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   Teil 2    Das Pentagon der Macht  

1 - Neue Entdeckungen, neue Welten

Mumford-1970

 

Die neue Vision (337). Das mittelalterliche Vorspiel (340). Äußere Konflikte und innere Widersprüche (350).
Utopia der Neuen Welt (357). Der Gegensatz zum Naturalismus des Mittelalters (361).

 

   Die neue Vision  

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Die Periode, die Ende des fünfzehnten Jahrhunderts begann, wird das Zeitalter der Entdeckungen genannt; und diese Bezeichnung trifft auf viele der späteren Ereignisse zu. Aber der wichtigste Teil dieser neuen Entdeckungen ging im Geist vor sich; und überdies war die kulturelle neue Welt, die erschlossen wurde, faktisch — auch in der westlichen Hemisphäre — mit vielen verborgenen, verästelten Wurzeln der Alten Welt verbunden — Wurzeln, die durch dicke Erdschichten bis zu den Trümmern alter Städte und Imperien hinab­reichten.

Wirklich neu war für den westlichen Menschen das berauschende Gefühl, daß ihm zum ersten Mal jeder Teil des Planeten zugänglich war und Gelegenheit bot zu kühnen Abenteuern, zu aktivem Wirtschaftsverkehr und, zumindest für nachdenklichere Geister, zur eigenen Belehrung. Erde und Himmel standen, wie nie zuvor, systematischer Untersuchung offen. Und so wie der helle Sternenhimmel luden auch die dunklen Kontinente jenseits der Meere zur Erforschung ein; und schließlich auch der noch dunklere Kontinent der kulturellen und biologischen Vergangenheit des Menschen.

Im großen und ganzen winkten dem westlichen Menschen also zwei komplementäre Arten von Entdeckungen. Ursprünglich eng verwandt, bewegten sie sich nun in verschiedene Richtungen, verfolgten verschiedene Ziele — wenngleich sie sich oft kreuzten — und verschmolzen schließlich zu einer einzigen Bewegung, die zunehmend die Gaben der Natur durch jene enger begrenzten Erfindungen des Menschen zu ersetzen trachtete, die aus einem einzigen Aspekt der Natur gewonnen wurden: aus dem, der unter menschliche Kontrolle gebracht werden konnte. Die eine Entdeckertätigkeit konzentrierte sich vornehmlich auf den Himmel und die regelmäßigen Bewegungen der Planeten und fallenden Körper, auf Raum- und Zeitmessungen, auf sich wiederholende Vorgänge und bestimmbare Gesetze. Die andere überquerte kühn die Meere und grub sogar tief unter die Erdoberfläche, auf der Suche nach dem gelobten Land, teils von Neugierde und Habgier getrieben, teils von dem Wunsch, aus alten Fesseln und Grenzen auszubrechen.

Zwischen dem fünfzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert verbündete sich die von Entdeckern, Abenteurern, Soldaten und Statthaltern erschlossene Neue Welt mit der neuen Welt der Wissenschaft und der Technik, die von Gelehrten, Erfindern und Ingenieuren erforscht und entwickelt wurde; es waren zwei Seiten ein und derselben Bewegung. Die eine Richtung befaßte sich mit abstrakten Symbolen, rationalen Systemen, allgemeinen Gesetzen, wiederholbaren und vorhersagbaren Ereignissen und objektiven mathematischen Messungen: sie suchte die Kräfte zu verstehen, nutzbar zu machen und zu beherrschen, die sich letztlich aus dem Kosmos und dem Sonnensystem ableiten. Die andere befaßte sich mit dem Konkreten und dem Organischen, dem Abenteuerlichen, dem Greifbaren. Sie wollte unbekannte Ozeane befahren, neue Länder erobern, fremde Völker unter­werfen, neue Nahrungsmittel und Medikamente entdecken, vielleicht den Jungbrunnen finden, oder wenn nicht, dann wenigstens mit nackter Gewalt den Reichtum Indiens in Besitz nehmen. Beide Arten der Erforschung hatten von allem Anfang an etwas von herausforderndem Stolz und dämonischem Wahnsinn an sich.

Von dieser Vision einer neuen Welt angetrieben, stießen kühne Segelschiffe die geographischen Barrieren nieder, die die Völker der Erde so lange voneinander getrennt hatten; durch diese Bresche ergoß sich in den Jahrhunderten nach den ersten Entdeckungen ein mächtiger Strom von Auswanderern nach Nord-, Mittel- und Südamerika, Australien, Neuseeland und Afrika, um große Gebiete der Erde in Besitz zu nehmen und zu besiedeln, deren eingeborene Bewohner bis dahin ein relativ abgeschlossenes Leben geführt hatten.

Seit Anfang des sechzehnten Jahrhunderts glaubten die Führer der europäischen Länder fest daran, daß ein großer zyklischer Wandel im Leben der Menschen bevorstünde. Poliziano, der phantasiereiche florentinische Humanist, erklärte unumwunden, die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus würde eine segensreiche Veränderung der menschlichen Existenz mit sich bringen; während kaum ein Jahrhundert später der kala­bresische Mönch Campanella, angeregt von Bacon und Galilei, hoffnungsvoll mit gleicher Inbrunst die neue Welt der Astronomie, der Physik und der Technologie begrüßte und in seiner Phantasie die noch namenlosen mechanischen und elektronischen Erfindungen vorwegnahm, die seiner Meinung nach dazu bestimmt waren, die menschliche Gesellschaft zu transformieren. Nachdem er die Hauptzüge seines Idealstaates, des Sonnen­staats, skizziert hatte, meinte Campanella, zeitgenössischen Astrologen zufolge werde das kommende Zeitalter innerhalb von hundert Jahren mehr Geschichte enthalten, »als die ganze Welt in den vorangegangenen viertausend Jahren gehabt hat«.

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Mit ein wenig Nachsicht betrachtet, erwies sich diese Prophezeiung als bemerkenswert richtig: Die Erfindungen der wildesten Phantasien blieben weit hinter den tatsächlichen Errungenschaften zurück, die innerhalb weniger Jahrhunderte verwirklicht wurden. Von Anfang an bemächtigte sich dieser subjektive Glaube an eine neue Welt, die alle früheren menschlichen Errungenschaften übertreffen sollte, der nüchternsten Köpfe; es hatte die gleiche Wirkung auf den abendländischen Menschen wie das Aufreißen der Fensterläden und das Öffnen der Fenster in einem alten Haus, das viele Winter lang fest verschlossen gewesen und in Verfall geraten war. Jene, die frische Frühlingsluft atmeten, waren nicht mehr bereit, inmitten von verschimmelten Dachsparren und Spinnweben zu leben, obwohl die Erbstücke in ihrem alten Wohnhaus immer noch brauchbar und schön waren. Mochten sie anfangs auch zögern, das ganze Gebäude zu zerstören, so fingen sie an, unbewohnte Räume zu renovieren und neue Einrichtungen zu installieren. Und die Mutigeren waren bereit, das alte Wohnhaus ganz aufzugeben, um — zumindest geistig — in der Wildnis oder sogar auf dem Mond ein neues Leben zu beginnen.

Etienne de la Boetie schrieb an seinen Freund Michel de Montaigne:

»Wenn an der Schwelle unseres Jahrhunderts eine neue Welt aus dem Ozean emporgestiegen ist, so geschah dies, weil die Götter eine Zuflucht schaffen wollten, wo alle Menschen unter einem besseren Stern ihre Felder bebauen können, während das grausame Schwert und die schändliche Pest Europa zum Untergang verurteilen.« 

Eine ähnliche Stimmung, ein ähnlicher Wunsch, einen neuen Anfang zu machen, verband die Wissenschaftler. mit den Erfindern, verträumte Verfasser von Utopien mit derb-nüchternen Neulandpionieren. Die Vision der Neuen Welt schien alle Möglichkeiten des Menschen zu erweitern und zu steigern, obwohl die Entdecker und Pioniere, als sie der Alten Welt den Rücken kehrten, das »grausame Schwert« oder die »schändliche Pest« in Wirklichkeit nicht zurückließen, denn ihre Pocken, Masern und Tuberkulose dezimierten die Eingeborenen, die von ihren Kanonen verschont geblieben waren.

Als die aktive Periode der Entdeckung und Kolonisierung vorüber war und das gelobte Land noch immer hinter dem Horizont lag, wurde ein großer Teil des ursprünglichen Glaubens und Eifers von der Ausbeutung der natürlichen Neuen Welt auf die der Maschine übertragen. Doch eigentlich waren diese beiden verschiedenen Einstellungen zur Neuen Welt — die eine auf die natürlichen Quellen gerichtet, die zu entdecken und zu erbeuten waren, die andere auf mechanische Kraft und künstlichen Reichtum, den es zu produzieren und gewinnbringend zu verkaufen galt — von Anfang an niemals weit voneinander entfernt. Beide Impulse waren einem militanten mittelalterlichen Hintergrund entsprungen, so wie die asketischen, strengen Sitten des Frühkapitalismus vom mittelalterlichen Kloster herkamen.

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Das mittelalterliche Vorspiel 

 

Als offizielles Datum der Entdeckung der Neuen Welt galt lange Zeit die erste Reise des Kolumbus; heute aber besteht Grund zu der Annahme, daß schon früher – weniger zielbewußt, mehr auf gut Glück – Vorstöße in gleicher Richtung gemacht wurden – möglicherweise von irischen Mönchen, normannischen Seefahrern, bretonischen Fischern und schließlich von Schiffern aus Bristol zwischen 1480 und 1490, wie Carl Sauer kürzlich aufdeckte. Gewiß, daß griechische Kosmographen die Erde als Kugel aufgefaßt hatten, war bereits vor dem fünfzehnten Jahrhundert bekannt, wenn auch nicht allgemein akzeptiert; und bezeich­nender­weise wurde das abstrakte Modell der Neuen Welt in Längen- und Breitengraden auf Landkarten des fünfzehnten Jahrhunderts einige Zeit vor 1492 angefertigt. Ähnlich begannen die Maler der Renaissance ein volles Jahrhundert vor Descartes, die Welt durch ein präcartesianisches Koordinatennetz zu betrachten und auf ihren Bildern das Größenverhältnis zwischen nahen und fernen Gegenständen durch Fluchtpunkte im Raum genau zu bestimmen.

Kolumbus seinerseits, obwohl keineswegs ein führender Geist, verfügte über die wissenschaftlichen Mittel, um seine Reise zu planen und seine Rückkehr mit Hilfe des Astrolabiums, des magnetischen Kompasses und der damaligen Seekarten zu sichern; diese Mittel gaben ihm das nötige Selbstvertrauen, seine gefährliche Reise anzutreten und seinen Kurs trotz der zweifelnden Mannschaft zu halten. So haben lange vor den industriellen Veränderungen, die durch Kohle und Eisen, die Dampfmaschine und den mechanischen Webstuhl bewirkt wurden, jene früheren technischen Errungenschaften — die, wie die verbreitete Verwendung von Wind- und Wasserkraft, ihren Ursprung im Mittelalter hatten — einen viel wichtigeren Wandel im menschlichen Geist hervorgebracht. Die spätere Gepflogenheit, diesen kulturellen Wandel erst vom siebzehnten Jahrhundert an zu datieren, entspringt einer engherzigen Auffassung, die ursprünglich auf mangelhafte historische Kenntnisse der Techniker und auf mangelnde technische Kenntnisse der Historiker zurückzuführen war. Vom dreizehnten Jahrhundert an gab es einen beständigen, fruchtbaren Austausch zwischen jenen beiden Bereichen.

Die heute gängige Ansicht über die Neue Welt, im territorialen wie im technischen Sinn, ist durch die religiösen Vorurteile der Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts verzerrt. Denker wie Voltaire und Diderot, die die Institutionen des Mittelalters nach deren verfallenen Überresten zu ihrer eigenen Zeit beurteilten, hielten es für ausgemacht, daß das Mittelalter eine Periode dumpfer Unwissenheit und finsteren Aberglaubens war, und in ihrem Bestreben, den Einfluß der Kirche abzuschütteln, machten sie aus dem Hochmittelalter, einer Blütezeit der europäischen Kultur, eine neugotische Horrorgeschichte, in der Annahme, daß es bis zu ihrer eigenen Zeit in keinem Bereich nennenswerte Fortschritte gegeben habe.

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Diese antigotische Zwangsvorstellung führte nicht nur zur Mißachtung der Errungenschaften des Mittelalters, sondern auch zur totalen Zerstörung von Gebäuden und Institutionen, die, wären sie bewahrt und erneuert worden, vielleicht geholfen hätten, das entstehende Machtsystem zu humanisieren.

Heute, da die gründliche Erforschung des Mittelalters diese Scheuklappen entfernt hat, wissen wir, daß der Grundstock für das Zeitalter der Entdeckungen durch eine Reihe von technischen Errungenschaften gelegt wurde, die im dreizehnten Jahrhundert mit der Einführung des magnetischen Kompasses und des Schießpulvers aus China begann; tatsächlich hielt Europa vom zehnten Jahrhundert an eine Art Generalprobe für die nachfolgende Periode ab. Dies nahm seinen Anfang mit der Rodung der Wälder durch die Mönchsorden und mit der Errichtung feudaler Pioniersiedlungen und neuer Städte in den östlichen und südlichen Grenzgebieten; und die ersten Siedler in der Neuen Welt, weit entfernt, ganz von vorn zu beginnen, führten ihre typischen mittelalterlichen Einrichtungen mit sich und setzten denselben Prozeß fort; sogar das »amerikanische« Blockhaus kam aus Schweden.

So betrachtet, stellten die verwegenen Überfälle und blutigen Eroberungen der Wikinger, die Irland und England angriffen, die Orkney-Inseln in Besitz nahmen, sich in Island niederließen, in Sizilien eindrangen, die Normandie eroberten und schließlich Persien erreichten, die erste Welle späterer Eroberungen und Kolonisierungen dar; und sie lieferten das Vorbild rücksichtsloser Einschüchterung und blindwütiger Zerstörung. So sind auch die Kreuzzüge als die frühesten Manifestationen des westlichen Imperialismus anzusehen; der Höhepunkt war der vierte Kreuzzug, der, ohne im geringsten ein religiöses Ziel oder Selbst­verteidigung vorzuschützen, einen Umweg machte, um das christliche Byzanz zu plündern und zu verwüsten. Und die Erforschung der Küsten Afrikas durch die Portugiesen, angefangen von dem Infanten Heinrich dem Seefahrer (1444), schuf einen weiteren häßlichen Präzedenzfall mit der Erbeutung von Negersklaven. Es war eine Wiederbelebung der Sklaverei, die zusammen mit der Leibeigenschaft im feudalen und städtischen Europa ausgestorben war; und Portugiesen, Spanier und Engländer verpflanzten diese unmenschliche Praxis in die Neue Welt.

Die Ausrüstung, die diese Eroberungen, diese Ausbeutung und Versklavung ermöglichte – Panzer, Armbrüste, Musketen und Kanonen –, diese neuen technischen Mittel verliehen den Europäern, die über sie verfügten, die Stärke, die Eingeborenen trotz deren großer zahlenmäßiger Überlegenheit zu besiegen;

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ihr grimmiger Wagemut, ihre absolute Rücksichtslosigkeit wurden durch die wirksameren Waffen nicht nur unterstützt, sondern auch gesteigert. Überdies stärkten die leicht errungenen Siege den neuen, im Entstehen begriffenen Macht­komplex.

Wenn die Eroberung der Neuen Welt nicht zur erwarteten glücklichen Erfüllung führte — nicht einmal in Nordamerika, wo die Chancen günstiger waren —, so deswegen, weil die neuen Kolonisatoren und Siedler mit ihrer guten Ausrüstung und ihren brutalen Methoden so viel von der Alten Welt mitbrachten. Erstaunlich ist eher, daß der hoffnungsvolle Traum sich so lange lebendig erhielt, denn etwas von seinem ursprünglichen Glanz verwirrt und blendet immer noch die Augen vieler Zeitgenossen, die weiterhin den gleichen archaischen Phantasien nachjagen und in die Fernen des Weltraums vorstoßen wollen.

Heutige Propheten des Raumzeitalters, die die Erforschung des Weltraums als unbegrenzt und die Astronauten als die kommenden Pioniere proklamieren, sehen die Vergangenheit und noch mehr die Zukunft solcher Versuche in einer unrealistischen Verklärung.

Als Krönung dieser ganzen Entwicklung erweiterte die katholische Kirche mit dem zunehmenden Ablaßverkauf, den sie nach bester kapitalistischer Manier an internationale Finanzleute verpachtete, einen Mißbrauch, der schon zu Boccaccios Zeiten ein Skandal gewesen war. Dieses System verkündete deutlicher als alle Worte, daß es von nun an auf Erden und im Himmel nichts gebe, das man nicht um Geld kaufen könnte. Dieser Glaube, in Worten, die finanziellen und geistigen Nutzen miteinander verknüpften, wurde von Kolumbus unzweideutig ausgedrückt:

»Gold ist ausgezeichnet, Gold ist ein Schatz, und wer es besitzt, kann tun, was immer er will in diesem Leben, und vermag den Seelen ins Paradies zu verhelfen.«

Von Anfang an gab es einen inneren Widerspruch in der Haltung des westlichen Menschen der Neuen Welt gegenüber: nicht bloß zwischen dem Traum und der trüben Wirklichkeit, sondern zwischen dem Bestreben, den Einfluß des Christentums — unter der Macht und Führung der Königsherrschaft — auf weite Teile der Welt auszudehnen, und der gärenden Unzufriedenheit mit den gleichen Institutionen in der Heimat, die der Hoffnung Nahrung gab, daß zumindest auf der anderen Seite des Planeten ein neuer Beginn gemacht werden könnte.

Die christlichen Missionare wollten einerseits die Heiden, wenn nötig mit Feuer und Schwert, zum Evangelium des Friedens, der Brüderlichkeit und der himmlischen Glückseligkeit bekehren; anderseits wünschten die mutigeren Geister, die beengenden Traditionen und Sitten abzuwerfen und ein neues Leben zu beginnen, das die Klassenunterschiede einebnen, Überfluß und Luxus, Privilegien, Distinktionen und die hierarchische Rangordnung beseitigen sollte; kurz, sie wünschten in die Steinzeit zurück­zukehren, in das Stadium, da die Institutionen der Bronzezeit sich noch nicht herauskristallisiert hatten.

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 Obwohl die westliche Hemisphäre bewohnt war und gebietsweise eine hohe Kulturstufe erreicht hatte, war ein großer Teil so dünn besiedelt, daß der Europäer sie sich als jungfräulichen Kontinent vorstellte, gegen dessen Wildheit er seine männliche Stärke ausspielte. Einerseits predigten die europäischen Eindringlinge den eingeborenen Götzenanbetern das christliche Evangelium, demoralisierten sie mit starkem Schnaps, zwangen sie, ihre Blöße mit Kleidern zu bedecken, und verurteilten sie in den Bergwerken zu einem frühen Tod. Anderseits glich sich der Pionier an die Lebensweise des nordamerikanischen Indianers an, übernahm dessen Lederbekleidung und kehrte zur paläolithischen Wirtschaft zurück: Jagen, Fischen, Schnecken- und Beerensammeln; er erfreute sich an der Wildnis und ihrer Einsamkeit, scherte sich nicht um Gesetz und Ordnung und improvisierte doch, unter Druck, brutalen Ersatz dafür. Die Schönheit dieses freien Lebens hielt Audubon bis ins hohe Alter gefangen.

 wikipedia  John_James_Audubon  *1785 auf Haiti bis 1851

Nirgends waren diese Widersprüche krasser als in Nordamerika. Die gleichen Kolonisten, die sich von England lossagten und ihre Tat im Namen der Freiheit, der Gleichheit und des Rechts auf Glück rechtfertigten, hielten die Sklaverei aufrecht und übten ständigen militärischen Druck auf die Indianer aus, deren Land sie sich systematisch durch Betrug und Gewalt aneigneten, was sie schamlos als »Ankauf« bezeichneten, sanktioniert durch Verträge, die die Regierung der Vereinigten Staaten wiederholt zum eigenen Vorteil gebrochen hat — und immer noch bricht.

Doch ein noch tragischeres Paradoxon beschmutzte den Traum von der Neuen Welt und machte es unmöglich, ein neues Leben unter einem neuen Stern zu beginnen. Denn die Hochkulturen, die sich in Mexiko, Mittel­amerika und den Anden bereits entwickelt hatten, waren in keinem Sinn primitiv oder neu und repräsentierten auch keine annehmbareren menschlichen Ideale als die Kulturen der Alten Welt. Die Eroberer Mexikos und Perus fanden eine einheimische Bevölkerung vor, die so streng bevor­mundet und so völlig jeder Initiative beraubt war, daß sie in Mexiko, sobald ihr König Montezuma gefangen war und keine Befehle mehr erteilen konnte, den Eindringlingen wenig oder gar keinen offenen Widerstand leistete.

Es gab, kurz gesagt, hier in der Neuen Welt den gleichen institutionellen Komplex, der die Zivilisation seit ihren Anfängen in Mesopotamien und Ägypten umklammert hielt: Sklaverei, Kastenwesen, Krieg, Gottkönigtum und sogar religiöse Menschenopfer auf Altären — manchmal, etwa bei den Azteken, in erschreckendem Ausmaß. Politisch gesprochen, trug der westliche Imperialismus Eulen nach Athen.

Wie sich herausstellte, war die Wildnis, die zu erforschen der westliche Mensch verabsäumt hatte, der dunkle Kontinent seiner eigenen Seele, eben jenes Herz der Finsternis, von dem Joseph Conrad schrieb, das, durch die Entfernung von den Zwängen der Alten Welt befreit, archaische Tabus, konventionelle Regeln und religiöse Gebote abwarf und jede Spur von Nächstenliebe und Demut auslöschte.

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Wohin auch der westliche Mensch kam, brachte er Sklaverei, Landraub, Gesetzlosigkeit, Kulturzerstörung und die totale Ausrottung von wilden Tieren und zahmen Menschen mit sich; denn die einzige Macht, die er nun respektierte – ein ebenbürtiger Feind, der ihm Schaden zufügen könnte –, fehlte, sobald seine Füße einmal fest auf dem neuen Boden standen. Ein halbes Dutzend Jahre nach der Landung des Kolumbus hatten die Spanier, wie ein zeitgenössischer Beobachter schätzte, anderthalb Millionen Eingeborene abgeschlachtet.

Emerson vermerkte bezeichnenderweise in seinem Essay über den Krieg, daß der gefeierte Cavendish, der zu seiner Zeit als ein guter Christ galt, bei seiner Rückkehr von einer Weltreise folgendes an Lord Hunsdon schrieb: 

»September 1588. Es gefiel dem allmächtigen Gott, mir zu gestatten, um den ganzen Erdball zu reisen, in die Magellan­straße einzusegeln und über das Kap der Guten Hoffnung zurückzukehren; auf dieser Reise erlangte ich Kenntnis von all den reichen Plätzen der Welt, die jemals von einem Christen entdeckt wurden. Ich fuhr entlang der Küste von Chile, Peru und Neu-Spanien, wo ich große Beute machte. Ich verbrannte und versenkte neunzehn Segelschiffe, kleine und große. Alle Dörfer und Städte, bei denen ich landete, brannte ich nieder und plünderte sie. Und wäre ich nicht an der Küste entdeckt worden, hätte ich große Schätze mitgenommen.«

Auf einen humanen Captain Cook, der keinen Anlaß sah, den polynesischen Eingeborenen die barbarischen britischen Straf­gesetze aufzuzwingen – »Daß Diebe in England gehängt werden, ist für mich kein Grund, sie in Otaheite zu erschießen« –, kamen unzählige Vasco da Gamas; kaltblütig knüpfte dieser die Fischer eines ostindischen Hafens, den er anlief, am Mast auf – unschuldige Menschen, die er gastfreundlich an Bord seines Schiffes geladen hatte –, nur um die Bevölkerung der Küste in Schrecken zu versetzen. Diese Grausamkeiten blieben ein Schandmal der in der Neuen Welt angewandten Methoden, und sie wirkten fort durch die Jahrhunderte, neben Zwangsarbeit und offener Versklavung. Die Behandlung der Eingeborenen im Kongo unter König Leopold oder jener Südafrikas unter Verwoerd und seinen Nachfolgern sind späte Nachklänge des ursprünglichen brutalen Terrors.

Nicht bloß Sklaverei, sondern auch der Völkermord gewann mit der Erforschung der Neuen Welt an Boden. Auch diese Praxis war in Europa nicht unbekannt; sie war im dreizehnten Jahrhundert mit Billigung der Kirche gegen die albigensischen Ketzer in der Provence geübt worden und kehrte in unserer Zeit wieder, ohne annähernd ausreichende moralische Reaktionen hervorzurufen: Davon zeugen die türkischen Armenier­massaker von 1923,

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Stalins vorsätzliche Aushungerung von Millionen russischer Bauern in den Jahren 1931 und 1932, die deutsche Massenvernichtung der Juden und anderer geächteter Nationalitäten in den vierziger Jahren, ganz zu schweigen von den Luftangriffen auf Städte im Zweiten Weltkrieg, die von den Deutschen in Warschau 1939 und in Rotterdam 1940 begonnen, aber, im Gegensatz zum einstmals akzeptierten Kriegsrecht, von den demoralisierten Führern Großbritanniens und der Vereinigten Staaten eifrig imitiert wurden. 

 wikipedia  Völkermord_an_den_Armeniern

Die Praktiken der Neuen Welt (Versklavung und Völkermord) waren ein weiteres heimliches Verbindungsglied zum antihumanen Geist der mechanisierten Manufaktur nach dem sechzehnten Jahrhundert, als die Arbeiter nicht mehr durch Feudalbräuche oder durch die Selbstverwaltung der Gilden geschützt waren. Die Erniedrigung, die Kinder oder Frauen als Fabrikarbeiter im frühen neunzehnten Jahrhundert in Englands Satansmühlen und Bergwerken erlitten, widerspiegelt nur jene, die durch die territoriale Expansion des westlichen Menschen entstand. In Tasmanien zum Beispiel organisierten britische Kolonisatoren Treibjagden auf die überlebenden Eingeborenen: nach Ansicht der Wissenschaft ein primitiveres Volk als die australischen Ureinwohner; man hätte sie sozusagen unter Glas aufbewahren sollen, zum Nutzen späterer Anthropologen.

Diese Praktiken waren so alltäglich, die Eingeborenen wurden so offenkundig als prädestinierte Opfer angesehen, daß selbst der gütige und moralisch sensible Emerson in einem frühen Gedicht (1827) resigniert sagen konnte: »Ach, rote Männer sind wenige, rote Männer sind schwach, Sie sind wenige und schwach, und sie müssen verschwinden.«

Im Ergebnis vernichtete der westliche Mensch nicht nur jede Kultur, mit der er in Berührung kam, ob primitiv oder fort­geschritten, sondern er beraubte auch seine Nachkommen zahlloser Werke der Kunst und der Technik sowie wertvollen, nur mündlich überlieferten Wissens, das mit den aussterbenden Sprachen aussterbender Völker verschwand. Mit der Ausrottung früherer Kulturen ging ein riesiger Schatz botanischer und medizinischer Kenntnisse verloren, die Frucht von Jahrtausenden sorgfältiger Beobachtung und empirischer Experimente, deren außerordentliche Resultate – wie die Verwendung der Schlangenwurzel bei den amerikanischen Indianern als Beruhigungsmittel für Geisteskranke – die moderne Medizin nur allzu spät zu würdigen beginnt. 

Die kulturellen Reichtümer der ganzen Welt lagen dem westlichen Menschen fast vier Jahrhundert lang zu Füßen; aber zu seiner Schande und zu seinem eigenen Schaden interessierte er sich nur für Gold und Silber und Diamanten, für edle Hölzer und Pelze und für die neuen Nahrungsmittel (Mais und Kartoffeln), die es ihm erlaubten, größere Bevölkerungen zu ernähren.

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Jahrhunderte vergingen, bis Gegenstände wie jene, die Montezuma Karl V. geschenkt hatte, in Europa oder Amerika als Kunstwerke ausgestellt wurden. Doch Albrecht Dürer, der die spanische Sammlung besichtigte, zweifelte nicht an ihrem ästhetischen Wert. Niemals, sagte er, hätte er etwas gesehen, das sein Herz so erwärmte wie diese Dinge. Jene, die diese Kunstwerke zu Goldbarren einschmolzen, teilten nicht seine Einsicht.

Leider übertrug der Europäer die Feindseligkeit gegenüber den Kulturen, denen er begegnete, auf seine Beziehungen zu dem jeweiligen Land. Die unermeßlichen freien Räume des amerikanischen Kontinents mit all ihren wenig oder gar nicht benutzten Ressourcen betrachtete er als Herausforderung zu unerbittlichem Krieg, zu Zerstörung und Eroberung. Die Wälder waren da, um gerodet zu werden, die Prärie, um gepflügt zu werden, das Marschland, um besetzt, das Wild, um aus bloßem Sport getötet zu werden, auch wenn es nicht für Ernährung oder Bekleidung gebraucht wurde.

In der »Eroberung der Natur« behandelten unsere Vorfahren nur allzuoft den Boden ebenso verächtlich und brutal, wie sie dessen Urbewohner behandelt hatten: Sie rotteten ganze Tierarten aus, wie den Bison und die Wandertaube, zerstörten den Ackerboden, anstatt ihn alljährlich zu regenerieren, und nehmen in unseren Tagen die letzten Fleckchen unberührter Wildnis in Besitz, die gerade als Wildnis, als Heimat wilder Tiere und Einsamkeit suchender Menschen wertvoll waren. Wir opfern sie für sechsspurige Autobahnen, Tankstellen, Vergnügungsparks und den Holzhandel, wie die Rotholzhaine oder Yosemite und Lake Tahoe — obwohl diese Naturschönheiten, einmal zerstört, nie mehr wiederhergestellt oder ersetzt werden können.

Ich will die negative Seite der großen Entdeckungen nicht übertonen. Wenn ich es hier scheinbar doch tue, dann deswegen, weil sowohl die älteren romantischen Verfechter eines neuen Lebens im Einklang mit der Natur als auch die jüngeren Verkünder eines neuen Lebens im Einklang mit der Maschine die ungeheuren Verluste und Vergeudungen übersahen, in der Illusion, daß entweder der Reichtum der Natur unerschöpflich sei oder daß die Verluste nichts ausmachten, da der moderne Mensch durch Wissenschaft und Erfindung bald eine künstliche Welt herstellen würde, unendlich schöner als die natürliche – was ein noch gröberer Irrtum ist. Beide Ansichten grassierten lange Zeit in den Vereinigten Staaten, wo die beiden Phasen des Traums von der Neuen Welt zusammentrafen; und sie herrschen auch heute noch vor.

Doch die Hoffnungen, die im sechzehnten Jahrhundert so oft ausgesprochen und später von der romantischen Bewegung im achtzehnten Jahrhundert idealisiert wurden, waren nicht ohne Grundlage; tatsächlich gab es im neunzehnten Jahrhundert einen Augenblick, da sie in den Nordatlantik-

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Staaten fast vor ihrer Realisierung zu stehen schienen, in einem neuen Persönlichkeitstypus und im Typus einer Gemeinschaft, die ihre Güter allen ihren Mitgliedern anbot: »Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten.«

Sobald die Einwanderer festen Boden gewonnen hatten, nahm die Neue Welt ihre Phantasie gefangen. Mit ihrer Weiträumigkeit, ihrer ökologischen Vielfalt, ihrer Skala von Klimazonen und physiographischen Profilen, ihrem üppigen Wildbestand wie auch ihrem enormen Reichtum an Nährpflanzen und Bäumen war die Neue Welt ein Land der Verheißung, ja vieler Verheißungen für Körper und Geist. Hier war ein natürlicher Überfluß, der den alten Fluch der Sklaverei und der Armut aufzuheben versprach, noch ehe die Maschine die Last rein physischer Plage erleichterte. Die Küstengewässer wimmelten von Fischen, Muscheln und Austern, und Wild war so reichlich vorhanden, daß in den Grenzsiedlungen kein Bedarf nach Rind- und Schweinefleisch bestand. Jene, die in der Wildnis zu Hause waren, wie Audubon, litten, trotz Hypotheken und Schulden, nie Mangel an Nahrung. Der Gedanke, daß in der Neuen Welt eine bessere Gesellschaft möglich sei, war für so manche Sekte, von den Jesuiten Paraguays bis zu den Pilgervätern von Massachusetts und den späteren Herrnhutern in Iowa, Anreiz zur Einwanderung. Daher war der geheime Name der Neuen Welt bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts Utopia.

Vier Jahrhunderte lang erforschten und durchwühlten die führenden Geister des Entdeckungszeitalters jeden Teil des Planeten. Gleich Captain Cook und Darwin gingen sie auf lange, schwierige Reisen, machten ozeanische und meteorologische Beobachtungen und brachten die zahllosen Wunder der Meeresfauna ans Licht; gleich Schoolcraft, Catlin und Lewis Morgan untersuchten sie, wie Spencer und Gillen in Australien, die Kultur der Eingeborenen, die durch das Eindringen des westlichen Menschen schon schwer geschädigt war; Layard grub Ninive aus, Stephens machte durch Beschreibung und Skizzen die ersten großen Maya-Ruinen bekannt; dank Aurel Stein und Raphael Pumpelly wurden das ferne Turkestan und die Innere Mongolei, einst Sitz einer blühenden Kultur, wiederentdeckt.

Obwohl die erste Erforschung flüchtig und notgedrungen oberflächlich war, enthüllte sie doch Lebensweisen, die in eine ferne Vergangenheit zurückreichten, brachte vergessene Städte und verfallene Kulturdenkmäler ans Licht, offenbarte eine große Vielfalt von Sprachen und Dialekten, die selbst in relativ kleinen Gebieten wie Neuguinea in die Hunderte gingen, zusammen mit den Mythen, den Legenden, den bildenden Künsten, den Schriftsystemen, den Ritualen und Gesetzen, den Kosmologien und den Religionen der Menschheit.

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Und so bewegten sich diese anderen Entdecker in den Jahrhunderten, da die Faktoren mechanischer Gleichförmigkeit allmählich die Oberhand bekamen und die natürliche Vielfalt zugunsten von Geschwindigkeit, Macht und finanziellem Gewinn einschränkten oder verunstalteten, in entgegengesetzter Richtung und enthüllten oftmals die unermeßliche kulturelle Mannig­faltigkeit der Menschheit: die reiche Ablagerung der Menschheitsgeschichte, die der ursprünglichen Überfülle und Vielfalt der Natur fast gleichkommt.

Als Nebenprodukt, beinahe zufällig, wurde diese weltweite Entdeckung im Raum durch eine ebenso entscheidende historische Entdeckung in der Zeit ergänzt: durch die Entdeckung des Zeitalters, das von Jacob Burckhardt, einem genialen Historiker, fälschlich Renaissance genannt wurde. Die Aufdeckung der griechischen und römischen Antike mittels erhalten geblichener Dokumente und Monumente war nur Teil einer viel umfassenderen Rückschau in die menschliche Vergangenheit. Wie die geographischen Entdeckungen die räumlichen Bindungen an einen bestimmten Boden und eine bestimmte Kultur lockerten, so löste die Entdeckung der Vergangenheit die Bindung an die unmittelbare Gegenwart; zum ersten Mal begann der menschliche Geist, sich frei in Vergangenheit und Zukunft zu bewegen, zu wählen und auszusuchen, zu antizipieren und zu projizieren, befreit von der beengenden Herrschaft eines tyrannischen Hier und Jetzt. Durch die Naturgeschichte wie durch die Kulturgeschichte entdeckte der westliche Mensch viele bedeutsame Aspekte seines Wesens, die vom Gesichtskreis der quantitativen wissenschaftlichen Forschung nicht erfaßt wurden. Wenn der heutigen Generation das Gefühl dieser Befreiung abhanden gekommen ist, dann deswegen, weil die Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts allzubald den Geist in eine Ideologie einsperrte, die die Realitäten biologischer Selbstveränderung und historischer Kreativität leugnet.

Während andere Kulturen – die sumerische, die Maya- und die indische Kultur – das menschliche Schicksal mit langen Perspektiven abstrakter kalendarischer Zeit verbanden, bestand der wesentliche Beitrag der Renaissance darin, die Beziehung zwischen den kumulativen Resultaten der Geschichte und der Vielfalt der kulturellen Errungenschaften herzustellen, die die aufeinanderfolgenden Generationen kennzeichneten. Durch Ausgrabung von Statuen, Monumenten, Gebäuden, Städten, durch das Studium alter Bücher und Inschriften, mit dem Wiedereintritt in eine längst aufgegebene Gedankenwelt, erkannten diese Entdecker mit der Zeit neue Möglichkeiten ihrer eigenen Existenz. Diese Pioniere des Geistes erfanden eine Zeitmaschine, die wunderbarer war als H.G. Wells' technologische Utopie.

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In einem Augenblick, da im neuen mechanischen Weltbild die Zeit nur als Funktion der Bewegung im Raum begriffen wurde, begann der historische Zeitbegriff – im Bergsonschen Sinn der Dauer, die Bestand durch Wiederholung, Nachahmung und Gedächtnis einschließt – eine Rolle als Bewußtseinsfaktor in den tagtäglichen Entscheidungen zu spielen. Wenn die lebendige Gegenwart in kurzer Zeit umgewandelt oder zumindest der gotische Stil bewußt durch einen klassizistischen ersetzt werden konnte, dann mußte auch die Zukunft sich umformen lassen. Die historische Zeit konnte kolonisiert und kultiviert werden, die Kultur selbst wurde zu einem kollektiven Artefakt. Die Wissenschaft profitierte von dieser Geschichtsrestauration und erhielt neue Impulse von Thales, Demokrit, Archimedes und Hero von Alexandrien.

Zum ersten Mal erschien die Zukunft, so unbekannt sie auch war, attraktiver als die Vergangenheit, und das Experimentelle, Neuartige erhielt Vorrang vor dem Erprobten und Traditionellen. Selbst ein Mönch wie Campanella, im Herzen der Kirche, gab diesem neuen Gefühl in einem Brief an Galilei klassischen Ausdruck: »Die Entdeckung alter Wahrheiten, neuer Welten, neuer Systeme und neuer Nationen ist der Beginn eines neuen Zeitalters.«

Das Traumbild einer Neuen Welt, das nach dem fünfzehnten Jahrhundert in so vielen Formen vom westlichen Menschen Besitz ergriff, war also ein Versuch, der Zeit und ihren kumulativen Wirkungen (Tradition und Geschichte) zu entfliehen, indem man sie gegen unbesiedelten Raum eintauschte. Dies geschah in vielen Formen: in religiöser, indem man aus der Kirche und ihrer Orthodoxie ausbrach, in utopischer, durch die Errichtung neuer Gemeinschaften, in abenteuerlicher, durch Eroberung neuer Gebiete, in technischer, indem man Organismen durch Maschinen ersetzte und organische Veränderungen, in denen die Zeit dauernde Spuren hinterläßt, gegen physische eintauschte, in denen sie sich nur als Abnützung manifestiert; schließlich nahm die Neue Welt eine revolutionäre Form an: als ein Versuch, Lebensweise, Gewohnheiten und Ziele einer großen Bevölkerung umzuformen und alle jene Fluchtarten mehr oder weniger in einem einzigen Komplex zu verbinden – in dem neuen Himmel auf Erden, der entstehen würde, sobald Königtum, Feudalismus, Kirche und Kapitalismus verschwunden wären.

Dieser Versuch, einen neuen Anfang zu machen, beruhte auf der wertvollen Erkenntnis, daß an verschiedenen Punkten der menschlichen Entwicklung etwas grundlegend fehlgegangen war. Anstatt dies als unabänderlich, als integrales Gebrechen zu akzeptieren, das die Theologie Erbsünde genannt hat, und anstatt sich dem als göttlicher Fügung zu unterwerfen, wollte der westliche Mensch in seinem wachsenden Selbstvertrauen reinen Tisch machen und von neuem beginnen. Und darin lag eine Falle; denn um die Zeit zu überwinden, um neu zu beginnen, durfte er nicht vor seiner Vergangenheit davonlaufen, sondern mußte ihr mutig ins Auge sehen und ihre traumatischen Momente buchstäblich in sich selbst überwinden.

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 Solange nicht jede Generation dies bewußt tat und ihre ehrwürdige Tradition im Lichte neuer Erfahrung überprüfte, jeden Teil ihres Erbes wog und sorgfältig auswählte, konnte der Mensch keinen neuen Anfang setzen. Manch einer unternahm diesen Versuch; doch wurde er zu früh aufgegeben. So bleibt er eine dringliche Aufgabe unserer Zeit.

 

  Äußere Konflikte und innere Widersprüche 

 

Stets gibt es einen Abstand zwischen idealen Zielsetzungen und tatsächlichen Errungenschaften, zumindest einen zeitlichen Abstand. Dies gehört zur natürlichen Geschichte menschlicher Institutionen und darf nicht Anlaß zu billigem Zynismus sein. Dort, wo es um die Kluft zwischen dem strahlenden Traum von der Neuen Welt und seiner Verwirklichung geht, sind die Widersprüche so zahlreich und die Errungenschaften so befleckt und beschmutzt, daß sie fast jeder systematischen Behandlung trotzen. Die Schwierigkeit entspringt zum Teil der Tatsache, daß die Entdecker und Abenteurer eine starke Dosis von Wesenszügen der Alten Welt mit sich führten, von denen viele sich im Laufe der Jahrtausende als unheilvoll erwiesen hatten, ohne daß man ernstlich versucht hätte, sie auszumerzen. Weder die räumliche Trennung von der Alten Welt noch der Bruch mit der Vergangenheit erwies sich als leichtes Beginnen.

Rückschauend erkennen wir jetzt, daß der Plan, reinen Tisch zu machen und in der Neuen Welt von vorn zu beginnen, auf einer Illusion beruhte, oder besser gesagt, auf einer Reihe von Illusionen. Wie in dem typischen Mythos von Robinson Crusoe, dieser Bibel sowohl des Landpioniers als auch des Industrieunternehmers, war ein Überleben in der Neuen Welt nur möglich, wenn man aus dem Wrack der Alten Welt wertvolle Trümmer und Geräte zu retten vermochte. Bei der Eroberung des amerikanischen Kontinents und der Errichtung von Handelsstützpunkten und Kolonien anderswo, vom Kap der Guten Hoffnung bis Java, konnten die Eindringlinge sich nur dank der neuen Technologie behaupten, mit ihren Gewehren, Stahlmessern, Macheten und Metall­werkzeugen jeglicher Art. Von Anfang an wurden sie von der technischen Neuen Welt getragen; und mit jeder neuen Erfindung waren sie der Maschine stärker verpflichtet; denn mit dem Kanal, dem Dampfschiff, der Eisenbahn und den Telegraphen rückten die beiden Neuen Welten immer näher zusammen. Je reicher die Niederlassungen der Neuen Welt wurden, desto weniger Verwendung hatten sie für ihre eigene primitive Basis, einst hoch geschätzt, später sentimental überbewertet.

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In den Vereinigten Staaten war dieser Widerspruch zwischen Idealziel und Tat charakteristisch für das Vordringen der Pioniere nach dem Westen; man findet ihn sogar in der Lebensgeschichte Audubons, eines Mannes, der von tiefer Liebe zur Wildnis durchdrungen war und sein ganzes Leben der Beobachtung und Beschreibung der Vögel und Säugetiere Nordamerikas widmete — dessen Vorhaben aber fast daran gescheitert wäre, daß er sein gesamtes Vermögen in eine Dampfsägemühle steckte, ein übereiltes Unternehmen, das ihn zum Bankrott führte. Die Einwanderer, die auf der Suche nach Unabhängigkeit und Freiheit den Küstensiedlungen den Rücken kehrten, forderten nicht bloß aktive Hilfe von der Zentralregierung, um Kanäle, Straßen und Eisenbahnen zu bauen; sie nahmen auch Bundestruppen in Anspruch, um ihre Siedlungen zu beschützen und die Eingeborenen, die ihnen im Weg standen, zu verdrängen, zu enteignen und, wenn sie Widerstand leisteten, auszurotten. Was waren die Indianer-Reservate denn anderes als frühe Konzentrationslager?

Glaubten die Philosophen der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert, Diderot nicht minder als Rousseau, an das natürliche Gute im Menschen, so haben die Verhaltensweisen bei der Eroberung der Neuen Welt oft die biblische Wahrheit demonstriert: »Das Dichten des menschlichen Herzens ist übel von Jugend auf.« Auch für den Menschen der Neuen Welt galt, was Jehova zu Noah und dessen Söhnen sagte: »Euer Furcht und Schrecken sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel unter dem Himmel..... und über alle Fische im Meer; in eure Hände seien sie gegeben.«

Auf Amerika bezogen, klingen diese alten Weisheiten wie ein böses Omen, dessen Bedeutung einer der größten Welterforscher, Alexander von Humboldt, uns eindringlich nahebrachte, als er schrieb, im Paradies der amerikanischen Wälder wie auch anderswo habe die Erfahrung alle Lebewesen gelehrt, daß Macht selten mit Güte Hand in Hand gehe. Diese Feststellung hat allgemeine Gültigkeit. Und doch konnte in unserem Jahrhundert der amerikanische Historiker Walter Webb eine Geschichte des amerikanischen Grenzlands schreiben, die von manchen bedeutenden Gelehrten als klassisches Werk angesehen wird, und darin den Beitrag des Grenzlands zu Reichtum, Freiheit und Macht unterstreichen, aber die Sklaverei nur nebenbei in zwei Sätzen erwähnen.

Dennoch brachten die Entdeckungen echte ökonomische und auch kulturelle Gewinne, und es wäre falsch, sie zu bagatellisieren oder die mit ihnen verbundenen technologischen Fortschritte zu unterschätzen. Trotz allen Irrtümern und Missetaten erkannte der moderne Mensch zum ersten Mal den Planeten, den er bewohnte, als Ganzes mit all seinem Reichtum und all seiner Mannig­faltigkeit an Natur- und Lebensformen, kulturellen Errungenschaften und ökologischen Beziehungen. Selbst der brutalste Walfischfang brachte nicht nur Tran und Fischbein ein, sondern Kenntnisse über Klimaverhältnisse und Meeresströmungen, über tropische Früchte und Pflanzen, über Indianer, Polynesier und Mikronesier, die ein anderes Leben führten, in einem anderen Tempo und für andere Zwecke lebten als die Erben der Snivelisation, wie Melvilles Romanfigur Jackson sie nennt.

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Durch die Entdeckungsreisen wurde der abstrakte Kosmos von Raum, Zeit und Schwerkraft, den die Wissenschaft mit ihren Instrumenten auf eigene Faust konstruiert hatte, konkretisiert und mit Leben erfüllt. In dem Maße, als der Siedlungsbereich sich erweiterte, wuchsen Staunen und Entzücken über die Gaben der Natur; war der Planet einmal erschlossen, so erwies sich die Menschheit als weitaus reicher, als die Stubenhocker je angenommen hatten. Bei der Erforschung des Orinoco-Dschungels gerät Humboldt ganz außer sich: In drei Monaten hat er 1600 Pflanzen gesammelt und 600 neue Arten gefunden!

Wie nie zuvor, so scheint es, ergriff den westlichen Menschen neue Wißbegier, neue Entdeckerleiden­schaft, neue Freude am Ausgraben seltener Minerale, an der Bestimmung seltener Pflanzen, an der Erprobung exotischer Früchte und am Sammeln ihrer Samen. Die alte paläolithische Suche, mit ihrem Entdecken und Pflücken, ihrem Erforschen und Sammeln, ihrem Kosten und Probieren, begann in großem Maßstab von neuem. In Nordamerika war der Himmel schwarz von Zehntausenden Wandertauben; in der Prärie wuchsen die Erdbeeren so dicht, daß die Fesseln der Pferde, wie ein Reisender berichtete, blutbedeckt schienen. Denn der Mensch der Neuen Welt war vor allem ein Schatzsucher; und als Nahrungssammler hatte er Appetit auf Wild und auf Dinge mit Wildgeschmack. Schon vor A.R. Wallace hatte Audubon alle Vögel, die er tötete, gekostet und probiert; und er berichtet, daß ihm das Fleisch von Spechten nicht schmeckte, weil sie sich von Ameisen ernähren; Silbermöven seien zu salzig, aber Stare seien delikat.

Und wieder untersuchte der westliche Mensch aufmerksam und gründlich, was unter seinen Füßen lag; er suchte nicht nur nach Mamoradern oder Gold- und Silberlagern, sondern auch nach Kohlenflözen, Erdöltümpeln und Eisenerzminen; und im Zuge dieser Forschungstätigkeit entdeckte und untersuchte er Knochen, zu deren Identifizierung es ihm vorher an Scharfsinn oder an wissenschaftlicher Qualifikation gefehlt hatte — so etwa Elefantenknochen in Sibirien, wo bis dahin über wild vorkommende Elefanten nichts bekannt gewesen war. Als er weiter Ausschau hielt, fand er in ungeheuren Mengen Überreste von Reptilien, die, wie er später erkannte, Äonen vor dem Auftauchen der Säugetiere die Erde bevölkert hatten.

Obwohl diese verstreuten Funde noch nicht zusammengetragen und von den empirischen und historischen Wissenschaften in ein sinnvolles System gebracht werden konnten, ist es unmöglich, die Geschichte der technischen und wissenschaftlichen Fortschritte vom sechzehnten Jahrhundert an richtig zu erzählen, geschweige denn zu beurteilen, ohne auf die gründliche Erforschung des Erdinneren einzugehen —

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 eine Erforschung, deren Ende noch gar nicht abzusehen ist, da wir erst begonnen haben, in die Tiefen der Erde und des Meeres einzudringen und die riesige, aber lange Zeit unsichtbare Welt der Mikro­organismen in Betracht zu ziehen. Alle unsere vielseitigen technischen Fortschritte mit der Erfindung des mechanischen Webstuhls, der Dampfmaschine und ähnlichen mechanischen Vorrichtungen abzutun, heißt einen großen Teil selbst des utilitären Fortschritts übersehen.

Vom sechzehnten Jahrhundert an wog die Akkumulation unmittelbarer Kenntnisse über die Natur die zunehmenden Kapital­investitionen in Schiffe und Bergwerke, Werkstätten und Fabriken mühelos auf; und wer kann sagen, was höheren Gewinn brachte? 

Viele der besten Köpfe unter den Gelehrten schlossen sich dieser Suche an. Leonardo da Vinci, der in den toskanischen Bergen Fossilien fand, legte den Grundstein sowohl zur Geologie als auch zur Evolutionstheorie, denn er vermutete, daß dort, wo man Muscheln findet, einst der Ozean, in dem sie gelebt haben, das Land bedeckt haben muß; Dürer wieder sammelte, laut Panofsky, Knochen, Muscheln und seltsam geformte Nüsse, seltene Pflanzen und Steine; und viele seiner Zeitgenossen legten ähnliche Sammlungen an. Auch hier hatte das Mittelalter den Anfang gemacht, natürlich in der Form der ihm eigenen transzendentalen Ideologie; denn was waren die Reliquien von Heiligen, Haar- und Knochenteilchen, Kleiderfetzen, Phiolen mit Blut, Holzsplitter vom wahren Kreuz anderes als Beispiele derselben wahllosen Sammelwut – und auch derselben Begeisterung für die Zauber und Wunder des Lebens in seinen höchst konkreten, wenn auch abergläubisch mißverstandenen Manifestationen.

Im fünfzehnten Jahrhundert wurden Sammlungen dieser Art weltlich, und die Sammler stellten ihre Kuriositätenkabinette zur Schau, die ständig zunahmen und sich vergrößerten, bis sie zu jenen öffentlichen Institutionen wurden, die wir heute Museen nennen. Die frühe Tradescant-Sammlung wurde berühmt, ebenso die Sammlung von Sir John Soane, einem Londoner Architekten im achtzehnten Jahrhundert, mit ihrer großen Auswahl architektonischer Objekte. Sammlungen von Fauna und Flora in zoologischen und botanischen Gärten wetteiferten damals mit solchen lebloser Objekte. Die Reisen Captain Cooks in den Pazifischen Ozean — bezeichnenderweise ursprünglich zum Zweck astronomischer Beobachtung des Durchgangs der Venus geplant — erbrachten eine Fülle botanischer und anthropologischer Informationen, desgleichen Darwins berühmte Reise auf der Beagle. Cook berichtete, daß seine wissenschaftlichen Begleiter, Banks und Solander, selbst im kargen Feuerland von der Küste »mit mehr als hundert verschiedenen Pflanzen und Blumen, die den Botanikern Europas alle völlig unbekannt sind«, zurückkehrten.

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In ihrer Fixierung auf die Erfolge der physikalischen Wissenschaften und der damit verbundenen Technologien übersahen die Gelehrten des viktorianischen Zeitalters und viele ihrer späteren Nachfolger die immense Bedeutung der neuen Entdeckungen für die spätere Entwicklung der Industrialisierung. Die Wissenschaften von den Organismen - Zoologie, Botanik, Paläontologie - mit ihrer gründlichen Bestandaufnahme von Formen und Arten galten weniger als jene, die in das abstrakte System der Mathematik, Mechanik und Physik fallen. Doch es ist an der Zeit, diese einseitige Betrachtungsweise zu revidieren: An jedem Punkt der Entwicklung waren beide Wissenschaftsarten, sowohl die konkrete, empirische und historische als auch die abstrakte, mathematische und analytische, notwendig, um ein adäquates Bild der Wirklichkeit zu geben. Vielleicht haben die Sucher und Sammler den Lebensbedürfnissen sogar besser gedient als die Erzeuger und Verarbeiter.

Kurz, noch lange bevor das Zeitalter der Erdentdeckung mit einigen wagemutigen Taten, etwa der Besteigung des Mount Everest oder der Identifizierung (Entdeckung) des Nordpols und des Südpols einen Höhepunkt an Nutzlosigkeit erreichte, hatten Abenteurer und Schatzsucher, Bergleute, Jäger und Sammler, Geologen, Botaniker und Zoologen begonnen, ein Bild von der Erde zusammenzusetzen, das diese zum ersten Mal nicht bloß als Aufenthaltsort des Menschen, sondern als Sitz der organischen Evolution und als Heimat, als einzigartige, wunderbare Heimat des Lebens überhaupt, in all seiner konkreten Unermeßlichkeit und Mannigfaltigkeit, zeigte. Sie brachten vergangene Leistungen ans Licht, die lange verschüttet gewesen waren, und die Archäologen und Paläoanthropologen der letzten hundert Jahre vervollständigten diese Entdeckungen. Ohne diese Forschungs­tätigkeit, die dem Menschen eine bis dahin unbekannte Vergangenheit enthüllte und damit noch größere Möglichkeiten für die Zukunft eröffnete, wäre der Sinn des Menschen für seine Würde und sein Schicksal stets von den astronomischen Entdeckungen des sechzehnten Jahrhunderts überschattet worden.

In historischer Sicht sollte der kulturelle Gewinn aus den großen Entdeckungen schwerer wiegen als die unmittelbaren materiellen Gewinne, die der Tausch von Perlen und Schmuck gegen Pelze, Felle und Elfenbein oder die Beherrschung der Märkte verfallender Reiche einbrachte. Der wirtschaftliche Reichtum, der sich aus der Erschließung unermeßlicher Weiten fruchtbaren Bodens, aus der Abholzung riesiger Wälder und aus der Ausbeutung von Mineralvorkommen aller Arten ergab, ist natürlich unbestreitbar; aber alle diese Fortschritte setzten nur — wenn auch in rascherem Tempo — eine Entwicklung fort, die bereits im Mittelalter begonnen hatte und bis zum neunzehnten Jahrhundert vom Weizen, vom Mais und von der Baumwolle der Neuen Welt oder von der australischen Wolle kaum beeinflußt wurde.

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Auf lange Sicht war es der kulturelle Austausch, der sich als wichtig erweisen sollte, und es war die mangelnde Bereitschaft des westlichen Menschen zu kooperativem Verkehr in beiden Richtungen — sein Egoismus, seine Eitelkeit, seine Abneigung, von jenen zu lernen, die er besiegt hatte, und nicht zuletzt seine kaltblütige Grausamkeit —, die viele potentielle Vorteile der Entdeckungen faktisch zunichte machte.

Selbst vom Standpunkt der industriellen Entwicklung mußte der westliche Mensch den ganzen Planeten erforschen, um vollen Gebrauch von dessen technologischem Potential zu machen. Turgot glaubte im achtzehnten Jahrhundert, daß Europas Mission, die Welt zu kolonisieren und zu zivilisieren, ein notwendiges Erfordernis für seine eigene Entwicklung war; und dieser Glaube, betont Frank Manuel, wurde sogar von späteren Reformern, wie Condorcet und Saint-Simon, geteilt. Und obgleich der westliche Mensch dieses Ziel mit der Zeit erreichte, wäre er vermutlich weit erfolgreicher gewesen, hätte er den Kulturen, die er zerschlug und zerstörte, mehr Aufmerksamkeit geschenkt; denn indem er sie zerstörte, reduzierte er sein eigenes geistiges Kapital. Obwohl die Industrie des neunzehnten Jahrhunderts die Produkte der Neuen Welt nicht benötigte, um ihre neuen Maschinen herzustellen oder Kohle als Energiequelle zu benutzen — anfangs ganz im Gegenteil —, ermöglichten es die Beiträge der Neuen Welt — Mais, Kartoffel und Yamwurzel —, eine wachsende Anzahl von Arbeitern aus der Landwirtschaft in die Fabriken zu transferieren. Anderseits bot die Aufnahmebereitschaft der Neuen Welt für Textilien, billigen Schmuck, Glasperlen und Metallwaren die profitabelsten Absatzmöglichkeiten für die Massenproduktion.

Was unsere gegenwärtige Technologie den primitiven Gesellschaften verdankt, ist ungeheuer, selbst wenn man nur einen einzigen Beitrag in Betracht zieht: den des wenig bekannten Indianerstammes im Amazonasgebiet, der die Nützlichkeit der einheimischen Gummipflanze erkannt und nicht nur Gummibälle, sondern auch Spritzen und Regenmäntel produziert hatte, ehe er dem Weißen Mann begegnete. Keine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts ist bemerkenswerter als diese phantasievolle Verwendung des Gummi­baumsaftes: eine noch spektakulärere Leistung als die erste Metall- oder Glasgewinnung. Ohne diese primitive Ausbeutung der wilden Gummipflanze, deren botanische Verbreitung ursprünglich begrenzt war, besäße die moderne Welt weder natürlichen Gummi noch den künstlichen, für den der Naturkautschuk als Vorbild diente. Und ohne Gummi würde klarerweise jeglicher Kraftwagentransport zum Stillstand kommen. Ein anderer Beitrag der primitiven Kultur – die Chinarinde, Grundstoff des Chinins – ermöglichte es dem westlichen Menschen, in den malariaverseuchten Gebieten Amerikas, Afrikas und Asiens Fuß zu fassen.

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Insgesamt waren die letzten vierhundert Jahre des Suchens und Forschens für unsere technologische Entwicklung ebenso wichtig wie die Herstellung von Kraftmaschinen oder die Entwicklung elektrischer Kommunikation. Indem man die industrielle Revolution hauptsächlich als eine Angelegenheit von Kohle, Eisen und Dampf betrachtete, unterschätzte oder verkannte man die Bedeutung jenes Suchens. Aber auf jedem Kontinent kommt jeweils nur ein kleiner Teil der Metalle und seltenen Erden vor, die für eine fortgeschrittene Technik nötig sind: Magnesium, Chrom, Thorium, Wolfram, Platin, Iridium, Aluminium, Helium, Uran, gar nicht zu sprechen von Erdöl und Kohle, sind auf unserem Planeten ungleich verteilt. Die Entdeckung dieser Elemente durch Chemiker und die Erschließung dieser Ressourcen waren die notwendige Voraussetzung für jedes erweiterte System von Erfindung und Herstellung. Selbst heute, trotz der an Wunder grenzenden Leistungen der synthetischen Chemie, die Moleküle auf Bestellung erzeugt, nehmen Chemiker und Biologen die Praxis der systematischen Erforschung der Meere wieder auf und vermuten mit gutem Grund, daß die Meeresbewohner, von denen einige lange vor dem Menschen Hochspannungs­elektrizität produzieren lernten, noch viele andere wertvolle Geheimnisse bergen.

Einige dieser Erfindungen hatten freilich eine regressive Seite. Zwei der ältesten Pflanzen, der Schlafmohn und der Hanf – nicht neu entdeckt, aber im Zuge der Entdeckungen weiter verbreitet –, waren lange Zeit ein Fluch für den Menschen. Und obwohl die neuen Stimulantia Tee, Kaffee und Yerba-Mate weitgehend als Wohltat angesehen werden müssen - vielleicht sogar als aktiver Beitrag zur geistigen Regsamkeit Europas vom siebzehnten Jahrhundert an -, muß der weltweite Genuß von Tabak, nicht als zeremonieller Weihrauch wie bei primitiveren Völkern, sondern als chronische Sucht, wenn nicht als neurotischer Zwang, um des kommerziellen Profits willen bewußt gefördert, auf der Debetseite* gebucht werden. So verführte auch der Überfluß an Korn und Kartoffeln, der die Herstellung von Gin, Whisky und Wodka verbilligte, zu periodischen Trunkenheitsexzessen unter den Armen und Ausgebeuteten, die darin einen Ausgleich für die brutale industrielle Lebensordnung fanden.

Doch mit allen derartigen Einschränkungen und Abstrichen waren die Vorteile, die aus dieser weitreichenden territorialen Erforschung und aus dem Austausch erwuchsen, immens. Und viele dieser ungeheuren Vorteile hatten zunächst wenig der mechanischen Produktion zu verdanken; eher war es umgekehrt. Ohne die riesige Zunahme verfügbarer Bodenschätze, Rohstoffe und Nährpflanzen wären die Veränderungen, die für gewöhnlich allein den physikalischen Wissenschaften und den technischen Erfindungen zugeschrieben werden, verzögert worden oder in manchen Fällen gar nicht möglich gewesen. 

* (u2013):  Debetseite: Sicher Begriff aus der Buchhaltung; Ausgabenseite.

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Die Übersee-Entdeckungsfahrten des westlichen Menschen hatten noch eine andere, oft zu wenig beachtete Auswirkung: nämlich auf die Entwicklung der exakten Wissenschaften. Weite Seereisen, manchmal wochenlang ohne Land in Sicht, erforderten mehr als nur einen Mut, der an Tollkühnheit grenzte; schon die Wikinger und ihre hawaiischen Zeitgenossen dürften die Flugrichtung landbewohnender Vögel genau beobachtet und sich danach orientiert haben.

Die Navigation erforderte exakte Wissenschaft; die wichtigsten Vorgangsweisen der wissenschaftlichen Methode wurden erstmals auf hoher See ausgearbeitet. Es war das Bedürfnis des Seemanns nach astronomischer Information, nicht minder als das Bedürfnis nach astrologischen Horoskopen, das den europäischen Geist bewog, den Stand der Sonne und der Sterne genau zu messen. Und das Bedürfnis nach Sicherheit bei der Annäherung ans Festland, die Notwendigkeit, Lotungen vorzunehmen und die Messungen genau aufzuzeichnen, ließ bei den Seefahrervölkern die quantitative Beobachtung zur Gewohnheit werden; während die Notwendigkeit, auf Wetterveränderungen zu reagieren und sie wenn möglich vorherzusagen, zur ständiger Beobachtung der Wolken, der Winde und der Farbe und Bewegung des Wassers führte. Das Abstecken des Kurses und die Eintragung topographischer Daten auf Landkarten begründete die höhere Buchhaltung der Wissenschaft. Und schließlich war die Führung des Logbuchs, die prompte Aufzeichnung beobachteter Ereignisse, das exakte Vorbild für das Laboratoriums­notizbuch, während auch die ständige kartographische Korrektur hypothetischer und skizzenhafter Informationen durch unmittelbare Beobachtung der Methodologie der experimentellen Wissenschaften vorausging. 

Alle diese Verfahrensweisen wurden vom wissenschaftlichen Denken übernommen und weiterentwickelt. Die moderne Wissenschaft verdankt der Navigation nicht weniger als der kapital­istischen Buchhaltung; und auf dieser doppelten Grundlage entstand das abstrakte Gebäude, das im siebzehnten Jahrhundert mit der kosmischen Realität gleichgesetzt wurde.

 

Utopia der Neuen Welt

 

Anfangs schöpften die beiden Formen der Forschung, die geographische und die technologische, aus einer gemeinsamen Quelle, und lange Zeit blieben sie in ständiger Wechselwirkung. Einige Jahrhunderte lang hielt der westliche Mensch (oder zumindest eine aufgeweckte Minderheit) es für möglich, beiden Welten das Beste abzugewinnen. Heute haben wir genügend Abstand von den ursprünglichen Vorstellungen über die Neue Welt, die nur noch als Nachbilder fortleben, um zu sehen, daß sie tatsächlich viel Gemeinsames hatten.

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Beide Bewegungen zeichneten sich zunächst durch unverhohlene Feindseligkeit zur Vergangenheit aus — wenn auch nicht gleichermaßen zu allen Teilen der Vergangenheit: Sie bekannten sich offen zur Diskontinuität, wenn nicht gar zu totaler Zerstörung. Im achtzehnten Jahrhundert waren diese kontrastierenden Haltungen in Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot konzentriert; jener verherrlichte das Primitive, Unkomplizierte, die alte Lebensweise des Bauernvolkes, verachtete formalisierte Ordnung und bevorzugte Spontaneität und Einfachheit; der andere sehnte sich persönlich zwar nach der unbefangenen sexuellen Freiheit der Polynesier, vertraute aber mehr der Intelligenz als den Instinkten und natürlichen Gefühlen und erforschte eifrig die Entwicklung mechanischer Erfindungen und Produktions­methoden. Die Tatsache, daß diese beiden Männer zuerst Freunde waren, unterstreicht nur ihre symbolischen Rollen.

Beiden Einstellungen zur Vergangenheit lag ein Gefühl zugrunde, das schon in früheren Zeiten, vor allem im sechsten vorchrist­lichen Jahrhundert, aufgetaucht war, nämlich das Gefühl, daß die formale Zivilisation irgendwie fehlgegangen sei, und daß ihre erfolgreichsten Institutionen die volle Entfaltung des Menschen eher verzögert und beschränkt als gefördert hätten, obwohl sie große kollektive Arbeitsorganisationen ermöglichten, die die Umwelt veränderten und den Geist anregten — Unternehmen, an welche keine Stammesgemeinschaft und kein Dorf sich jemals herangewagt hätte.

Der Staat, die offizielle Religion, die Bürokratie, die Armee, — diese aufstrebenden Institutionen waren tatsächlich imstande, große konstruktive Transformationen der Umwelt zu bewirken, aber der Mensch mußte für ihre Erfolge einen hohen Preis zahlen: Klassenstruktur, lebenslange Festlegung auf einen Beruf, Monopol auf Grundbesitz, auf wirtschaftliche und Bildungschancen, Ungleichheit in Eigentum und Rechten, die chronischen Schrecken von Sklaverei und Krieg, die Ängste, Wahnvorstellungen und paranoiden Ambitionen der herrschenden Klassen, die in Massenzerstörungen und -morden gipfelten. Kurz, ein Alptraum. Diese permanenten Fehlwirkungen von Macht und Organisation hoben alles auf, was zugunsten des Systems gesagt werden konnte, und stellten — zumindest bei den Unterdrückten und Versklavten — den Wert der Zivilisation selbst ernstlich in Frage.

Diese Zweifel bestärkten die Auffassung, daß die Menschen glücklich, tugendhaft und frei werden könnten, würden nur die alten Institutionen und Strukturen der Zivilisation zerstört. Rousseau drückte diese Idee in ihrer extremsten Form in seinem Essay für den Preis der Akademie von Dijon aus, in dem er die demoral­isierenden Wirkungen von Kunst und Wissenschaft geißelte, also von jenen Elementen der Zivilisation, an denen die Menschen am wenigsten zweifelten.

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Die Auffassung, daß viele Aspekte der Zivilisation tatsächlich nicht wohltuend, sondern schädlich sind, war in der einen oder anderen Weise schon in den axialen Religionen und Philosophien zum Ausdruck gekommen und hatte die Form der Sehnsucht nach einer einfacheren Lebensweise angenommen — einer Rückkehr ins Dorf, in den Bambushain, in die Wüste, mit dem Wunsch, sich von den Zwängen und der harten Reglementierung zu lösen, welche die Megamaschine als Preis für Wohlstand, »Frieden« und Sieg im Krieg verlangt.

Waren die traumatischen Wirkungen der Zivilisation erst einmal erkannt – so lehrten die älteren Propheten –, dann konnte man wiedergeboren werden und das Leben auf einer gesunden Basis neu beginnen, indem man der sterilen Tradition trotzte, neue Gesetze schuf, fremde Gegenden erforschte und alte Beschränkungen abwarf. Diese Impulse fanden ihre Bekräftigung in der großen Wanderung in die Wildnis, die die Besiedlung der Neuen Welt kennzeichnete; die Pioniere ließen notgedrungen die Zivilisation hinter sich und handelten, wie Longfellow sagte, so, »daß jedes Morgen uns ein Stück weiter findet als heute«. Diese Flucht stand leider nur einer wagemutigen Minderheit offen.

Die Vorstellung vom »Fortschritt durch Fortbewegung« verband seltsamerweise die ruhelosen Grenzland­bewohner der Neuen Welt mit den Pionieren der Technik, die in den letzten dreihundert Jahren keinen geringen Teil ihrer Energien der Beschleunigung jeder Form von mechanischer Beförderung gewidmet haben. »Je schneller die Bewegung, desto größer der Fortschritt« galt als Axiom. Hinter beiden Bemühungen stand der Glaube, daß »weiter« nicht nur weiter weg im Raum, sondern weiter weg von der Vergangenheit bedeute. Die Bewegung, die unter dem Einfluß Rousseaus und seiner Nachfolger entstand, strebte, insofern sie eine primitive Umgebung und einfache Lebensformen suchte, eine Rückkehr zu einer bewußt archaischen Existenz an; es war letztlich ein Versuch, wieder ganz von vorn zu beginnen, an jenem Punk der paläolithischen und neolithischen Kultur, wo die neuen Institutionen der Zivilisation die kleinen verstreuten Ackerbaugemeinschaften noch nicht besiegt und überwältigt hatten.

Eine kurze Zeit, nicht ganz ein Jahrhundert lang, sah es so aus, als könnte dieser Versuch zu einem Teilerfolg führen; und selbst als er an den neuen Kräften der Industriegesellschaft scheiterte, hinterließ er im amerikanischen Leben Spuren, die noch nicht gänzlich verschwunden sind – man findet sie heute in der Naturschutzbewegung und in den Bemühungen, wenigstens einen letzten Rest der Urwildnis zu erhalten.

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Die Belege für diesen kurzlebigen Erfolg sind allen Historikern der Pioniersiedlungen bekannt. Dort waren die Klassenunterschiede, die Reglementierung, die legalisierte Ungleichheit der Institutionen der Alten Welt, wenn auch nicht gänzlich abwesend, so doch zumindest nur ansatzweise und zeitweilig vorhanden. Nicht nur war die politische Macht, die unter dem Königtum und im Feudalismus willkürlich ausgeübt wurde, durch die repräsentative Regierungsform eingeschränkt, sondern es gab, zumindest in Neu-England, die gesunde Entwicklung einer Kommunalautonomie, gleichermaßen in den von den Gemeinden verwalteten Kirchen, in den freien Schulen und Büchereien und in der Bürgerversammlung, die die lokalen öffentlichen Angelegenheiten regelte. Die Menschen lebten in kleinen, sich zum Teil selbst erhaltenden Gemeinschaften, wo jedes Mitglied gezwungen war, auf die Hilfe seines Nachbarn zu zählen, ob es nun darum ging, ein Dach zu errichten, Mais zu enthülsen oder, etwa in einem Bergarbeiterlager, sich gegen Desperados zusammen­zuschließen; so schienen sie eine Zeitlang einen Weg gefunden zu haben, um die von der Zivilisation eingeführte einseitige Klassen­ausbeutung zu überwinden. Selbst die ökonomische Arbeitsteilung neigte unter diesen Bedingungen zum Verschwinden.

Der Linguist und Geograph George Perkins Marsh, einer der außergewöhnlichen Denker, die aus diesem Milieu hervor­gegangen sind, bemerkte in einer Vorlesung über die englische Sprache: 

»Abgesehen von rein technischen Dingen, und selbst da nur unvollkommen, haben wir das Prinzip der Arbeitsteilung in einem geringeren Maße übernommen als jede andere moderne zivilisierte Nation. Jedermann ist Dilettant, wenn auch kein Meister, in jedem Wissenschaftsbereich. Jedermann ist Theologe, Arzt und Rechtsanwalt für sich selbst und ein Berater für seine Nachbarn, in allen Dingen, mit denen diese Wissenschaften sich befassen.«

Marsh hat diesen Zustand weder übertrieben noch idealisiert. Eine kurze Zeit, etwa von 1800 bis 1860 oder spätestens 1880, schien es, daß die Prinzipien Rousseaus und Diderots, zumindest in einigen begünstigten Gebieten, tatsächlich miteinander vereinbart werden könnten: Romantiker und Utilitaristen lernten, Seite an Seite zu leben und nicht nur zu koexistieren, sondern auch gemeinsam zu prosperieren. Die für diese Periode typischen Persönlichkeiten schreckten nicht vor Wissenschaft, technischer Erfindung oder industrieller Organisation zurück; im Gegenteil, sie fügten alle diese neuen Möglichkeiten in den Rahmen eines breiteren Lebens ein, welches das natürliche und das humanistische Erbteil des Menschen einschloß. Thoreau beispielsweise liebte die Natur, erforschte jeden Wald, jedes Feld und jedes Flußufer rings um Concord und förderte zugleich sein Familienunternehmen, eine Bleistifterzeugung, indem er ein neues Verfahren zur Reinigung von Graphit anwandte, das er in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gefunden hatte.

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Die gleiche harmonische Aufgeschlossenheit charakterisiert und verbindet die anderen geistigen Führer dieser Neuen Welt: Audubon, Olmsted, Emerson, Marsh, Melville, Whitman. Sie waren weder Einsiedler noch Primitive; aber sie hatten zumindest im Geist die abgetragenen, beschmutzten Kleider aller früheren Zivilisationen abgeworfen.

Dieses Utopia der Neuen Welt, dieses gelobte Land, wurde bald von der Asche und Schlacke begraben, die im neunzehnten Jahrhundert über die westliche Welt hereinbrachen, durch das Wiederaufleben und die Intensivierung all der Kräfte, die ursprünglich die »Zivilisation« ins Leben gerufen hatten. Der Aufstieg des zentralistischen Staates, die Ausbreitung der Bürokratie und die allgemeine Wehrpflicht, die Reglementierung durch das Fabriksystem, die Raubzüge der Finanzspekulanten, die Expansion des Imperialismus, etwa im Mexikokrieg, und das Fortbestehen der Sklaverei – all diese negativen Erscheinungen besudelten nicht nur den Traum von der Neuen Welt, sondern brachten, in größerem Maßstab als je zuvor, die Alpträume der Alten Welt zurück, denen zu entfliehen die Amerika-Auswanderer ihr Leben riskiert und auf ihre Kulturschätze verzichtet hatten.

Als Resultat dieses Rückschlages verdrängte die mechanische Neue Welt die romantische Neue Welt im menschlichen Geist; diese wurde zu einem bloßen Traum und stellte keine ernsthafte Alternative zur existierenden Ordnung mehr dar. Denn in der Zwischenzeit war ein neuer Gott aufgetaucht, hatte eine neue Religion vom Menschen Besitz ergriffen; und aus dieser Verbindung erwuchs das neue mechanische Weltbild, das mit jeder neuen wissenschaftlichen Entdeckung, jeder neuen erfolgreichen Erfindung sowohl die natürliche Welt als auch die Symbole menschlicher Kultur durch eine Umwelt ersetzte, die einzig auf das Maß der Maschine zugeschnitten war. Diese Ideologie gab der denaturierten und entmenschlichten Umwelt Vorrang, in welcher der neue technische Komplex gedeihen konnte, ohne daß andere menschliche Interessen und Werte, außer eben jene der Technologie, sie begrenzten. Allzubald hatte ein großer Teil der Menschheit vergessen, daß je eine andere Art von Umwelt oder eine andere Lebens­weise existiert hatte.

 

Der Gegensatz zum Naturalismus des Mittelalters 

 

Um den Charakter dieser ideologischen Transformation zu verstehen, muß man sie der Denkweise gegenüber­stellen, die in Europa am Ende des Mittelalters vorherrschte. Was das Mittelalter an rudimentärem Wissen besaß, abgesehen von den Grundkenntnissen in Geometrie und Astronomie, wurde durch die medizinischen Schulen vermittelt, angefangen von der einfluß­reichsten, der von Salerno. Außer den unmittelbaren Kenntnissen vom Organismus, die Ärzte notwendigerweise haben, äußerte sich der Wunsch nach Kenntnis der Natur in einer Reihe von Fragen, fast aufs Geratewohl gestellt, über die Welt der Natur.

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Brian Lawn bemerkt in seiner Abhandlung über die Fragen von Salerno — in der er sich auf ein spätes Manuskript bezieht, das aus der Zeit um 1300 zu stammen scheint —, daß, obwohl diese Fragen sich aus vielen alten Quellen herleiten, »nicht mehr als zehn sich mit abstrakter aristotelischer Physik und Metaphysik befassen, und nur zwei mit der Seele oder dem Intellekt«. Insgesamt sind die Fragen, betont er, »fast zur Gänze auf weltliche Themen beschränkt, wie Anthropologie, Medizin, Botanik, Mineralogie und alchimistische Experimente, Meteorologie und Geographie ... Die Betonung liegt auf dem Experiment und der Alchimie«.

en.wikipedia  Brian_Lawn  *1905 bis 2011

Nur die wissenschaftliche Höflichkeit bewog Lawn, diese Fragen in das einzureihen, was heute die entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen wären, denn von der positiven Wissenschaft war man noch Jahrhunderte entfernt. Die Fragen reichen von »Warum wiederholt das widerhallende Echo Worte?« und »Warum gibt es im hohen Alter noch Schlafbedürfnis?« bis zu »Wie kommt es, daß Milch oder Fisch in Nahrung verwandelt wird?«, »Warum zügelt das wilde Einhorn seinen grimmigen Zorn in der Umarmung der Jungfrau?« oder »Was verursacht Regen, Wind und hochschwebende Wolken?«

Diese Fragen kennzeichnen einen Geist, der eben erst begann, sich der natürlichen Welt bewußt zu werden, noch verworren, noch unfähig, sich zu orientieren, noch weitgehend, selbst in der Fragestellung, von der griechischen und römischen Tradition beeinflußt. Man vergleiche diese Fragen mit den exakten Antworten der Künstler des Mittelalters: Dies ist Efeu, das ein jagender Hund, dies ein mähender Landmann, das ein schlauer alter Priester. War das Denkvermögen in beiden Fällen durch des Fehlen eines abstrakten Systems und einer abstrakten Methode behindert, so war der Künstler doch der Natur und einer auf der Natur basierenden Wissenschaft näher als der gebildete Gelehrte, der diese willkürlichen Fragen in lateinische Verse faßte.

Nicht, daß dem mittelalterlichen Geist die Fähigkeit abging, mit Abstraktionen umzugehen — ganz im Gegenteil. In Science und the Modern World betont A. N. Whitehead, selber ein hervorragender Mathematiker und Philosoph, daß das hochentwickelte abstrakte Denken christlicher Theologen, mit ihrem tiefen Glauben an eine geordnete, kohärente und verständliche Welt, die denkbar stärkste Untermauerung für rationale Wissenschaft bot, da die scholastische Theologie nicht nur eine entsprechende Rationalität im Universum annahm, sondern auch dem Forscher, der diese als gegeben voraussetzte, seinen letztlichen Erfolg zusicherte. Was das von den Scholastikern entwickelte System der logischen Abstraktionen von denen unterscheidet, die spätere Wissenschaftler entwickelten, ist, daß die reale Welt für das mittelalterliche Denken die unsichtbare Welt war: jene, für die alles irdische Leben nur eine Vorbereitung darstellte.

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Das elementare Interesse der axialen Religionen für Tod, Nichtsein, Leben nach dem Tode machte diese religiösen Abstraktionen ungeeignet für unmittelbare Anwendung auf die Technologie — obwohl die großen Denker jener Zeit keinen geringen Teil ihrer geistigen Energie darauf verwendeten, kunstvolle Bindeglieder zu schmieden, oder besser, hauchdünne Verbindungsfäden zu knüpfen zwischen diesen äußersten Abstraktionen — Gott, Heiliger Geist, Engel, Unsterblichkeit, Himmel, Hölle — und der Ausübung der konkreten Bürger- und Familienpflichten der Gemeinde.

Die Wissenschaft und mit ihr später die wissenschaftsorientierte Technologie begannen erst zu blühen, als die mittelalterliche Fähigkeit, mit imaginären Einheiten und hypothetischen Relationen logisch zu operieren, durch neue Entwicklungen in der Mathematik wieder aufgefrischt wurde. Die Frage, wieviele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können, ist gar nicht mehr absurd in der Molekularphysik, die entdeckt hat, wie breit eine Nadelspitze tatsächlich ist und welche Rolle unsichtbare elektronische Boten im Tanz des Lebens spielen. Den mittelalterlichen Theologen mangelte es nicht an rigorosen Abstraktionen, sondern an einer entsprechenden Fähigkeit, in Konkretheiten einzudringen und sie zu verstehen – all den Reichtum, die Dichte und die Vielschichtigkeit des organischen Lebens.

Hier hatte der ästhetische Naturalismus einen Beitrag zu leisten. Der einfache Handwerker mußte, wenn er sich für seine Gilde qualifizieren wollte, seinen Meistern nach der Rückkehr von seinen Reisen berichten, was er mit seinen eigenen Augen gesehen und mit seinen eigenen Händen nachgeformt hatte. Künstler übertrugen dieses neuerworbene Wissen auf Darstellungen aus Stein, aus Holz und auf bemaltem Pergament; auf Kirchenportalen und Kirchenstühlen, in Kalendern und Stundenbüchern findet man Szene um Szene aus dem täglichen Leben, nicht als Beweis einer überirdischen Offenbarung angesehen, sondern unmittelbar als Ausdruck ästhetischer Form und geistiger Bedeutung genossen.

Die Gestalter von Wasserspeiern und Schimären waren, wie Lynn Thorndike bemerkte, »nicht damit zufrieden, existierende Tiere abzubilden, sondern bewiesen ihre Beherrschung der Tieranatomie, indem sie seltsam zusammengesetzte, hybride Monstren schufen — man könnte fast sagen, neue Spezies entwickelten —, die dennoch alle die Wahrscheinlichkeit von Kopien lebender Formen haben. Es waren diese Züchter in Stein, diese Burbanks des Bleistifts, diese Darwins mit dem Meißel, die die Natur kannten und Botanik und Zoologie genauer studierten als der Gelehrte, der bloß über den Werken von Aristoteles und Plinius brütete.«

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Diese Wiederentdeckung der Natur durch Beobachtung und exakte Darstellung ging der Wiederbelebung der Wissenschaft voraus und war der ursprünglichen griechischen Tradition viel näher als die eifrigen Imitationen toter klassischer Formen oder das ehrfürchtige Studium vergilbter und verstümmelter griechischer Texte. Dieser Prozeß der Annäherung an die Natur, aus der Alltagsarbeit in den freien Städten, unter der Führung autonomer Gilden, die ein hohes Niveau von Geschicklichkeit und Können erreicht hatten, entsprungen, schritt stetig vorwärts; und es ist nicht überraschend, daß er im sechzehnten Jahrhundert dazu führte, den Handwerker in einen vollentwickelten Künstler zu verwandeln, der Arbeiter, Denker, Organisator und Schöpfer in einem war und jeden Aspekt der Erfahrung innerhalb oder außerhalb seines Berufs nach der gleichen Methode erforschte.

Die Künstler der Renaissance erschlossen einen direkten Übergang von der Naturalisierung zur Humanisierung: Zuerst nimmt die Heilige Dreifaltigkeit rein menschliche Gestalt an, dann beginnen die Heiligen und auch die heidnischen Götter zu verschwinden und lassen die Naturlandschaften Ruysdaels und Constables zurück, den natürlichen Menschen Rembrandts und Hogarths oder gar die einfachen Bauern der Brüder Le Nain, als ein Zeichen, daß jeder Teil der natürlichen Welt, welcher der Kultur zugänglich war, betreten wurde. In diesem Prozeß waren Handwerker und Künstler den Naturphilosophen und Wissen­schaftlern um ganze Jahrhunderte voraus. Überdies übten die neuen technischen Erfindungen der Uhr und der Drucker­presse eine tiefgehende Wirkung auf den wissenschaftlichen Geist aus.

In der endgültigen Ausformung des Bildes von der Neuen Welt brachte – keineswegs überraschend – eine frühere Errungenschaft der mittelalterlichen Technik – die Entwicklung von Glaslinsen – den entscheidenden Wandel mit sich; denn die astronomischen Beobachtungen, die anfangs von Kopernikus und Tycho Brahe unter großen Schwierigkeiten mit bloßem Auge vorgenommen wurden, erhielten durch die Erfindung des Fernrohrs eine unvergleichlich größere Reichweite und wurden auch wesentlich erleichtert. Der Heliozentrismus wurde nur zögernd akzeptiert; ja noch ein Jahrhundert nach Kopernikus hatte er geringe Wirkung auf die Gelehrtenwelt; sogar heute noch begnügen sich die meisten Menschen mit der naiven Auffassung, die Sonne bewege sich um die Erde.

Aber das Teleskop und das Mikroskop änderten die Sache grundlegend; denn das unendlich Große und das unendlich Kleine, der Makrokosmos und der Mikrokosmos, hörten auf, bloß spekulative Begriffe zu sein; sie enthüllten, zumindest potentiell, die Grenzen sinnvoller visueller Erfahrung.

Diese beiden Produkte der Glastechnik bewirkten eine weit radikalere Umwandlung des menschlichen Lebens als die Dampf­maschine. Was einst rein religiöse Begriffe in Verbindung mit einem vermeintlichen Jenseits gewesen waren — Unendlichkeit, Ewigkeit, Unsterblichkeit —, war nun auf wirkliche Zeit und wirklichen Raum bezogen. Damit war die einst in sich geschlossene, sich selbst genügende und auf sich selbst konzentrierte Welt der christlichen Theologie nicht mehr glaubhaft. Aber die Religion an sich schied nicht aus; ja, heimlich war eine neue Religion entstanden so heimlich, daß ihre frömmsten Anbeter bis heute nicht erkennen, daß es tatsächlich eine Religion ist.

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