht im interstellaren Raum.

(detopia-2019)  geschrieben 1956; Sputnik-1 am 4.10.1957.

Wenn es Sinn einer Weltzivilisation wäre, alle Menschen mit einem Fernsehapparat, einem Auto, einer Lebensversicherungspolice oder einer Rentenkarte und einem Billett ohne Rückfahrt für ein Raumschiff zu versorgen, dann könnten wir unseren Planeten ebensogut sofort dem posthistorischen Menschen ausliefern.

Die Mittel für diese Selbstverwandlung stehen erst seit wenig mehr als einem Jahrhundert zur Verfügung des Menschen, und viele technische Werkzeuge und organisatorische Formen müssen noch reif gemacht werden für das große Werk. Doch zum erstenmal in seiner Geschichte beginnt der Mensch, seinen Planeten als ein Ganzes kennenzulernen und mit allen Völkern in Kontakt zu kommen, die ihn bewohnen, d.h., er beginnt, sein vielgestaltiges Bild in einem gemeinsamen Spiegel zu sehen, oder richtiger, in einem Film, der Vergangenheit und Zukunft zusammenrafft. 

Da die Erforschung der Erde vom westlichen Menschen unternommen wurde, ehe er die geistige Reife dazu besaß, verloren die Völker und Kulturen, die durch Handel, Kolonisation und Eroberung miteinander in Berührung kamen, viele ihrer wertvollsten Eigenarten. Die Expansion der Neuen Welt erniedrigte die Eroberer anstatt die Eroberten zu erhöhen. Hierdurch schadete der westliche Mensch auch seiner eigenen künftigen Entwicklung, denn das Erbe, das er verstümmelte und oft vernichtete, war auch sein eigenes, da es Gemeingut der menschlichen Rasse war. In seinem Landhunger und in seiner Gier nach Gold, Silber, Kohle, Eisen und Öl übersah er weit größere Reichtümer.

Obwohl unser Sinn für gegenseitige Abhängigkeit und für Einheit zu spät erwacht ist, um allen Schaden, der bereits angerichtet wurde, wiedergutzumachen, sehen wir, daß selbst die Überreste vergangener Kulturen immer noch mehr Werte enthalten als eine einzelne Nation je geschaffen hat. Durch sein Geschichts­bewußtsein vermag der moderne Mensch sich vielleicht von den unbewußten Impulsen zu befreien, die aus früheren Epochen noch in ihm nachwirken und ihn von der großen Straße seiner Entwicklung hartnäckig in Sackgassen abzudrängen versuchen, an deren Ende ihn ein Trümmergrab erwartet.

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Und wenn er rückschauend die Möglichkeiten erkennt, die er sich zerstörte, weil er sich selbst nicht kannte, gewinnt er auch sein verlorenes Vertrauen in die Zukunft wieder und eröffnet sich neue Ausblicke.

 

Die systematische Bestandsaufnahme der menschlichen Existenz als ein Ganzes, die erst seit vier Jahr­hunderten im Gange ist, hat nicht nur den Menschen natürlicher gemacht, indem sie ihn in die Zyklen der kosmischen, geologischen und biologischen Prozesse einordnete, sie hat auch die Natur vermenschlicht und sie mehr als je zu einen integralen Bestandteil des menschlichen Bewußtseins gemacht. Die schöpferischen Werke des Menschen, sei es ein Tempel, ein Atommeiler oder ein mathematisches Denkgebäude, sind Ausdruck der Natur und Verwirklichungen der Möglichkeiten, die im Atom latent waren und in den Prozessen aktiv wurden, die in rhythmischen Reihen die stabilen Elemente aufbauten.

Was auch immer die letzte Wirklichkeit sein mag, was der Mensch von der Natur weiß, ist bedingt durch sein Selbst und ändert sich von Sekunde zu Sekunde und von Lebensalter zu Lebensalter im gleichen Maße wie seine Erfahrung reift und seine Fähigkeit zu symbolischer Interpretation wächst. Seine Gefühle sind ebensosehr Teil dieser Wirklichkeit wie seine Gedanken, denn sein Begriff von einer "objektiven", neutralen Welt ohne Gefühle und Werte war das Produkt eines besonderen Augenblickes im Verlauf seiner Selbstentfaltung und ist für ihn nicht mehr so wichtig, wie es ihm einst erschien. Und was der Mensch von sich selbst weiß, ist bedingt durch die Natur; je genauer und unpersönlicher seine Wahrnehmung natürlicher Vorgänge ist, um so stärker befreit er sich von der Illusion einer unzuverlässigen Subjektivität. Brahman und Atman sind wirklich eins, wenn man sie unter dem Aspekt dynamischer Wechselwirkung begreift, als die das Selbst schaffende Welt und das die Welt schaffende Selbst.

Die Erforschung der Natur, hat auch die innere Geschichte des Menschen bloßgelegt. In der individuellen Seele findet der Mensch in symbolischen Formen ein ganzes Universum, das alle verstreuten Überreste vergangener Kulturen und die Keime zukünftiger zu enthalten scheint. In seinem eigenen Inneren findet er primitive Triebkräfte und zivilisatorische Hemmungen, Stammesfixierungen und axiale Freiheitsvorstellungen, animalische Dumpfheit und geistigen Höhenflug. Durch das Medium der Kultur oder auch durch unmittelbare Einwirkung auf die Psyche bleiben alle Stadien der menschlichen Vergangenheit lebendig.

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Wie die Auffassung des Menschen von der sogenannten physischen Welt jetzt mehrdimensional geworden ist und den ganzen Bereich vom interstellaren bis zum interatomaren Raum umfaßt einschließlich der genauen Kenntnis von Erscheinungen, die, wie die ultravioletten Strahlen, außerhalb seines Wahrnehmungs­vermögens liegen, so hat sich auch seine innere Welt erweitert; sie reicht von den Tiefen des Unbewußten bis zu den höchsten Höhen bewußter Gedankenbildung, beherrschten Fühlens und zweckvoller Handlungen.

Unser Begriff vom Selbst umschließt jetzt auch frühere Interpretationen, die die Neue Welt in ihrer äußerlichen Sicht verworfen hatte. Das Seelenbild des Augustinus ist dem Freuds näher als das John Lockes, und die Beschreibung der menschlichen Seele durch den heiligen Paulus erscheint zutreffender als die Benthams. Himmel und Hölle, als letzte Bestimmungen von Schöpfung und Auflösung, sind notwendige Kardinalpunkte in jeder Darstellung der menschlichen Seele. Nicht durch wissenschaftliche Untersuchung, sondern durch Anteilnahme und Einfühlung, durch Akte geistiger Neuschöpfung erforschen wir diese Welt, auch wenn sie ändern Menschen bereits durch Symbole und Kunstformen erschlossen war.

Die Erhaltung alter biologischer oder historischer Relikte, seien sie nun aktiv oder latent, bedeutet nun nicht, wie viele fälschlich annehmen, daß unser Schicksal vorbestimmt oder festgelegt ist. Wenn gewisse Aspekte der menschlichen Natur verhältnismäßig konstant erscheinen, da sie strukturell an die Organe gebunden sind, so haben sie dennoch eine variable Funktion, ähnlich der der Kette des Webstuhls; nicht nur die festen Fäden haben in sich einen erheblichen Spielraum, sondern das Schiffchen wird von den Händen des Menschen gesteuert, und er kann nach seinem Willen neue Farben und Figuren einweben und so das Muster nach seinem Plan gestalten. 

Jede Kultur bewertet Wesen und Geschichte des Menschen anders, und in ihren schöpferischen Momenten fügt sie neue Werte hinzu, die die menschliche Persönlichkeit bereichern und ihr neue Ziele setzen. Obwohl die Lösung des Menschen aus seiner Verhaftung in der Natur oder von den Bindungen an seine Vergangenheit nie vollständig sein kann, verleiht sie dennoch jeder historischen Form ihren autonomen Charakter und bewahrt selbst die rein wiederholenden Phasen der Geschichte davor, sinnlos zu werden. Die Gestaltung der Zukunft ist ein wesentliches Element der Selbstentdeckung des Menschen.

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Es ist die große Aufgabe des heutigen Menschen, sein erweitertes Wissen um die Naturprozesse und um seine eigene Naturgeschichte zur Förderung seines eigenen Wachstums zu nutzen. Er muß dieses Wissen zu höheren Zwecken verwenden im Entwurf eines neuen Lebensplanes und eines neuen Selbst, das fähig ist, sich über seine jetzigen Beschränkungen und Unzulänglichkeiten zu erheben. Dieses Bemühen ist, wie wir gesehen haben, ein altes Anliegen des Menschen; selbst bevor er begann, sein Selbstbewußtsein zu entwickeln, widmete er sich intensiv seiner Selbstformung. Wenn "Sei du selbst" der erste Auftrag der Natur an den Menschen war, dann war "Verwandle dich selbst" ihr zweiter, während "Überwinde dich selbst" bis jetzt ihr letzter Befehl zu sein scheint. Das besondere Kennzeichen der Bemühung des Menschen unserer Zeit um die Schaffung einer Weltkultur ist die reiche Vielfalt der Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, und die große Zahl der Menschen, die nun in hinreichendem Maße vom Kampf ums nackte Dasein befreit sind, um in diesem neuen Akt des Menschheitsdramas eine Rolle zu spielen.

   

  § 2  

 

Die Bereitschaft, das Leben in all seinen Dimensionen, kosmischen und menschlichen, zu betrachten, ist heute die erste Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Menschen. Diese Bereitschaft selbst ist ein neues Phänomen, denn selbst Wissenschaftler, deren Neugierde grenzenlos zu sein schien, schraken lange vor einer Erforschung des subjektiven Selbst zurück, die über die Schwelle isolierter Reize, abstrakter Empfindungen und meßbarer Reaktionen vordrang.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß der wissenschaftliche Rationalismus Sigmund Freuds durch seine souveräne Sezierung dessen, was krankhaft erschien, jene Aspekte der Persönlichkeit freigelegt hat, die der Positiv­ismus und der philosophische Rationalismus als "unwirklich" unbeachtet gelassen hatten, nämlich den Wunsch, den Traum, das Schuldgefühl, die Erbsünde und die Konkretisierung der Phantasie in der Kunst; und indem er diese Untersuchung auf die normalen und gesunden Manifestationen dieser inneren Bereiche ausdehnte, enthüllte Carl Gustav Jung die integrierenden Funktionen des Symbols und eröffnete so einen Weg aus der verschlossenen Subjektivität zu jenen allgemeinen ästhetischen Vorstellungen und praktischen Verwirklichungen, die, in einem Geist der Liebe, mit andern Menschen geteilt werden können.

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Die Erschließung aller Teile der Psyche scheint zusammenzufallen mit der Entstehung eines neuen Verhältnisses zwischen den Kulturen. Diese äußert sich in einer kaum eine Generation alten Würdigung der ästhetischen Werte der afrikanischen, polynesischen, aztekischen und Anden — Kunst und einer ihr vorangegangenen radikalen Änderung in der Einstellung gegenüber der Kunst Ägyptens, Mesopotamiens, Persiens, Indiens und Chinas, die bisher als zu tief unter dem absoluten Standard der griechischen Kunst stehend betrachtet wurden, um eines Studiums, geschweige der Wertschätzung würdig zu sein.

Dieser Wandel könnte zu einem unfruchtbaren kulturellen Relativismus, bar aller Entwicklungstendenz, führen, wenn er nicht den höheren Zwecken einer Weltkultur untergeordnet würde. Die einseitigen und fragmentarischen Persönlichkeiten, die der Mensch in seiner Geschichte verwirklicht hat, opferten die Ganzheit zugunsten einer vorübergehenden Ordnung, und in der einseitigsten und fragmentarischsten aller Formen, die der posthistorische Mensch jetzt anstrebt, wäre die Ordnung nahezu vollkommen und absolut, denn das meiste von dem, was wesentlich menschlich ist, würde in ihr fehlen.

Vor dieser negativen Universalität kann nur die Anerkennung des ganzen menschlichen Selbst, wie sie sich in der Gesamtschau seiner Geschichte enthüllt, uns bewahren, denn die organische Ganzheit kann nicht verwirklicht werden, wenn die schöpferischen und integrierenden Prozesse nicht dominieren. Religion und Kunst und auch die Wissenschaft erinnern uns ständig an die Möglichkeit des Erscheinens himmlischer Retter und Erlöser in Gestalt prometheischer Helden, die unter Mißachtung der grausamen Bestrafung durch neidische Götter Feuer und Licht auf die Erde bringen, oder hilfreicher Mütter, die den Menschen zum Vorbild demütiger Liebe werden. Wir haben nichts aus unserer Geschichte gelernt, wenn wir nicht gelernt haben, daß der Mensch von mehr lebt als nur von den Früchten seines Verstandes.

Aus den Tiefen des Lebens kommen das Über-Ich, das Gewissen, das idealisierte Bild und das eingebildete Ideal, die Stimme der Vernunft und die Anrufe der Göttlichkeit, und sie gehören zum Wesen des Menschen wie Atmen und Verdauung. Denn nicht nur die animalische Vergangenheit lebt im Unbewußten des Menschen, auch die Zukunft, die noch nicht Gestalt angenommen hat, ist in gleicherweise gegenwärtig, und hierin liegt die Hoffnung begründet, daß es dem Menschen gelingen wird, sich von seinen Fixierungen und Verdrängungen zu befreien und sich neue ungeahnte Wege des Seins und Werdens zu eröffnen.

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Obwohl kein geringer Teil der menschlichen Geschichte im Zeichen der Erforschung dieses inneren Selbst gestanden hat, oft zum Schaden der Macht des Menschen über die äußere Welt, muß er jetzt alle seine Fähigkeiten voll in den Dienst der Selbsterkenntnis stellen. Und wie bei der Entdeckung der Neuen Welt muß auch hier der Erkundung und Vermessung des unbekannten Territoriums die weit schwierigere Phase der Besiedlung und Kultivierung folgen.

 

  § 3  

 

Wir haben gesehen, daß die innere Entwicklung des Menschen sich in vier Hauptstadien vollzogen hat, von denen jedes seinen Stempel auf seinen Ideen und seinen Institutionen hinterließ.

Im primitiven Stadium der Magie und der Mythen war der Mensch noch frei von Selbstbewußtheit, denn sein Selbst, als Wesen außerhalb der Gruppe, existierte noch nicht, und daher fehlte ihm die Fähigkeit zur selbständigen Handlung und zur Erfindung, die er erst nach einer gewissen Zeit der Trennung erwarb. Subjektiv wurde alle menschliche Erfahrung erhalten und ausgedrückt in sinnvollen Bildern und Symbolen, doch der Preis für diese Einheit war Isolation von jeder möglichen widersprüchlichen Realität. Der primitive Mensch, so wie wir ihn heute aus den Mythen und seinen historischen Relikten rekonstruieren, war relativ ganzheitlich; doch indem er seinen tierischen Zustand transzendierte, verließ er die reale Welt, da er kein Anderssein anerkannte. Was er sah und fühlte und auf was er reagierte, waren seine eigenen Vorstellungen, seine eigenen Gefühle und Triebe, in die alle äußeren Geschehnisse gewissermaßen hineingedeutet wurden.

Die Zivilisation legte dieser Subjektivität äußere Zügel an; sie zwang den Menschen zum Gehorsam gegenüber äußeren Mächten, gegenüber Göttern, Königen und den Forderungen der Natur, und verlieh allen menschlichen Betätigungen eine mechanische Ordnung. Durch die gesetzten Maße und Grenzen wurde der Mensch bis zu einem gewissen Grad vor subjektiver Auflösung bewahrt. Indem die Zivilisation ihn seine eigenen Beschränkungen erkennen ließ und ihn von seiner reinen Wunschphantasie befreite, erweiterte sie seine Macht über die Wirklichkeit. 

Doch indem er so Ansprüche außerhalb seines Selbst als absolut anerkannte, hörte der zivilisierte Mensch auf, in einer einheitlichen Welt zu leben. Der fragmentarische Mensch mit seiner gespaltenen und in sich widerspruchsvollen Persönlichkeit trat in Erscheinung; der unschuldige Größenwahn des primitiven Menschen machte jenem schizoiden Zustand Platz, der die Zivilisation in allen Phasen zu begleiten scheint.

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Mit der Entwicklung des axialen religiösen Bewußtseins bildete sich ein neues Selbst. In seinem bewußten Bemühen, seine Ganzheit wiederherzustellen, spaltete sich der innere Mensch vollkommen von der äußeren Welt und ihren einengenden Institutionen ab. So wirklich wurde die Vorstellung eines einzigen, einigen, allwissenden und allmächtigen Gottes, daß die äußere Welt trivial und bedeutungslos erschien. Sinn und Wert wurden nur dem Inneren, dem Körperlosen, dem Subjektiven zuerkannt, und alle Aspekte der Natur, die einem anderen Bereich zugehörten, waren Ausdruck des göttlichen Willens und Verstandes und nicht Werk des Menschen. Diese bewußte Innerlichkeit war sogar noch kühner in ihren Offenbarungen als die naive Subjektivität des primitiven Menschen, und sie gab dem Menschen ein gesteigertes Selbstbewußtsein seiner eigenen Wichtigkeit, nachdem die Zivilisation ihn zu einem Bruchteil seines Selbst, zu einer von äußeren Mächten und Autoritäten beherrschten Nichtigkeit erniedrigt hatte.

Doch der axialen Religion gelang es nur, der Zerstückelung durch die zivilisatorische Zwangsordnung zu entgehen, indem sie die Dualität "dieser Welt" und der "andern Welt" schuf. Dies störte die innere Ruhe und lahmte die äußere Tatkraft. Jede äußere Bekundung menschlicher Ordnung oder Macht oder gar Intelligenz bedeutete zugleich Verrat am inneren Menschen oder zumindest eine Bedrohung seiner Existenz. Dieser radikale Dualismus des axialen Selbst wurde negiert von einer ändern, zum erstenmal im 6. Jahr­hundert v. Chr. in Ionien formulierten Anschauung, die alle sinnvolle Erfahrung aus der inneren Welt in die äußere Welt verlegte. Diese Philosophie leugnete die Bedeutung der Seele als unabhängiges Wesen mit bewußten Werten und Zielen und erkannte nur die äußeren Manifestationen von "Erde, Luft, Feuer und Wasser" als Wirklichkeiten an, die jedoch bar jeden Zweckes und Zieles seien und ohne Selbstbewußtheit, außer jener, die sich im rationalen Verstand äußert. Das Selbst war auf den Erkennenden reduziert und die Wirklichkeit auf das, was erkannt werden konnte.

Leider war diese Anschauung, die im 17. Jahrhundert zur Reife gelangte, nur ein umgekehrter Dualismus; sie erreichte die Einheit, indem sie jeden subjektiven Ausdruck, außer ihren eigenen Gedanken, unterdrückte oder ignorierte. 

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Die bewußte innere Welt, die so entstand, war ostentativ antiseptisch wie der Operationssaal eines Krankenhauses; innerhalb dieses isolierten Raumes, der mit raffinierten technischen Hilfsmitteln ausgestattet war, lernte der Verstand, mit einer Gewandtheit und Genauigkeit zu "operieren", wie es früher nur seltene Geister vermocht hatten. Doch draußen in den Korridoren herrschten Schmutz, Unordnung und Krankheit; die verworfenen Teile der Psyche waren in dieser neuen Ordnung in einem schlimmeren Zustand als die verworfenen Teile der physischen Well unter der Herrschaft des axialen Selbst.

In diesen Stadien der Entfaltung des Selbst war nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten des Menschen als Bild oder Idee zum Ausdruck gekommen. Glücklicherweise waren die unterdrückten oder vernachlässigten Aspekte selbst in der primitiven Gesellschaft nicht von jeder lebendigen Erfahrung ausgeschlossen. So stark die innere Welt auch ummauert ist, es dringt ständig etwas von der äußeren Welt ein, meldet Forderungen an, die befriedigt werden müssen, gibt Anregungen, die, selbst wenn sie nicht bewußt befolgt werden, eine bestimmte Wirkung ausüben. So verursacht auch der Druck der inneren Welt, wie dick auch die Kruste der äußeren Institutionen und Gewohnheiten sein mag, Risse und Sprünge in ihr und von Zeit zu Zeit sogar einen explosiven Ausbruch. 

Durch Anwendung magischer Formeln oder durch Sondierung des Unbewußten kann man kein Werkzeug herstellen. Desgleichen kann man auch mit technischen Werkzeugen kein Gedicht verfassen. Mit andern Worten, durch den Akt des Lebens selbst haben die Menschen bis zu einem gewissen Grad die Unvollkommenheiten ihres Wissens und Glaubens ausgeglichen. So wie das Leben selbst in seiner sich ständig weiterentfaltenden Schöpferkraft reicher ist, als wir uns vorstellen können, so verhält es sich auch mit dem menschlichen Selbst. Der Mensch baut nicht nur, er lebt auch besser, als er es weiß.

Offensichtlich hat der Mensch einen großen Teil seines Potentials an Energie, Vitalität und Schöpferkraft vergeudet, weil er nicht allen Aspekten der inneren und der äußeren Wirklichkeit voll und zu jeder Zeit gerecht wurde. Die verschiedenen historischen Formen seines Selbst haben wie feinmaschige Netze gewirkt, die mehr abhielten, als sie durchließen. Wir können kaum das Maß der Verwandlung ermessen, das der Mensch erlebt hätte, wenn er alle seine Erfahrungen verwertet und wenn er jeden Teil seiner inneren Welt ebenso willig und gründlich zum Gegenstand bewußter Lenkung gemacht hätte wie die äußere Welt. 

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Wir haben bis jetzt nur in Teilwelten gelebt, und sie haben uns nur erlaubt, einen kleinen Teil unserer Kräfte unmittelbar zu nutzen. Weder die lockere subjektive Ganzheit des primitiven Menschen noch das extreme Gegenteil, die exakte, bruchstückhafte Objektivität, die jetzt die Wissenschaft erstrebt, tragen allen Dimensionen der menschlichen Erfahrung Rechnung, Wenn erstere begrenzt war durch ihre Eigenwilligkeit, die keine äußere Ordnung oder Kausalität anerkannte, so ist es die zweite durch ihre Selbstbeschränkung, die keinen Wandel der Motive zuläßt und nicht mit der Freiheit des Schöpferischen und der Möglichkeit des Göttlichen rechnet. Da wir in halben Welten lebten und leben, ist es kaum erstaunlich, daß wir nur halbe Menschen hervorgebracht haben oder Geschöpfe, die verkrüppelter sind als jene homunkulusähnlichen "invertierten Kreaturen" mit überdimensionalen Ohren, Augen, Bäuchen oder Hirnen, deren andere Organe verkümmert sind.

Ein besseres Beispiel für den Zustand des Menschen, wie ihn seine Geschichte entlarvt, ist vielleicht eine Reihe von Versuchspflanzen, von den jede mit einem der für volles Wachstum erforderlichen Nährstoffe gefüttert wurde, doch keine von ihnen mit allen; hier hat ein Übermaß an Nitrogen eine Verdickung des Stengels verursacht, dort hat ein Mangel an Wasser die ganze Pflanze zusammenschrumpfen lassen, und, um das Bild zu vervollständigen, hat der Gärtner außerdem die Pflanzen an verschiedenen Stellen gestutzt und beschnitten und ihre Knospen zerstört. Wenn wir aus diesem Vergleich die Lehre ziehen, dann müssen wir erkennen, daß der Mensch eine gesündere Diät braucht, als eine der bisherigen Kulturen sie ihm bieten konnte. Er braucht volles Sonnenlicht über der Erde und reicheren Boden im Unbewußten.

Es war das Ideal der Ganzheit, das bisher in der Kultur des Menschen fehlte; seine Besonderheiten und Eigenheiten waren ihm wichtiger. Doch vereinzelte Epochen, wie z.B. die Renaissance, in denen das Bild des ganzen Menschen sich in den großen Gestalten des Zeitalters verwirklichte, vermitteln uns eine Ahnung von der ungeheuren Kräfteentfaltung, die stattfinden könnte, wenn alle Aspekte des Lebens gefördert werden, wenn das instinktive Leben nicht mehr aus der rationalen Entwicklung ausgeschlossen wird und wenn Ordnung und Vernunft nicht länger zu leiden haben unter der Dumpfheit der Gefühle, der Mechanisierung der Tatkraft und der Beschneidung der Hoffnungen.

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Doch selbst in ungünstigen Epochen hat es Persönlichkeiten gegeben, die einen hohen Grad von Reife auf allen Lebensgebieten erreichten; aber sie wurden meistens von der Gesellschaft, die sie überragten, abgelehnt. In mehr als einem Augenblick der Geschichte hat die Bemühung, Ganzheit, Gleichgewicht und Universalität zu erreichen, zu überzeugendem Erfolg geführt. Die griechische Kultur des 6., 5. und 4. Jahr­hunderts v. Chr. brachte eine bemerkenswerte Anzahl solcher Menschen hervor; hierfür sind Solon, Sokrates und Sophokles leuchtende Beispiele. Doch sie waren keine seltenen Ausnahmen, denn die Zahl höchst­entwickelter Persönlichkeiten scheint hier im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung größer gewesen zu sein als je an einem andern Ort oder zu einer ändern Zeit.

Diese Vorbilder der Ganzheit erklären vielleicht die große Anziehungskraft, die die griechische Kultur auf die besten Köpfe des Westens ausgeübt hat. In einem Maße, dessen nur wenige andere Kulturen sich rühmen können, verwirklichte der Grieche das Menschliche in seiner ganzen Fülle und Echtheit. Die Entwicklung eines einzelnen Individuums mag Fehler aufweisen; so gelang es z.B. Sokrates nicht, den Menschen der Stadt mit dem Menschen der Natur in Einklang zu bringen. Doch im allgemeinen war ihnen kein Bezirk des Lebens ganz verschlossen, und kein Teil ihres Selbst beanspruchte sie so ausschließlich, daß andere Fähigkeiten verkümmerten oder andere Wege der Erfahrung sich ihnen verschlossen. Die Bereitwilligkeit, mit der Sophokles seine Pflicht als Bürger und im Militärdienst als General erfüllte, beeinträchtigte nicht den Tragödienschreiber in ihm, denn er war in beiden Rollen vor allem ein Mensch. Die letzten Geheimnisse und Rätsel des Lebens, symbolisiert im Zufall, im Schicksal, durch die Furien und durch Eros, hatten Platz in ihrem Bewußtsein, ohne ihr Gleichgewicht zu erschüttern oder die realen Werte zu gefährden, die sie geschaffen hatten.

Doch auch in seiner höchsten Vollendung fehlte diesem so ausgeglichenen, innerhalb seiner kulturellen Grenzen so wunderbar vollkommenen hellenischen Selbst die echte Universalität. Selbst seine besten Vertreter begriffen nicht, daß das Gleichgewicht und die Einheit, die sie erstrebten, der Hilfe anderer Kulturen und anderer Menschentypen bedurfte, daß die Barbaren, die sie verachteten, Erfahrungen besaßen und Werte geschaffen hatten, die z.B. einen ihrer schöpferischsten Geister, Plato, vielleicht davon abgehalten hätten, so statische und absurde Utopien zu ersinnen, wie er sie in seinen Büchern Der Staat und Die Gesetze beschrieb. 

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Von den Juden hätten die Griechen etwas über die Bedeutung der Zeit, des Wechsels und der Geschichte lernen können, von den Persern, daß Spannung und Kampf wesentlich sind für die Entwicklung des Menschen und daß eine Regierungsform, die nur eine negative Vollkommenheit, frei von der dialektischen Gegensätzlichkeit des Guten und des Bösen, erstrebt, auf eine Illusion gegründet ist.

Das Beispiel der Griechen zeigt, daß die großen Möglichkeiten unserer Zeit ihre Wurzeln in der Geschichte haben; ihr Versagen zeigt, daß wir eine neue Grundlage für unsere Weiterentwicklung nur finden, wenn wir die Wirklichkeiten unserer Welt in ihrer Ganzheit hinnehmen, anstatt eine begrenzte Provinz für ein begrenztes Selbst zu suchen. Das Selbst, das wir suchen, ein Selbst, das ein erhöhtes Bewußtsein seiner noch ungenutzten Mittel besitzen wird, muß erst geschaffen werden. Auf die Schaffung dieses Selbst müssen wir einen nicht geringen Teil der Energie verwenden, die wir bis jetzt so unbesonnen an unsere planlose "Eroberung der Natur" vergeudet haben. Nur durch eine Konzentration auf unsere innere Welt, die genügt, unsere Veräußerlichung auszugleichen, können wir hoffen, rechtzeitig das Gleichgewicht und die Ganzheit zu erlangen, die ein stetes, gleichmäßiges Hin- und Herfließen der Energie zwischen Innen und Außen ermöglichen. Wenn die Zeit erfüllt ist, wird ein geeintes Selbst eine Weltkultur schaffen, und diese Weltkultur wird ihrerseits dieses neue Selbst auf eine höhere Stufe der Entwicklung tragen.

    

  § 4  

 

Alle Verwandlungen des Menschen, ausgenommen vielleicht die von der neusteinzeitlichen Kultur bewirkte, vollzogen sich auf einer neuen metaphysischen und ideologischen Basis, oder genauer gesagt, auf vertieften Lebensgefühlen und Intuitionen, die in einem neuen Bild des Kosmos und der menschlichen Natur ihren rationalen Ausdruck fanden. Auch der neolithische Mensch mag keine Ausnahme gewesen sein; denn wer kann sagen, welche Vorstellungen von Fruchtbarkeit, welche Einsichten in das Verhältnis zwischen Samen und Boden, zwischen Phallus und Mutterleib, dieser neuen Lebensordnung vorangegangen waren?

Unsere Hoffnung, eine innere und äußere geeinte Welt zu schaffen, die in all ihren Bereichen allen Menschen zugänglich ist Und ein Leben ermöglicht, das reicher, voller und kühner ist, als es je möglich war, kann sich nur erfüllen, wenn wir in uns einen entsprechenden ideologischen Wandel vollziehen.

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Um Einheit zwischen den Menschen zu erreichen, müssen wir in uns selbst eins sein, und um diese innere Einheit verwirklichen zu können, müssen wir uns im Geist ein Bild von ihr machen.

Hierzu brauchen wie ein Denkgerüst, in dem alle Aspekte des Lebens ihren Platz finden; es muß fähig sein, Beharrung mit Wechsel, das Innere mit dem Äußeren, das Kausale mit dem Finalen, den Prozeß mit dem Zweck zu versöhnen. Viele Versuche der beiden vergangenen Jahrhunderte, ein solches philosophisches System zu schaffen, scheiterten an der aller traditionellen Philosophie innewohnenden Tendenz, ein in sich geschlossenes, vollkommenes Gebäude zu errichten, in dem kein fremder Gedanke, auch wenn er es ergänzen, berichtigen oder bereichern könnte, Einlaß findet. Wir erkennen dies klar an den frühen Bemühungen um Synthese eines Hegel, Comte, Marx und Spencer, die alle, indem sie kein anderes System gelten ließen, ihren eigenen Anspruch auf Einheit desavouierten. Selbst die Wissenschaften, die ihre Fundamente verändern und ihren Überbau ergänzen könnten, ohne die bereits stehenden, gesunden Gebäudeteile zu zerstören, versperren sich jeder Erfahrung, die ihre, alles schöpferische Denken ausschließenden, rein rationalen Methoden nicht bestätigen.

Gewiß wäre es anmaßend, diese Irrtümer durch Schaffung eines neuen Systems zu berichtigen, doch es wäre weitaus törichter, den Weg der meisten zeitgenössischen Philosophen weiterzuverfolgen und das Streben nach Einheit aufzugeben, weil es angeblich über menschliches Vermögen geht, sie zu erreichen. Um eine neue Verwandlung des Menschen zu ermöglichen, brauchen wir eine Philosophie, die fähig ist, alle Aspekte menschlicher Erfahrung zu vereinigen und die menschliche Entwicklung in jeder Phase zu steuern. Zwar hat das entpersönlichte und statische Weltbild der Physik des 19. Jahrhunderts bereits stark an Kredit gerade bei jenen Wissenschaften verloren, in deren Bereich es entstanden war, doch das gewaltige Erbe an wissenschaftlichen Erkenntnissen, das wir übernommen haben, trägt noch seinen Stempel. Ein großer Teil unseres positiven Wissens hat einen Filter passiert, der alle jene Erfahrungsaspekte nicht durchließ, die autonome und subjektive Zielsetzungen aufwiesen und somit dem objektiven, rein physikalischen Denken widersprachen.

Auch für die Wissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, gilt diese Beschränkung. Die reduktive Methodik der konventionellen Wissenschaft, die das Komplexe mit Begriffen des Einfachen, das Höhere mit den Begriffen des Niederen, das Ganze mit den Begriffen des Teiles erklärt, ist wertlos für die Interpretation von Bewegungen, die in entgegengesetzter Richtung verlaufen. 

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Sie kennt keinen Weg, der in die Zukunft weist, der zur Integration, zur Höherentwicklung und Neubildung führt, und daher ist es ihr unmöglich, jene organischen Prozesse zu verstehen, in denen der Zweck oder das Ziel rückwirkend die Folge der Ereignisse bestimmt, vor allem nicht, wenn das erdachte oder geplante Ziel im Akt der Verwirklichung selbst Gegenstand von Veränderungen in seiner eigenen Struktur ist. Im Falle organischer, also auch der menschlichen Entwicklung entgeht der reduktiven Methode jenes Element, das vor allen ändern die Entwicklung grundsätzlich von wahlloser Veränderung unterscheidet, nämlich die kontinuierliche Fortbewegung auf ein Ziel hin oder auf einer niederen Ebene, auf die Beendigung einer organischen Ereignisfolge hin, wie z.B. im Lebenszyklus einer Art. Beim Menschen hat diese Bewegung auf ein bewußt in die Zukunft projiziertes ideales Ziel seinen Ursprung in unbewußten Impulsen und Träumen, und mit wachsender Erkenntnis und Erfahrung schließt sie eine weitere Welt ein, als die unmittelbare, sichtbare Umwelt je vermitteln kann.

Wenn planmäßige Erkenntnis der weiteren Entwicklung des Menschen von Nutzen sein soll, dann müssen die Wissenschaften ihr naives Vorurteil gegen die Teleologie, das sie vom 17. Jahrhundert geerbt haben, überwinden. In jener Zeit sahen sich fortschrittliche Denker, wie Galilei, Descartes und selbst Spinoza, gezwungen, den dogmatischen Finalismus des axialen Denkens aufzugeben. Das theologische Dogma, das behauptete, Gottes Absichten und die letzte Bestimmung des Menschen auf Grund der "Offenbarung" zu kennen, hatte sich durch seine Anmaßung selbst in Mißkredit gebracht. Doch wenn auch kein sterblicher Geist sich anmaßen kann, Einblick in den Gesamtprozeß der Evolution und der Geschichte zu haben, obwohl, wie Spinoza richtig sagte, "die Natur kein endgültiges Ziel erkennen läßt", so heiß das nicht, daß nicht Nahziele und vorläufige Zwecke sichtbar und definierbar sind.

Gewiß war die Route, die sowohl die Natur als auch der Mensch eingeschlagen haben, nicht von Anfang an starr festgelegt, vielmehr sichteten wir, wie Kolumbus, auf unserer Fahrt immer wieder unbekannte Küsten und fremde Häfen. Doch dies bedeutet nicht, daß die ganze Reise zwecklos war und uns nie irgendwohin führen wird. 

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Eine ins Meer geworfene Flasche mag vom Zufall der Gezeiten und der Strömungen an ein fernes Gestade getrieben werden, doch die großen Entdeckerfahrten wurden nicht in diesem Geiste durchgeführt noch hätten sie Erfolg gehabt ohne das Bewußtsein eines Zweckes, einer Richtung und eines Zieles. Gerade das Endziel ist es, das die Folge der Etappen bestimmt und zu ihm selbst hinführt, und je besser dieses Endziel erkannt ist, um so umwegloser verspricht die Reise zu werden. Organische Prozesse schaffen sich ihre eigenen Möglichkeiten, anstatt ganz den Bedingungen der Natur unterworfen zu sein.

Glücklicherweise haben die Erkenntnisse der Biologie eine neue Grundlage für das teleologische Prinzip geschaffen. Der Mensch weiß seit langem, daß der Fluß des Lebens richtunggebunden und irreversibel, nicht umkehrbar, ist; Leichname werden nicht zu Embryos. Ebenso widersetzen sich organische Lebensprozesse während des größten Teils ihres Verlaufs der Tendenz der Energie, abwärtszulaufen und sich zu zerstreuen. Die Umkehrung der natürlichen Lebensbahn ist Abbau und Zerfall. Wir wissen auch, daß bestimmte Attribute des organischen Lebens sich innerhalb riesiger Zeiträume verstärkt haben, daß z.B. weit mehr Verstand vorhanden war in dem Augenblick, da der Mensch in Erscheinung trat, als hundert Millionen Jahre vorher. 

Seit der Mensch seine Laufbahn begonnen hat, hat der Verstand nicht nur eine quantitative Zunahme, sondern auch eine qualitative Bereicherung seiner Attribute erfahren, durch die erhöhte Empfindungs­fähigkeit des Menschen, durch seine Gefühls­intensivierung, durch seine gesteigerte Fähigkeit zur Liebe und sein Vermögen, mit Hilfe von Symbolen den Sinn des Ganzen tiefer und voller zu erfassen. Im Menschen haben die blinden Kräfte, die aus dem Bereich der Materie und des organischen Lebens vorstießen, ein Bewußtsein erreicht, das immer weiter in die Ursprünge zurückgeht und immer weiter in die Zukunft strebt. Trotz vieler Rückschläge und Abwege ist der Verstand gereift, und die Liebe, die zuerst dem Bedürfnis nach Fortpflanzung und Ernährung entsprang, hat ihren Bereich erweitert. Keine Theorie der menschlichen Entwicklung wird dem Menschen ganz gerecht, die den Siegeszug der Liebe nicht einschließt; denn eher noch als der Verstand und die Arbeitsteilung, die der Mensch mit den Ratten und Termiten gemeinsam hat, ist es der Durchbruch der Liebe, der die Menschwerdung des Menschen kennzeichnet. Und mit zunehmender Reife hat der Mensch das Leben begehrenswerter gemacht, indem er die Ziele und Wege der Liebe vervielfachte.

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Als Intuitionen und Wissensfragmente waren diese Tatsachen und Möglichkeiten dem Menschen schon in früheren Zeiten bekannt, doch das vordringende systematische Denken hat sie in eine einheitliche Wissensordnung eingereiht. Von Darwin bis Freud, von Humboldt bis Geddes, von Schliemann bis Petrie und Evans, von Vico bis Toynbee und Teilhard de Chardin haben die Wissenschaften, die es sich zur Aufgabe machen, die Geschichte der organischen und menschlichen Entwicklung zu schreiben, die Spekulation und den Mythos durch exakte Beobachtung und verständlichere Darstellung ersetzt, obwohl vieles von dem, was wir wissen, der Vertiefung und Ergänzung bedarf, die nur eine umfassendere, auf Ganzheit abzielende Methode erreichen kann.

Wenn das Leben in seiner Fülle und Ganzheit den Maßstab für alle Entwicklung bilden soll, dann muß unsere Philosophie die Hauptattribute des Lebens berücksichtigen, nämlich Gleichgewicht und Wachstum, Freiheit und Möglichkeit, Beharrung und Variation, Anpassung und Auflehnung und vor allem die Tendenz zur Selbstverwirklichung und Selbsterhöhung. Um der Ganzheit willen müssen wir Hemmungen durch Ausdruck, Vergeistigung durch Versachlichung, Extravertiertheit durch Introversion und Automatismen durch Erneuerung der schöpferischen Kräfte ausgleichen. Für den neuen Menschen sind, wie William James sagte, "das Reale und das Ideale in dynamischer Kontinuität miteinander verbunden". Und nur durch das Leben selbst kann dieses dynamische Zusammenspiel in Gang gehalten werden.

Diese neue Denkrichtung verkündet nicht nur das Primat des Lebens, sondern sie fordert die einseitige reduktive und analytische Methode entschlossen heraus, indem sie den höchsten Inbegriff bewußter Existenz, den Menschen, zum bewußten Träger der Verantwortung für die Erklärung und Gestaltung des Lebens macht, da er heute in zunehmendem Maße zu diesem hohen Rang befähigt ist. Anstatt den Menschen herabzuwerten durch Reduzierung auf seine tierischen Lüste und Triebe oder gar auf seine niederen chemisch-physikalischen Funktionen, führt sie eine Neu- und Höherbewertung aller natürlichen Lebensprozesse durch, indem sie sie in den Macht- und Zweckbereich des Menschen einbezieht. 

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  § 5  

 

Die Umpolarisation des Denkens auf den Begriff des Menschen als des höchsten Ausdrucks alles bekannten Lebens hat bereits in vielen einzelnen Köpfen der letzten Generation begonnen, doch in einem andern Sinn als dem von den axialen Religionen angestrebten. Gemeint ist hier nicht das erleuchtete Individuum, die singuläre Inkarnation, sondern der Mensch als Gattung, als die letzte Station in der Entwicklung des physikalischen Universums, der organischen Welt und der menschlichen Gemeinschaft. 

So begriffen, ist der Mensch ausgestattet mit den Kräften und Möglichkeiten aller früheren Entwicklungsstadien. Doch er überwindet seine kreatürlichen Beschränkungen durch seine Fähigkeit, die Vorgänge in der Natur zu deuten. Formen und Werte zu bewahren, neue Ziele zu setzen und neue Pläne zu entwerfen, eine sinnvolle Welt bewußt ganz zu umfassen und durch Taten in Erfüllung dieses Sinne zu erweitern.

Die Philosophie des Menschen schließt alle Aspekte der Erfahrung ein, die Wirklichkeit der Liebe nicht weniger als die Wirklichkeit der Macht, die Wirklichkeit des Einmaligen und Individuellen ebenso wie die Wirklichkeit des Wiederholbaren und Standardisierten. Im Menschen sind sowohl Immanenz als auch Transzendenz, sowohl Notwendigkeit als auch Freiheit Tatsachen der Erfahrung. Wenn wir den Menschen zum Ausgangspunkt unseres Denkens nehmen, durchdringen wir alle Schichten des Lebens, nicht nur die Vergangenheit und das Bekannte, sondern auch das Mögliche und Begreifbare, das, was noch jenseits unserer Erfahrungsgrenzen liegt. Dies ist die polare Idee, die in alle Bezirke des Denkens ausstrahlt, die Wahrnehmung für Zusammenhänge und Integrationsmöglichkeiten schärft und Wahrheiten einen dynamischen Wert verleiht, die sonst steril blieben.

Eine auf dem Begriff des Atoms aufgebaute Welt wird immer fragmentarisch und ohne inneren Zusammenhang bleiben; in einer solchen, nicht vom Gedanken einer organischen Entwicklung erfüllten Welt würden selbst die Phänomene des Lebens statisch und zufällig, ohne Richtung und bar eines letzten Wertes erscheinen. Eine von oben herab vom Menschen erfüllte Welt beginnt mit vollendeter Integration, gesteckten Zielen und festgesetzten Werten. 

Nach einem solchen Start können abweichende und scheinbar zwecklose Vorgänge im Licht des Zieles gedeutet werden, das sie angestrebt hatten und nun bewußt verwirklichen können. Eine solche Welt setzt keine prästabilisierte Harmonie und keine festgelegte Bestimmung voraus. Sie enthüllt eine Vielzahl organischer Formen, die, zu den Plänen des Menschen in sinnvolle Beziehung gebracht, einen neuen reicheren Sinn erhalten. Die Steigerung der schöpferischen Leistung wird so des Menschen Maßstab für seinen Erfolg im Leben.

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Im Verlauf seiner eigenen Entwicklung ist der Mensch sich sowohl des großen allgemeinen Prozesses organischer Verwandlungen als auch der wichtigen Rolle bewußt geworden, die er in ihm übernommen hat. Der Begriff der Persönlichkeit, als der mit schöpferischen und göttlichen Attributen ausgestattete Mensch, war ursprünglich auf ein einzelnes Individuum beschränkt gewesen, auf den Herrscher des Landes, der mit Gott identifiziert wurde und göttliche Ehrungen erfuhr. Jetzt ist dieser Begriff das Kennzeichen der menschlichen Gesamtentwicklung geworden, an der alle Einzelmenschen teilhaben. Anstatt als Person von der Szene abzutreten, wie er es tat, wenn er den Kanon der alten Naturwissenschaften befolgte, nimmt er jetzt eine beherrschende Stellung auf der Bühne ein, wissend, daß die Vorstellung, zumindest im Theater des Bewußtseins, ohne ihn nicht weitergehen kann. Ohne die Beteiligung des Menschen wäre das Schauspiel des Lebens sinnlos und langweilig.

Der Mensch beginnt als Schauspieler, schon deutlich abgesondert von seinen tierischen Mitspielern, den Statisten, und ist bereits Hauptdarsteller, ehe er weiß, welche Rolle er lernen soll. Mit der Zeit wird er auch Bühnenmaler und gestaltet den Hintergrund, der wiederum seine Rolle mitgestaltet. Dann fühlt er sich getrieben, auch den Bühnenarbeiter zu spielen, verschiebt die Versatzstücke und Kulissen, um seine Auftritte und Abgänge bequemer und wirkungsvoller zu machen. 

Erst nachdem er sich in all diesen Rollen, als Bühnenmaler, Kulissenschieber, Kostümzeichner, Maskenbildner und Schauspieler betätigt und bewährt hat, entdeckt er, daß es seine Hauptaufgabe ist, das Drama selbst zu schreiben und zu inszenieren. Wenn er nun das Stück selbst verfaßt, benutzt er, wie Shakespeare es tat, die alten, von der Natur hinterlassenen Stoffe, doch er belebt sie durch seine Phantasie und führt die Handlung zu einem Höhepunkt, den die Natur ohne seine Hilfe vielleicht erst in unzähligen Jahrmillionen durch Zufall erreicht hätte.

In früheren Stadien fand diese Intensivierung der Schöpferkraft ihren Ausdruck nicht in den Taten des Menschen, sondern in den Attributen der Götter, denen er die insgeheim für sich selbst begehrte Allwissenheit und Allmacht zuschrieb. Erst spät in seiner Entwicklung empfand der Mensch das Bedürfnis, in seinen Begriff der Göttlichkeit jene Eigenschaft einzuschließen, die der in dieser unendlichen Weisheit und unendlichen Gewalt liegenden Bedrohung seines Lebens entgegenwirken sollte, nämlich die unendliche Liebe Gottes.

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Liebe hat wie der Verstand nur langsam an Wirkung in der organischen Welt gewonnen; da sie erst spät in dem Drama auftrat, das der Mensch selbst geschrieben hatte und inszenierte, erfüllt sie erst einen kleinen Teil seines Denkens, Lernens und Tuns. Doch in der kommenden Verwandlung des Menschen wird die Liebe das zentrale Element der Integration sein, Liebe als erotisches Begehren und Zeugungskraft, Liebe als Leidenschaft und ästhetisches Genießen im Betrachten des Schönen und seiner Neuschöpfung, Liebe als Kameradschaft und nachbarliche Hilfe, Liebe als elterliche Fürsorge und Opfermut und schließlich Liebe mit ihrer wunderbaren Gabe, das geliebte Objekt über alles zu stellen, es zu verherrlichen und zu verklären. Ohne Steigerung unserer Liebesfähigkeit in all ihren Möglichkeiten können wir kaum hoffen, die Erde und alle Geschöpfe, die sie bewohnen, vor den gefühllosen Mächten des Hasses, der Gewalt und der Zerstörung zu bewahren, die sie jetzt bedrohen. Und wer wagt von Liebe zu sprechen ohne eine Philosophie, die den Menschen in ihren Mittelpunkt stellt?

Das Idealbild des Menschen, das diesem Stadium der menschlichen Entwicklung entspricht, ist in der Vergangenheit der Menschheit nie verwirklicht worden, weder biologisch noch sozial; es ist nicht der Hirnmensch, nicht der Muskelmensch noch der Nervenmensch, nicht der reine Hindu, der reine Mohammedaner, der reine Christ noch der reine Marxist oder der reine Techniker, nicht der Mensch der Alten und auch nicht der Mensch der Neuen Welt. Die Einheit, die wir erstreben, muß alle diese Teilmenschen anerkennen und sie liebend einschließen in ein Selbst, das fähig ist, sie zur Ganzheit zu transzendieren. Eine Lehre der Einheit, die nicht mit der Liebe als Symbol und Trägerin dieser organischen Ganzheit auftritt, kann kaum hoffen, ein geeintes Selbst oder eine geeinte Welt zu schaffen; denn im emanzipierten Intellekt allein kann diese Verwandlung nicht vollzogen werden.

   

  § 6   

 

Diese radikale Umwertung der Werte ist ein unerläßliches Vorspiel zur nächsten Phase der menschlichen Entwicklung. Bis jetzt waren die Hauptbetätigungen der Menschheit auf den biologischen Bereich beschränkt, nämlich, am Leben zu bleiben und sich fortzupflanzen. Das Maß an Zeit und Aufmerksamkeit, das der Mensch der Kunst, dem Spiel, der Religion, der Philosophie und den Wissenschaften, kurz, dem zentralen Geschehen seiner Existenz widmen konnte, war gering im Vergleich zu dem, was er seinen ökonomischen Unternehmungen opfern mußte.

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Was an geistigen Werten geschaffen wurde, entstand fast verstohlen abseits vom sogenannten Ernst des Lebens. Doch in unserer Zeit hat sich ein radikaler Wandel in der Situation des Menschen vollzogen. Dieser Wandel kommt dem gleich, den die neusteinzeitliche Kultur mit sich brachte, und übertrifft an Tragweite alle früheren durch die Technik verursachten Veränderungen, denn er verspricht dem Menschen die Befreiung von unfreiwilliger Arbeit und von jeder Form äußerer Sklaverei. Dank den Fortschritten der Wissenschaften stehen dem Menschen heute fast unbegrenzte Energien zur Verfügung, und viele der niederen Arbeiten, die bisher ungeheure Opfer an menschlicher Kraft und menschlichem Leben erforderten, können von Maschinen und Automaten verrichtet werden.

Da sich die laufenden Prozesse unserer Gesellschaft weiter in alten Bahnen bewegten, führte dieser Wandel zunächst nur zu industriellen Krisen und Erschütterungen, und selbst heute wirkt sich nur ein geringer Teil seiner Möglichkeiten aus. Doch in fortgeschrittenen Industrieländern hat sich die Zahl der wöchentlichen Arbeitsstunden fast um die Hälfte verringert, und die Zahl der Menschen, die in ändern als landwirtschaft­lichen und industriellen Berufen beschäftigt sind, steigt ständig. Und mit dem weiteren Vollzug dieses Wandels kommt eine Forderung, die außerhalb der primitiven Kulturen unbekannt war, wieder zu ihrem Recht, nämlich, daß das Leben nicht von der Arbeit beherrscht wird, sondern daß die Arbeit integrierter Bestandteil eines reicheren und sinnvolleren Lebens ist.

Die Befreiung des Lebens vom dominierenden Zwang der Arbeit verspricht zwei weitere große Wohltaten. Die erste besteht darin, daß die Arbeit selbst, wenigstens diejenige, die außerhalb des Prozesses der Automation verbleibt, zu einer erzieherischen Funktion wird, die Intelligenz und Gefühl anspricht und den mechanischen Verrichtungen etwas von der Freiheit des alten handwerklichen Schaffens wiedergibt. Diese Möglichkeit des schöpferischen Ausdrucks fehlt fast ganz in der Formenwelt der modernen Sachlichkeit, doch sie zeigt sich seit geraumer Zeit prophetisch an in der Kunst, wie z.B. in den Skulpturen Naum Gabos und in der Architektur Frank Lloyd Wrights. Der Zeitpunkt nähert sich, da Le Plays großes Wort, daß das wichtigste Produkt, das aus dem Bergwerk kommt, der Bergmann ist, für jeden Beruf gilt.

Es mag sogar so weit kommen, daß wir bestimmte Erzeugnisse und Produktionssysteme nach Maßgabe der Wirkung der mit ihnen verbundenen Arbeit auf die menschliche Persönlichkeit bevorzugen und andere fallen lassen, indem wir sie nicht nach ihrem Nutzeffekt, sondern nach ihrem Einfluß auf Liebe, Kameradschaft, Familienleben und Bürgersinn bewerten.

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Die andere große Wohltat, die uns die Umwandlung der industriellen Prozesse verspricht, ist die Tatsache, daß sie nicht länger eine Überfülle überflüssiger materieller Güter, technischer Spielereien und Werkzeuge des Krieges und des Völkermordens produzieren müssen. Wenn wir uns einmal von dem Zwang der Marktgesetze befreit haben werden und Waren vornehmlich auf der Grundlage gesunder Bedürfnisse herstellen und verteilen anstatt unter Berücksichtigung der erforderten Mühen und Opfer oder bestehender Privilegien, wird unser Gewinn ein Gewinn an Muße sein.

Denn ohne vermehrte Muße wäre die Expansion unserer industriellen Produktion sinnlos, weil wir viel Zeit brauchen werden, wenn wir die echten Werte, über die der moderne Mensch jetzt gebietet, richtig auswählen und nutzen sollen. Schola bedeutet Muße, und Muße macht die Schule erst möglich. Die freie Zeit, die uns eine Lebenswirtschaft verspricht, werden wir zu einer Schule der höchsten Entfaltung des Menschen und nicht der weiteren Expansion der Maschine machen.

Dies bedeutet nun nicht, daß lediglich ein größerer Teil unseres Lebens der Erziehung gewidmet sein wird, es bedeutet vielmehr, daß Erziehung das Hauptgeschäft des Lebens sein muß. Dieser Wandel wird so tiefgreifend sein, daß man ihm, um ihm gerecht zu werden, einen neuen Namen geben muß, der ausdrückt, daß die Aufgabe, jede Phase des Lebens mit Sinn und Wert zu füllen, nicht mit der Absolvierung der offiziellen Schulen beendet ist.

Die Worte Erziehung, Selbstentfaltung, Charakterbildung und Bekehrung haben alle einen Bezug auf unseren Begriff, doch ihnen haftet die Beschränkung ihrer ursprünglichen Bedeutung an. Der Begriff Erziehung ist noch immer verbunden mit der Vorstellung des Buchstudiums, das mit der Meisterung des Abc zu beginnen pflegte und selbst heute, wenigstens offiziell, nicht länger dauert als bis zur Erlangung der höchsten Berufsbefähigungsnachweise. Der Begriff der Selbstentfaltung trägt, wenn nicht das Odium humanistischen Dünkels oder romantischer Willkür, so doch meist den Stempel des axialen Allerweltsglaubens, daß das Heil des Selbst unabhängig von der Wohlfahrt der Gesellschaft gesichert werden kann, oder zumindest unter "Ausschluß der Öffentlich­keit"; hier wird "menschlich" fälschlicherweise mit "privat" identifiziert.

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Das Wort Charakterbildung dagegen erinnert zu sehr an die strenge protestantische Zucht mit ihrer täglichen Anprangerung kleinster Schwächen und ihrer ästhetisch kargen Lebensordnung, und dieser Geruch der Enge und Verneinung verblieb ihr, obwohl sie in der klassischen englischen Erziehung einen starken humanistischen Einschlag erhielt, der die männliche Leibes­ertüchtigung und den Sinn für körperliche Schönheit förderte. Und die Bekehrung, der axiale Ausdruck für die zweite Geburt des Selbst, mag zwar als der entschiedenste erzieherische Effekt gelten, doch auf Grund des äußerlichen Charakters, den dieses Wort angenommen hat, zeigt es nur noch eine subjektive Änderung der Haltung und der Richtung an, ohne Berück­sichtigung sozialer Zusammenhänge. Wir brauchen einen Begriff, der nicht nur diese traditionellen Aspekte der Erziehung ausdrückt, sondern auch das Neue, um das die Weltkultur diese wichtige Lebensfunktion bereichert.

Das Wort für diese erweiterte Auffassung der Erziehung ist der griechische Begriff der paideia, den Werner Jaeger in seiner geistvollen und erschöpfenden Studie über die Erziehung bei den Griechen wieder zu Ehren gebracht hat. Paideia ist Erziehung, aufgefaßt als lebenslängliche Verwandlung der menschlichen Persönlichkeit, in der jeder Aspekt des Lebens eine Rolle spielt. Im Gegensatz zur Erziehung im traditionellen Sinne, beschränkt sich paideia nicht auf den bewußten Lernprozeß oder auf die Einführung des jungen Menschen in das soziale Erbe der Gemeinschaft.

Paideia stellt sich die Aufgabe, den Akt des Lebens selbst zu gestalten, jede Lebensäußerung als ein Mittel zur Selbstgestaltung zu betrachten und zu benutzen, als Teil eines größeren Prozesses der Verwandlung von Tatsachen in Werte, von Zufällen in Zwecke, von Hoffnungen und Plänen in Erfüllungen und Verwirklichungen. Paideia ist nicht nur ein Lernen, es ist ein Formen und Gestalten, und der Mensch selbst ist das Kunstwerk, das paideia zu schaffen sucht.

Wir sind heute auf Grund von Gewohnheiten, die vergangenen Epochen der Zivilisation entstammen, zu leicht geneigt, an jene Art von Einheit zu denken, die durch Zusammenarbeit von Spezialisten, durch eine Koordinierung der einzelnen Fachgebiete, oder durch eine intellektuelle Synthese aller Wissenschaften nach einem bestimmten System verwirklicht werden kann. Doch paideia erfordert mehr als solche oder theoretischen äußerlichen Zusammenschlüsse, die Einheit, die sie erstrebt, muß in der Erfahrung erlebt und verwirklicht werden, und sie verlangt die Bereitschaft, die Rollen zu tauschen, selbst um den Preis des Verzichts auf Spezialwissen zugunsten eines Gewinnes an allgemeiner Bildung und Lebensfülle.

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Die Lektion der paideia ist die erste Grundlektion der Demokratie; geistiges Wachstum und Selbstentfaltung können nicht in fremde Verantwortung gegeben werden. Die Verwirklichung der menschlichen Ganzheit und des ganzheitlichen Menschen haben den Vorrang vor allen spezialisierten Betätigungen, vor allen begrenzten Zwecken. Obwohl dieser neue Mensch zweifellos noch die mit Spezialberufen verbundenen Fertigkeiten schätzen und entwickeln wird, wird er versuchen, mit vielen Berufen vertraut zu sein wie ein guter Bürger, der zahlreiche Interessen verfolgt und an den Beschäftigungen anderer Anteil nimmt, um teilzuhaben am Leben der Gemeinschaft. Alle menschlichen Fähigkeiten auszubilden, wird wichtiger sein, als das Abzeichen eines Berufes oder eines Amtes zu erwerben; denn der Tag wird kommen, an dem, wie Emerson sagte, "keine Abzeichen, Uniformen und Sterne mehr getragen werden".

Dies gibt der Idee einer zukünftigen Gesellschaft eine neue Bedeutung, die Karl Marx entgegen seiner sonstigen prinzipiellen Abneigung gegen alle utopische Prophetie im "Kapital" am Rande entwarf. In dieser Gesellschaft, führte Marx aus, würde der "fragmentarische Mensch" durch den "vollkommen entwickelten Menschen" ersetzt werden, einen Menschen, für den die verschiedenen sozialen Funktionen nur wechselnde Formen der Beschäftigung sein würden.

Die Menschen würden fischen, jagen und literarische Kritiken schreiben, ohne berufsmäßige Fischer, Jäger oder Literaturkritiker zu werden. Diese Äußerung besserer Einsicht, die in der Hauptsache auf seine Bewunderung für die Freiheit und menschliche Ausgeglichenheit der amerikanischen Kultur während des Goldenen Tages zurückzuführen ist, steht in krassem Widerspruch zu dem für Karl Marx so charakter­istischen dialektischen Absolutismus, und um sie zu ergänzen, könnte man die bewundernswerte Definition hinzufügen, die sein Meister Hegel von einem gebildeten Menschen gegeben hat: Einer, der kann, was alle andern Menschen können.

Wir dürfen also vom Menschen der geeinten Welt sagen, daß er nicht länger die Inkarnation seiner Klasse, seines Gewerbes, seines Berufes oder seiner Religion ist, so wie er auch aufgehört hat, die Inkarnation seiner nationalen Gruppe zu sein. Er ist in der Tat das Gegenteil des perfekten Technikers, des unpersönlichen, neutralen Funktionärs, der nur der Wissenschaft dient, die sein Fach beherrscht, der sich um kein Problem kümmert, das außerhalb seines Spezialgebietes liegt, jenes Menschentypus, der nach Max Weber am Ende die moderne Welt beherrschen wird.

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Der Bürokrat und der Technokrat sind eher die idealen Prototypen des posthistorischen Menschen. Der Mensch der geeinten Welt wird gern auf ihre mechanische Tüchtigkeit und ihre selbstgefällige Sicherheit verzichten, um die Fülle des Lebens selbst zu mehren.

 

Der siegreiche Held, der leidende Heilige, der leidenschaftliche Liebhaber, der kühne Abenteurer, der geduldige Wissenschaftler, kurz, alle Idealtypen der früheren Kulturen bewahrten ihre spezielle Persönlichkeit ihr ganzes Leben lang. Sie hatten ihr eigenes Standesethos, so wie die Soldaten, Händler und Handwerker ihre eigene Berufsehre hatten. Jeder von ihnen war in seiner Rolle gefangen wie in einem verschlossenen Zimmer und konnte sich nicht frei im Haus bewegen. Der Heilige konnte nicht Heiliger bleiben, wenn er Liebhaber wurde, noch konnte der Weise ein Weiser bleiben, wenn er ein Abenteurer wurde. Diese Festlegung auf einen einzigen Beruf und seine Moral bedeutete eine Verarmung des Lebens, und sie zu beheben ist eine der dankbarsten Aufgaben des Menschen der geeinten Welt. Zwar wird er fähig sein, jede dieser Rollen zu spielen, wenn der Augenblick es verlangt, doch er wird ebensowenig daran denken, eine von ihnen sein ganzes Leben lang zu spielen, wie ein begabter Schauspieler nur den Hamlet würde spielen wollen. Es war die historische Funktion dieser Idealtypen gewesen, die Fähigkeiten des Menschen zu intensivieren und zu erweitern.

 

Obwohl ein einzelnes Leben nicht alle seine Chancen nutzen und nicht alle seine Möglichkeiten verwirklichen kann, obwohl Beschränkung und Konzentration notwendig sind für jede wahrhaft schöpferische Leistung, wird die Offenheit des Selbst der geeinten Welt den Bereich seiner Betätigung erweitern und ihre Wirkung verstärken. Es war eine solche Erweiterung der mittelalterlichen christlichen Kultur durch den Kontakt mit der ideellen Welt Griechenlands und Roms und mit der wirklichen Welt Chinas, Indiens, Afrikas und Amerikas, die die großartigen Leistungen der Renaissance ermöglichte. So hat mich auch das Erlebnis persönlicher Bekanntschaft mit Patrick Geddes und Coomaraswamy gelehrt, daß Menschen, die sowohl mit östlichen als auch mit westlichen Kulturen praktisch vertraut waren, alles, was sie berührten, unter den gemeinsamen menschlichen Aspekt rückten.

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Selbst Lesen kann viel dazu beitragen, die Engherzigkeit einer Einzelkultur zu überwinden, wie Emerson und Thoreau durch ihre Beschäftigung mit hinduistischen Schriften bewiesen haben; und wenn Reisen mehr sein wird als Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, wenn es zum Austausch von Erfahrungen führt, wird es die Zahl derer vermehren, die fähig sind, ihre Menschlichkeit voll zu verwirklichen.

Dieser ideologische Wandel und diese persönliche Verwandlung sind seit langem im Gange. Doch die Hindernisse auf dem Wege zu einer weltweiten Verwirklichung des geeinten Menschen sind groß, denn die Energien, die sie möglich machen werden, können nicht durch rationale Mittel zur Wirkung gebracht werden. Wie die ersten Christen müssen wir in Andacht wachen und warten, jede mögliche bewußte Anstrengung machen, doch uns jederzeit vor Augen halten, daß bewußtes Wollen allein nicht genügt. Wenn der große Augenblick kommt und sein Anruf verstanden wird, werden Tausende und Zehntausende, erfüllt von einem Gefühl der Gemeinschaft, ihm spontan folgen. In dieser großen Bewegung werden Kräfte, die bisher jedem größeren Plan und höheren Zweck gleichgültig oder feindlich gegenüberstanden, umgelenkt werden zu tätiger Mithilfe. Und dann wird ein neues Selbst geboren werden.

Reife ist die Vorbedingung jeder organischen Verwandlung. Die Entstehung des Menschen der geeinten Welt war offensichtlich nicht möglich in einem früheren Stadium der menschlichen Entwicklung. Wenn die innere Reife erreicht war, wie es mehr als einmal unter den axialen Religionen geschah, genügte der Mangel an technischen Einrichtungen und Organen der Kommunikation allein, die Verwirklichung der hochherzigsten Träume zu vereiteln. Und wenn die technischen Mittel Kontakte und Begegnungen auf breitester Basis ermöglichten, entleerte der Mangel an moralischen Idealen und sozialen Zielen den Verkehr der Menschen untereinander jeden menschlichen Inhalts und verhinderte seine Auswirkung auf die gemeinsame Höherentwicklung. Heute fehlen weder die technischen Mittel noch die sozialen Voraussetzungen, es ist vielmehr die innere Bereitschaft, an der es mangelt. Unsere Generation braucht ein Vertrauen in die Möglichkeiten des Lebens, das groß genug ist, sie zu einer willigen Erfüllung der neuen Forderungen des Lebens zu befähigen.

In vereinzelten Personen, wie in Albert Schweitzer in unserer Zeit, in Peter Kropotkin und Patrick Geddes in früheren Tagen und in Goethe und Emerson noch früher, war der Idealtyp des Selbst, den der Augenblick verlangt, schon lebendig verkörpert gewesen. Schweitzer überwand z.B. die Spezialisierung des Berufes, der Nationalität und des religiösen Glaubens. 

220


Indem er absichtlich eine unwirtliche Gegend in Afrika zum Schauplatz seines Lebenswerkes machte und die ärztliche Hilfe als Mittel benutzte, um seine christliche Ethik in die Tat umzusetzen, verzichtete er auf die Chancen, die seine Begabung als Theologe, Musiker und Philosoph ihm offensichtlich boten. Unter scheinbar widrigsten Bedingungen hat er die Möglichkeit der Verwirklichung einer geeinten und ganzheitlichen Persönlichkeit bewiesen, und das von ihm gewählte Leben, das größte Opfer und Verzichte erforderte, hat zweifellos reichere Früchte getragen, als wenn es in den orthodoxen Bahnen der Kultur der Alten Welt verlaufen wäre.

Um im jetzigen Stadium der Entwicklung das höchste Maß an Menschlichkeit zu verwirklichen, muß jeder von uns, wenn die Gelegenheit sich bietet, bereit sein, sich die Werte anderer Kulturen anzueignen und um der Ganzheit willen jene Teile seiner Persönlichkeit zu kultivieren, die am schwächsten sind, und nicht zuletzt muß er um des Gleichgewichts und des kontinuierlichen Wachstums willen auf Perfektion in einem Spezialfach verzichten. Wer ausschließlich einer Nation, einer Partei, einer Religion oder einem Beruf angehört, ohne mit der Welt, die außerhalb seines engen Lebensbereiches liegt, in Berührung oder Erfahrungs­austausch zu sein, ist noch kein ganzer Mensch und kann nicht an der kommenden großen menschlichen Verwandlung teilnehmen. Dies ist ein Grundsatz menschlichen Wachstums, der immer als Wahrheit galt, doch heute Gebot geworden ist.

Im kritischsten Augenblick seiner Integration übernahm das Christentum persische und ägyptische Mythen, griechische Philosophie und römische Organisation, so wie der Islam die Lehren des Moses, Zoroasters und Jesu in seine eigene Lehre aufnahm. So wird die geeinte Welt einen noch weiteren Bereich umfassen, und der so geschaffene geeinte Mensch wird alle Masken, die wohltätigen und die schrecklichen, die so lange die lebendigen Züge des Menschen verborgen haben, abwerfen.

In seiner wahren Ganzheit wird der Mensch der geeinten Welt gewissermaßen ideologisch und kulturell nackt erscheinen, fast unidentifizierbar. Er wird sein wie die alten Jaina-Heiligen, "in Raum gekleidet", und seine Nacktheit wird ein Zeichen dafür sein, daß er nicht ausschließlich einer Nation, einer Gruppe, einem Beruf, einer Sekte, Schule oder Gemeinde angehört. Wer die Ebene der Weltkultur erreicht hat, wird in jedem Teil dieser Kultur zu Hause sein, in ihrer inneren Welt ebenso wie in ihrer äußeren. Alles, was er denkt, fühlt oder tut, wird den Stempel des größeren Selbst tragen, zu dem er das seine gemacht hat.

221/222

Jeder Mensch, wie arm an Begabung oder bescheiden er auch sein mag, kann an dieser großen Arbeit teilnehmen, ja muß es tun; doch wie groß die Fähigkeiten einer überdurch­schnittlichen Persönlichkeit auch sein mögen, das Ergebnis wird immer unvollkommen sein; denn das Gleichgewicht, das wir erstreben, ist ein dynamisches, also kein Zweck in sich selbst, sondern ein Mittel zu höherem Wachstum. "Es liegt im Wesen der Dinge", wie Walt Whitman sagte, "daß jeder Erfolg, wie groß er auch sein mag, Früchte trägt, die einen größeren Kampf notwendig machen."

  

   § 7  

 

Wir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters, des Zeitalters einer offenen Welt und eines Selbst, das fähig ist, diesen größeren Lebensbereich auszufüllen, eines Zeitalters, in dem Arbeit und Muße und Lernen und Liebe sich vereinigen werden, um eine neue Form für jede Phase des Lebens zu schaffen und einen höheren Bogen für die gesamte Lebensbahn zu spannen. 

Der archaische, der zivilisierte, der axiale und der technische Mensch brachten je nur einen Teil der menschlichen Möglichkeiten zur Entfaltung, und obwohl vieles von dem, was sie geschaffen haben, noch lebensfähig ist und von Nutzen sein kann für die weitere Entwicklung des Menschen, werden wir durch einfaches Behauen von Steinen aus den Ruinen ihrer Kulturen kein brauchbares Material für den Bau unserer neuen Weltkultur gewinnen können. 

Nicht weniger wichtig als die alten Kräfte, die uns vorantreiben, sind die neuen Formen, die im Unbewußten des Menschen verlockend aufdämmern und ihm ungeahnte Möglich­keiten versprechen, vor allem die Möglichkeit eines Lebens, das nicht länger dem Zufall ausgeliefert und leeren Notwendig­keiten unterworfen ist. Der Mensch wird beginnen, sein ganzes Dasein in den Formen der Liebe zu gestalten, wie er einst nur die zaghaften Gebilde seiner Einbildung gestaltete, obwohl er heute unter dem hypnotischen Zwang des posthistorischen Nihilismus diesen Geist kaum in seinen rein künstlerischen Darstellungen zum Ausdruck zu bringen wagt. Doch schon bald vielleicht werden diese neuen Idealformen Fleisch und Blut werden in der Gestalt des ganzheitlichen Menschen der geeinten Welt.

Indem sie den Menschen durch diese Selbstverwandlung auf eine höhere Ebene hebt, wird die Weltkultur vielleicht Quellen geistiger Energien freilegen und neue Möglichkeiten eröffnen, die im heutigen menschlichen Selbst noch ebensowenig sichtbar sind, wie es das Radium vor hundert Jahren in der physikalischen Welt war, obwohl es immer existiert hatte. Selbst unter ungünstigsten Bedingungen wird eine Weltkultur die Nationen und Völker zu einer von gemeinsamen Zwecken getragenen Einheit zusammenführen. 

Doch der geeinte Mensch ist kein Endziel. Wer kann dem Streben des Menschen oder seiner Fähigkeit, Erreichtes noch zu übertreffen, Grenzen setzen? Bis jetzt hat seine Phantasie, auch wenn er seine kühnsten Träume verwirklicht hatte, immer wieder neue Nahrung gefunden. Jedes Ziel, das der Mensch erreicht, wird ihm zum neuen Startpunkt, und die Summe seiner Tage ist für ihn immer nur ein Anfang.

222-223

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Ende

 

 

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Lewis Mumford 1956   Die Transformation des Menschen