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8 - Die Konstruktion der Megamaschine 

Mumford-1970

 

  Die unsichtbare Maschine  

219-243

Bei der Behandlung der ungeheuren Macht und Reichweite des Gottkönigtums als Mythos wie auch als aktive Einrichtung habe ich einen sehr wichtigen Aspekt zwecks gründlicherer Untersuchung zurückgestellt, seinen größten und dauerhaftesten Beitrag die Erfindung der archetypischen Maschine. 

Diese außergewöhnliche Erfindung erwies sich tatsächlich als das früheste Arbeits­modell für alle späteren komplexen Maschinen, obwohl sich der Schwerpunkt mit der Zeit von den menschlichen Bestandteilen auf die verläßlicheren mechanischen verschob. Die einzigartige Leistung des Königtums bestand darin, das Menschen­potential zu konzentrieren und die Organisation zu disziplinieren, was die Ausführung von Arbeiten in nie zuvor dagewesenem Ausmaß ermöglichte. Als Ergebnis dieser Erfindung wurden vor fünftausend Jahren technische Aufgaben bewältigt, die sich mit den heutigen Höchstleistungen der Massenproduktion, der Standardisierung und der präzisen Planung messen können.

Diese Maschine entging der Aufmerksamkeit und blieb daher namenlos bis heute, da eine weit mächtigere und modernere Type, unter Ausnützung einer Masse untergeordneter Maschinen, entstanden ist. Zum besseren Verständnis werde ich der arche­typischen Form, der jeweiligen Situation entsprechend, mehr als einen Namen geben.

Da die Komponenten der Maschine, auch wenn sie als völlig integriertes Ganzes funktionierte, notwendiger­weise räumlich voneinander getrennt waren, werde ich sie für bestimmte Zwecke als unsichtbare Maschine bezeichnen; wird sie für hochorganisierte kollektive Unternehmungen verwendet, werde ich sie Arbeits­maschine nennen; wird sie für Werke des kollektiven Zwangs und der Zerstörung angewendet, dann verdient sie den Titel, den sie auch heute noch hat: Militärmaschine.

Sind aber alle Komponenten — politische und ökonomische, militärische, bürokratische und königliche — einzubeziehen, werde ich in der Regel den Ausdruck Megamaschine gebrauchen; einfacher gesagt: Große Maschine. Und die technische Ausrüstung, die sich aus einer solchen Megamaschine ableitet, wird daher zur Megatechnik, im Unterschied zu den einfacheren und mannig­faltigeren Arten von Technik, die bis in unser Jahrhundert stets den größeren Teil der täglichen Arbeit in der Werkstatt und auf dem Bauernhof, manchmal mit Hilfe von Kraftmaschinen, geleistet haben.

Menschen mit normalen Fähigkeiten, die sich allein auf Muskelkraft und traditionelle Fertigkeiten stützten, konnten eine Vielzahl von Aufgaben bewältigen, einschließlich Töpferei und Weberei, ohne Anweisung von außen oder wissenschaftliche Anleitung über das hinaus, was in der lokalen Gemeinschaft an Tradition vorhanden war. Mit der Megamaschine verhält es sich anders. Nur Könige, unterstützt von der Disziplin der astronomischen Wissenschaft und von den Geboten der Religion, waren imstande, die Megamaschine zusammenzufügen und zu lenken. Dies war ein unsichtbares Gebilde, zusammengesetzt aus lebenden, aber stabilen menschlichen Teilen, jeder für eine spezielle Funktion, Rolle und Aufgabe bestimmt, um die immense Arbeitsleistung und die grandiosen Pläne dieser riesigen kollektiven Organisation zu ermöglichen.

In ihren Anfängen konnte kein untergeordneter Leiter die Megamaschine organisieren und in Bewegung setzen. Und obgleich die absolute Königsmacht sich auf übernatürliche Kräfte berief, hätte sich das Königtum nicht so weitgehend durchsetzen können, wäre dieser Anspruch nicht seinerseits durch die kolossalen Leistungen der Megamaschine bestätigt worden. Ihre Erfindung war die höchste Errungenschaft der frühen Zivilisation: eine technologische Großtat, die allen späteren Formen technischer Organisation als Modell diente. 

Fünftausend Jahre lang wurde dieses Modell, manchmal in allen seinen Teilen funktionsfähig, manchmal in improvisierter Form, nur mit Menschenkraft betrieben, weitergegeben, bis es in eine materielle Struktur umgewandelt wurde, die seiner Zweckbestimmung besser entsprach und in einer umfassenden institutionellen Einrichtung verkörpert war, die jeden Aspekt des Lebens einschloß.

Den Ursprung der Maschine und ihre Entstehungsgeschichte zu verstehen, heißt neue Einsicht in die Ursprünge unserer gegen­wärtigen übertechnisierten Kultur wie auch in das Schicksal und die Bestimmung des modernen Menschen gewinnen. Wir werden sehen, daß der uralte Mythos der Maschine die extravaganten Hoffnungen und Wünsche vorzeichnete, die in unserem Zeitalter überreichlich in Erfüllung gegangen sind. Zugleich aber brachte er Beschränkungen, Entbehrungen, Zwänge und eine Unterwürfigkeit mit sich, die sowohl unmittelbar als durch die Gegenreaktionen, die sie hervorriefen, heute noch unheilvollere Konsequenzen hervorzubringen drohen als im Pyramidenzeitalter. Schließlich werden wir sehen, daß all die Segnungen der. mechanisierten Produktion durch den Prozeß der Massenzerstörung unterminiert wurden, den die Megamaschine ermöglichte.

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Obwohl die Megamaschine erstmals in der Periode aufgebaut wurde, als man begann, für Werkzeug und Waffen Kupfer zu verwenden, war sie doch eine unabhängige Neuerung: Der Mechanisierung der Arbeitsinstrumente war die Mechanisierung des Menschen in der weit älteren Ordnung des Rituals vorangegangen. Doch kaum war der neue Mechanismus konzipiert, verbreitete er sich sehr rasch, nicht bloß durch Nachahmung zur Selbstverteidigung, sondern durch gewaltsamen Zwang der Könige, die handelten, wie nur Götter oder deren gesalbte Stellvertreter handeln konnten. Wo immer sie erfolgreich eingesetzt wurde, vervielfachte die Megamaschine den Energieausstoß und leistete Arbeit in einem Maße, das bis dahin unvorstellbar gewesen war. Mit dieser Fähigkeit, ungeheure mechanische Kräfte zu konzentrieren, kam eine neue Dynamik ins Spiel, die durch den bloßen Impetus ihrer Errungenschaften die träge Routine und die kleinlichen Hemmungen der beschränkten Dorfkultur überwand.

Mit den Energien, die auf Grund der königlichen Maschine zur Verfügung standen, erweiterten sich die Dimensionen von Raum und Zeit ungeheuer; Arbeitsvorhaben, die früher auch in Jahrhunderten kaum bewältigt werden konnten, wurden jetzt innerhalb einer Generation verwirklicht. In flachen Ebenen entstanden auf königlichen Befehl von Menschenhand aufgeschichtete Berge aus Stein oder gebranntem Lehm, Pyramiden und Zikkurate; ja, das gesamte Landschaftsbild wurde umgewandelt und trug in seinen strengen Grenzen und geometrischen Formen den Stempel sowohl kosmischer Ordnung als auch unbeugsamen menschlichen Willens. Keine mit diesem Mechanismus auch nur annähernd vergleichbaren komplexen Kraftmaschinen wurden in nennens­wertem Ausmaß verwendet, bis Uhren, Wasser- und Windmühlen sich vom vierzehnten Jahrhundert an über Westeuropa ausbreiteten.

Warum blieb dieser Mechanismus den Archäologen und Historikern verborgen? Aus einem einfachen Grund, der bereits in unserer ersten Definition enthalten ist: weil er ausschließlich aus menschlichen Teilen bestand; und er besaß nur solange eine definitive funktionale Struktur, als die religiöse Exaltiertheit, das magische Abrakadabra und die königlichen Befehle, die ihn zusammenhielten, von allen Mitgliedern der Gesellschaft als unanfechtbar angesehen wurden. War die polarisierende Kraft des Königtums einmal durch Tod oder Niederlage im Krieg, durch Skepsis oder durch rachgierige Revolte geschwächt, brach die ganze Maschine zusammen. Dann gruppierten sich die Teile entweder erneut zu kleineren (feudalen oder städtischen) Einheiten oder verschwanden völlig, wie eine in die Flucht geschlagene Armee, deren Kommandokette abgerissen ist.

In der Tat waren diese ersten kollektiven Maschinen so von Zusammenbrüchen bedroht, so zerbrechlich und verletzbar, wie die theologisch-magischen Konzeptionen, die für ihre Leistungen unerläßlich waren. Darum befanden sich jene, die sie befehligten, in einem Dauerzustand angstvoller Spannung, befürchteten — oft mit gutem Grund — Häresie oder Verrat der Würdenträger, Rebellion und Vergeltungsschläge der unterdrückten Massen.

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Ohne ehrfürchtigen Glauben und absoluten Gehorsam gegenüber dem königlichen Willen, der von Statt­haltern, Generälen, Bürokraten und Aufsehern übermittelt wurde, wäre die Maschine nie arbeitsfähig gewesen. Konnte diese Einstellung nicht aufrechterhalten werden, denn brach die Mega­maschine zusammen.

Von Anfang an hatte die menschliche Maschine zwei Aspekte: einen negativen, gewaltsamen, oft destruktiven und einen positiven, lebensfördernden, konstruktiven; doch der zweite Faktor konnte nicht wirklich in Funktion treten, wenn der erste nicht in bestimmtem Ausmaß vorhanden war. Obgleich eine primitive Form der Militärmaschine ziemlich sicher schon vor der Arbeitsmaschine da war, erreichte diese doch eine unvergleichliche Perfektion der Arbeits­leistung, nicht nur quantitativ, sondern auch in der Qualität und Komplexheit ihrer organisierten Strukturen.

Diese kollektiven Einheiten heute als Maschinen zu bezeichnen, ist kein leeres Spiel mit Worten. 

Bestimmt man eine Maschine mehr oder weniger auf Grund der klassischen Definition von Franz Reuleaux als Kombination resistenter Teile, deren jeder eine spezielle Funktion hat, unter menschlicher Kontrolle operierend, um Energie zu nutzen und Arbeit zu verrichten, dann war die große Arbeitsmaschine in jeder Hinsicht eine echte Maschine: um so mehr, als ihr Komponenten, obgleich aus menschlichen Knochen, Nerven und Muskeln bestehend, auf ihre rein mechanischen Elemente reduziert und streng auf die Ausführung begrenzter Aufgaben zugeschnitten waren. Die Peitsche des Aufsehers sicherte Konformität. Solche Maschinen waren schon von den Königen der frühen Periode des Pyramidenzeitalters zusammen­gesetzt, wenn nicht erfunden worden, also vom Ende des vierten vorchristlichen Jahrtausends an.

Gerade dank ihrer Unabhängigkeit von starren äußeren Strukturen waren diese Arbeitsmaschinen weit wandlungs- und anpassungs­fähiger als ihre metallenen Gegenstücke eines modernen Fließbandes. Beim Pyramidenbau stoßen wir nicht nur auf die erste unzweifelhafte Existenz der Maschine, sondern auch auf den Beweis ihrer erstaunlichen Effizienz. Wo immer sich das Königtum etablierte, kam mit ihm die unsichtbare Maschine in ihrer destruktiven, wenn nicht in ihrer konstruktiven Form. Dies trifft auf Mesopotamien, Indien, China, Yukatan und Peru ebenso zu wie auf Ägypten.

Zur Zeit, da die Megamaschine vollentwickelt war, waren alle Vorstadien verschwunden; so können wir nur erraten, wie ihre Mitglieder ausgewählt, auf ihre Plätze gewiesen, für ihre Pflichten geschult worden waren. An irgendeinem Punkt des Prozesses mußte ein erfinderischer Geist oder wahrscheinlicher noch eine Anzahl erfinderischer Köpfe nach den Eröffnungszügen imstande gewesen sein, das wesentliche Problem zu erfassen — nämlich die Mobilisierung einer großen Masse von Menschen und die strenge Koordinierung ihrer Tätigkeiten in Zeit und Raum in Hinblick auf einen vorbestimmten, klar anvisierten und berechneten Zweck.

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Die Schwierigkeit bestand darin, eine zufällige Ansammlung von Menschen, losgelöst von Familie und Gemeinschaft sowie von ihren vertrauten Beschäftigungen, jeder mit eigenem Willen oder zumindest der Erinnerung an einen solchen, in eine mechanisierte Gruppe zu verwandeln, die auf Befehl manipuliert werden konnte. Das Geheimnis der mechanischen Kontrolle bestand darin, daß ein einziger Kopf mit genau bestimmtem Ziel an der Spitze der Organisation war und daß es eine Methode gab, Anweisungen über eine Reihe von Funktionären weiterzugeben, bis sie die kleinste Einheit erreichten. Exakte Weitergabe der Anweisung und absolute Unterwerfung waren gleichermaßen von wesentlicher Bedeutung.

Dieses riesige Problem mag zuerst in quasi-militärischen Organisationen gestellt worden sein, in denen eine relativ kleine Gruppe von Menschen, gerade soweit diszipliniert, daß sie dem Führer gehorchten, die Aufgabe erhielt, eine viel größere Gruppe unorganisierter Bauern zu beherrschen. Jedenfalls kam diese Art von Mechanismus nie ohne eine Reserve von Zwangsgewalt aus, auf die der Befehl sich stützen konnte; und sowohl die Methode als auch die Struktur wurden fast unverändert an alle militärischen Organisationen, wie wir sie heute kennen, weitergegeben. Tatsächlich wurde das Standardmodell der Megamaschine durch die Armee von einer Kultur auf die andere übertragen.

Sofern eine einzelne Erfindung notwendig war, um diesen größeren Mechanismus für konstruktive Zwecke wie auch für Zwang brauchbar zu machen, war dies wahrscheinlich die Erfindung der Schrift. Die Methode, Rede in graphische Aufzeichnung zu übertragen, machte es nicht nur möglich, Impulse und Botschaften über das ganze System zu vermitteln, sondern auch Verantwortung festzuhalten, wenn schriftliche Anordnungen nicht durchgeführt wurden.

Verantwortung und das geschriebene Wort gingen historisch Hand in Hand mit der Beherrschung großer Massen; und es ist kein Zufall, daß die Schrift in frühester Zeit nicht dazu diente, Ideen religiöser oder anderer Art zu vermitteln, sondern um im Tempel Aufzeichnungen über Vorräte und Verteilung von Getreide, Vieh, Töpferwaren und anderen Produkten zu führen. 

Dies geschah sehr früh, denn ein prä-dynastischer Narmer-Amtsstab in Ashmolean-Museum in Oxford verzeichnet die Erbeutung von 120.000 Gefangenen, 400.000 Ochsen und 1.422.000 Ziegen. Die arithmetische Rechnung war eine noch größere Leistung als die Erbeutung.

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Wirken auf Entfernung, durch Schreiber und schnelle Boten, war eines der Kennzeichen der neuen Megamaschine; und wenn die Schreiber Vorzug genossen, so deshalb, weil ohne ihre ständige Leistung der Aufzeichnung und Entzifferung königlicher Anweisungen die Maschine nicht arbeitsfähig war. »Der Schreiber, er lenket jede Arbeit, die in diesem Lande ist«, heißt es in einem Text aus dem Neuen Königreich Ägypten. In Wirklichkeit spielten sie wahrscheinlich eine Rolle, die jener der politischen Kommissare in der sowjetrussischen Armee nicht unähnlich war. Sie ermöglichten laufende »Berichte an das politische Oberkommando«, die für eine zentralisierte Organisation unerläßlich sind.

Ob nun die militärische oder die Arbeitsmaschine zuerst da war, sie hatten die gleiche Organisation. Waren die ägyptischen und mesopotamischen Überfallsbanden und Bergbaukolonnen militärische oder zivile Organisationen? Anfangs waren diese Funktionen nicht unterscheidbar oder, besser gesagt, austauschbar. In beiden Fällen war die Grundeinheit die Abteilung unter der Aufsicht eines Gruppenführers. Selbst in den Ländereien der reichen Grundbesitzer des Alten Reichs herrschte diese Struktur vor. Erman zufolge formierten sich die Abteilungen zu Kompanien, die unter eigenem Banner marschierten oder paradierten. An der Spitze jeder Arbeiterkompanie stand ein Vorarbeiter, der den Titel Kompaniechef trug. Man kann ruhig behaupten, daß es in keinem frühneolithischen Dorf je etwas Derartiges gegeben hat. »Der ägyptische Beamte«, bemerkt Erman, »kann diese Leute nur als Kollektiv sehen; der individuelle Arbeiter existiert für ihn ebensowenig, wie der individuelle Soldat für unsere höheren Armeeoffiziere existiert.« Genauer gesagt: Dies war das Urmuster der Megamaschine und wurde nie radikal geändert.

Mit der Entwicklung der Megamaschine wurde die Arbeitsteilung zwischen Funktionen und Rängen, wie wir sie in der Armee haben, schon sehr früh auf die hochspezialisierten Teile des Arbeitsprozesses angewendet. Flinders Petrie stellt fest, daß die genaue Arbeitsteilung im Bergbau — einer Sphäre, in der — ich wiederhole — sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien die Arbeitsarmee kaum von der Kriegsarmee zu unterscheiden ist — bereits etabliert war. 

»Wir wissen aus Mumieninschriften, wie peinlich genau die Arbeit unterteilt war. Jedes Detail war der Verantwortung eines einzelnen übertragen; ein Mann erforschte den Felsen, ein zweiter überprüfte ihn, ein dritter übernahm die Verantwortung für das Produkt. Es werden über fünfzig verschiedene Qualifikationen und Ränge von Beamten und Arbeitern in den Bergbauexpeditionen erwähnt.«

Diese Arbeitsteilung wurde unvermeidlich Bestandteil der breiteren sozialen Organisation, die außerhalb des unmittelbaren Bereichs der Megamaschine wirkte. Und im fünften Jahrhundert vor Christus, als Herodot Ägypten besuchte, hatte die allgemeine Arbeitsteilung und die genaue Unterteilung in Spezialgebiete — nun nicht länger auf die Megamaschine beschränkt — ein Ausmaß erreicht, das mit dem heute erzielten vergleichbar ist; denn Herodot berichtet, daß »es manche Ärzte für die Augen, andere für den Kopf, andere für die Zähne, andere für den Bauch und wieder andere für innere Beschwerden gibt«.

wikipedia  Flinders_Petrie  1883-1942     224


Doch man beachte den Unterschied zwischen der alten menschlichen Maschine und ihren sowohl in den Methoden als auch in der Zweckbestimmung wirksamer entmenschlichten modernen Rivalen. Unabhängig von den tatsächlichen Ergebnissen ihrer Anwendung werden alle modernen Maschinen als arbeitsersparende Vorrichtungen aufgefaßt: Sie sollen bei einem Minimum an menschlichem Kraftaufwand ein Maximum an Leistung vollbringen. Aber bei den frühesten Maschinen spielte Arbeitsersparnis keine Rolle: Ganz im Gegenteil, sie waren arbeitnutzende Vorrichtungen, und ihre Erfinder hatten Grund, sich über die steigende Zahl von Arbeitern zu freuen, die sie durch wirksame Planung und Organisation für jede Aufgabe einsetzen konnten, vorausgesetzt, das Unternehmen selbst war groß genug.

Der Gesamteffekt beider Maschinenarten war der gleiche: Sie waren dazu bestimmt, mit Effizienz, absoluter Exaktheit und gigantischer Kraft Aufgaben zu erfüllen, die von einer Gruppe lose organisierter, individueller, Werkzeuge verwendender Arbeiter niemals erfüllt werden konnten. Beide Maschinenarten erlangten ein bis dahin unerreichbares Effizienzniveau. Doch anstatt Arbeit freizusetzen, rühmte sich die königliche Megamaschine, sie eingefangen und versklavt zu haben.

Hätten rein menschliche Arbeitsformen, die die Menschen zur Befriedigung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse freiwillig auf sich genommen hätten, vorgeherrscht, dann wären die kolossalen Errungenschaften der frühen Zivilisationen vermutlich unvorstellbar geblieben — das muß man zugeben. Und es ist sogar möglich, daß dann die moderne nichtmenschliche Maschine, von äußeren Energien angetrieben und zur Arbeitsersparnis bestimmt, nie erfunden worden wäre, denn die mechanischen Kräfte mußten erst sozialisiert werden, ehe die Maschine selbst voll mechanisiert werden konnte. Hätte jedoch anderseits die kollektive Maschine nicht Zwangsarbeit — in Form von periodischen Zwangsaushebungen oder Sklaverei — verwenden können, dann wären die ungeheuren Fehlschläge, Perversionen und Vergeudungen, die stets mit der Megamaschine einhergingen, vielleicht unterblieben. 

 

  Mechanische Leistungsnormen 

 

Betrachten wir nun die menschliche Maschine in ihrer archetypischen Form. Wie es oft geschieht, gab es eine gewisse Klarheit in diesem ersten Auftreten, die verlorenging, als die Maschine sich auflockerte, in die komplexeren Strukturen späterer Gesellschaften einging und mit altvertrauten, bescheideneren Formen verschmolz.

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Und wenn die Megamaschine nie einen höheren Gipfel der Leistung erreichte als im Pyramidenzeitalter, so ist dies vielleicht nicht nur auf die einzigartigen technischen Talente jener zurückzuführen, die diese frühen Maschinen entwarfen und in Gang setzten, sondern auch darauf, daß der Mythos, der die menschlichen Bestandteile der Maschine zusammenhielt, nie wieder eine so massive Anziehungs­kraft auszuüben vermochte wie bis zur sechsten Dynastie, ehe er durch ernsthafte Enttäuschungen und Fehlschläge geschwächt wurde. Bis zu dieser Zeit waren ihre Siege unbestreitbar, ihre chronischen Perversionen noch nicht zutage getreten.

Unter all den Großleistungen der Megamaschine ragt die Pyramide als archetypisches Modell hervor. In ihrer elementaren geometrischen Form, in der exquisiten Genauigkeit der Maße, in der Organisation der gesamten Arbeitskraft, in der schieren Masse der damit verbundenen Bautätigkeit demonstrieren die letzten Pyramiden in vollendeter Weise die einzigartigen Züge dieses neuen technischen Komplexes. Um die Wesenszüge dieses Systems darzulegen, werde ich mich nur auf die Pyramide konzentrieren, im besonderen auf die Große Pyramide von Gizeh.

Die ägyptische Pyramide war als Grabmal gedacht, das den einbalsamierten Leichnam des Pharao aufnehmen und seine Reise ins Jenseits garantieren sollte. Anfangs hatte nur der König Aussicht auf solch eine gottähnliche Verewigung seiner Existenz. In der Mumie und der Pyramide stand symbolisch die Zeit für immer still. Diese himmlische Bestimmung des Königs veränderte jede Aussicht auf Erden; doch wie heute bei der Eroberung des Weltraums spielte der einfache Mensch dabei keine Rolle — außer um die Rechnung zu zahlen, mit Steuern und Zwangsarbeit.

Zwischen der ersten Steinpyramide — in jener Stufenform gebaut, die wir später in Mittelamerika wiederfinden — und der mächtigen Cheops-Pyramide der vierten Dynastie, dem ersten und dauerhaftesten der sieben Wunder der Alten Welt, liegen weniger als anderthalb Jahrhunderte: ein Wandel, der in seinem Tempo der Entwicklung der Stahlbauweise unseres eigenen Zeitalters vergleichbar ist. Auf der antiken Zeitskala der Erfindungen waren die primitivste und die endgültige, nie wieder erreichte Form faktisch Zeitgenossen.

Die Schnelligkeit dieser Entwicklung weist auf hohe Konzentration physischer Kraft und technischer Phantasie hin. Dieser Wandel ist um so erstaunlicher, als die Pharaonengräber nicht allein standen: Sie waren Teil einer ganzen Totenstadt, einer komplexen Struktur mit Wohnhäusern für die Priester, welche die komplizierten Rituale leiteten, die man für notwendig hielt, um der scheidenden Gottheit eine glückliche Zukunftsexistenz zu sichern.

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Die Große Pyramide ist eines der gewaltigsten und vollendetsten Beispiele der Baukunst aller Zeiten und aller Kulturkreise. Selbst wenn man die Primitivität der im dritten Jahrtausend vor Christus verfügbaren Werkzeuge unberücksichtigt läßt, übertrifft kein Bauwerk unserer Zeit dieses an technischer Virtuosität und Kühnheit. Und doch wurde diese große Aufgabe von einer Kultur bewältigt, die eben erst die Steinzeit hinter sich gelassen hatte und noch lange Zeit Steinwerkzeuge benützen sollte, obwohl Kupfer für Meißel und Sägen, mit denen man die massiven Steinblöcke für die neuen Monumente formte, vorhanden war. Alle Arbeitsgänge wurden mit der Hand ausgeführt.

Allgemeine Zwangsaushebung, wenn nicht Leibeigenschaft oder Sklaverei, waren ein Wesensbestandteil des Systems, unumgänglich notwendig als Quelle ausreichender Energie. Selbst die Priester, sagt Erman, waren nicht von der Zwangsarbeit befreit. Die wichtigsten Arbeitsgänge wurden von qualifizierten Handwerkern ausgeführt, unterstützt von einer Armee ungelernter und angelernter Arbeiter, die vierteljahr­weise vom Ackerbau abgezogen wurden. Die ganze Arbeit wurde ohne alle technischen Hilfsmittel, außer zwei einfachen Maschinen der klassischen Mechanik geleistet: der schiefen Ebene und dem Hebel, denn noch waren das Rad, die Rolle, die Schraube nicht erfunden.

Wir wissen aus graphischen Darstellungen, daß große Steine von ganzen Bataillonen auf Schlitten durch den Wüstensand gezogen wurden. Doch man bedenke: Eine einzige Steinplatte, die die innere Kammer der Großen Pyramide bedeckt, in der Pharao liegt, wog fünfzig Tonnen. Ein Architekt unserer Zeit würde es sich zweimal überlegen, eine solche technische Großtat in Auftrag zu geben.

Nun ist aber die Große Pyramide mehr als ein gewaltiger Steinhaufen: 239,5 Meter im Quadrat an der Basis, steigt sie zu einer Höhe von 146,7 Metern auf. Es ist ein Bau mit einem komplizierten Inneren, das aus einer Reihe von Korridoren auf verschiedenen Ebenen besteht, die zur innersten Grabkammer führen. Doch jeder einzelne Teil ist mit einer Präzision ausgeführt, die, wie Breasted richtig betont, eher an die Kunst des Uhrmachers als an die eines modernen Brückenbauers oder eines Baumeisters von Wolkenkratzern gemahnt. Steinblöcke wurden aufeinandergefügt, deren Kanten von beträchtlicher Länge sind und deren Fugen dennoch nur 0,025 Millimeter betragen; die Seitenlängen an der Basis differieren nur um 20,06 Zentimeter, bei einem Bau, der sich auf einer Fläche von fast sechs Hektar erhebt. Mit einem Wort, genauestes Maß, höchste technische Präzision und makellose Perfektion sind kein Monopol unseres Zeitalters. Die pharaonische Organisation hat fünftausend Jahre weit vorgegriffen, um die erste große Kraftmaschine zu erbauen: eine Maschine, an deren Gesamtleistung die Arbeitskraft von 25.000 bis 100.000 Menschen beteiligt war, also ein Äquivalent von mindestens 2500 Pferdestärken.

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Natürlich hätten gewöhnliche Menschenhände, gewöhnliche menschliche Anstrengungen, die gewöhnliche Art menschlicher Kooperation, wie sie beim Bau von Dorfhütten und bei der Feldarbeit üblich waren, nie solch übermenschliche Kraft aufbringen oder dieses fast übernatürliche Resultat erzielen können. Nur ein Gottkönig konnte diese ungeheure Leistung kollektiven Willens fordern, und eine so gewaltige materielle Transformation bewirken. War es möglich, dieses großangelegte technische Vorhaben ohne Hilfe einer Maschine durchzuführen? Gewiß nicht. Nur eine komplexe Kraftmaschine konnte so immense Konstruktionen herstellen. Das Endprodukt bewies, daß es nicht nur das Werk einer Maschine war, sondern das einer äußerst verfeinerten Maschine. Obwohl die materielle Ausrüstung des dynastischen Ägypten noch sehr primitiv war, machten geduldige Arbeit und disziplinierte Methode diesen Mangel wett. Diese Megamaschine bestand aus einer Vielzahl gleichartiger, spezialisierter, auswechselbarer, aber funktional differenzierter Teile, streng geordnet und koordiniert in einem zentral gelenkten und organisierten Prozeß: Jeder Teil verhielt sich als mechanische Komponente des mechanisierten Ganzen.

Innerhalb von etwa drei Jahrhunderten, in Ägypten wahrscheinlich in der Hälfte dieser Zeit, war die menschliche Maschine zur Perfektion entwickelt worden. Die Geistesart, der die Pyramiden, die massiven Tempel und die von Mauern umschlossenen Städte entsprangen, entsprach einem neuen Menschentypus, fähig, die abstrakte Organisierung komplexer Funktionen in einem Bauplan zu bewerkstelligen, dessen endgültige Form jedes Stadium der Arbeit bestimmte. Nicht nur mathematische Berechnungen, auch peinlich genaue astronomische Beobachtungen waren notwendig, um diese großen Bauwerke so zu placieren, daß die Seiten genau den Himmelsrichtungen entsprachen. Diese genauen Messungen erforderten ein hohes technisches Geschick, das bis in unsere Zeit unübertroffen blieb. Da die Pyramide zur Zeit der Überschwemmung nur etwa fünfhundert Meter vom Strom entfernt ist, brauchte man ein Felsenfundament, was wieder bedeutete, daß man den Sand entfernen mußte. Bei der Großen Pyramide weicht die Grundfläche nur um weniger als einen Zentimeter von der Horizontalebene ab.

Die Gehirne, die diese Probleme lösten und diese Pläne ausführten, waren zweifellos von höchstem Rang, mit einer einzigartigen Verbindung von theoretischer Analyse, praktischem Sinn und phantasievoller Voraussicht. Imhotep, der die erste Steinpyramide in Sakkara baute, war Staatsminister, Architekt, Astronom und Physiker. Dies waren keine engen Spezialisten oder Experten, es waren Männer, die sich frei über den ganzen Lebensbereich bewegten, wie die großen Künstler der italienischen Renaissance. Ihre Tapferkeit, ihr Selbstvertrauen hielten jeder Situation stand: Sie trotzten tatsächlich oft jeder Vorsicht und überforderten die Kraft ihrer mächtigen Maschinen, wie später, beim Bau des Assuan-Obelisken, der mehr als tausend Tonnen schwer ist und nie ganz aus dem soliden Felsen herausgelöst werden konnte.

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Nun hatten aber auch die Arbeiter, die diese Pläne ausführten, eine neue Mentalität: Auf mechanische Ausführung gedrillt, erfüllten sie jede Aufgabe genau laut Weisung und beschränkten sich mit unendlicher Geduld streng auf die Befolgung der Befehle. Maschinenarbeit kann nur von Maschinen geleistet werden. Solange diese Arbeiter ihren Dienst verrichteten, waren sie auf ihre Reflexe reduziert, um eine mechanisch perfekte Ausführung zu gewährleisten. Ihre Führer jedoch konnten geschriebene Anweisungen lesen; und auch die Werkmänner mögen einige Zeichen gekannt haben, denn sie hinterließen ihre Namen in rotem Ocker auf den Blöcken der Meidum-Pyramide, berichtet Edwards: »Schiffstrupp«, »Kräftiger Trupp«, »Handwerkstrupp« und so weiter. In ihrer Gewöhnung an mechanische Ordnung würden sie sich heute an jedem Fließband heimisch fühlen. Es fehlte nur das nackte Pin-up-girl.

Sowohl in bezug auf Organisation, Arbeitsweise, rasches Produktionstempo als auf das Produkt waren die Maschinen, die die Pyramiden und die großen Tempel erbauten und die alle die großen Bauwerke der »Zivilisation« in anderen Gebieten und Kulturkreisen errichteten, zweifellos echte Maschinen. In den grundlegenden Arbeitsvorgängen leisteten sie kollektiv das Äquivalent eines ganzen Heers von Schaufelbaggern, Bulldozern, Traktoren, mechanischen Sägen und Preßluftbohrern, mit einer Exaktheit der Maße, einer Geschicklichkeit und selbst einem Produktionsausstoß, auf die man auch heute stolz sein könnte. Diese Charakteristika waren kein Monopol Ägyptens: Die deutschen Archäologen an der Fundstelle von Uruk schätzten, daß die Errichtung nur eines der Tempelkomplexe einer Armee von 1500 Mann bedurft haben mag, von denen jeder fünf Jahre lang zehn Stunden täglich arbeitete.

Diese Entfaltung von Größe in jeder Richtung, diese Hebung des Plafonds menschlicher Leistung, diese Unterordnung individueller Fähigkeiten und Interessen unter die mechanische Aufgabe und diese Vereinigung einer Vielzahl von Untergebenen für einen einzigen Zweck hatte nur eine Quelle: die göttliche Macht, vom König ausgeübt. Der König oder besser gesagt das Königtum war die treibende Kraft. Der ungeheure Erfolg. des Unternehmens bestätigte seinerseits jene Macht.

Diese straffe, allumfassende Ordnung begann, wie gesagt, ganz oben: Kenntnis der voraussagbaren Bewegungen der Sonne und der Planeten, oder, wenn Zelia Nuttalls alte Hypothese stimmt, die sogar noch stetigere und besser vorauszusehende Position des Polarsterns. Sowohl bei riesigen kollektiven Arbeiten als auch bei den Tempelzeremonien war es der König, der die ersten Befehle ausgab; der König, der absolute Konformität forderte und selbst den geringsten Ungehorsam bestrafte.

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Der König allein besaß die gottähnliche Macht, Menschen in mechanische Objekte zu verwandeln und diese Objekte zu einer Maschine zu vereinigen. Der Auftrag, vom Himmel durch den König vermittelt, wurde an jeden Teil der Maschine weitergegeben und schuf mit der Zeit eine grundlegende mechanische Einheit in anderen Institutionen und Aktivitäten: Sie begannen die gleiche Regelmäßigkeit aufzuweisen, die für die Bewegungen der Himmels­körper charakteristisch sind.

Kein älterer Vegetationsmythos, kein Fruchtbarkeitsgott hätte diese abstrakte Ordnung errichten oder soviel Kraft vom unmittelbaren Dienst am Leben abziehen können. Doch man beachte: Nur die Minderheit, die direkt mit der Megamaschine verbunden war, konnte an dieser Macht voll teilhaben, während jene, die ihr widerstanden, den Tod riskierten — genauso konnten sie dem Lauf der Sterne Widerstand leisten. Trotz wiederholter Rückschläge und Mißerfolge sind diese kosmischen Phantasien bis heute intakt geblieben; ja sie sind wiedergekehrt in Gestalt der absoluten Waffen und der absoluten Souveränität — der keineswegs unschuldigen Halluzinationen des Atomzeitalters. 

 

  Das Machtmonopol  

 

Will man Struktur und Leistung der menschlichen Maschine verstehen, dann darf man seine Aufmerksam­keit nicht nur auf jene Punkte beschränken, in denen sie verwirklicht wurde. Selbst unsere heutige Technologie, mit ihrer ungeheuren Anhäufung von sichtbaren Maschinen, kann nicht nur in diesen Kategorien begriffen werden.

Zweierlei war notwendig, um die Maschine in Gang zu setzen: eine verläßliche Organisation des Wissens, des natürlichen und des übernatürlichen; und eine hochentwickelte Struktur zur Einteilung, Vermittlung und Durchführung von Befehlen. Das erste war in der Priesterschaft verkörpert, ohne deren Hilfe die Institution des Gottkönigtums nicht entstanden wäre; das zweite in der Bürokratie. Beides waren hierarchische Organisationen, an deren Spitze der Hohepriester und der König standen. Ohne ihre vereinten Anstrengungen konnte der Machtkomplex nicht wirksam funktionieren. Diese Voraussetzungen sind noch heute gültig, obgleich die Existenz automatischer Fabriken und computergesteuerter Einheiten sowohl die menschlichen Komponenten als auch die religiöse Ideologie verschleiert, die auch für die Automation lebenswichtig sind.

Was man heute als Wissenschaft bezeichnen würde, war von Anfang an ein integraler Bestandteil des neuen Maschinensystems. Dieses geordnete Wissen, das auf der kosmischen Ordnung basierte, gedieh, wie wir gesehen haben, mit dem Sonnenkult:

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Die Beobachtung der Sterne und die Aufstellung von Kalendern fiel mit der Institution des Königtums zusammen und unterstützte sie, wenn auch die Priester und Wahrsager sich darüber hinaus damit beschäftigten, die Bedeutung einzelner Erscheinungen, wie Kometen, Sonnen- und Mondfinsternisse, oder erratischer Naturphänomene, wie des Vogelflugs oder des Zustands der Eingeweide eines geopferten Tiers, zu interpretieren.

Kein König konnte ohne die Hilfe solches organisierten »höheren Wissens« sicher und wirksam regieren, ebenso wie heute das Pentagon keinen Schritt machen kann, ohne seine spezialisierten Wissenschaftler, Experten, Spieltheoretiker und Computer zu konsultieren — eine neue Hierarchie, angeblich weniger fehlbar als die Eingeweidebeschauer, aber nicht nennenswert, wenn man nach ihren ungeheuren Fehlkalkulationen urteilt.

Um wirksam zu sein, muß diese Art von Wissen geheim und Monopol der Priesterschaft bleiben. Hätte jeder Zugang zu den Quellen des Wissens und zum System der Interpretation, dann würde niemand an ihre Unfehlbarkeit glauben, da ihre Irrtümer nicht verheimlicht werden könnten. Darum beruhte der erschreckte Protest Ipu-wers gegen die Revolutionäre, die das Alte Königtum in Ägypten stürzten, darauf, daß die »Geheimnisse des Tempels offenlagen«; das heißt, sie hatten die »Geheim­informationen« publik gemacht. Geheimes Wissen ist der Schlüssel zu jedem System totaler Herrschaft. Bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst blieb das geschriebene Wort weitgehend ein Klassenmonopol. Heute hat die Sprache der höheren Mathematik plus Computertechnik das Geheimnis wie auch das Monopol wiederhergestellt, mit einer daraus folgenden Wieder­errichtung totalitärer Kontrolle.

Eine Verbindung zwischen Königtum und Sonnenanbetung lag auch in der Tatsache, daß der König, ebenso wie die Sonne, aus der Entfernung Macht ausübte. Zum ersten Mal wurde Macht außerhalb unmittelbarer Hör- oder Reichweite wirksam. Keine militärische Waffe war an sich stark genug, um solche Macht zu verleihen. Es bedurfte eines besonderen Transmissionssystems: einer Armee von Schreibern, Boten, Aufsehern, Oberaufsehern, Truppführern, höheren und niederen Vollzugsbeamten, deren ganze Existenz von der gewissenhaften Ausführung der königlichen Befehle oder, direkter, der Anordnungen seiner mächtigen Minister und Generäle abhing. Mit anderen Worten, eine gutorganisierte Bürokratie ist ein integraler Bestandteil der Mega­maschine: eine Gruppe von Menschen, die fähig sind, einen Befehl mit der rituellen Pedanterie eines Priesters oder dem blinden Gehorsam eines Soldaten weiterzugeben und auszuführen.

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Zu glauben, die Bürokratie sei eine relativ moderne Institution, heißt die Annalen der frühen Geschichte ignorieren. Die ersten Dokumente, die die Existenz einer Bürokratie bezeugen, stammen aus dem Pyramidenzeitalter. In einer Grabinschrift in Abydos berichtet ein hoher Beamter unter Pepi I. in der sechsten Dynastie, etwa 2375 vor Christus: 

»Seine Majestät stellte mich an die Spitze der Armee, während die Edlen, die Siegelbewahrer des Königs, die Nomarchen (Statthalter) und die Bürgermeister Unter- und Ober­ägyptens, die Begleiter und die Hauptvorsteher, die Hauptpropheten von Unter- und Oberägypten und die Haupt­bürokraten (jeder) an der Spitze einer Truppe von Unter- oder Oberägypten oder der Dörfer und Städte stehen, die sie regieren.«

Dieser Text bestätigt nicht nur die Existenz einer Bürokratie; er zeigt auch, wie Petries vorhin zitiertes Material, daß die für ein wirksames mechanisches Funktionieren notwendige Arbeitsteilung und Spezialisierung der Funktionen bereits stattgefunden hatte.

Diese Entwicklung hatte zumindest schon drei Dynastien zuvor begonnen — und nicht zufällig beim Bau der großen Steinpyramide Zosers in Sakkara. John Wilson stellte in dem Buch <City Invincible> fest, daß wir 

»Zoser nicht nur die Anfänge der monument­alen Steinarchitektur in Ägypten, sondern auch die Entstehung eines neuen Monstrums, der Bürokratie, verdanken«.

Dies war kein bloßer Zufall. Und W. F. Albright verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß »die größere Zahl von Titeln, die auf Siegeln der ersten Dynastie gefunden wurden ..., ganz gewiß auf ein gegliedertes Beamtentum schließen läßt«.

  wikipedia  William_Foxwell_Albright  1891 bis 1971

Sobald die hierarchische Struktur der menschlichen Maschine einmal etabliert war, gab es theoretisch keine Grenze für die Zahl der Hände, die sie zu kontrollieren, oder für die Macht, die sie auszuüben vermochte. Die Überschreitung menschlicher Dimensionen und organischer Grenzen war geradezu der größte Stolz einer solchen autoritären Maschine. Ihre Produktivität ist zum Teil auf reichlichen physischen Zwang zurückzuführen, der menschliche Faulheit oder körperliche Ermüdung überwinden sollte. Berufliche Spezialisierung war ein notwendiger Schritt beim Aufbau der menschlichen Maschine: Nur durch starke Konzentration von Können in jedem Teil des Prozesses kann die übermenschliche Genauigkeit und Perfektion des Produkts erzielt worden sein. Die großangelegte Teilung und Unterteilung der Arbeit in der ganzen modernen Industriegesellschaft beginnt an diesem Punkt.

Die römische Maxime, daß das Gesetz sich nicht mit trivialen Angelegenheiten befaßt, gilt auch für die Megamaschine. Die Kräfte, die der König in Bewegung setzte, erforderten kollektive Unternehmungen in angemessenem Maßstab: große Erdbewegungen, um Flüsse umzuleiten, Kanäle zu graben und Wälle zu bauen. Wie in der modernen Technologie neigte die Maschine zunehmend dazu, die Zwecke zu diktieren und andere, intimere menschliche Bedürfnisse auszuschließen.

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Diese menschlichen Maschinen waren ihrem Wesen nach groß und unpersönlich, wenn nicht bewußt entmenschlicht; sie mußten in großem Maßstab operieren, oder sie konnten überhaupt nicht funktionieren, denn keine Bürokratie, so tüchtig sie sein mochte, konnte hoffen, Tausende kleine Werkstätten und Bauernwirtschaften, jede mit eigener Tradition, eigenem Fachkönnen und eigenem persönlichen Stolz und Verantwortungsgefühl, direkt zu regieren. Daher war die rigorose Form der Kontrolle, die sich in der kollektiven Maschine manifestierte, bis in unsere Zeit auf große Massenbetriebe und großangelegte Unternehmungen beschränkt. Dieser ursprüngliche Mangel gebot der Ausdehnung der Megatechnik Einhalt, bis ein mechanischer Ersatz für die menschliche Arbeits­kraft gefunden werden konnte.

Die Bedeutung des bürokratischen Bindegliedes zwischen der Quelle der Macht — dem Gottkönig — und den menschlichen Maschinen, die aufbauende oder destruktive Werke vollbrachten, kann kaum überschätzt werden — um so weniger, als es die Bürokratie war, die die jährlichen Steuern und Tribute eintrieb, mit denen die neue Gesellschaftspyramide erhalten wurde, und die gewaltsam die Arbeitskräfte aushob, die das neue mechanische Gebilde ausmachten. Die Bürokratie war eigentlich eine dritte Art unsichtbarer Maschine — man könnte sie eine Kommunikations­maschine nennen —, die neben der militärischen und der Arbeitsmaschine existierte und ein integraler Bestandteil der gesamten totalitären Struktur war.

Nicht das unwichtigste Merkmal einer klassischen Bürokratie ist, daß sie nichts erzeugt: Ihre Aufgabe ist es, die Befehle, die von oben, vom zentralen Hauptquartier kommen, unverändert und ohne Abweichung weiterzugeben. Keine lokale Information und keine menschliche Rücksicht darf diesen unabänderlichen Transmissionsprozeß beeinflussen. Nur Korruption oder offene Rebellion können diese starre Organisation modifizieren. Eine solche administrative Methode erfordert im Idealzustand die völlige Unterdrückung aller autonomen Funktionen der Persönlichkeit und die Bereitschaft, die tägliche Aufgabe mit ritueller Exaktheit auszuführen. Nicht zum ersten Mal, wie wir gesehen haben, gibt es eine solche rituelle Ordnung im Arbeitsprozeß; ja es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Unterwerfung unter eintönige Wiederholung in diesem Maße möglich gewesen wäre ohne die jahrtausendealte Disziplin des religiösen Rituals.

Die bürokratische Reglementierung war faktisch ein Teil der umfassenderen Reglementierung des Lebens, die diese macht­bezogene Kultur eingeführt hat. Nichts geht klarer aus den Pyramideninschriften mit ihren bis zum Überdruß wiederholten Formeln hervor als eine erstaunliche Fähigkeit, Monotonie zu ertragen — eine Fähigkeit, die den in unserer Zeit erreichten Gipfel allgemeiner Langeweile vorwegnimmt. Diese verbale Zwanghaftigkeit ist die psychische Seite des systematischen generellen Zwangs, der die Arbeitsmaschine entstehen ließ. Nur jene, die fügsam genug waren, um dieses Regime zu ertragen — oder infantil genug, um sich daran zu erfreuen —, konnten in allen Stadien vom Befehl bis zur Ausführung nützliche Teile der menschlichen Maschine werden.

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  Die Überhöhung der Persönlichkeit  

 

Die Zeichen dieser kosmischen mechanischen Ordnung sind leicht zu erkennen. Zunächst änderten sich, wie bereits gesagt, die Maßstäbe. Die Gewohnheit, in großen Maßstäben zu denken, wurde mit der ersten menschlichen Maschine eingeführt; denn eine übermenschliche Größenordnung in den einzelnen Strukturen vergrößerte die Autorität des Herrschers. Zugleich reduzierte sie die relative Größe und Bedeutung aller notwendigen menschlichen Komponenten, mit Ausnahme des zentralen energiespendenden und polarisierenden Elements, des Königs.

Paradoxerweise brachte das Machtmonopol auch ein Persönlichkeitsmonopol mit sich, denn nur der König war mit allen Attributen der Persönlichkeit ausgestattet, sowohl mit denen, die in der Gemeinschaftsgruppe verkörpert waren, als auch mit jenen, die, wie es scheint, gerade in dieser Periode in der menschlichen Seele zu dämmern begannen, die nun die soziale Schale durchstieß, in der sie ihre embryonale Existenz verbracht hatte.

In diesem frühesten Stadium gingen Persönlichkeit und Macht Hand in Hand; beide waren im König konzentriert. Denn nur der Herrscher konnte Entscheidungen fällen, uralte Sitten ändern, Strukturen schaffen und kollektive Großtaten veranlassen, die bis dahin nicht vorstellbar, geschweige durchführbar gewesen waren. Kurz, er konnte sich wie eine verantwortliche Person verhalten, fähig zu rationaler Entscheidung und der Stammesbräuche enthoben, frei, Nonkonformist zu sein, wenn die Situation es erforderte, und imstande, durch Edikt und Gesetz Abweichungen von der Oberlieferung zu verordnen. Ähnlich wie das ursprüngliche Monopol des Königs, die Unsterblichkeit, sollten einige dieser Privilegien unter Druck schließlich auf die ganze Gemeinschaft übergehen. Doch hier ist die Überhöhung zu beachten: Die alten Dimensionen wurden gesprengt, so wie die physischen Grenzen des Dorfs und der kleinen Gruppen aufgehoben wurden. Jetzt war der Himmel die Grenze, und die Stadt war nicht weniger als eine ganze Welt für sich, in jeder Dimension dem Himmel näher.

In der Praxis, und noch mehr in der Phantasie, wurde diese Überhöhung auf Zeit und Raum angewandt. Kramer stellt fest, daß in den frühen Dynastien den legendären Königen Regierungszeiten von unglaublicher Länge zugeschrieben wurden: insgesamt etwa eine Viertelmillion Jahre für die acht Könige vor der Flut, 25.000 Jahre für die ersten beiden Dynastien danach.

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Das stimmt überein mit den Zeiträumen, die ägyptische Priester der alten Geschichte immer noch zuwiesen, als Herodot und Platon Ägypten besuchten. Selbst für die reine Phantasie sind das große Zahlen. Dieser neue kulturelle Wesenszug erreichte einen Höhepunkt in den abstrakten Berechnungen der Maya, wie Thompson berichtet: »Auf einer Stele in der Stadt Quirigua reicht die genaue Zeitrechnung neunzig Millionen Jahre zurück; auf einer anderen Stele am gleichen Ausgrabungsort reicht das Datum etwa 400 Millionen Jahre zurück.«

Aber diese Multiplizierung von Jahren war nur die weltliche Seite der allgemeineren Expansion der Macht, die sich im königlichen Anspruch auf Unsterblichkeit symbolisierte. Anfangs war diese in Ägypten nur ein Attribut des Gottkönigs, obwohl dessen Diener und Minister — wie man in Sumer sieht, wo der gesamte Hofstaat zugleich in der königlichen Grabkammer getötet wurde, vermutlich, um den Herrscher in die andere Welt zu begleiten — diese Hoffnung auf Unsterblichkeit teilen mochten.

Im sumerischen Sintflut-Mythos Ziusudra wird der König (Noahs Gegenstück) von den Göttern Ab und Enlil nicht mit einem symbolischen Regenbogen belohnt, sondern mit ewigem »Leben wie ein Gott«. Der Wunsch nach Leben ohne Ende war Teil der allgemeinen Aufhebung der Grenzen, die die erste große Machtanhäufung mittels der Megamaschine mit sich brachte. Menschliche Schwächen, vor allem die Schwäche der Sterblichkeit, wurden zugleich bestritten und ignoriert.

Doch wenn die biologische Unvermeidlichkeit des Todes und des Zerfalls der infantilen Vorstellung absoluter Macht spotten, die die menschliche Maschine zu verwirklichen versprach, so spottet das Leben ihrer noch mehr. Die Vorstellung »ewigen Lebens« ohne Empfängnis, Wachstum, Reife und Verfall — einer Existenz, so fixiert, steril, lieblos, zwecklos und unveränderlich wie die einer Königsmumie — ist nur der Tod in anderer Form. Was anderes ist dies als die Rückkehr in den Stillstand und die Fixiertheit stabiler chemischer Elemente, die sich noch nicht zu genügend komplexen Molekülen verbunden haben, um Neuerung und Kreativität zu ermöglichen? Vom Standpunkt menschlichen Lebens, ja, aller organischen Existenz, war dieser Anspruch auf absolute Macht ein Beweis psychologischer Unreife — des totalen Unvermögens, die natürlichen Prozesse von Geburt und Wachstum, Reife und Tod zu verstehen.

Der Kult der alten Fruchtbarkeitsgötter scheute nie davor zurück, dem Tod ins Angesicht zu sehen. Er strebte nie nach monumentalen Blendwerken aus Stein, sondern verhieß Wiedergeburt und Erneuerung in der rhythmischen Ordnung des Lebens. Was das Königtum verhieß, war die hochtrabende Ewigkeit des Todes. Hätten nicht die Götter der Macht triumphiert, hätte nicht das Königtum einen negativen Weg gefunden, die Reichweite der menschlichen Maschine zu vergrößern und damit den königlichen Anspruch auf absoluten Gehorsam zu erhöhen, dann wäre vielleicht die ganze weitere Entwicklung der Zivilisation anders verlaufen.

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Mit dem Wunsch nach ewigem Leben, das durch materielle wie durch magische Kräfte erreicht werden sollte, nährten die Könige und ihre Götter auch andere Ambitionen, die über die Jahrhunderte hinweg in die Vulgärmythologie unseres eigenen Zeitalters eingegangen sind. In einer sumerischen Fabel besteigt Etana einen Adler, um nach einem Heilkraut für seine Schafe zu suchen, die unfruchtbar geworden sind. Zu diesem frühen Zeitpunkt wurde der Traum vom Fliegen geboren oder zumindest erstmals aufgezeichnet, obgleich dieser Traum noch so vermessen schien, daß Etana, wie Ikarus, zu Tode stürzte, als er sich seinem Ziel näherte.

Doch bald wurden die Könige von geflügelten Stieren bewacht, und sie hatten himmlische Boten zu ihrer Verfügung, die Zeit und Raum überwanden, um Befehle und Warnungen zu den irdischen Untertanen zu bringen. In diesem königlichen Mythos der Maschine begannen schon insgeheim Raketen und Fernsehapparate zu keimen. Die Dschinnis aus Tausendundeiner Nacht sind nur eine spätere populäre Fortsetzung dieser früheren Formen der Macht-Magie.

Dieses Machtstreben, das die himmelorientierten Religionen auszeichnete, wurde seinerseits zum Selbstzweck. In der Zeitspanne der frühen »Zivilisation«, 3000 bis 600 vor Christus, wechselte der Impuls, absolute Herrschaft über Natur und Menschen auszuüben, zwischen Göttern und Königen hin und her. Josua befahl der Sonne, stillzustehen, und zertrümmerte die Mauern von Jericho mit Trompetengeschmetter; aber früher schon hatte Jehova selbst das Atomzeitalter vorweggenommen, indem er Sodom und Gomorrha mit einer einzigen Heimsuchung von Feuer und Schwefel zerstörte; und etwas später griff er sogar zum Bakterien­krieg, um die Ägypter zu demoralisieren und den Juden bei ihrer Flucht zu helfen.

Kurz, keine der destruktiven Phantasien, in denen die Führer unseres Zeitalters schwelgen, von Kemal Atatürk bis Stalin, von den Khans des Kremls bis zu den Kahns des Pentagons, war den göttlich berufenen Begründern der ersten Maschinenzivilisation fremd. Mit jedem Zuwachs an effektiver Macht brachen sadistische und mörderische Impulse aus dem Unbewußten hervor. Dies ist das Trauma, das die spätere Entwicklung der »zivilisierten« Gesellschaften verzerrt hat. Und dieses Faktum befleckt die gesamte Menschheitsgeschichte mit Ausbrüchen kollektiven Irrsinns und primitiven Größenwahns, vermengt mit bösartigem Mißtrauen, mörderischem Haß und unmenschlichen Greueltaten.

Paradoxerweise ist das zweite große Vorrecht der königlichen Technik, trotz der Verheißung ewigen Lebens nach dem Tode, Geschwindigkeit: Alle Pläne des Königs müssen zu seinen Lebzeiten ausgeführt werden. Geschwindigkeit an sich ist bei jedem Unternehmen ein Ausdruck von Macht und wird ihrerseits zu einem Mittel der Machtentfaltung.

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Dieses Element des Mythos der Maschine ist so tief in die Grundvoraussetzungen unserer eigenen Technologie eingedrungen, daß die meisten von uns seinen Ursprung aus dem Auge verloren haben. Aber königliche Befehle müssen, wie wichtige Befehle in der Armee, »im Laufschritt« ausgeführt werden. Unsere heutige Begeisterung für Reisen mit Überschallgeschwindigkeit als Statussymbol, die im interkontinentalen Hin und Her des Jet-set der Wirtschaft und der Diplomatie groteske Form angenommen hat, hat hier ihre Wurzel.

Nichts illustriert die Beschleunigung des Tempos besser als die Tatsache, daß in Ägypten, wie später auch in Persien, jeder neue Monarch des Pyramidenzeitalters sich eine neue Hauptstadt bauen ließ, um dort zu residieren. Man vergleiche dies mit den Jahrhunderten, die der Bau einer mittelalterlichen Kathedrale erforderte — in freien Städten, denen es an den königlichen Mitteln zur Machtanhäufung fehlte. In praktischer Hinsicht war der Bau von Straßen und Kanälen, als wichtigstes Mittel zur Transport­beschleunigung, zu allen Zeiten die von den Königen bevorzugte Form öffentlicher Arbeiten: eine Form, die einen kurzlebigen technologischen Höhepunkt in der Eisenzeit erreichte, als die Römer unter Nero den Durchstich des Kanals von Korinth durch dreißig Meter Erde und Felsen planten — ein Werk, das, wäre es durchgeführt worden, alle ihre Straßen- und Aquäduktbauten übertroffen hätte.

Nur eine Ökonomie des Überflusses, in einer Zeit, da im Niltal höchstwahrscheinlich nur vier bis fünf Millionen Menschen lebten, konnte es sich leisten, alljährlich die Arbeitskraft von hunderttausend Menschen abzuziehen und sie mit so viel Nahrung zu versehen, daß sie ihre riesigen Aufgaben vollbringen konnten; denn was das Gemeinwohl betraf, war dies die sterilste Nutzung von Arbeitskraft. Wenngleich viele Ägyptologen sich nicht zu dieser Einsicht durchringen können, so war doch John Maynard Keynes' Formel vom »Pyramidenbau« als einem notwendigen Mittel, um in einer Überflußgesellschaft, deren Herrscher für soziale Gerechtigkeit und ökonomische Gleichheit nichts übrig haben, überschüssige Arbeitskraft zu absorbieren, keine unpassende Metapher. Dies war ein archetypisches Beispiel simulierter Produktivität. Raketenbau ist das genaue moderne Äquivalent dazu.

 

  Die Mühen der Konsumtion  

 

Der dauerhafteste ökonomische Beitrag des ursprünglichen Mythos der Maschine war jedoch die Trennung zwischen denen, die arbeiteten, und jenen, die als Müßiggänger von dem Überschuß lebten, der aus dem Arbeiter heraus­gepreßt wurde, indem man seinen Lebensstandard auf das Minimum reduzierte.

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Zwangsarmut ermöglichte Zwangsarbeit: In einer Ackerbaugesellschaft beruhte beides auf dem königlichen Monopol des Grundbesitzes und der Kontrolle über dessen Nutznießung. Akkadischen und babylonischen Schriften zufolge erschufen die Götter die Menschen, um sich selber von der harten Notwendigkeit der Arbeit zu befreien. Hier, wie an vielen anderen Orten, stellten die Götter in der Phantasie dar, was die Könige in der Wirklichkeit taten.

In Friedenszeiten lebten Könige und Adelige nach dem Lustprinzip: Essen, Trinken, Jagen, Spielen, Kopulieren — alles in ostentativem Übermaß. So offenbarten sich gerade in der Periode, als der Mythos der Maschine erstmals Form annahm, die Probleme einer Ökonomie des Überflusses zuerst im Verhalten und in den Phantasien der herrschenden Klassen — auch hier schon die Prozesse vorausspiegelnd, die in unserem Zeitalter im Gang sind.

Betrachten wir aufmerksam die Verirrungen der herrschenden Klassen im Verlauf der Geschichte, dann sehen wir, wie weit die meisten von ihnen davon entfernt waren, die Nachteile rein physischer Macht und eines nur auf mühelosen Konsum gestellten Lebens zu begreifen — des reduzierten Lebens eines Parasiten auf Kosten eines toleranten Wirtes. Die Langeweile der Übersättigung war der ständige Begleiter dieser Ökonomie des Macht- und Güterüberflusses; sie führte zu sinnlosem persönlichem Luxus und zu noch sinnloseren Handlungen kollektiver Kriminalität und Zerstörung. Beides waren Mittel, den höheren Status der herrschenden Minderheit zu etablieren, deren Begierden keine Grenzen kannten und deren Verbrechen à la Nietzsche zu Tugenden umgemünzt wurden.

Ein frühes Beispiel der quälenden Probleme des Überflusses ist zur Hand. Eine ägyptische Geschichte, übersetzt von Flinders Petrie, enthüllt die Leere des Lebens eines Pharaos, dem jeder Wunsch allzu leicht befriedigt wurde und für den die Zeit sich unerträglich dahinschleppte. Verzweifelt wandte er sich an seine Berater, ihn von seiner Langeweile zu erlösen, und einer von ihnen machte einen geradezu klassischen Vorschlag: Er möge ein Boot mit leichtbekleideten, fast nackten Mädchen beladen, die rudern und ihm Lieder vorsingen sollten. Für den Augenblick war zu Pharaos großem Vergnügen seine Langeweile verflogen; denn, so bemerkte Petrie treffend, der Wesir hatte das erste Musical erfunden — jenen Trost des »müden Geschäftsmannes« und des Soldaten auf Urlaub.

Diese Formen vorübergehender Erleichterung erwiesen sich jedoch allzu oft als unzureichend. Unter den spärlichen literarischen Dokumenten, die bisher ausgegraben wurden, sind bezeichnenderweise zwei Dialoge über den Selbstmord, ein ägyptischer und ein mesopotamischer. In beiden Fällen findet ein Angehöriger der privilegierten Klasse, dem jeder Luxus und jedes sinnliche Vergnügen erreichbar ist, das Leben unerträglich.

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Seine unbeschwerten Träume sind nicht von der Realität gewürzt. Das ägyptische Zwiegespräch zwischen einem Menschen und seiner Seele stammt aus der Periode, die dem Zerfall des Pyramidenzeitalters folgte, und enthüllt die Ratlosigkeit eines Angehörigen der Oberklasse, der den Glauben an die rituelle Lobpreisung des Todes als höchste Erfüllung des Lebens verloren hat, womit die Irrationalität der ägyptischen High Society rationalisiert wurde. Der mesopotamische Dialog zwischen einem reichen Herrn und seinem Sklaven aus dem ersten Jahrtausend vor Christus ist sogar noch bezeichnender: Der Herr entdeckt, daß keine Anhäufung von Reichtum, Macht und sexuellem Vergnügen ein sinnvolles Leben ergibt. Ein anderer Dialog, aus dem siebzehnten Jahrhundert vor Christus, der Dialog über das menschliche Elend, spinnt das Thema weiter aus: Die Tatsache, daß es ein babylonischer Ekklesiastes genannt wird, weist auf seinen tiefen Pessimismus hin — die Bitterkeit von Macht ohne Liebe, die Leere eines Reichtums, der nur zum Genuß jener Güter verhilft, die man für Geld kaufen kann.

Wenn dies alles war, was die privilegierte Minderheit als Rechtfertigung für Jahrtausende harter kollektiver Anstrengungen und Opfer zu erwarten hatte, dann wird es klar, daß der Machtkult von Anfang an auf einem krassen Trugschluß beruhte. Letztlich erwies sich das Endprodukt für die Oberklasse als ebenso lebensvernichtend wie der Mechanismus selbst es für die enterbten und sozial verkrüppelten Arbeiter und Sklaven war.

Kurz, vom Beginn dieser Entwicklung an haben sowohl die Legende als auch die geschriebene Geschichte unter dem Mythos des Gottkönigtums die demoralisierenden Begleiterscheinungen unbeschränkter Macht bloßgelegt. Aber diese Mängel waren lange Zeit von den großen Hoffnungen überlagert, die die unsichtbare Maschine erweckte. Obgleich viele einzelne Erfindungen lange außerhalb der Reichweite der kollektiven Maschine lagen, die nur teilweisen und schwerfälligen Ersatz liefern konnte, war doch der Hauptansporn für diese Erfindungen — das Bestreben, Raum und Zeit zu überwinden, Transport und Kommunikation zu beschleunigen, die menschliche Energie durch die Nutzung kosmischer Kräfte zu steigern, die Produktivität bedeutend zu erhöhen, den Konsum über den Bedarf hinaus zu stimulieren und ein System absoluter zentralisierter Kontrolle über Natur und Menschen aufzurichten — auf dem Boden der Phantasie des ersten Zeitalters der Megamaschine entstanden.

Einiges von dem damals Gesäten schoß in wildem Wachstum sofort in die Höhe; anderes brauchte fünftausend Jahre, ehe es sprießen konnte. Als dies eintraf, war der Gottkönig in neuer Form wiedererschienen. Und die gleichen infantilen Ambitionen sollten ihn begleiten, über alle früheren Dimensionen hinaus aufgebläht, nur mit dem Unterschied, daß sie endlich realisierbar waren.

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   Das Zeitalter der Erbauer  

 

Keine Institution kann allein von Selbstbetrug und Illusionen leben. Selbst wenn man ihre vielen schweren Nachteile und schädlichen Auswirkungen in Rechnung stellt, muß man die Megamaschine doch als eine der größten technischen Erfindungen werten; es ist sogar zu bezweifeln, daß die nicht-menschlichen Maschinen zu solcher Perfektion gebracht worden wären, hätte der Maschinenbau nicht seine elementaren Erfahrungen mit formbaren menschlichen Bestandteilen gemacht.

Die Megamaschine war nicht nur das Modell für alle späteren komplexen Maschinen, sondern diente auch dazu, die notwendige Ordnung, Kontinuität und Vorhersehbarkeit in das Chaos des Alltagslebens zu bringen, nachdem Nahrungsversorgung und Kanalisierung die Grenzen des kleinen neolithischen Dorfes gesprengt hatten. Mehr noch, die Megamaschine überwand die eigen­brötlerische Uniformität der Stammesbräuche, indem sie eine rationellere, potentiell universelle Methode einführte, die Effizienz ermöglichte.

Gewiß, der Masse der Menschen erschien die beschränkte, hemmende, oft repressiv spezialisierte Lebensweise, die die »Zivilisation« ihnen aufzwang, nicht sinnvoll im Vergleich mit jener des Dorfes, dessen innere Zwänge und Konformitäten von menschlicherer Art waren. Doch die von der Megamaschine hervorgebrachte Gesamtstruktur hatte weit größere Bedeutung: Sie verlieh der kleinsten Einheit eine kosmische Dimension, die über die rein biologische Existenz oder die soziale Kontinuität hinausging. In den neuen Städten wurden all die isolierten Menschengruppen zu einer höheren Einheit zusammengefügt.

Eine eingehendere Untersuchung der Megamaschine wird zeigen, daß viele negative Faktoren, die sie von Anfang an aufwies, sich mit der Zeit verstärkten, anstatt mit dem Erfolg der Maschine zu verschwinden. Doch ehe wir diese negativen Züge untersuchen, müssen wir sowohl den praktischen Erfolg als auch die offenkundige Popularität dieser Institution in vielen Zeitaltern und in vielen Kulturkreisen zu erklären suchen.

Anfangs dürften die Vorzüge des Gottkönigtums alle Menschen geblendet haben. Denn dies war das Zeitalter der Erbauer; und die neuen Städte, die emporwuchsen, waren bewußt als Abbilder des Himmels entworfen. Nie zuvor war soviel Energie für großartige, dauerhafte öffentliche Werke zur Verfügung gestanden. Bald erhoben sich Städte auf künstlichen Hügeln, zwölf Meter über dem Fluß, mit hohen, sechs, ja sogar bis fünfzehn Meter dicken Mauern, die oben breit genug waren, daß zwei Wagen nebeneinander darauf fahren konnten; gleicherweise wurden Paläste errichtet, die groß genug waren, um fünftausend bewaffnete Männer zu beherbergen, die von Gemeinschaftsküchen verköstigt und mit Getränken versorgt wurden,

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ganz zu schweigen von Tempeln wie jenem von Sumer, vierundzwanzig Meter hoch, dessen Allerheiligstes noch von einer zweiten Mauer umfriedet war. Solch ein temenos war groß genug, um den Großteil der Bevölkerung einer Stadt zur Teilnahme an den heiligen Zeremonien aufzunehmen.

Große Bauwerke, deren Außenwände aus gebranntem Lehm mit glänzenden Lasuren oder sogar mit Gold überzogen waren, manchmal mit Halbedelsteinen besetzt und mit monumentalen Löwen- oder Stierfiguren geschmückt, beherrschten die neuen Städte Mesopotamiens; und ähnliche Bauwerke, in verschiedenen Formen und aus verschiedenem Material, entstanden überall. Solche Bauwerke förderten natürlich gemeinschaftlichen Stolz; stellvertretend nahm auch der ärmste Teufel Anteil an diesen Großtaten der Macht, diesen Wunderwerken der Kunst, und war so tagtäglich Zeuge eines Lebens, das für den bescheidenen Bauern oder Hirten völlig unerreichbar war. Selbst auf weit entfernte Dörfer übten diese Monumentalbauten eine magnetische Kraft aus, die periodisch, an Festtagen, die Menschen aus dem ganzen Land in die großen Hauptstädte zog: nach Abydos und Nippur, wie später nach Jerusalem und Mekka, nach Rom und Moskau.

Die große Bautätigkeit diente als Grundlage für eine tiefere, bewußt gesteuerte Lebensweise, in der das Ritual auf das Drama transponiert wurde, in der die Konformität in Frage gestellt wurde durch neue Sitten, neue Anregungen, die aus allen Teilen des großen Tales kamen, in der das Denken der einzelnen geschärft wurde durch den ständigen Umgang mit anderen, überlegenen Geistern; kurz, für die neue städtische Lebensweise, in der jedes frühere Element des Lebens intensiviert und vergrößert wurde. Das Stadtleben ging in jeder Richtung über das Dorfleben hinaus; Rohstoffe wurden über große Entfernungen eingeführt, neue Techniken entwickelten sich in rascher Folge, es mischten sich Rassen und Völker. In meinem Buch <The City in History> habe ich diesen kollektiven Ausdruck von Ordnung und Schönheit entsprechend gewürdigt.

Obzwar Dörfer und Marktflecken die ursprünglichen Muster der Ansiedlung darstellten, waren der Aufbau und der kulturelle Aufstieg einer ganzen Großstadt weitgehend ein Werk der Megamaschine. Die Schnelligkeit, mit der eine solche Stadt errichtet wurde, und die Vergrößerung aller ihrer Dimensionen, besonders ihres zentralen Kerns — Tempel, Palast, Kornspeicher —, zeugen von königlicher Lenkung. Mauern, Festungen, Straßen, Kanäle, Städte bleiben in allen Zeitaltern das, was sie im Zeitalter der Erbauer waren: Höchstleistungen der souveränen Macht. Diese war zu Beginn keine konstitutionelle Abstraktion, sondern eine lebende Person.

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In der gesamten Geschichte hat dieses Urbild der Stadt menschliche Hingabe und menschliche Leistung angeregt. Die große Mission des Königtums bestand darin, daß sie den Partikularismus und Isolationismus der kleinen Gemeinwesen überwand, die oft bedeutungslosen Unterschiede beseitigte, die eine Menschen­gruppe von der anderen trennten und sie daran hinderten, Gedanken, Erfindungen und andere Werte auszu­tauschen, die letztlich ihre Individualität stärken mochten.

Unter dem Königtum wurden allgemeine Normen für Gewichte und Maße festgesetzt; Grenzen wurden nicht nur deutlich markiert, sondern, zum Teil auf Grund der Ausdehnung des königlichen Machtbereichs, auch erweitert, sodaß mehr Gemein­schaften in ein System der Zusammenarbeit eingegliedert wurden. Dank einer allgemeinen Gesetzgebung wurde das Verhalten geordneter und einsichtiger, leichtfertige Abweichungen wurden seltener. Diese Zunahme von Gesetz und Ordnung schuf in beträchtlichem Ausmaß die Basis für größere Freiheit: Sie öffnete die Tür zu einer Welt, in der sich jeder Angehörige des Menschengeschlechts überall zu Hause fühlen konnte, wie in seinem eigenen Dorf. Insofern das Königtum solch nützliche Gleichartigkeit und Universalität verhieß, konnte es jeder Gemeinschaft und jedem Gemeinschaftsmitglied Nutzen bringen.

Mit der Errichtung der Stadt und all ihrer spezifischen Institutionen erreichte das Königtum den Gipfel seiner konstruktiven Leistung. Fast alle schöpferischen Aktivitäten, die wir mit der »Zivilisation« verbinden, können auf diese ursprüngliche Ballung sozialer und technischer Kräfte zurückgeführt werden. Diese großen Werke erzeugten ein wohlbegründetes Vertrauen in die Kräfte des Menschen, sehr verschieden von den Illusionen und naiven Selbsttäuschungen der Magie. Könige führten vor, was volkreiche Gemeinschaften, waren sie erst einmal in großen mechanischen Einheiten organisiert, zu leisten vermochten. Dies war eine hohe Errungenschaft, und die Vision, die sie ermöglicht hatte, mag wirklich gottähnlich erschienen sein. Hätte sie nicht Verzerrungen in der menschlichen Psyche bewirkt, dann hätten die Ergebnisse mit der Zeit alle menschlichen Tätigkeiten wohltuend durchdringen und jede kollektive Funktion, jedes gemeinsame Streben auf dem ganzen Erdball heben und fördern können.

Die mächtigen Kulturheroen und Könige, die die Megamaschine hervorbrachten und diese Aufgaben erfüllten, von Gilgamesch und Imhotep bis zu Sargon und Alexander dem Großen, hoben ihre Zeitgenossen aus der trägen, passiven Hinnahme enger natürlicher Grenzen heraus; sie riefen sie auf, »das Unmögliche zu planen«. Und wenn die Arbeit getan war, dann war tatsächlich das scheinbar Unmögliche verwirklicht. Etwa von 3500 vor Christus an schien nichts, was der Mensch sich vorstellen konnte, außerhalb der Reichweite königlicher Macht zu liegen.

Zum ersten Mal in der Entwicklung des Menschen überschritt die menschliche Persönlichkeit — zumindest in einigen selbsterhöhten, aber repräsentativen Gestalten — die gewohnten Grenzen von Zeit und Raum.

Durch Identifizierung oder stellvertretenden Anteil, als Zeuge, wenn nicht als aktiv Beteiligter, hatte auch der einfache Mann einen gesteigerten Sinn für menschliche Möglichkeiten, wie sie sich in den Göttermythen, in den astronomischen Kenntnissen der Priester und in den weitreichenden Entscheidungen und Aktivitäten des Königs ausdrückten. In einer einzigen Lebensspanne konnte der Geist ein höheres schöpferisches Niveau und ein reicheres Seinsbewußtsein erreichen, als dies jemals zuvor lebenden Geschöpfen möglich war. Dies, und nicht die Vergrößerung der Möglichkeiten des Handels oder der Aufstieg der Weltreiche, war das bedeutendste Element der sogenannten städtischen Revolution.

War die Steigerung des Sinnes für die Möglichkeiten des Menschen auch das Werk einer wagemutigen Minderheit, so konnte dies doch nicht, wie die Sternkunde der Priesterschaft, »Geheimwissen« bleiben, denn es durchdrang jede Tätigkeit der »Zivilisation« und verlieh ihr eine Aura nützlicher Rationalität. Die Menschen lebten nicht mehr von einem Tag auf den anderen, nur von der Vergangenheit geleitet und sie im Mythos und Ritual nachlebend, jede Neuerung fürchtend, weil sie das Bestehende zerstören könnte. Schrift und Architektur, ja die Stadt selbst wurden zu stabilen, unabhängigen Verkörperungen des Geistes. Entwickelte das Leben in der Stadt auch innere Spannungen und Konflikte, gegen welche die kleinen Gemeinschaften dank ihrer Gleichstimmigkeit immun waren, so erschlossen die Anforderungen dieser offeneren Lebensweise neue Möglichkeiten.

Wären alle Vorteile, die diese großangelegten Unternehmungen boten, wahrgenommen und die höheren Funktionen des Stadtlebens breiter verteilt worden, dann hätten die meisten frühen Mängel der Megamaschine rechtzeitig korrigiert und selbst ihre Zwänge gelockert und letztlich beseitigt werden können. Doch leider wurden die Götter wahnsinnig. Die Gottheiten, die für diese Fortschritte verantwortlich waren, begingen Fehler, die die echten Gewinne auslöschten: Sie schwelgten in Menschenopfern und erfanden mittlerweile den Krieg als höchsten Beweis »souveräner Macht« und als höchste Kunst der »Zivilisation«.

Während der Aufstieg der »Zivilisation« weitgehend der Arbeitsmaschine zu verdanken ist, war ihr Gegenstück, die Militärmaschine, vor allem verantwortlich für die wiederholten Zyklen von Ausrottung, Zerstörung und Selbstvernichtung.

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