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 Heiligtum, Dorf und Bollwerk

Mumford-1961

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Die Stadt in der Geschichte

Was ist die Stadt? Wie ist sie entstanden? Welche Entwicklung fördert sie? Welche Funktionen nimmt sie wahr? Welchen Zwecken dient sie? Es ist nicht möglich, mit einer einzigen Antwort alle ihre Erschein­ungen zu erfassen oder mit einer einzigen Beschreibung allen ihren Wandlungen gerecht zu werden: von den gesellschaftlichen Uranfängen bis zu den vielfältigen Formen ihrer Reifezeit und weiter bis zu den Verfalls­erscheinungen ihres Greisen­alters. Die Ursprünge der Stadt sind dunkel, ein großer Teil ihrer Vergangenheit ist verschüttet oder unwiederbringlich ausgelöscht, und ihre Zukunfts­aus­sichten sind schwierig abzuwägen.

Wird die Stadt verschwinden, oder wird sich der ganze Erdball in einen einzigen riesigen Bienenkorb von Stadt verwandeln - was ja nur eine andere Form des Verschwindens wäre? Können die Bedürfnisse und Sehnsüchte, welche die Menschen veranlaßt haben, in Städten zu leben, auf einer noch höheren Stufe noch einmal alles das erringen, was Jerusalem, Athen oder Florenz einst zu versprechen schienen? Gibt es noch wirklich eine Wahl zwischen Nekropolis und Utopia: die Möglichkeit also, eine neue Stadt zu bauen, welche von inneren Widersprüchen befreit ist und daher die Entwicklung der Menschheit in positivem Sinne fördern und bereichern kann?

Wollen wir das Stadtleben auf eine neue Grundlage stellen, so müssen wir das geschichtliche Wesen der Stadt begreifen und unterscheiden lernen zwischen ihren ursprünglichen Funktionen, den daraus hervor­gegangenen Funktionen und allen denen, die noch daraus hervorgehen mögen. Nehmen wir in der Geschichte nicht genügend Anlauf, so wird unserem Bewußtsein der Schwung fehlen, um mit der nötigen Kühnheit in die Zukunft hinein­zuspringen; denn ein großer Teil unserer heutigen Pläne, nicht zuletzt viele von denen, die stolz bahnbrechend oder fortschrittlich genannt werden, sind öde, mechanische Zerrbilder solcher Stadt- und Landschafts­planungen, wie sie durchaus im Bereich unserer Möglichkeiten liegen.

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Wir haben immerhin fünftausend Jahre und mehr gebraucht, um das Wesen und den dramatischen Charakter der Stadt auch nur teilweise zu begreifen. Daher werden wir vielleicht noch mehr Zeit brauchen, um die noch unerkannten Möglichkeiten der Stadt auszuschöpfen. Bei Anbruch der bekannten Geschichte erscheint die Stadt bereits als reife Form. Wenn wir versuchen wollen, den heutigen Zustand der Stadt besser zu verstehen, müssen wir den Blick über den geschichtlichen Horizont hinausschweifen lassen, um die verwischten Spuren noch früherer Gebilde und noch primitiverer Funktionen zu entdecken. Das ist unsere erste Aufgabe. Diesen Pfad werden wir nicht verlassen, bis wir ihm auf allen Windungen und Abschweifungen durch die fünf Jahrtausende bekannter Geschichte und bis in den Beginn der Zukunft hinein gefolgt sind.

Wenn wir dann endlich die Gegenwart erreichen, werden wir feststellen, daß die städtische Gesellschaft an einem Scheideweg angelangt ist. Da wir nun unsere Vergangenheit besser kennen und mehr Verständnis für Entscheidungen erlangt haben, die vor langer Zeit getroffen wurden, für uns aber häufig noch maßgeblich sind, werden wir imstande sein, uns der Entscheidung zu stellen, die der Mensch nun treffen muß und die ihn auf die eine oder andere Weise verwandeln wird: Will sich der Mensch der Entwicklung seines eigensten Wesens widmen, oder will er sich den jetzt fast schon automatischen Gewalten, die er selber in Gang gesetzt hat, ausliefern und vor seinem entmenschten Ich, dem »nachhistorischen Menschen«, kapitulieren? Täte er das, so wäre ein fortschreitender Verlust an Gefühl, Empfinden, schöpferischer Kühnheit und schließlich an Bewußtheit die Folge.

Viele Städte, viele vorhandene pädagogische Institutionen und politische Organisationen haben sich schon auf den nachhistorischen Menschen festgelegt. Dieses gehorsame Wesen bedarf der Stadt nicht. Was einstmals eine Stadt war, wird auf die Ausmaße eines unterirdischen Kontrollraumes zusammenschrumpfen; denn um der Kontrolle und Automatisierung willen wird man alle andern Eigenschaften des Lebens preisgeben. Ehe die Mehrheit der Menschen, verführt durch kleine Verheißungen »pneumatischer Herrlichkeit«, welche die totale Bedrohung verschleiern, sich mit dieser Aussicht widerstandslos abfindet, empfiehlt es sich, nochmals die Entwicklung der Menschheit zu betrachten, wie sie von der Stadt gestaltet worden ist.

Um die jetzt so dringlichen Aufgaben dieses Augenblicks in die richtige Perspektive zu rücken, werde ich bis zu den Anfängen der Stadt zurückgehen. Wir brauchen eine neue Ordnungsvorstellung, welche den organischen und persönlichen Bereich umfaßt und schließlich alle Aufgaben und Verrichtungen des Menschen umgreift. Nur wenn wir zu solcher Vorstellung vordringen, werden wir imstande sein, für die Stadt eine neue Form zu finden.


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Vorboten und Antriebe aus animalischer Zeit

Sucht man nach den Ursprüngen der Stadt, so fühlt man sich nur zu leicht versucht, lediglich nach ihren greifbaren Überresten Ausschau zu halten. Aber auch dem Bilde des vorgeschichtlichen Menschen lassen wir keine Gerechtigkeit widerfahren, wenn wir uns nur auf seine Knochen und Scherben, seine Werkzeuge und Waffen konzentrieren, nicht aber auf Sprache und Ritus, die kaum eine greifbare Spur hinterlassen haben. Vielleicht wurden manche Funktionen der Stadt bereits wahrgenommen, manche ihrer Zwecke bereits erreicht, mancher später benutzte Ort schon vorher zeitweilig besiedelt, ehe auch nur irgend etwas, das wir als Stadt heute gelten ließen, vorhanden gewesen ist.

Wir verfehlen die ganze Frage nach dem Wesen der Stadt, wenn wir nur Ausschau halten nach dauerhaften Gebäuden, die sich hinter einer Mauer zusammendrängen. Wollen wir zu den Ursprüngen der Stadt vordringen, so müssen wir, wie mir scheint, die Arbeit des Archäologen weiterführen. Er versucht die unterste Schicht zu finden, in der er noch eine Andeutung von Grundrissen erkennen kann, die städtische Ordnung verraten. Wollen wir die Stadt identifizieren, so müssen wir den Weg rückwärts gehen: von den nach Struktur und Aufgabe vollständig bekannten Städten bis zu ihren ursprünglichen Bestandteilen, soweit diese auch von den ersten Erdhügeln, die ausgegraben wurden, in Raum und Zeit und Kultur entfernt sein mögen. Vor der Stadt gab es den Weiler, das Heiligtum und das Dorf; vor dem Dorf das Lager, das Versteck, die Höhle und die Thingstätte; und vor alledem gab es die Neigung zu Geselligkeit, welche der Mensch offenbar mit vielen andern Tiergattungen gemeinsam hat.

Das Leben des Menschen schwingt zwischen zwei Polen: Umherziehen und Seßhaftwerden. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Verhaltensweisen läßt sich zurückverfolgen bis auf die Spaltung zwischen den hauptsächlich frei beweglichen Protozoen, die das Tierreich bilden, und den verhältnismäßig festsitzenden Organismen, die dem Pflanzenreich angehören.

Unter den ersten passen sich manche, beispielsweise die Auster,


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einem festen Standort allzusehr an und verlieren dadurch ihre Beweglichkeit, während manche Pflanzen sich durch Wurzelschößlinge und vor allem durch die Streuung und Wanderung ihrer Samen befreien. Auf allen Stufen des Lebens tauscht man Beweglichkeit gegen Sicherheit ein, oder umgekehrt Unbeweglichkeit gegen Abenteuer. Gewiß gibt es bei vielen Tiergattungen die Neigung, sich niederzulassen und auszuruhen und an einen Lieblingsplatz zurückzukehren, der Schutz oder gute Nahrung verheißt. Carl O. Sauer ist der Meinung, daß der Hang, zu horten und seßhaft zu werden, sehr wohl eine Ureigenschaft des Menschen sei.

Aus unserer animalischen Vergangenheit rühren jedoch noch wichtigere Faktoren her, die zu Stabilität und Kontinuität beitragen. Viele Lebewesen, sogar Fische, vereinigen sich zu Herden oder Schwärmen, um sich zu paaren und ihre Jungen aufzuziehen. Manche Vögel kehren alle Jahre wieder in dasselbe Nest zurück, und unter dem Herdenvieh finden wir die Gewohnheit, sich zur Zeit der Paarung in geschützten Gegenden, auf Inseln oder in Sümpfen, auf gemeinsamen Weidegründen zu sammeln. Größere Gruppen, die auf verschiedene Stämme zurückgehen, bieten bei der Paarung die Möglichkeit genetischer Abwechslung, die kleinen, abgeschlossenen Gruppen von Menschen abgeht. Diese Paarungs- und Nahrungsstätten sind offenbar Vorläufer der primitivsten Art menschlicher Siedlung, von Weiler und Dorf. Eine Seite der frühgeschichtlichen Stadt, ihr Gefühl abwehrbereiter Isolierung - in Verbindung mit ihrem vogelähnlichen Anspruch auf »Gebietsherrschaft« -, geht auf diese lange Vorgeschichte tierischer Entwicklung zurück.

Selbst die komplexe Technik der Menschheit entbehrt nicht animalischer Vorläufer. Bei gewissen Tierarten, zumal bei den Bibern, führt die An-siedlung zu einer planmäßigen Umgestaltung der Umwelt: Bäume werden gefällt, Dämme errichtet und Unterschlupfe gebaut. Diese technischen Maßnahmen verwandeln eine geschlossene Familiengruppe in eine etwas aufgelockerte Ansammlung von zahlreichen Familien, die bei gemeinsamen Vorhaben zusammenarbeiten und die gemeinsame Wohnstätte verbessern. Zwar fehlen einer Biberkolonie viele Merkmale einer Stadt, doch kommt sie denjenigen frühen Dörfern bereits recht nahe, die ebenfalls mit Wasserkraft gearbeitet haben.

Trotzdem war auch das, was bei andern Säugetieren einem gemeinsamen Wohnort schon ziemlich nahekam, noch weit von den primitivsten Anfängen eines städtischen Gemeinwesens entfernt. Etwas, was dem »zivilisierten Leben« und der Stadt am nächsten kommt, findet man viel eher bei einem ganz andern Stamm der Evolution, nämlich den staatenbildenden Insekten. Die sozialen Funktionen des Bienenstocks, des Termiten-


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baus und des Ameisenhügels - kunstvolle Bauwerke von oft eindrucksvoller Größe - sind in der Tat den Funktionen der Stadt so ähnlich, daß ich darauf erst wieder zurückkommen will, wenn die Stadt in unser Blickfeld rückt. Sogar Arbeitsteilung, Unterscheidung nach Ständen, Kriegführung, Königtum, Zähmung anderer Rassen und Sklavenarbeit gab es schon vor Jahrmillionen in gewissen »Ameisenreichen«, ehe sie in der vorgeschichtlichen Stadt zusammentrafen. Allerdings kann hier von biologischer Kontinuität nicht die Rede sein. Es handelt sich vielmehr um einen Fall von Parallelität und Zusammentreffen.

Grabstätten und Heiligtümer

In der Entwicklung ständiger menschlicher Ansiedlungen begegnen wir dem Ausdruck tierischer Notwendigkeiten, wie wir sie ähnlich bei andern geselligen Arten antreffen; aber selbst die primitivsten Anfänge der städtischen Siedlung lassen noch mehr erkennen. Schon bald nachdem man am frühesten Lagerfeuer oder bei Steinwerkzeugen auf die erste Spur des Menschen stößt, lassen sich Ängste und Anliegen erkennen, für die es bei Tieren kein Gegenstück gibt; insbesondere eine feierliche Fürsorge für die Toten, die in deren sorgfältigem Begräbnis Ausdruck findet, und außerdem immer mehr Beweise frommer Scheu und Furcht.

Des Urmenschen Achtung vor den Toten zeigt, wie sehr ihn die mächtigen Gestalten seiner Phantasie und seiner Träume gefangennahmen; sie veranlaßte ihn vielleicht noch mehr als praktische Bedürfnisse, sich einen festen Versammlungsplatz und schließlich einen Ort zu suchen, wo er seßhaft werden konnte. Inmitten der ziellosen Wanderschaft des vorgeschichtlichen Menschen waren die Toten die ersten, die dauernde Wohnung fanden: eine Höhle, ein mit Steinen geschmückter Erdhügel oder ein Sam-melgrab. Das waren Wahrzeichen, zu denen die Lebenden vermutlich von Zeit zu Zeit zurückkehrten, um mit den Geistern der Vorfahren Umgang zu pflegen oder sie zu besänftigen. Zwar fördern Nahrungssuche und Jagd nicht das dauernde Verbleiben an einem Ort, die Toten aber nehmen immerhin dieses Vorrecht für sich in Anspruch. Vor Zeiten forderten die Juden als ihr Erbteil das Land, in welchem die Gräber ihrer Väter lagen, und dieser wohlbezeugte Anspruch scheint uralt zu sein. Die Totenstadt ist älter als die Stadt der Lebenden. Ja, in einer Hinsicht ist die Totenstadt mehr der Vorläufer oder gar der Kern jeder lebendigen Stadt.


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Das Stadtleben umgreift die historische Zeitspanne zwischen der frühesten Begräbnisstätte des Steinzeitmenschen und dem letzten Friedhof, der Ne-kropolis, in der eine Zivilisation nach der andern ihr Ende gefunden hat.

Das alles entbehrt nicht der Ironie. Ein Reisender, der sich einer griechischen oder römischen Stadt näherte, empfing den ersten Willkommens-gruß von Gräberreihen und Denkmälern, die den Weg zum Stadttor säumten. Von der großen ägyptischen Kultur, die in jeder Form organischen Lebens frohes Genügen fand, ist kaum etwas anderes übriggeblieben als Tempel und Gräber. Selbst aus den überfüllten modernen Städten traten den Auszug zu einem angenehmeren Wohnort auf dem Lande als erste die Toten an: nach dem romantischen Elysium eines vorstädtischen Friedhofs.

Es gab aber noch einen andern Teil seiner Umwelt, den der Steinzeitmensch nicht nur benutzte, sondern von Zeit zu Zeit immer wieder aufsuchte: die Höhle. In der ganzen Welt finden wir eine Fülle von Hinweisen darauf, daß Höhlen in der Vorzeit bewohnt oder aufgesucht wurden. So läßt sich beispielsweise in Frankreich in den Kalksteinhöhlen der Dor-dogne nachweisen, daß sie immer wieder von Urmenschen benutzt und bewohnt wurden; durch die Erosion der Felsen senkte sich das Flußbett, so daß alte Behausungen emporstiegen und weiter unten neue Plattformen freigelegt wurden. Wichtiger noch als ihre Bewohnbarkeit war die Rolle, welche die Höhle für Kunst und Kultus spielte. Zwar sind Höhlen wie diejenigen von Lascaux und Altamira nicht bewohnt worden, doch scheinen sie nicht weniger als Nippur und Abydos Mittelpunkte kultischer Feiern gewesen zu sein. Noch im 4. Jahrhundert v. Chr. finden wir auf einem Felsbild eine Höhle eingeritzt, die den Nymphen geweiht ist, mit einer Darstellung des Hermes und Pans; das Bild befindet sich in der Nymphenhöhle auf dem Berge Pentelikon.

In den inneren Bereichen solcher kultischen Stätten, die man gewöhnlich nur mit Mühe und häufig nicht ohne Gefahr durch niedrige Gänge kriechend erreichen kann, findet man große, natürliche Säle, die mit Bildern geschmückt sind; diese sind erstaunlich einfallsreich im Entwurf und lebendig in der Ausführung; hauptsächlich finden wir ausgesprochen realistische Darstellungen von Tieren und gelegentlich stark stilisierte Abbildungen von Männern und Frauen. An manchen Orten verrät diese Kunst eine Meisterschaft, der wir erst wieder in Tempeln und Palästen begegnen, die über fünfzehntausend Jahre jünger sind. Manche Leute meinen, diese Kunst sei nur eine Art Abfallprodukt der Magie gewesen. Hat sie nicht aber trotzdem eine eigene magische Wirkung gehabt und dadurch die Menschen immer wieder an den Ort zurückgelockt, wo diese Kunst ihren ersten großartigen Ausdruck gefunden hatte?


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Selbst in primitivster Form haben diese Bräuche ihre Zeit überlebt und in die Städte einer späteren Epoche Eingang gefunden. Eine Zeichnung aus der älteren Steinzeit in der Caverne des Trois Freres in Ariege stellt einen Mann in einer Hirschhaut dar, der ein Geweih trägt, vermutlich ein Zauberer. Eine Knochenzeichnung aus der gleichen Zeit in einer englischen Höhle zeigt einen Mann, dessen Gesicht hinter einem Pferdekopf verborgen ist. Nun wurden, wie Christina Hole berichtet, in England noch im 7. Jahrhundert n. Chr. die Kaienden des Januars von Männern gefeiert, die, mit Tierhäuten und -köpfen geschmückt, durch die Straßen hüpften und tanzten; dieser Brauch wurde dann vom Erzbischof von Canterbury als »teuflisch« verboten. Wenn wir nicht zu Unrecht glauben, daß in diesem Brauch uralte Spuren fortleben, dann können wir erst recht in dem Höhlenkult die gesellschaftlichen und religiösen Impulse erblicken, die zusammengewirkt haben, um die Menschen schließlich in Städte zu treiben, wo alle ursprünglichen Regungen von Scheu, Ehrfurcht, Stolz und Freude durch die Kunst verstärkt und um die Zahl der willig Teilnehmenden vervielfältigt wurde.

In diesen frühen steinzeitlichen Heiligtümern besitzen wir ebenso wie in den ersten Gräbern und Grabhügeln die ersten Anzeichen eines Gemeinschaftslebens, wahrscheinlich lange ehe wir ständige dörfliche Siedlungen auch nur vermuten können. Hier handelte es sich nicht einfach um Zusammenkünfte zur Paarungszeit, nicht um Rückkehr der Hungrigen zu einer sicheren Quelle oder einem Weidegrund und auch nicht um gelegentlichen Austausch von Bernstein, Salz, Jade oder gar schon Werkzeugen an einem dafür geeigneten heiligen Ort. Hier an geweihter Stätte fand eine Verbindung statt, die einem reicheren Leben gewidmet war: nicht nur um mehr Nahrung ging es, sondern um einen Zuwachs an froher Geselligkeit, indem man von symbolträchtiger Phantasie und Kunst volleren Gebrauch machte; dabei hatte man gemeinsam die Vorstellung von einem besseren Leben, das sinnvoller wäre und zugleich schöner - ein gutes Leben in nuce, wie es Aristoteles später in seiner Politik schildern sollte, ein erster Blick auf Utopia. Denn wer möchte bezweifeln, daß bei der Bemühung um reichlichere tierische Nahrung - falls das wirklich der magische Zweck von Malerei und Kult war - die künstlerische Übung etwas beitrug, was für das Leben des Urmenschen ebenso wichtig war wie der nahrhafte Ertrag der Jagd? Das alles hat seine Bedeutung für das Wesen der geschichtlichen Stadt.

Die steinzeitliche Höhle ruft viele andere ehrwürdige Heiligtümer ins Gedächtnis, die ebenfalls heilige Eigenschaften und Kräfte verkörperten und die Menschen von weither in ihren Bereich zogen: gewaltige Steine, heilige Haine, mächtige Bäume und geweihte Brunnen wie der Chalice


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Well in Glastonbury in Südengland, wo Joseph von Arimathia der Überlieferung zufolge den Heiligen Gral fallen ließ. Diese ragenden Wahrzeichen oder heiligen Orte riefen von Zeit zu Zeit oder auch dauernd alle diejenigen zu sich, welche die gleichen magischen Bräudie oder den gleichen Glauben hatten. Mekka und Rom, Jerusalem und Benares, Peking, Kyoto und Lourdes dienen immer noch diesem urtümlichen Brauch und erinnern daran.

Zwar reichen diese ursprünglichen Anlagen, die eng an natürliche Bildungen gebunden sind, allein nicht aus, um eine Stadt zu begründen oder zu tragen, doch bilden sie den größeren Teil des innersten Kerns, der in den Anfängen der Geschichte die Stadt beherrscht hat. Vielleicht hat nicht zuletzt die Höhle dem urzeitlichen Menschen zum ersten Mal eine architektonische Raumvorstellung gegeben und ihm zum ersten Mal den Blick dafür geschärft, welche Macht ein ummauerter Raum gewährt, wenn es darum geht, geistliche Bereitschaft und Gefühle der Erhabenheit zu wek-ken. Das ausgemalte Gemach in einem Berge ist das Urbild der Grabkammer in der ägyptischen Pyramide, die ja bewußt als ein von Menschen geschaffener Berg das Vorbild nachahmt. Die Variationen dieses Themas sind Legion, aber bei aller Verschiedenheit haben doch die Pyramide, der Zikkurat, die Mithrasgrotte und die christliche Krypta alle ihr Urbild in der Berghöhle, bei der sowohl Form als auch Zweck bei der späteren Entwicklung der Stadt mitgewirkt haben.

Sucht man die Ursprünge der Stadt so weit rückwärts, so darf man natürlich nicht die praktischen Erfordernisse übersehen, welche Sippen und Stämme je nach der Jahreszeit an einem gemeinsamen Wohnort, in einer Reihenfolge von Lagerplätzen oder gar schon in einer Gesellschaft von Nahrungsuchenden oder Jägern zusammenführten. Auch diese spielten eine Rolle, und vermutlich waren, lange ehe bäuerliche Dörfer und Marktflecken zu einer Erscheinung der jungsteinzeitlichen Kultur wurden, die dafür günstigsten Stellen erkundet worden: die reine Quelle mit ihrem das ganze Jahr über niemals versiegenden Wasser; die feste Anhöhe, die zugänglich war und gleichwohl geschützt durch Fluß oder Sumpf; während die nahe Flußmündung reichen Vorrat an Fischen und Schalentieren bot. Das alles diente an vielen Stellen bereits der Wirtschaft der mittleren Steinzeit, und von der Dauerhaftigkeit solcher Ansiedlungen zeugen riesige Haufen geöffneter Muscheln.

Es mag aber Siedlungen sogar schon vor diesen Weilern gegeben haben. Die Überreste altsteinzeitlicher Bauten in Südrußland, die anscheinend Teil eines Weilers waren, mahnen uns, das Auftauchen ständiger Dörfer nicht zu spät anzusetzen. Schließlich stellen wir fest, daß das Lager der Jäger in einer festen Niederlassung aufgeht: eine beherrschende, altsteinzeitliche Enklave, die durch eine Mauer von den jungsteinzeitlichen Dörfern zu ihren Füßen getrennt ist.


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Wir müssen jedoch beachten, daß zwei von den drei ursprünglichen Beweggründen dafür, daß man sich irgendwie zeitweilig niederließ, mit heiligen Dingen und nicht bloß mit dem Drang zu überleben zu tun haben. Sie zielen auf ein wertvolleres und sinnvolleres Leben ab und auf ein Bewußtsein, das Vergangenheit und Zukunft einschließt; sie begreifen das Urgeheimnis geschlechtlicher Zeugung in sich wie auch das letzte Geheimnis des Todes und dessen, was jenseits des Todes liegen mag. Während die Stadt Gestalt annimmt, kommt noch vieles hinzu; aber diese innersten Motive bleiben als eigentlicher Daseinsgrund der Stadt bestehen und sind untrennbar mit der materiellen Substanz verbunden, welche die Stadt erst möglich macht. In der ersten Versammlung um ein Grab oder ein bemaltes Symbol, um einen mächtigen Stein oder einen heiligen Hain begegnen wir dem Anfang einer Folge von städtischen Institutionen, die vom Tempel bis zur Sternwarte und vom Theater bis zur Universität reichen.

So beginnt die Stadt, noch ehe sie fester Wohnort wird, als ein Treffpunkt, zu dem die Menschen von Zeit zu Zeit zurückkehren. Der Magnet ist früher da als der Behälter, und diese Fähigkeit, Nichtansässige an sich zu ziehen, damit sie nicht nur Handel treiben, sondern auch gesellig verkehren und geistige Anregung erhalten, bleibt eines der wesentlichen Merkmale der Stadt. Sie zeugt von ihrer angeborenen Dynamik und steht damit im Gegensatz zu der eher starren und abgeschlossenen Gestalt des Dorfes, das dem, der von draußen kommt, feindselig begegnet.

Der erste Keim der Stadt ist also der festliche Treffpunkt, der ein Ziel von Wallfahrten ist: ein Ort, von dem Familien oder Sippen zu bestimmten Jahreszeiten immer wieder angezogen werden, weil sich an ihm, abgesehen von mancherlei natürlichen Vorgängen, gewisse »geistliche« oder übernatürliche Kräfte sammeln, die überaus stark und von längerer Dauer oder größerer kosmischer Bedeutung sind als die gewöhnlichen Lebensvorgänge. Zwar mag der Mensch dort nur gelegentlich und kurzfristig etwas auszurichten haben, aber das Bauwerk, das ihm dazu dient - eine altsteinzeitliche Höhle oder ein Festplatz der Mayas mit ragender Pyramide -, erhält jedenfalls eine kosmische Bedeutung, die länger Bestand hat.

Löst sich der Geist erst einmal von seinen einfachsten tierischen Bedürfnissen, so schweift er ungebunden über das weite Feld des Daseins und hinterläßt seinen Stempel sowohl auf Naturdenkmälern wie Höhlen, Bau-


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men und Quellen als auch auf menschlichen Bauwerken, die nach ihrem Bilde geschaffen wurden. Daher waren einige Funktionen und Aufgaben der Stadt schon in solchen einfachen Bauwerken angelegt, längst ehe die vielfältige Vorstellung von einer Stadt entstanden war und die ganze Umwelt verändert hatte, um ihnen Halt und Dauer zu verleihen. Das aber ist nur ein Teil der ganzen Geschichte; sehen wir uns also weiter um.

Leben in Haus und Dorf

In der Kultur der Steinzeit waren zwar einzelne Samenkörner des späteren Stadtlebens schon vorhanden, doch fehlte es an nährendem Humus. Durch Jagd und Sammeln können noch nicht zehn Menschen pro Quadratmeile ihren Unterhalt bestreiten; wollte der Steinzeitmensch seinen Bedarf sichern, so bedurfte er großer Bewegungsfreiheit und weiter Räume. Die wirtschaftliche Lage des Urmenschen hängt teils von Glück und Zufall, teils aber von seiner List und Geschicklichkeit ab: bald praßt er und bald hungert er. Bis er lernt, das Fleisch zu pökeln und zu räuchern, muß er von der Hand in den Mund leben und sich auf kleine, bewegliche Gruppen beschränken, die weder von Besitztümern beschwert noch an feste Wohnsitze gebunden sind.

Die Möglichkeit, sich zuverlässig und ausreichend mit Nahrung zu versorgen, ergab sich zuerst in der mittleren Steinzeit vor etwa fünfzehntausend Jahren. Aus jener Zeit stammen die ersten deutlichen Spuren fester Siedlungen, welche die Archäologen von Indien bis in den Ostseeraum gefunden haben. Es war eine Kultur, die sich auf den Verzehr von Muscheln und Fisch, vielleicht auch Algen und Knollenpflanzen stützte, wozu zweifellos noch andere, weniger gesicherte Nahrungsquellen hinzukamen. Zugleich mit diesen mittelsteinzeitlichen Ansiedlungen kommt es zu den ersten Rodungen für landwirtschaftliche Zwecke, ferner treten damals die frühesten Haustiere auf, Freunde und Wächter des Haushalts: das Schwein, das Huhn, Ente und Gans und vor allem der Hund, der älteste Gefährte des Menschen. Der Brauch, Nährpflanzen durch Stecklinge zu vermehren -so bei der Dattelpalme, dem Ölbaum, der Feige, dem Apfel und der Rebe -, stammt wahrscheinlich ebenfalls aus dieser Kultur der mittleren Steinzeit. Die Zeit, die das Wachstum von Obstbäumen erfordert, ist ein Beweis für andauernde Beschäftigung und Pflege.

Nachdem die letzte Eiszeit vorüber war, hat sich die sehr viel reich-


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haltigere und üppigere Versorgung mit Nahrungsmitteln vielleicht anregend auf den Geist und die Geschlechtsorgane ausgewirkt. Die leichte Ernte und die zusätzlich gewonnene Sicherheit ermöglichten Muße, und die Befreiung von erzwungenem Fasten, das nach alter Erfahrung die geschlechtliche Begierde herabsetzt, haben wohl die Sexualität in jeder Gestalt früh heranreifen lassen und ihr eine Dauerhaftigkeit und Kraft verliehen, welche die sorgenvollen, oftmals halbverhungerten Angehörigen der jagenden und sammelnden Gruppen kaum gekannt haben dürften. Die Ernährungsweise und sexuellen Bräuche der Polynesier zu der Zeit, als die Weißen sie entdeckten, sprechen für die Richtigkeit dieses Bildes von der mittleren Steinzeit.

Dieser Vorgang des Seßhaft- und Häuslichwerdens und der Einführung einer regelmäßigen Ernährung trat vor etwa zehn- bis zwölftausend Jahren in ein neues Stadium ein. Damals kam es zum Sammeln und planmäßigen Aussäen der Samenkörner gewisser Gräser, zur Züchtung anderer Samen aus Wildlingen, so etwa Bohnen und Kürbisse, und zur Nutzung von Herdenvieh, also Rindvieh, Schafen und schließlich Eseln und Pferden. Durch das eine oder andere dieser Tiere wurden Ernährung, Zugkraft und Beweglichkeit der Gruppe gesteigert. Wahrscheinlich hätte keine Phase dieser großen landwirtschaftlichen Umwälzung unter reinen Nomaden zustande kommen können; sie bedurfte vielmehr der dauernden Besiedlung eines Gebietes, die mindestens lange genug währte, um den ganzen Zyklus des Wachstums zu erleben, um primitiven Menschen Einblick in die Naturvorgänge zu gewähren und um sie systematischer zu vermehren. Das entscheidende Ereignis in diesem ganzen Prozeß war vielleicht die Domestikation des Menschen selber, die wiederum ein Beweis war für seine wachsende Anteilnahme an Sexualität und Vermehrung.

Hier kann man sich nicht dem Gedanken A. M. Hocarts verschließen, daß Seßhaftigkeit und Verwendung von Dünger ihren Ursprung vielleicht in Fruchtbarkeitsriten und magischen Opfern haben, wie ja auch der rituelle Gebrauch von Verzierungen des Körpers und rein symbolischen Gewändern wohl sicher die Vorläufer der Herstellung von Kleidern zum Schutz gegen die Witterung gewesen sind. Auf jeden Fall war das Seßhaftwerden das Endergebnis einer wachsenden Anteilnahme an Sexualität und Vermehrung; gleichzeitig damit fiel der Frau in allen Bereichen eine wichtigere Rolle zu. Die Raubzüge wichen dem Zusammenleben. Es war ein Segen für die menschliche Entwicklung, daß die Sexualität der Frau niemals verselbständigt und in der gigantischen Form etwa der Termitenkönigin übersteigert wurde, die das Eierlegen für den ganzen Termitenbau übernimmt.


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Der sogenannten landwirtschaftlichen Revolution ging wahrscheinlich eine Sexualrevolution voraus. Dieser Wandel gab die beherrschende Stellung nicht mehr dem jagenden Mann, der schnellfüßig, aus beruflicher Notwendigkeit unbarmherzig und stets zu töten bereit war, sondern der eher passiven Frau, die an ihren Kindern hängt, ihr Tempo dem Kinderschritt anpaßt, alles Junge hegt und pflegt, gelegentlich sogar junge Tiere säugt, wenn deren Mutter gestorben ist, Samen legt und Setzlinge hütet - zuerst vielleicht in einem Fruchtbarkeitskult, bis dann das Heranwachsen und die Vermehrung der Saat neue Möglichkeiten eröffnen, die Ernte zu vergrößern.

Ich möchte betonen, wie sehr sich der Mensch der jüngeren Steinzeit auf organisches Leben und Wachstum konzentriert hat. Er hat nicht nur gesammelt und erprobt, was die Natur ihm bot, sondern bewußt ausgewählt und gezüchtet, und zwar mit solchem Erfolg, daß der Mensch in der uns bekannten Geschichte zu den in der jüngeren Steinzeit gezüchteten oder gezähmten Arten nicht ein einziges Tier oder eine einzige Pflanze von größerer Bedeutung hinzugefügt hat. Die Domestikation hat zwei große Veränderungen zur Folge: der Wohnsitz erhält Dauer und Stetigkeit, und Vorgänge, die früher den Launen der Natur unterlagen, kommen nun unter vorausschauende Kontrolle. Damit entwickeln sich Gewohnheiten sanfter Pflege und Aufzucht. Hier müssen die Bedürfnisse der Frau, ihre Fürsorglichkeit, ihre Vertrautheit mit allem Wachstum, ihre Begabung für Liebe und Zärtlichkeit eine beherrschende Rolle gespielt haben. Durch die bedeutende Vermehrung der Nahrungsmittel, die sich daraus ergab, daß immer mehr Tiere und Pflanzen domestiziert wurden, war die zentrale Stellung der Frau in der neuen Wirtschaftsordnung gesichert.

»Heim und Mutter« stand über jedem Kapitel der landwirtschaftlichen Entwicklung in der jüngeren Steinzeit geschrieben, nicht zuletzt auch über den Mittelpunkten der neuen Dörfer, die sich nun endlich in Hausfundamenten und Gräbern nachweisen lassen. Die Frau handhabte Grabstock oder Hacke, sie pflegte die Pflanzen im Garten und vollbrachte jene Meisterleistungen an Zuchtwahl und Kreuzung, durch die wilde Arten in fruchtbare und nahrhafte Abarten verwandelt wurden. Die Frau schuf die ersten Behältnisse, flocht Körbe und wickelte die ersten Tontöpfe. Auch dem Dorf hat sie seine Gestalt gegeben; denn was das Dorf sonst auch sein mochte, es war jedenfalls das Nest der Gruppe für die Aufzucht und Pflege der Jungen. Hier verlängerte sie den Kindern den Zeitraum der Fürsorge und des sorglosen Spielens, auf den es für die höhere Entwicklung des Menschen so sehr ankommt. Das stetige Dorfleben war den loseren Formen des Wanderlebens kleinerer Gruppen darin überlegen, daß es


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für Fruchtbarkeit, Nähren und Schutz die besten Möglichkeiten bot. Wenn für die Jungen gemeinsam gesorgt wurde, konnte eine größere Zahl gedeihen. Ohne diese langwierige Entwicklung zu Seßhaftigkeit und Landwirtschaft hätte der Überfluß an Nahrungsmitteln und Menschenkraft, der das Leben in der Stadt erst möglich gemacht hat, nicht erzielt werden können. Und ohne die vorausschauende Sorge und die bewußte sittliche Zucht, welche die jüngere Steinzeit in allen Lebensbereichen einführte, erscheint es zweifelhaft, ob die komplexere soziale Zusammenarbeit, wie sie sich mit der Stadt einstellte, überhaupt hätte zustande kommen können.

Das Dasein der Frau kam überall im Dorf zur Geltung, nicht zuletzt in seiner äußeren Gliederung mit den schützenden Einfriedungen, deren symbolische Bedeutung die Psychoanalyse jetzt erst spät ans Licht gefördert hat. Sicherheit, Empfänglichkeit, Einfriedung, Nähren - das sind Funktionen der Frau, die allenthalben im Aufbau des Dorfes Ausdruck finden: um Haus und Herd, in Stall und Speicher, im Brunnen, in Vorratsgrube und Kornkammer. Von dort greifen sie über auf die Stadt, auf Wall und Graben und auf alle Innenräume vom Atrium bis zum Kreuzgang. Haus und Dorf und schließlich auch die kleine Stadt sind Ausdruck der Frau. Falls das als ausschweifende psychoanalytische Vorstellung erscheint, so sind die alten Ägypter bereit, die Gleichung zu bezeugen. In den ägyptischen Hieroglyphen können die Zeichen »Haus« oder »Stadt« auch für »Mutter« stehen, als ob sie die Ähnlichkeit der nährenden Funktion beim Einzelwesen und beim Kollektiv bestätigen wollten. Demgemäß sind die primitiveren Bauten - Häuser, Säle, Gräber - gewöhnlich rund wie die erste Schale, die der griechischen Sage zufolge nach Aphrodites Brust geformt wurde.

Inmitten seiner Gärten und Felder bildete das Dorf eine neue Form der Siedlung. Es war eine dauernde Vereinigung von Familien und Nachbarn, von Vögeln und andern Tieren, von Häusern, Vorratskellern und Scheuern, die alle in der heimischen Scholle wurzelten, in der jede Generation zum Kompost der nachfolgenden wurde. Der Tageslauf drehte sich um Speise und Geschlecht, um die Erhaltung und Erneuerung des Lebens. Bis in geschichtliche Zeit hinein spielen Phallus und Vulva im Kultleben des Dorfes eine wichtige Rolle. In monumentaler Gestalt ziehen sie später in die Stadt ein, nicht nur als Obelisken und Säulen, Türme und kuppelgeschmückte Gewölbe, sondern in der unverhüllten Form, des abgebrochenen, aber aufrechten Penis, wie er heute noch auf Delos zu sehen ist.

In primitiver Form waren viele Strukturelemente und Symbole der Stadt schon im ländlichen Dorf anzutreffen. Sogar die Mauer gab es wohl schon in Form einer Palisade oder eines Erdhügels als Schutz gegen Raubtiere, soweit man aus späteren Zeugnissen schließen kann.


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 Innerhalb solcher Einfriedungen konnten Kinder ohne weitere Aufsicht in Sicherheit spielen, und nachts hatte das Vieh Ruhe vor Wolf oder Tiger. Wie V. Gordon Childe berichtet, waren aber gleichwohl viele frühe Siedlungen ungeschützt; daher ist vielleicht schon das Vorhandensein solcher Sicherungen ein Hinweis auf eine spätere Periode voll Drohung oder Gefahr, in welcher die feste Umringung anstelle bewaffneter Wächter dazu diente, Räuber abzuwehren.

In dieses Leben mit seiner übersprudelnden Erotik hielten neue Ordnung, neue Regelmäßigkeit und neue Sicherheit Einzug. Zu essen gab es mehr denn je zuvor, und in diesen Gemeinwesen der jüngeren Steinzeit wurden wohl sicherlich mehr Kinder geboren und am Leben erhalten, als das irgendeiner früheren Kultur, von besonders günstigen Bedingungen abgesehen, möglich gewesen war. Die geschliffenen und polierten Werkzeuge, die früher als die wichtigsten Merkmale der steinzeitlichen Kultur galten, zeugen von Geduld und planmäßiger Bemühung, die weit über das hinausgehen, was das Brechen von Feuersteinen und die Jagd erforderten. Alle diese neuen Gewohnheiten und Funktionen haben dann schließlich das Ihre zur Entstehung der Stadt beigetragen, und ohne dieses dörfliche Element hätte der größeren Stadtgemeinde ein wichtiges Fundament ihrer äußeren Dauer und ihrer sozialen Kontinuität gefehlt.

Diese neue Lebensgemeinschaft von Mensch, Tieren und Pflanzen begünstigte, ohne daß sie bewußt in jene Richtung zielte, die spätere Entwicklung der Stadt. Ursprünglich war der Hund weniger Jäger als Wächter und Straßenkehrer; ohne den Hund und das Schwein ist es zweifelhaft, ob die dicht gedrängt lebende Gemeinschaft von Menschen ihre sanitären Sünden hätte überleben können. Das Schwein hat als Gehilfe der Gesundheitsbehörden in angeblich so fortschrittlichen Städten wie New York und Manchester noch bis ins 19. Jahrhundert hinein Dienst getan. Ferner diente, als die Kornvorräte zunahmen, die Katze - in Ägypten eine gezähmte Schlangenart - dazu, die Nagetiere in Schranken zu halten, die Krankheiten ausbreiteten und das Getreide fraßen. Allerdings muß man um der Gerechtigkeit willen auch etwas über die negativen Folgen sagen: Mäuse, Ratten und Küchenschaben nutzten die neue Situation aus und wurden allzu anhängliche Begleiter der neuen Siedlungen.

Diese neue Zusammenarbeit mit den Tieren ist älter als deren Verwendung für die Ernährung des Menschen; genau wie Kleidung und Schmuckstücke dienten sie erst zur Zier und wurden erst später nützlich. Das enge Zusammenleben von Mensch und Tier muß jedoch auf die Landwirtschaft weiterhin festigend gewirkt haben, verwandelte es doch die Umgebung des Dorfes notgedrungen in einen Dunghaufen. Jene frühen Ackerbauer wa-


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ren aufmerksame Beobachter und hatten vermutlich bald erkannt, daß Düngung den Pflanzenwuchs fördert. Der primitive Mensch betrachtet ebenso wie kleine Kinder alle Ausscheidungen des Körpers mit Interesse, ja mit Ehrfurcht; nur die unkontrollierbare Entladung der monatlichen Regel erweckt seine Furcht und veranlaßt vorbeugende Maßnahmen. Er schätzt diese eigenen Erzeugnisse als Beweise einer Art spontaner Hervorbringung, die dem Menschen und seinen tierischen Gefährten gemeinsam ist. Im Dorf führte die reichliche Zahl zum Überfluß an Dung, wurde er doch sogar mit Schlamm vermengt und diente dann als Putz der Schilfhütten in Mesopotamien.

So trug die bloße Tatsache der Ansiedlung in Dörfern dazu bei, die Landwirtschaft selbstgenügsam zu machen, nur nicht im tropischen Teil der Neuen Welt, wo in späterer Zeit angesichts primitiverer Methoden des Feldbaus - man rodete den Dschungel mit Feuer - dem Dorf die innere Festigkeit mangelte und die Stätten festlicher Versammlungen keine dauernde Bevölkerung hatten. Wo jedoch menschlicher und tierischer Dünger voll ausgenutzt wurde, da bereicherte er die Felder derart, daß auch noch die wachsende Stadt einen Ausgleich dafür schuf, daß ihr Wachstum wertvolles Ackerland verschlang. So war es beispielsweise in China. Wüßten wir nur, wo und wann dieser Brauch begann, so besäßen wir tiefere Einsicht in die Naturgeschichte der ersten Städte. Wasserspülung, Kanalisation und Verschmutzung der Flüsse stehen am Ende dieser Entwicklung. Sie bedeuten ökologisch einen Rückschritt und bisher nur oberflächlich einen technischen Fortschritt.

Das Dorfleben ist eingebettet in den ursprünglicheren Zusammenhang von Geburt und Ort, von Blut und Boden. Jeder Bewohner ist ein ganzer Mensch und übernimmt alle Funktionen, die jeder Phase des Lebens angemessen sind, von der Geburt bis zum Tod; er tut das im Bunde mit den Naturgewalten, die er verehrt und denen er Untertan ist, selbst dann noch, wenn er versucht, magische Mächte anzurufen, um jene Gewalten zum Besten seiner Gruppe zu beherrschen. Ehe die Stadt geboren wurde, hatte das Dorf den Nachbar geschaffen, der in der Nähe lebt, an den Lebenskrisen teilhat, über den Sterbenden wacht, die Toten mitfühlend beweint und bei Hochzeit und Geburt mitfeiert. Nachbarn eilen zu Hilfe, wie Hesiod sagt, während Verwandte noch »über ihrem Gerät zaudern«.

Ordnung und Stetigkeit des Dorfes wurden zusammen mit seiner mütterlichen Geborgenheit, seiner Vertrautheit und seinem Einssein mit den Naturgewalten auf die Stadt übertragen; mögen sie dann auch in der Stadt als Ganzem wegen ihrer übermäßigen, unüberschaubaren Ausdehnung verlorengegangen sein, so erhalten sie sich doch innerhalb der Gemeinschaft der Nachbarn. Ohne diese Gleichsetzung mit dem Gemeinwesen und dessen


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mütterlicher Kraft wird die Jugend demoralisiert. Ja, ihre Fähigkeit, ganze Menschen zu werden, kann ohne die erste Verpflichtung des Steinzeitmenschen nicht ausgebildet werden: ohne die fürsorgende Pflege des Lebens. Was wir Moral nennen, begann mit den Mores, den lebenerhaltenden Bräuchen des Dorfes. Wenn diese ursprünglichen Bande sich lockern, wenn die sichtbare, innerste Gemeinschaft aufhört, eine wachsame und festgefügte Gruppe zu sein, in der jeder sich um den anderen kümmert, dann wird aus dem »Wir« ein wilder Schwärm von »Ichs«, und alle sonstigen Bindungen und Verpflichtungen werden zu schwach, um den Zerfall der städtischen Gemeinschaft aufzuhalten. Erst jetzt, da Dorfgewohnheiten überall auf der Welt rasch dahinschwinden, können wir ermessen, wieviel die Stadt ihnen an Lebenskraft und liebender Hege verdankt, die erst die Weiterentwicklung des Menschen ermöglicht haben.

Keramik, Hydraulik und Geotechnik

Mit dem Dorf begann ein neues Kapitel der Technik. Zu den männlichen Waffen und Werkzeugen des Jägers und Bergbauers - Speer, Bogen, Hammer, Axt und Messer - gesellten sich typische Formen der jüngeren Steinzeit, die weiblichen Ursprungs waren; schon die Glätte der geschliffenen - im Gegensatz zu behauenen - Werkzeugen kann als weiblicher Zug angesehen werden. Entscheidend an der Technik der jüngeren Steinzeit ist aber, daß ihre wichtigsten Neuerungen nicht Waffen und Werkzeuge waren, sondern Behälter.

Werkzeuge und Waffen der älteren Steinzeit dienten hauptsächlich der Bewegung und der Muskelkraft; es waren Geräte zum Hauen, Hacken, Graben, Höhlen, Spalten, Zerlegen und Geräte, mit denen man rasch Kraft über eine gewisse Entfernung hinweg ausüben konnte. Kurzum, sie dienten jeder Art von aggressiver Tätigkeit. Knochen und Muskeln des Mannes beherrschten seinen Beitrag zur Technik; selbst sein schlaffer Penis ist vom sexuellen Standpunkt aus nutzlos, bis er knochenhart ist, wie die vulgäre Ausdrucksweise bezeugt. Bei der Frau hingegen sind die weichen inneren Organe Mittelpunkt des Lebens. Arme und Beine dienen ihr weniger zur Fortbewegung als zum Halten und Umschlingen, sei es nun der Geliebte oder ihr Kind; ihre besondere sexuelle Tätigkeit aber findet in Öffnungen und Höhlungen statt: in Mund und Vulva, in Scheide und Brust und in ihrem Schoß.


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Unter dem Einfluß der Frau wird die Jungsteinzeit überwiegend zu einer Zeit der Behälter. Es ist eine Epoche von Stein- und Tongeräten, von Vasen, Krügen, Fässern, Tonnen, Kisten und Kasten, Speichern und Häusern und nicht zuletzt von großen Sammelbehältern wie Bewässerungsanlagen und Dörfern. Die Besonderheit und Bedeutung dieses Beitrages ist allzuoft von modernen Forschern übersehen worden, die allen technischen Fortschritt nur an dem Maßstab von Maschinen messen.

Die primitivste Wohnstätte, die bisher in Mesopotamien entdeckt wurde, ist, wie Robert Braidwood berichtet, ein in den Boden gegrabenes Loch, das die Sonne ziegelhart gebrannt hat. Noch bemerkenswerter ist, daß dieses erste Haus älter zu sein scheint als jegliche Art von Töpferware. Wo es gilt, Überfluß zu speichern und zu erhalten, sind Behältnisse wichtig. Obwohl der Jäger der älteren Steinzeit Muscheln und Felle besaß, hatte er für Behälter kaum Verwendung; wie heute noch bei den Buschnegern in Afrika, diente ihm sein gefüllter Bauch als Behälter. Sobald aber die Landwirtschaft zu dauernder Ansiedlung und einem Überfluß an Nahrungsmitteln führte, wurden Aufbewahrungsgefäße aller Art wichtig.

Ohne dichte Behälter konnte der Dorfbewohner der Jungsteinzeit weder Bier noch Wein oder öl aufbewahren; ohne verschließbare Stein- oder Tonkrüge konnte er Nagetiere und Insekten nicht fernhalten. Ohne Kisten, Kästen und Tonnen konnte er seine Vorräte nicht von einer Ernte zur andern aufheben. Ohne dauerhafte Wohnhäuser konnten die Jugend, die Kranken und die Alten nicht sicher behaust oder liebevoll gepflegt werden. Mit ihren dauerhaften Behältern übertraf die Jungsteinzeit alle früheren Kulturen so weit, daß wir noch heute viele ihrer Methoden, Materialien und Formen verwenden. Trotz Glas und Stahl ist die moderne Stadt immer noch im Grunde ein erdverhaftetes Bauwerk der Steinzeit. Die frühzeitige Verwendung gebrannten Tons für schriftliche Aufzeichnungen gab den Gedanken der Menschen eine Dauerhaftigkeit, mit der kein anderes Material es aufnehmen kann; die babylonischen Keilinschriften legen davon Zeugnis ab. Die alten Städte sind zwar häufig zerstört worden, aber ihre dauerhaften Aufzeichnungen widerstanden Feuer und Wasser. Mit dem Horten schuf man nicht nur Dauer, sondern auch Vorräte, auf die man in mageren Zeiten zurückgreifen konnte. Als man unverbrauchtes Korn für die Aussaat des folgenden Jahres beiseite legte, tat man den ersten Schritt zur Kapitalbildung.

Man beachte, wieviel die Stadt in technischer Hinsicht dem Dorf verdankt. Unmittelbar oder auf Umwegen stammen aus dem Dorf das Kornhaus, die Bank, das Zeughaus, die Bibliothek und das Lagerhaus. Auch bedenke man, daß der Bewässerungsgraben, der Kanal, der Wasser-


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speicher, der Wallgraben, die Wasserleitung und die Abwässerungsanlagen gleichfalls Behälter sind und der automatischen Beförderung oder Speicherung dienen. Der erste von diesen wurde lange vor der Stadt erfunden, und ohne diese lange Kette von Erfindungen hätte die antike Stadt nicht die Form annehmen können, die sie schließlich erhielt; denn sie war nichts anderes als ein Behälter von Behältern.

Ehe die Töpferscheibe, der Kampfwagen oder der Pflug erfunden wurden, also lange vor dem Jahr 3500 v.Chr., hatten alle wichtigeren Behältnisformen schon eine lange Laufbahn hinter sich. Karl A. Wittfogel hebt mit Recht die Beherrschung des Wassers durch die Gemeinschaft als einen charakteristischen Zug der totalitären Gemeinwesen während der Kupferzeit hervor. Es gibt jedoch Beweise dafür, daß die frühen Dorfbewohner an Nil und Euphrat sich bereits auf diese Kunst verstanden haben. Schlamm und Wasser sind, wie Kinder wissen, leicht zu formen. Was man beim Bau von Häusern und Brunnen, Bewässerungsgräben und Kanälen lernte, teilte man allenthalben im Lande mit. Überhaupt ging die Domestizierung von Tieren und Pflanzen Hand in Hand mit der Domestizierung des Menschen und der naturgegebenen Landschaft.

Die Gestaltung der Erde war also ein fester Bestandteil der Gestaltung der Stadt und ging dieser voraus. Hier haben wir es mit einer engen biotechnischen Beziehung zu tun, die der moderne Mensch mit seinen Plänen, die an die Stelle mannigfaltiger Erdformen und ökologischer Verbindungen verkäufliche Ersatzartikel setzt, zu seinem eigenen Schaden zerreißt.

In günstig gelegenen Gebieten der Welt von Ägypten bis nach Indien hatten Hunderte oder gar Tausende von kleinen Dörfern diese Kunst auf bescheidene, aber maßgebliche Weise auf alle Bereiche ihres Lebens angewendet. So verwandelten sich Wälder und Prärien in Äcker, und nahe der Wüste entstanden, wie etwa im Jordantal, kleine Oasen, die auf sicheren Wasservorkommen in großen Zisternen basierten. Ohne diese Grundlage, ohne dieses Sammeln und ohne solche Einfriedung und Ordnung wäre die Stadt vielleicht niemals geboren worden. Diese steinzeitlichen Funktionen waren die Grundlage für die langsam entstehenden Ziele der Stadt, die jedoch einen gänzlich andern Gebrauch von ihnen machte.


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Die Leistung des Dorfes

Betrachten wir nun einmal etwas genauer das frühgeschichtliche Dorf, wie wir es uns in Mesopotamien und im Niltal etwa zwischen 9000 und 4000 v.Chr. vorstellen müssen: Ein Haufen Lehmhütten, von der Sonne gehärtet, oder auch Bauten aus Lehm und Schilf, alle klein und geduckt, anfangs kaum besser als ein Biberbau. Um diese Dörfer herum liegen Nutzgärten und kleine Äcker, alles von bescheidenem Ausmaß; wir finden noch nicht die breiten, aber abgegrenzten, rechteckigen Felder, die mit dem Aufkommen des Pfluges entstehen. In nahe gelegenen Sümpfen und Flüssen kann man Vögel in Schlingen fangen und Fische, die als Zusatz zur Nahrung über eine schlechte Ernte hinweghelfen oder den täglichen Tisch bereichern. Aber selbst in den primitivsten Siedlungen, etwa in dem Deltadorf Merimdeh Beni-Salameh, fand John A. Wilson einen »in den Boden versenkten Krug, der das durchs Dach dringende Regenwasser auffangen sollte«. Ferner »hatte das Dorf einen gemeindlichen Kornspeicher, geflochtene Körbe, die in den Boden eingelassen waren«.

Was wir von Bauart und Lebensweise der jungsteinzeitlichen Weiler und Dörfer wissen, stammt von den groben Überresten, die in polnischen Sümpfen, auf dem Boden von Schweizer Seen, im ägyptischen Nilschlamm oder in Fetzen von Liedern und Geschichten aufbewahrt wurden, die erst viel später in den schreibkundigen, städtischen Kulturen der Sumerer, Ägypter und Griechen aufgezeichnet worden sind. Das Studium des Dorflebens heute noch vorhandener, sogenannter primitiver Stämme vermag uns kein wahres Abbild jener Urkulturen zu geben, die noch im Entstehen begriffen waren. Was wir nämlich heute primitiv nennen, hat selbst dann, wenn es keinerlei Spuren einer Berührung mit späteren Kulturen aufweist, eine Kette von Beziehungen und Wandlungen hinter sich, die ebenso lang ist wie die Geschichte einer komplexeren Volksgruppe oder Stadt. Die besten Quellen früher Dorfkulturen finden wir vielleicht in noch vorhandenen Bräuchen und abergläubischen Vorstellungen, die in ländlichen Bezirken noch fast bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben sind. Diese archaische Kultur, wie Andre Varagnac sie genannt hat, scheint die unverwitterte Schicht unter allen Kulturen der Alten Welt zu sein, sosehr sie auch zivilisiert und städtisch geworden sein mag.

Überall umfaßt das Dorf eine kleine Gruppe von sechs bis vielleicht dreißig Familien, deren jede ihren Herd, ihren Hausgott und Altar und ihr eigenes Grab hat, entweder im Hause selbst oder auf einem gemeinsamen Begräbnisplatz. Jede Familie spricht dieselbe Sprache, trifft sich unter


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demselben Baum oder im Schatten desselben ragenden Steinblocks, folgt demselben Weg, den das Vieh ausgetreten hat, und hat so, indem sie an den gleichen Arbeiten teilnimmt, die gleiche Lebensweise wie alle andern. Soweit Arbeitsteilung überhaupt vorkommt, ist sie von einfachster Art und wird mehr von Alter und Körperkraft als von Begabung bestimmt. Wer seinem Nachbarn ins Antlitz schaut, sieht sein eigenes Abbild. Größtenteils hat die Zeit die äußern Merkmale des Dorfes in der Landschaft verschwinden lassen, nur Scherben und Muschelschalen sind von Dauer; aber das Sozialgefüge ist zäh und beständig geblieben, weil es auf Vorschriften, Sprichwörtern, Familiengeschichten, heroischen Vorbildern und sittlichen Geboten beruht, die wertgehalten und unabänderlich von Generation zu Generation vererbt wurden.

Je erfolgreicher die steinzeitliche Landwirtschaft wurde, desto starrer und konservativer wurde sie vermutlich auch. Gegen Ende dieses Zeitalters hatten alle diese abenteuerlichen Erfahrungen, die eßbare Pflanzen von unverdaulichen oder giftigen zu unterscheiden lehrten, die das Geheimnis der Wurzelbildung, der Sämlinge, der Kreuzung und Zuchtwahl entdeckten und lernwillige und umgängliche Tiere auswählten, um aus ihnen Gehilfen des Menschen zu machen, ihren Schwung verloren oder waren ganz versiegt. Als sich diese Kultur gefestigt hatte, bestand ihr Geheimnis in Konformismus, Wiederholung und Geduld. Zweifellos vergingen Jahrtausende, bis die jungsteinzeitliche Wirtschaftsordnung ihre Grenzen erreichte; als sie aber einmal dort angelangt war, zeigte sie wenig inneres Verlangen nach weiterer Entwicklung. Sie gab sich mit dem Wahlspruch zufrieden: Halte das Gute fest und suche nicht weiter!

Solange der Verkehr zu Wasser nicht weit fortgeschritten war, bildete jedes Dorf eine Welt für sich; schläfrige Versunkenheit und Selbstbespiege-lung trugen dazu vielleicht mehr bei als äußere Schranken. Selbst unter primitiven Verhältnissen war diese Gleichförmigkeit niemals absolut, die Selbstgenügsamkeit niemals vollständig, die Beschränkung niemals unüberwindlich. Manchmal mußte man anderswo hingehen, um sich ein Werkzeug zu holen oder eine Braut zu »fangen«. Das Ideal der Dörfler blieb jedoch, wie es Lao-tse viel später geschildert hat: »Ihre Nahrung genießen, stolz sein auf ihre Kleidung, zufrieden im eigenen Heim und sich des Brauchtums erfreuen.« Dann »könnten sie wohl in Sichtweite des Nachbardorfes leben und dessen Hähne und Hunde hören und dennoch alt werden und sterben, ehe sie einander besucht hätten«. Solche Dörfer konnten wachsen und sich mehren, ohne irgendein Bedürfnis zu verspüren, ihre Lebensweise zu ändern. Solange Nahrung und Fortpflanzung, die Freuden des Bauches und des Geschlechts, Hauptinhalt des Lebens waren, befriedigte die Dorfkultur der Jungsteinzeit alle Bedürfnisse.


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Fraglos bedarf dieses allgemeine Bild einiger Korrekturen. Wir neigen heute wohl dazu, die statischen Eigenschaften des jungsteinzeitlichen Dorfes zu übertreiben und in seinen eher fließenden Charakter die Stetigkeit, Wiederholung und Starrheit hineinzulegen, die das Ergebnis von Jahrtausenden sind. Im Laufe dieser Tausende von Jahren muß es trotzdem mancherlei Gewinn und unternehmungsfreudiges Wachstum gegeben haben. Äußerlich wies das Dorf der Jungsteinzeit schon manche Eigenschaften kleiner Städte auf, beispielsweise Lagasch in Mesopotamien; ja, allein an Hand der ausgegrabenen Bauwerke sind Dorf und Kleinstadt nicht zu unterscheiden. Gäbe es mehr solche äußeren Spuren, so könnten wir vielleicht ebensoviele Varianten der Planung feststellen, wie Meitzen sie in Mitteleuropa für eine viel spätere Epoche gefunden hat.

Gleichwohl war die Stadt embryonal schon im Dorf angelegt. Haus, Altar, Zisterne, öffentlicher Weg und Agora - noch kein eigentlicher Marktplatz - nahmen alle zuerst im Dorf Gestalt an; sie waren Erfindungen und organische Differenzierungen, die dann in der komplizierteren Struktur der Stadt fortgeführt wurden. Was für die allgemeine Struktur des Dorfes gilt, gilt ebenfalls für seine Einrichtungen. Anfänge einer geordneten Sittlichkeit, einer Regierung und von Recht und Gesetz gab es im Rat der Dorfältesten. Thorkild Jacobsen hat nachgewiesen, daß diese repräsentative Gruppe als Hort der Tradition, als Sittenwächter und Richter über Gut und Böse in Mesopotamien schon im 4. Jahrtausend v. Chr. festzustellen ist, obwohl ihre Ursprünge älter sein müssen als alle Aufzeichnungen. Dieses rudimentäre Regierungsorgan scheint Dorfgemeinschaften aller Epochen zu kennzeichnen. Es spielte eine so bedeutende Rolle, daß es Spuren sowohl im religiösen Mythos als auch in der Arbeitsweise des mesopotamischen Stadtstaates hinterlassen hat; noch Jahrtausende später folgte ein babylonischer Rat der Götter immer noch dem Vorbild des urzeitlichen Dorfes.

Solche spontanen Ratsversammlungen, die aus Gewohnheit und bei besonderen Gelegenheiten zusammenkamen, waren Ausdruck menschlicher Übereinstimmung; ihre Aufgabe war weniger, zu herrschen und neue Entscheidungen zu treffen, als vielmehr anerkannten Vorschriften und in urväterlicher Zeit getroffenen Entscheidungen augenblickliche Geltung zu verschaffen. In einer mündlich überlieferten Kultur haben nur die Alten genügend Zeit gehabt, um sich alles Wissenswerte anzueignen; ihren Einfluß kann man heute noch in Dorfgemeinschaften Asiens, Afrikas und Südamerikas feststellen. Ja, auf gänzlich zwanglose Weise läßt sich ihre Spur


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gelegentlich heute noch in manchen nordamerikanischen Dörfern feststellen. Die Dorfältesten verkörperten die Summe der Weisheit des Gemeinwesens. Wann immer die Ordnung der Gemeinschaft durch Mißverständnisse oder Streit zeitweilig gestört war, wirkten alle zusammen, um sie wiederherzustellen. Die alten Griechen meinten, ihre Achtung vor Brauchtum und gemeinem Recht sei, im Gegensatz zu launenhafter Tyrannis, ein einzigartiges Ergebnis ihrer Kultur. Tatsächlich war sie nur ein Beweis für die Fortsetzung einer noch älteren Dorfdemokratie, der wir zuerst in Mesopotamien begegnen. Diese scheint eine Institution zu sein, die älter ist als jede raffiniertere Ausübung der Macht durch eine herrschende Minderheit, die als Oberschicht einer unterworfenen Bevölkerung widerspruchslos ihre fremde Überlieferung oder ihre nicht minder fremden Neuerungen aufzwingt.

So steht es auch mit der Religion, die im Bereich des Menschlichen und Vertrauten blieb. Zwar hatte wohl jedes Dorf sein Heiligtum und seinen Kult, der allen Nachbarn gemeinsam war, doch fand religiöses Gefühl außerdem noch Verbreitung durch Totem- und Ahnenverehrung. Jeder Haushalt hatte seine eigenen Götter als wahrhaftiges, unvergängliches Eigentum, und das Oberhaupt der Familie nahm bei Opfer und Gebet priesterliche Funktionen wahr, wie es heute noch in orthodoxen jüdischen Familien beim Passahfest geschieht. Ganz allgemein neigte das Dorf dazu, Macht und Verantwortung zu verteilen. Die Möglichkeit einer Differenzierung und Spezialisierung blieb weitgehend ungenutzt, während Absonderung, Nonkonformismus, Neuerungssucht und Erfindungsgabe des Einzelnen auf ein erträgliches Minimum zurückgeschraubt oder gar rücksichtslos ausgerottet wurden. Bei so enger Vertrautheit und täglicher Bewegung stand jedes Mitglied der Gemeinschaft auf gleicher Ebene. Nur das Alter verlieh Vorrang und Autorität.

Sobald die wichtigsten Errungenschaften und Einrichtungen der Jungsteinzeit einmal geschaffen waren, konnte das Dorfleben auf diesem Niveau Tausende von Jahren Bestand haben und in ihm allein Befriedigung finden. Die letzte große Wendung kam mit dem Pflug und der Einführung von Metallgeräten anstatt Steinwerkzeugen. Es muß eine ziemlich lange Epoche gegeben haben, die nichts hervorbrachte, was man mit einer vollständigen, durch und durch differenzierten Stadt vergleichen könnte. Die Grenzen zwischen Dorf und Stadt sind in der Jungsteinzeit jedoch so schmal und beide ähneln sich in so vielen Punkten, daß man versucht ist, beide lediglich als Jugend- und Altersform derselben Art anzusehen. Das trifft zwar weitgehend für ihre äußere Erscheinung, nicht jedoch für ihre gesellschaftlichen Institutionen zu. Vieles von der Stadt war im Dorf


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verborgen oder gar sichtbar vorhanden; dieses war aber eher das unbefruchtete Ei als der heranwachsende Embryo. Es bedurfte einer ganzen Gruppe von väterlichen Chromosomen, die es ergänzten und damit die weitere Differenzierung und vielfältige kulturelle Entwicklung herbeiführten.

Die neue Rolle des Jägers

Versucht man die Abfolge der Kulturen zu erläutern, so läuft man Gefahr, ihre Schichtung allzu ernst zu nehmen. Zwar muß der Archäologe der Schichtung gebührende Achtung zollen und sie als Methode zur Bestimmung kultureller Zusammenhänge und zeitlicher Reihenfolge gelten lassen; aber nur eine materielle Kultur, die tot und begraben ist, bleibt für alle Zeit geschichtet, ohne Verschiebungen und Erdbeben durchzumachen. Die immaterielle Kultur hingegen gleicht einem Faserbündel: zwar können die einzelnen Fasern häufig reißen, doch durchdringen sie jede Schicht und können selbst dann, wenn man sie aus dem Auge verliert, noch eine aktive Rolle spielen.

Wenngleich wir also aufgrund der vorhandenen Beweise die äußere Erscheinungsform der Stadt ganz richtig in die Endphase der Jungsteinzeit verlegen, so ist doch ihr eigentliches Auftauchen nur das letzte Ergebnis einer früheren Verbindung von altsteinzeitlichen und jungsteinzeitlichen Komponenten. Diese Vereinigung wurde, soweit ich sehe, gestützt oder gar herbeigeführt von dem letzten großen Fortschritt der landwirtschaftlichen Revolution: Veredelung des Getreides und Einführung von Pflug und Bewässerung. Das Endergebnis war die Verschmelzung aller Institutionen und leitenden Funktionen, welche eine Zivilisation ausmachen.

In jenem Augenblick kehrte der männliche Faktor, der von dem vorausgegangenen Prozeß der Domestikation gebändigt, gezähmt oder gar zurückgedrängt worden war, plötzlich mit verdoppelter Kraft zurück. Er führte zu einer neuen Dynamik, die sich als Verlangen, die Natur zu zähmen und zu lenken, ausdrückte: starke und widerspenstige Tiere -wie Esel, Pferd, Kamel und Elefant zu beherrschen und vor allem, teilweise durch Waffengewalt, eine räuberische Macht über andere Gruppen von Menschen auszuüben. Weder die Kultur der Altsteinzeit noch diejenige der Jungsteinzeit vermochte für sich allein zu tun, was beiden gelang, indem sie ihre sich gegenseitig ergänzenden Gaben und Funktionen vereinigten.


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Es ist jedenfalls ein Irrtum zu glauben, daß die Kultur der Altsteinzeit von derjenigen der Jungsteinzeit völlig verdrängt worden sei. Noch heute stehen an Frühlingssonntagen um jede Großstadt Tausende von Anglern an Flüssen und Seeufern und gehen der altsteinzeitlichen Beschäftigung des Fischens nach, während später im Jahr an andern Orten andere Menschen noch älterer Übung folgen und Pilze, Beeren oder Nüsse suchen, Muscheln oder Treibholz sammeln oder am Meeresufer Muscheln ausgraben. Sie tun zu ihrem Vergnügen, was der Mensch der Vorzeit tat, um sein Leben zu fristen.

Was geschah mit dem altsteinzeitlichen Jäger, als Hackbau und Baumkulturen die Ansiedlung in Dörfern ermöglichten? Zweifellos wurde er aus den landwirtschaftlichen Bereichen verdrängt; denn wenn es dort Kleinwild gab, so wurde es von den Dorfbewohnern in Schlingen gefangen oder gejagt, während das Großwild in Sumpf oder Gebirge getrieben oder sonst eher als eine Gefahr für die Feldfrucht denn als willkommene Nahrung betrachtet wurde. Mit dem Beginn der Landwirtschaft schwanden die Möglichkeiten des Jägers dahin. An Lederstrumpfs Einstellung zu den Rodungen der ersten Siedler können wir diese primitive Reaktion ungefähr ermessen. Mit der Zeit mochten wohl Behaglichkeit und Geselligkeit des Dörfchens ein wenig Unzufriedenheit und Neid beim Jäger hervorrufen, auch wenn er die ewig gleichen Arbeiten und die lähmende Sicherheit verachten mochte, die der Durchbruch der Landwirtschaft nach sich zog.

Abgesehen von ein paar umstrittenen Höhlenbildern, auf denen sich Männer mit gespannten Bogen gegenüberstehen, haben wir aus der Frühzeit keine Beweise dafür, daß Jäger einander nachstellten. Lange Zeit hindurch waren Vögel und Tiere allein die Opfer der Jagd, nicht Menschen. Aus der Tier- und Insektenwelt haben wir jedoch viele Beweise dafür, daß Räuber, wenn sie die Wahl haben, häufig das angenehme Leben dem harten Leben vorziehen und dann der Bequemlichkeit so anheimfallen, daß sie zum Schmarotzer werden und auf Kosten eines Wirts leben, der sich, wenn auch nicht ganz freiwillig, darein fügt. Bis zu einem gewissen Grad mag dieses Verhältnis freilich auch eine nützliche Symbiose sein; als Lohn für seinen Anteil am Überfluß bewacht der Räuber das Nest gegen andere Feinde.

Wirkliche Beweise für solchen gefälligen Austausch haben wir nicht, da er vor dem Beginn geschichtlicher Dokumente lag. Auch die aufschlußreichen Überbleibsel, die auf ein neues Verhältnis zwischen Gruppen der alten und jungen Steinzeit hindeuten, sind dürftig und können verschieden ausgelegt werden. Aber noch vor der Geburt der Stadt haben wir in Palästina deutliche Hinweise darauf, daß das zeitweilige Lager des Jägers sich in ein ständig besetztes Bollwerk verwandelt hat.


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Diese Festung wird von jemand gehalten, den die Archäologen etwas reichlich vage den »Häuptling« nennen - natürlich nicht allein, sondern mit einer Schar von Gefolgsleuten. Zunächst hat man solche Jäger wohl nicht nur geduldet, sondern offen willkommen geheißen; denn der Jäger spielt in der Wirtschaft der Jungsteinzeit eine nützliche Rolle. Mit seiner Waffenkunst schützte er das Dorf gegen seine gefährlichsten, vermutlich auch einzigen Feinde: Löwen, Tiger, Wölfe und Krokodile. Der Jäger wußte noch, wie man diesen Tieren nachstellte und sie tötete, während den Dörflern vermutlich die Waffen fehlten und erst recht der Mut. Die Sicherheit hatte im Laufe der Jahrhunderte die Dörfler ängstlich und passiv gemacht.

Hier kommen uns nun schriftliche Aufzeichnungen zu Hilfe, obwohl das erste Zusammenwirken zwischen Dorf und Bollwerk viel älter sein muß. Der Urtyp des Häuptlings in der sumerischen Sage ist Gilgamesch, der jagende Held und starke Beschützer, nicht zuletzt bezeichnenderweise der Mann, der um Uruk die Mauer gebaut hat. In einem alten babylonischen Bericht über die Taten eines andern Jägers namens Enkidu lesen wir: »Er nahm die Waffe, die Löwen zu jagen. Die Hirten konnten des Nachts schlafen; er fing die Wölfe, er packte die Löwen, und die Viehtreiber konnten ausruhen. Enkidu ist ihr Wächter, der kühne Mann und einzige Held.« Das war nicht untertäniger Lobpreis für einen Sieger, sondern Bürgerdank für einen befreundeten Schutzherrn, auf dessen Dienste man noch lange angewiesen war. Noch im 7. Jahrhundert v. Chr. kündete ein von Assurbanipal errichteter Gedenkstein von der Wildheit der Löwen und Tiger, nachdem Sturzregen das Land in einen morastigen Dschungel verwandelt hatten; er prahlt, wie tüchtig er gewesen, als er die Tiere in ihren Schlupfwinkeln erschlug. Mittlerweile jedoch hatte sadistisches Machtstreben die wohltätige Rolle des Jägers befleckt: da er auf freiwillige Anerkennung des Gemeinwesens nicht rechnen konnte, füllte der Jägerkönig das Schweigen mit Eigenlob.

Man kann sich denken, daß die von Jägern beschützten Dörfer besser gediehen als jene, deren Felder von Wildherden zertrampelt oder deren Kinder von Raubtieren zerrissen und verschlungen wurden. Gerade Wohlfahrt und Friede des jungsteinzeitlichen Dorfes mögen seine Wächter veranlaßt haben, die Rolle des Wachhundes mit der des Wolfes zu vertauschen und von sich aus »Schutzgeld« zu fordern. Die eingeschüchterten Dörfler rügten sich, auf daß ihr Beschützer nicht ärgere Zähne zeige als die Tiere, gegen die er seinen Schutz anbot. Diese ganz natürliche Entwicklung des Jagers zum politischen Häuptling bahnte ihm vermutlich den Weg zu größerer Macht. Schon auf den ältesten Denkmälern »erscheint der Jäger in Gewändern und der bestimmten Haartracht, welche Anführer, vielleicht gar Könige auszeichnet« (Henri Frankfort).


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Man darf jedoch die Rolle des Zwanges nicht übertreiben, zumal anfangs nicht; dieser stellte sich wahrscheinlich erst mit der weiteren Konzentration von technischer, politischer und religiöser Macht ein, die den ungeschlachten, primitiven Häuptling in den ehrfurchtgebietenden König verwandelte. Das ganze Verhältnis hatte auch seine gütige Seite. Vielleicht verlagerte sich das Interesse, so daß es nicht mehr galt, wilde Tiere aufzustöbern und zu töten, sondern zahme Tiere zu sammeln und zu schützen; es kam nicht mehr darauf an, aus Hunger und Not alsbald Nahrung aufzutreiben, sondern darauf, das spätere Opfer zu mästen und den richtigen Zeitpunkt zum Schlachten zu wählen.

Eine Zeile in einem frühen mesopotamischen Gedicht lehrt, daß der Hirte nicht unwillkommen war, wenn er seine Herde auf des Bauern Wiesenland weidete; vielleicht hatte der Bauer bereits den Wert der Düngung kennengelernt. Das schrankenlose Schweifen des Hirten mit seiner Herde machen ihn geistig eher dem Jäger als dem an die Scholle gebundenen Bauern verwandt. Beide erscheinen in der Fabel als bewunderswerte Heldengestalten, während der produktive Bauer eine geringe Rolle spielt oder gar die böse Rolle Kains in der Bibel. Als er dem Hirten Dumuzi begegnet, ist der Bauer versöhnlich gestimmt und bereit, die zweite Geige zu spielen. Ja, man kann den Hirten als den geistigen Bruder des Jägers ansehen, als dessen besseres Ich, weil er mehr als Beschützer denn als Räuber auftritt. Etana, einer der frühesten Könige, war Hirte, ebenso die Götter Lugubanda und Dumuzi der mesopotamischen Sage, und viel später David in Israel; sogar Hammurabi, ein großer Eroberer und Organisator, gab sich immer noch als Hirte seiner Völker aus.

Beide Berufe erfordern einerseits Führertum und Verantwortung und verlangen andererseits willige Fügsamkeit. Der Beruf des Jägers aber nährte den Willen zur Macht und übertrug schließlich seine Gabe, das Wild zu töten, auf den komplizierteren Beruf, andere Menschen zu befehligen und zu töten. Dagegen zielte der Beruf des Hirten darauf ab, Gewalttätigkeit einzudämmen und ein gewisses Maß von Gerechtigkeit zu schaffen, durch das auch noch das schwächste Mitglied der Herde geschützt und ernährt werden konnte. Es bleibt jedenfalls, daß zugleich mit der allmählichen Verfestigung der frühesten Stadtgemeinden auch Zwang und Überredung, Angriff und Schutz, Krieg und Recht, Macht und Liebe innerhalb ihrer Steineinfriedungen immer festere Gestalt annehmen. Sobald das Königtum erscheint, wird der Kriegsherr und Gesetzgeber auch Herr des Landes.

Wenn das notgedrungen eine mythologische Ableitung aus bekannten


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Tatsachen ist, so kann man daraus gleichwohl einen Eindruck gewinnen, wie freiwillige Opfer zu Tributen wurden, und wie später die Tribute als Zehnter, Steuern, Zwangsarbeit, Almosen oder gar als Menschenopfer in ein festes System gebracht wurden. Krieg, so scheint mir, gab es zu jener Zeit noch nicht. Die jungsteinzeitlichen Dörfer, die man ausgegraben hat, weisen einen auffallenden Mangel an allem auf, was man Waffen nennen könnte. Das ist zwar nur ein negativer Beweis, paßt aber gut in das Bild selbständiger Gemeinwesen, die zu klein waren, zu wenige Menschen hatten, zu weit von einander entfernt lagen und, bis Boote erfunden wurden, zu dürftig mit Fortbewegungsmitteln ausgerüstet waren, um sich gegenseitig verdrängen oder auf des anderen Besitzung übergreifen zu müssen. Der urtümliche Krieg »aller gegen alle« ist ein Märchen. Hobbes' kriegerischer Urmensch entspricht der geschichtlichen Wirklichkeit noch weniger als Rousseaus edler Wilder. Wie bei den Vögeln hat wohl die Herrschaft über einen Bezirk zur freundschaftlichen Regelung von Grenzfragen geführt, die erst später, als man »zivilisierter« war und daher Sorgen um Besitz und Vorrecht hatte, zu wilden Auseinandersetzungen geführt haben.

Die frühen Burgen und Festungen deuten nicht auf Krieg und Streit zwischen feindlichen Gemeinwesen, sondern auf einseitige Herrschaft einer kleinen Minderheit über eine relativ große Gruppe hin. Soweit Waffen Zwang und Herrschaft sicherten, wurden diese zunächst innerhalb des Gemeinwesens ausgeübt und nicht gegenüber anderen Gemeinwesen. Durch Waffengebrauch erlangten die »Edlen« zuerst ihre uralte Macht über die eigenen Bauern. In allen Gruppen mag es Wettstreit, Zank und Gewalttätigkeit und sogar schlichten Mord in verschiedenem Ausmaß gegeben haben, doch sind sie wahrscheinlich von modernen Forschern übertrieben worden; denn diese schreiben die Verirrungen und Vergehen, die in größerem Umfang den »höheren« Zivilisationen eigentümlich sind, gern primitiveren Zeiten zu. Bronislaw Malinowski dürfte recht haben: »Definieren wir den Krieg als einen Kampf zwischen zwei unabhängigen und politisch organisierten Gruppen, so hat es Krieg auf der Stufe der Primitivität nicht gegeben.«

Militärische Aggression von Kollektiven ist ebenso eine besondere Erfindung der Zivilisation wie die kollektiv bezeugte Neugierde in Gestalt planmäßiger wissenschaftlicher Forschung. Der Umstand, daß der Mensch von Natur neugierig ist, mußte nicht unweigerlich zu planmäßiger Forschung führen, und der Umstand, daß die Menschen zu Zorn und Streit neigen, genügte nicht, um die Institution des Krieges zu schaffen. Dieser ist ebenso wie die Wissenschaft eine geschichtliche, kulturgebundene Leistung


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und zeugt von einem sehr umständlichen Zusammenhang zwischen Verwicklung, Krise, Vereitelung und Angriff. Hier können uns die Ameisen mehr lehren als die Affen oder auch als der angeblich so kämpferische »Höhlenmensch«, dessen ihm angedichteten Eigenschaften so seltsam denen eines kapitalistischen Unternehmers aus dem 19. Jahrhundert ähneln.

Die Vereinigung der Steinzeiten

Was eigentlich geschah, ehe die Stadt Gestalt annahm, läßt sich nur vermuten. Vielleicht begannen Reste altsteinzeitlicher Jägerscharen und die jungsteinzeitlichen Siedler, die beide noch zu spärlich waren, um die Oberhand zu gewinnen, gleichzeitig dasselbe Gebiet zu besetzen; dort blieben sie dann lange genug beisammen, um einige Bräuche voneinander zu lernen und einzelne Geräte auszutauschen. Falls man das eine Ehe der beiden Kulturen nennen will, so waren sie wahrscheinlich zunächst gleichberechtigte Partner, doch wurde das Verhältnis immer einseitiger, je mehr die Waffen und der gewaltsame Charakter der aggressiven Minderheit durch die geduldige Arbeitsamkeit der Steinschleifer der Jungsteinzeit gefördert wurden. So entwickelte sich, was oft vorkommt, das abgelegte Element der früheren Kultur (die Jagd) zur neuen Dominante in der bäuerlichen Gemeinschaft; jetzt wurde ihm aber die Herrschaft über eine überlegene Siedlungsform zur Pflicht gemacht. Waffen dienten jetzt nicht mehr einfach dazu, Tiere zu töten, sondern Menschen zu bedrohen und zu befehligen.

Das Wechselspiel der beiden Kulturen erstreckte sich über einen langen Zeitraum, aber schließlich setzten sich die männlichen Methoden rein durch ihre Dynamik gegen die mehr passiven, lebensnährenden Beschäftigungen durch, die den weiblichen Stempel trugen. Die Mittel der Fortpflanzung selber wurden, mindestens in der Phantasie, der weiblichen Sphäre entzogen: auf einer der frühen ägyptischen Illustrationen schafft Atum die Welt durch Masturbation aus seinem eigenen Leibe. Der Männerstolz hätte kaum unverhüllter ausdrücken können, daß in der neuen Lebensordnung die Frau nicht mehr zählte. Zu Beginn der jungsteinzeitlichen Gesellschaft, noch vor der Domestikation des Getreides, hatte die Frau regiert; das Geschlecht an sich bedeutete Macht. Das war nicht einfach eine lustbetonte Ausgeburt der Phantasie, sondern das weibliche Interesse für Kinderaufzucht und Pflanzenpflege hatte das sorgenreiche, angstüberschattete Dasein des Urmenschen in ein Leben vorausschauender Tüchtigkeit verwandelt,


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das einige Dauer versprach, ohne daß man Gewalten ausgeliefert war, die sich menschlicher Lenkung entzogen.

Sogar auf dem Gebiet physikalischer Energie bedeutete die landwirtschaftliche Revolution durch Domestikation den wichtigsten Fortschritt auf dem Wege zur Nutzung der Sonnenkraft. Dergleichen gab es erst wieder in der Kette von Erfindungen, die mit der Wassermühle begonnen und ihren Höhepunkt in der Atomkraft erreicht hat. Es glich jener »Blumenexplosion«, wie Loren Eiseley es so schön genannt hat, welche die Pflanzenwelt Jahrmillionen vorher verwandelt hatte. Die Frau der Jungsteinzeit hat ebensoviel Grund, auf ihre Leistung stolz zu sein, wie die Frau des Atomzeitalters Grund hat, um das Schicksal ihrer Kinder und ihrer Welt besorgt zu sein.

Zweifelte man noch an der ursprünglich herrschenden Rolle der Frau, so könnte man diese von den frühesten Mythen her bestätigt finden; sie schreiben der dominierenden Weiblichkeit überaus grausame Eigenschaften zu, die vermuten lassen, daß die Frau einen viel zu großen Teil der männlichen Rolle übernommen hatte. Wir treffen diese heute noch bei der schrecklichen Hindugöttin Kali an. Die älteste mesopotamische Gottheit war Tia-mat, die Urmutter des Wassers; sie behandelte ihre aufsässigen Söhne nicht minder feindselig als der klassische Patriarch bei Freud. Der Kult der großen Mutter Kybele, die als Geliebte und stürmische Gebieterin über Löwen herrschte, reicht in Kleinasien bis weit in geschichtliche Zeiten hinein, wurde dann allerdings durch sanftere, mütterlichere Gestalten wie Demeter ersetzt, die Mutter der Ernte.

Vielleicht gelang es der Frau dadurch, daß sie die Macht an männliche Götter abtrat, sich auf die weniger primitiven Seiten ihrer Geschlechtlichkeit zu konzentrieren, auf Zärtlichkeit, Schönheit und Liebeslust: Ischtar, Astarte und Aphrodite. Gleichzeitig übertreibt der Mann die Reaktion gegen die weibliche Seite seines Wesens. Der neue Jägerheld gefällt sich in seiner männlichen Stärke, legt Kraftproben ab und zeigt animalischen Mut, indem er gefährliche wilde Tiere erschlägt und menschliche Rivalen besiegt. Dabei wendet er sich häufig vom Weibe ab, um sich ganz und gar seiner Aufgabe und Prüfung zu widmen, fürchtet er doch, er könne, wie Simson oder wie ein heutiger Boxkämpfer, seine Stärke in den Armen der Frau verlieren. Daher wies Gilgamesch die Lockungen Inannas von sich. Ebenso wurde Enkidu dadurch bezwungen, daß man ihn verlockte, sich mit einer Dirne aus Uruk abzugeben; nachdem er sich so schwach gezeigt hatte, liefen die Gazellen und die wilden Tiere der Steppe vor ihm davon! Von jeher wies sich der Held durch kühne Taten und Kraftstücke aus; er wälzte riesige Blöcke, leitete Flüsse um und verachtete Gefahren und Tod.

In seiner mächtigen, stämmigen Erscheinung begegnet uns zuerst die


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allgemeine Erweiterung der Dimensionen, die mit der Stadt auftritt; ebenso erleben wir bei ihm zum erstenmal physische Leistung und mechanische Kraft als Selbstzweck.

So war also die Stadt, sofern ich ihren Ursprung richtig deute, die wichtigste Frucht der Verbindung zwischen der jungsteinzeitlichen und einer früheren altsteinzeitlichen Kultur. In der neuen, noch nicht städtischen Umwelt wurde der Mann zur führenden Gestalt, während die Frau die zweite Geige spielte. Ihr Grabstock und ihre Hacke wurden durch den leistungsfähigeren Pflug ersetzt, der mit Ochsenkraft den schweren Boden der Niederungen aufreißen konnte. Auch die Göttinnen wichen teilweise vor Osiris und Bacchus zurück, und zwar gerade in der Landwirtschaft und im Reich der Erfindungen, wo die Frau am tätigsten gewesen war. Der Frauen Stärke hatte in ihren besonderen Künsten und Zauberkräften gelegen, in dem Geheimnis der Monatsregel, Begattung und Geburt, in der Kunst zu leben. Des Mannes Stärke lag jetzt in Angriff und Gewalttat, bei denen er zeigte, daß er töten konnte und den Tod verachtete; sie lag darin, daß er Hindernisse überwand, andern Männern seinen Willen aufzwang und sie vernichtete, wenn jene sich ihm widersetzten.

Als Ergebnis der Vereinigung dieser beiden Kulturen kam es wahrscheinlich alienhalben zu vielfältigen Kreuzungen und Blutmischungen. Daraus erwuchsen der Stadt Möglichkeiten und Fähigkeiten, die weder der Jäger noch der Bergmann, weder der Viehzüchter noch der Bauer jemals hätten ausnutzen können, wären sie in ihren ländlichen Wohnsitzen für sich geblieben. Während der Hackbau Dörfchen ernähren konnte, vermochte der Pflugbau ganze Städte und Landschaften zu ernähren. Wo die Kräfte des Dorfes nur kleine Deiche und Gräben bauen konnten, vermochte die umfangreiche Zusammenarbeit der Städter ein ganzes Flußtal in ein einheitliches System von Kanälen und Bewässerungsanlagen zu verwandeln, um Nahrung und Verkehrswege zu schaffen; so konnten Menschen, Vorräte und Rohstoffe verschoben werden, wann immer es nötig war.

Dieser Wandel hinterließ bald überall in der Landschaft Spuren. Zudem prägte er auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Männliche Symbole und Abstraktionen treten jetzt hervor: in der betont geraden Linie, im Rechteck, im fest umrissenen geometrischen Plan, im phallischen Turm und Obelisk und schließlich in den Anfängen von Mathematik und Astronomie, deren wirkungsvolle Abstraktionen sich immer weiter von dem mannigfaltigen Mutterboden des Mythos entfernen. Vielleicht ist es aufschlußreich, daß die frühen Städte durchweg rund erscheinen, während des Herrschers Zitadelle und der heilige Bezirk gewöhnlich in ein Rechteck

In der Stadt traten neue, strenge, wirksame und häufig rauhe oder gar grausame Methoden an die Stelle uralter Bräuche und angenehm lässiger Lebensweise. Die Arbeit selber wurde von andern Tätigkeiten abgesondert und in den »Arbeitstag« mit unablässigem Schuften unter einem Fronvogt eingeordnet. Es war der erste Schritt zu jener »Revolution der Manager«, die heute ihren Höhepunkt erreicht hat. Kampf, Herrschaft, Überlegenheit und Sieg hießen die neuen Themen - nicht mehr bedächtiges Behüten, Festhalten oder passives Erdulden, wie früher im Dorf. Dieser übermäßigen Ausweitung der Macht war das einzelne Dorf, waren selbst tausend einzelne Dörfer nicht mehr gewachsen. Das Dorf war das Behältnis begrenzterer Funktionen und betont mütterlicher und organischer Vorstellungen. Der Teil der Dorfkultur aber, der an dieser Entwicklung Anteil haben konnte, wurde in die Stadt gezogen und systematisch für die neue Lebensweise eingespannt.

Gleichwohl sind diese ursprünglichen Komponenten der Stadt niemals ganz verschwunden, vielmehr gedieh jede selbständig weiter, mochte sie auch zum Teil von der Stadt aufgesogen werden. So vervielfältigte sich das Dorf rascher und breitete sich schneller und wirksamer über die Erde aus als die Stadt. Heute steht es zwar im Begriff zu verstädtern, doch hat es Jahrtausende lang die alten Volksbräuche erhalten und den dauernden Aufstieg und Niedergang seiner reicheren und verlockenderen Rivalen überstanden.

Auch die Zitadelle hat Bestand. Zwar haben sich Gestalt und Aufgaben der Regierung in den letzten viertausend Jahren gewandelt, aber die Zitadelle ist bestehen geblieben und immer noch zu sehen. Von der Engelsburg bis zu dem Betonbunker am Admiralty Arch in London, vom Kreml bis zum Pentagon und von dort weiter bis zu den neuen unterirdischen Befehlsräumen - die Zitadelle verkörpert immer noch den Absolutismus und das Irrationale ihrer frühesten Vorläufer. Auch das Heiligtum hat sich sein unabhängiges Dasein bewahrt. Manche der berühmtesten Heiligtümer sind niemals selber zu großen Städten geworden, obwohl größere Orte häufig ihnen gegenüber zurücktreten. In religiöser Hinsicht rangieren London und Bagdad hinter Canterbury und Mekka, während Städte, die zum Ziel von Wallfahrten wurden, wie Santiago de Compostela oder Lourdes, gewöhnlich nur solche städtischen Funktionen entwickelt haben, die dem Heili gtum dienen. So ist jeder Bestandteil der Stadt gewöhnlich zuerst außerhalb ihrer Grenzen aufgetaucht und erst später von der Stadt übernommen worden.

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