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Epilog - Der Fortschritt des Lebens

Macht allein und Wissen allein erhöhen die menschliche Natur, aber segnen sie nicht. 
Wir müssen aus dem Schatz aller Dinge das zusammen­tragen, was im Leben am
meisten von Nutzen ist. (Francis Bacon, »The Advancement of Learning«)

Mumford-1970

 

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In meinen früheren Büchern habe ich versucht, die natürlichen und die kulturellen Entstehungsprozesse zu beschreiben, aus denen der Mensch als bisheriger Höhepunkt der organischen Entwicklung hervorgegangen ist.

»Menschliches Leben in seiner historischen Mannigfaltigkeit und Zweckmäßigkeit ist unser Aus­gangs­punkt. Kein Einzelwesen kann dieses Leben in sich aufnehmen, kein Einzelleben umschließt es; keine einzelne Kultur kann alle seine Entwicklungs­möglichkeiten ausschöpfen. Es ist unmöglich, auch nur skizzenhaft das Wesen des Menschen zu begreifen, solange man nicht zur Kenntnis nimmt, daß seine Wurzeln im Schutt zahlloser unsichtbarer Leben vergraben liegen und seine obersten Zweige gerade wegen ihrer Dünne selbst dem wagemutigsten Kletterer unzugänglich sind. Der Mensch lebt in der Geschichte; er lebt durch die Geschichte; und in gewissem Sinne lebt er für die Geschichte, denn ein nicht geringer Teil seiner Handlungen ist auf die Vorbereitung einer unbekannten Zukunft gerichtet.«   --Aus: The Conduct of Life--

Die Existenz des Menschen in allen ihren Dimensionen ist vielleicht am besten in den Begriffen des Theaters zu verstehen, als ein Drama, das sich in der Handlung entfaltet. Wenn ich diesen bildlichen Vergleich schon des öfteren verwendet habe, so deshalb, weil ich keine wissenschaftliche Analyse kenne, die jedem Aspekt der menschlichen Entwicklung besser gerecht würde. 

In seinem Welttheater ist der Mensch abwechselnd Bühnenbildner und Dekorateur, Direktor und Bühnen­arbeiter, Autor und Zuschauer; und in erster Linie ist er Schauspieler, dessen Leben »aus solchem Stoff (ist), aus dem man Träume macht«. Doch er ist von der Art der Bühne, von den Rollen, die er annimmt, von der Handlung, die er entwickelt, so geformt und gestaltet, daß jeder Aspekt des Dramas Substanz hat und ein gewisses Maß an Bedeutung gewinnt.

Wenngleich in den dunklen Uranfängen des Menschen das Szenarium von Augenblick zu Augenblick improvisiert wurde, ist er selbst sich seiner eigenen besonderen Rollen zunehmend bewußt geworden und steht nun, mit größerer Zauberkraft begabt als Prospero, im Mittelpunkt der Bühne. In vielen Fällen ging die Handlung in eine falsche Richtung, und das Stück schien kaum besser als eine verzerrte Komödie der Irrungen; bei anderen Gelegenheiten schwang es sich zu einem kurzen, begeisternden Höhepunkt auf, wo selbst die Requisiten und die Kostüme aufhörten, triviales Beiwerk zu sein, und das Drama vorantrieben — um dann doch, wie im letzten Akt von König Lear, in herzzerreißende Verwirrung zurückzufallen.

Dieses Drama findet in einem kosmischen Rahmen statt; und sein Anfang und sein Ende bleiben für alle Zeiten außerhalb der Grenzen menschlicher Erfahrung. Wie mangelhaft diese Metapher auch sein mag, eines steht fest: Das leere Gebäude, die Bühnen­requisiten, die Maschinen und Scheinwerfer machen in keinem Sinne das Drama aus oder rechtfertigen die ungeheure kollektive Anstrengung, deren es bedarf, um das Ensemble zusammenzubekommen und das Stück einzulernen. Für sich allein ist keiner dieser materiellen Bestandteile, sind nicht einmal die menschlichen Körper wichtig. Nur vom menschlichen Geist erleuchtet, ergibt sowohl das kosmische als auch das menschliche Drama einen Sinn.

 

Insoweit die Universalreligionen und auch einige primitivere Kulte und Mythen eine Ahnung vom allumfassenden kosmischen Prozeß hatten, in dem sie etwas Wichtigeres erblickten als in allem, was auf der Bühne unmittelbar zu sehen und zu verstehen ist, begriffen sie die Realität besser als jene abgegrenzten, sachlichen Beschreibungen, in denen kein Hauch vom Wunder und vom Geheimnis der ganzen Vorstellung zu spüren ist. Kosmodrama, Biodrama, Politodrama, Autodrama – um Patrick Geddes' Begriffe zu verwenden – liefern das Manuskript und die Ausstattung für die menschliche Existenz. 

Und wenn ich in diesem Buch das Technodrama unterstrichen habe, so nicht deshalb, weil ich den technokratischen Glauben teile, wonach die Beherrschung der Natur die wichtigste Aufgabe des Menschen sei, sondern weil ich die Technik als einen Bestandteil der gesamten menschlichen Kultur ansehe. Als ein solcher wurde die Technik auf jeder Stufe ihrer Entwicklung zutiefst beeinflußt durch Träume, Wünsche, Impulse, religiöse Motive, die nicht unmittelbar den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens entsprangen, sondern den geheimen Schlupfwinkeln des menschlichen Unbewußten. Im menschlichen Geist nehmen diese Dramen Gestalt an; hier gipfeln sie von Zeit zu Zeit in einem Aufblitzen, das plötzlich die ganze Landschaft der menschlichen Existenz erhellt.

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Aus den Bergen von Schutt, Schlacke, Abfall, Gebein, Staub, Exkrementen, die über die Werke und Tage der wechselnden Generationen Zeugnis ablegen, wurden im Laufe der Geschichte ein paar Milligramm radioaktiver Geistessubtanz herausgeholt, und davon ist nur ein Bruchteil erhalten geblieben. Dieser Bruchteil, von Geist zu Geist übertragen, hat die Eigenschaft, den Rest der Existenz mit Bedeutung und Wert aufzuladen. Wie die radioaktiven Elemente, sind diese dynamischen, formativen Geistessubstanzen außerordentlich wirkungskräftig, verlieren aber mit der Zeit ihre Energie; ihre Halbwertszeit kann jedoch, wie die altägyptische Organisation der Megamaschine beweist, Tausende Jahre betragen.

Nichtsdestoweniger spricht durch diese aktivierenden Emanationen des Geistes letztlich der Kosmos – dessen Möglichkeiten Milliarden Jahre unsichtbar und unentdeckbar blieben, bis der Mensch, dank dem starken Wachstum seines Gehirns, seinen größten technologischen Sieg errang: die Erfindung von Symbolen und komplexen Symbolstrukturen, die das Bewußtsein steigern. Denn durch Produkte seines Geistes, Träume und Symbole, nicht nur durch die Geschicklichkeit seiner Hand, hat der Mensch zuerst gelernt, seine eigenen Körperorgane zu beherrschen, mit seinesgleichen zu kommunizieren und zu kooperieren und seine natürliche Umwelt soweit zu meistern, als es für seine praktischen Bedürfnisse und seine idealen Ziele notwendig war.

 

In den nüchternen Darstellungen des Alltags der menschlichen Existenz werden die subjektiven Handlungen des Menschen als gegeben vorausgesetzt. Sie zeigen, daß es in der Werkstatt um Material und Werkzeug geht, daß der Händler sich mit Kauf und Verkauf befaßt und daß für jede große Organisation quantitative Messungen unerläßlich sind. Alle diese pragmatischen Interessen weisen auf eine Existenz hin, in der die schöpferische Rolle des Geistes, obzwar immer präsent, praktisch vernachlässigt werden kann. Wie schon Galilei sagte – und die Exponenten des Machtkomplexes bestätigen –, sind Zahlen und Maße Attribute des Geistes, die objektive Realität besitzen; und was nicht mathematisch berechnet oder quantitativ beschrieben werden kann, darf als rational unbedeutend und faktisch inexistent übergangen werden.

Solange ältere Manifestationen des Geistes, in Religion und Kunst, Ritual und Brauchtum verkörpert, eine kohärente symbolische Struktur lieferten, die auch anderen Lebensaspekten zugutekam, richtete der Glaube, wonach materielle Objekte an sich existieren und funktionieren, keinen unmittelbaren Schaden an. Im täglichen Leben blieb alles, was im mechanischen Weltbild bewußt weggelassen wurde, aktiv vorhanden und gewährte den nicht der Technik dienenden Teilen der menschlichen Natur freien Spielraum. Was Bacon und Galilei in ihrem Weltbild übergingen, das erhielten Shakespeare und Pascal glänzend am Leben; selbst Bacon, wiewohl kein Shakespeare, war sich lebhaft der leeren Flecken bewußt, die unerklärt blieben, wie genau man diesen oder jenen Teil des »objektiven« Bildes auch wiedergab oder unter technische Kontrolle brachte.

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Leider ignorierten jene, die Realität mit objektiven, mechanischen, quantitativ meßbaren Denkformen gleich­setzten, nicht nur die ungeheure Kreativität des menschlichen Geistes in anderen Bereichen, sondern verhielten sich auch in wachsendem Maße gleichgültig zu den Wundern des gesamten kosmischen Schauspiels. Newton, der noch stark der religiösen Kultur verhaftet blieb, war demütig angesichts des Mysteriums, das er durch seine geniale Leistung nur noch vergrößert hatte, und stellte weiterhin Fragen, die er nicht beantworten konnte, über das Wesen der Schönheit und der Ordnung, welche er in jenen physikalischen Kräften erblickte, die nichts mit menschlichen Leidenschaften zu tun haben. 

Aber jene materialistischen Philosophen, die – wie sie glaubten – Kunst und Religion, Werte und Ziele hinter sich gelassen hatten und geistloser Materie den Vorrang gaben, leugneten die Quelle ihrer eigenen Kreativität; denn schon die Idee der quantitativen Messung oder der mathematischen Interpretation ist subjektiv, nur dem Menschen bekannt. Solange die moderne Technik nur mit diesen engen Begriffen operierte, in so entschiedenem Gegensatz zu jenen, die alle früheren Formen der Polytechnik geschaffen hatten, konnte sie die menschliche Präsenz nur als Quelle der Verunreinigung ausschalten und isolieren.

Die Übertragung irrationaler Erfahrung in sinnvolle Kulturformen, die schließlich jedem Aspekt der menschlichen Existenz eine geistige Prägung verleihen, ist zweifellos das entscheidende Faktum der menschlichen Entwicklung. Dieses Kriterium unterscheidet eine höhere Kultur von einer niedrigeren, eine leere Existenz von einer sinnerfüllten, einen überlegenen, geistig aktiven, voll entwickelten Menschen von einem, der kaum über den dumpfen Tierzustand hinausgekommen ist. Mit seinen beharrlichen, langwierigen Bemühungen im Denken und Schaffen übernahm der Mensch, der ursprünglich sprachlos, arbeitslos, heimlos, kunstlos gewesen war, seine höchste Aufgabe – wahrhaft menschlich zu werden. Um dies zu erreichen, verwendete er seine spezifischen Körper­funktionen nicht nur, um zu überleben und sich fortzupflanzen, sondern auch für andere Zwecke.

Indem der Mensch seine eigenen Organe formte und lenkte, angefangen von der Beherrschung des Darms und der Blase, und jede organische Funktion je nach Bedarf bewußt hemmte oder förderte, einschränkte oder erweiterte, ja selbst die überaus schwierige Kunst erlernte, die einst zufällige Geistestätigkeit wirksam zu kanalisieren, vollbrachte der Mensch etwas Wichtigeres, als nur die »Natur zu besiegen«. Denn mit der Zeit reorganisierte er jeden Teil der Natur, seinen eigenen Körper ebenso wie seinen Lebensraum, für Zwecke, die über die tierische Existenz hinausgingen. Von Anfang an spielte die Technik in dieser Selbst­umwandlung eine aktive Rolle; doch weder gab sie den Anstoß zu diesem Prozeß, noch suchte sie, bis zu unserer Zeit, die Fähigkeiten des Menschen auf jene einzuengen, die sich auf technologische Leistungen beziehen.

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Der Mensch ist sein eigenes höchstes Artefakt. Doch dieser Übergang vom Tier zum Menschen war nicht leicht; und er ist noch lange nicht abgeschlossen; viele weitere Entwicklungen stehen noch bevor. In der ganzen Geschichte gab es Fixierungen, Rückfälle, Entartungen, monotone zyklische Wiederholungen, institutionalisierte Fehler und Schrecken und schließliche Zersetz­ungs­erscheinungen. Für alle diese negativen Aspekte legt Arnold J. Toynbee in seinem Gang der Weltgeschichte umfang­reiches Beweismaterial vor. Doch trotz dieser Stockungen gab es von Zeit zu Zeit - wenn auch nicht zu allen Zeiten - Beweise hoher Kreativität und echter Entwicklung, die in symbolischen Persönlichkeiten – mythischen und wirklichen, mensch­lichen und göttlichen – kulminierten, welche immer noch einen Maßstab für die menschliche Weiter­entwicklung setzen.

Es ist zweifelhaft, ob ohne diese Möglichkeiten subjektiver Transzendenz, die für die gesamte Entwicklung des Menschen grundlegend waren, ein so überempfindlicher Organismus wie der menschliche die Ängste und Qualen hätte überstehen können, die von Kraft und Tiefe seines eigenen Bewußtseins schmerzhaft vergrößert wurden: Krankheit, Körperverletzungen, sinnlose Zufälle, menschliche Bosheit, institutionelle Schlechtigkeit.

Eine Epoche wie die unsere, deren Subjektivität nur auf einen Weg vertraut, auf den von Wissenschaft und Technik, ist den harten Realitäten des Lebens nicht gewachsen. Selbst jene, die noch am alten Erbe von Religion und Kunst festhalten, so reich und ergiebig es immer noch sein mag, haben sich so sehr an die enthuman­isierten Voraussetzungen der Technik akklimatisiert, daß nur eine Handvoll treuer Seelen es wagt, selbst deren ärgste Perversionen zu kritisieren.

Die Existenz einer dynamischen Innenwelt, deren Wesen mit keinem Instrument erkundet und nur erkannt werden kann, wenn es in Gesten, Symbolen und konstruktiven Handlungen Ausdruck findet, ist ein ebenso tiefes Mysterium wie die Kräfte, die die Atomteilchen zusammenhalten und Art und Verhalten der Elemente bestimmen. Dieses Mysterium im Menschen kann erfahren, aber nicht beschrieben, noch viel weniger erklärt werden; denn der Geist kann sich nicht von innen her widerspiegeln. Nur indem er aus sich heraustritt, wird er sich seiner Innerlichkeit bewußt.

Der Versuch, die formative Rolle des Geistes zu eliminieren, dem Artefakt größeres Gewicht zu geben als dem Artefaktor, reduziert das Mysterium auf eine Absurdität; und die Bejahung der Absurdität ist die Lebenshäresie der gegenwärtigen Generation. Diese Reduktion führt letztlich zur geschwätzigen Nichtigkeit von Warten auf Godot oder Das letzte Band, wo Langeweile und Überdruß als unvermeidliche Frucht der menschlichen Existenz hingestellt werden.

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Dies allein ist schon ein sardonischer letzter Kommentar zum mechanischen Weltbild, zum Machtsystem und zu den subjektiven Unwerten, die von ihnen herrühren. Denn eine Technik, die dem subjektiven Leben die Realität abspricht, kann auch für ihre eigenen Produkte, selbst für die höchsten, keinen menschlichen Wert beanspruchen.

 

Ein organisches Weltbild kann jedoch die Entropie nicht negieren. Es muß die Zerstörungsprozesse, die alle Lebens­aktivitäten begleiten, als gegeben hinnehmen; sie sind sogar ein intregraler Bestandteil des Lebens, als Kontrapunkt eine ebenso wichtige Komponente seiner Kreativität wie die geordneten, konstruktiven, aufbauenden Funktionen; die beiden Prozesse können ebensowenig voneinander getrennt werden wie Körper und Seele, Gehirn und Geist, bis der Tod sie zum Stillstand bringt. Aber es gibt im Geist eine latente Kraft, die in seltenen Augenblicken jene organischen Begrenzungen umgeht und die Endgültigkeit des Todes ignoriert oder bestreitet: Diese erweist sich als der Impuls zur Transzendenz. 

Die Erkenntnis, daß der Mensch als Gattungswesen eine tiefe Sehnsucht nach Überwindung seiner organischen Begrenzungen hat und daß dieses Streben selbst den verzweifeltsten Momenten des Daseins Bedeutung zu geben vermag, war die Heilsbotschaft der Religion und erklärt sicherlich den Einfluß, den sie auf die Menschheit ausübte. Diese Fähigkeit ist um so erstaunlicher, als sie sich häufig über die Erfordernisse der Selbsterhaltung, der Fortpflanzung und des Überlebens hinwegsetzt; daher kann man sie, zum Unterschied von vielen anderen menschlichen Funktionen, auch von denen der Technik, nicht von tierischen Bedürfnissen ableiten.

Trotz der Eliminierung der Subjektivität aus dem mechanischen Weltbild sind der Wunsch nach Vollkommenheit, das Bedürfnis, dem Schicksal zu trotzen und zu entgehen, und das Streben nach Transzendenz auch in der Technik zu beobachten, neben anderen Erscheinungen, die für die Religion kennzeichnend sind, wie die Bereitschaft, Opfer und sogar vorzeitigen Tod zu akzeptieren.

Man denke an den alten Traum, unedle Metalle in Gold zu verwandeln. Man könnte das ohne weiteres verächtlich als einen kindischen Versuch abtun, schnell reich zu werden; doch wenn Reichtum das einzige Motiv gewesen wäre, dann waren hundert nachweislich bessere Mittel zur Hand. Das Verlangen, physikalische Grenzen mit Hilfe von magischen Manipulationen zu überschreiten, schuldet dem Geist ebensoviel, wie die Chemie dem Schmelztiegel des Alchimisten verdankt; so heftig, so eigensinnig, so beharrlich war dieses Verlangen, daß es den Alchimisten manchmal dazu verführte, seine Ergebnisse zu fälschen, indem er ein Körnchen Gold in der Asche versteckte. Doch dieses subjektive Streben, die Grenzen der Materie zu überwinden, erwies sich als wirklichkeitsnäher denn die wohlbegründeten Hemmungen, die ihm entgegenstanden; der Traum der Alchimisten, das wissen wir heute, wies auf das Wunder der Kern­spaltung hin.

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Obgleich große Teile der menschlichen Kultur im Lauf der Geschichte ausgestorben sind oder zerstört wurden – besonders in den letzten vierhundert Jahren –, blieben die ungeformten, unorganisierten Erscheinungen des Geistes in gleichem Umfang erhalten; ja sie sind sogar stärker geworden, weil sie in Wissenschaft und Technik kanalisiert wurden. Seltsamerweise wurde die Existenz solcher vorbewußter Quellen der Technik ignoriert, auf Grund der Hypothese, Technik und Wissenschaft seien frei von subjektiven Faktoren. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.

Diese Übersimplifizierung und Selbsttäuschung wurde ursprünglich vom mechanischen Weltbild künstlich aufrechterhalten; und sie ist noch immer wirksam, obwohl dieses Weltbild heute nur noch die rückständigeren Bereiche der Wissenschaft beeinflußt. Wie ich bereits aufgezeigt habe, ist die Idee der Zeit wichtiger als jedes physikalische Instrument zur Messung der Zeit; und diese Idee hat im menschlichen Geist Form angenommen, ohne ein anderes Instrument als das bloße menschliche Auge, das die Planeten­bewegungen beobachtete und sie mit Hilfe abstrakter mathematischer Symbole berechnete, die gleichfalls nur im menschlichen Geist existierten. Die Idee der Zeit stammt nicht von der Sonnenuhr oder dem Stundenglas, und keine unmittelbare Verbesserung dieser Instrumente durch Menschenhand hätte die mechanische Uhr hervorbringen können.

Wie Newton in seiner Optik scharfsinnig bemerkt, stoßen wir, wenn wir von den physikalischen Wirkungen auf die Ursachen der Erscheinungen schließen, am Ende auf die Primärursache; und diese, so fügt er hinzu, »ist gewiß keine mechanische«. Wenn ich es wagen darf, diese Feststellung zu ergänzen, um sie auf die menschlichen Probleme statt auf die physikalische Welt anzuwenden, so würde ich die Primärursache nicht allein in Newtons allumfassendem göttlichen Bauherrn, sondern im menschlichen Geist suchen.

Die Auffassung, wonach den subjektiven Impulsen und der Phantasie des Menschen als gestaltenden Einflüssen in der Kultur, ja als Triebkräften ebensoviel Gewicht zukommt wie den Einflüssen der physischen Welt auf seine Sinne oder den verschiedenen Werkzeugen und Maschinen, die er erfunden hat, um diese Welt zu verändern, mag manchen selbst heute noch als gewagte Hypothese erscheinen. In unserem einseitigen Weltbild ist der Mensch zum Heimatvertriebenen geworden: aus den Augen und daher aus dem Sinn, ein Verbannter, ein hungernder Gefangener in einem Konzentrationslager, das er selbst errichtet hat.

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In Reaktion auf den unreflektierten Subjektivismus früherer Weltanschauungen ist unsere Kultur in das andere Extrem verfallen. Einmal vor langer Zeit haben die Menschen ihren unkorrigierten und unkorrigierbaren Phantasien viel zu viel Einfluß überlassen und die Tatsache ignoriert, daß die Menschen sich nicht durch bloße Konzentration auf ihr Innenleben erhalten und fortpflanzen können, es sei denn mit Hilfe der Barmherzigkeit und Güte anderer, die nicht an dieser Verblendung leiden: eine Wahrheit, die auch die Hippies mit der Zeit herausfinden werden. Kein zusammenhängendes transzendentales Weltbild geschaffen zu haben, daß den existentiellen, subjektiv unveränderlichen Tatsachen der menschlichen Erfahrung genügend Rechnung getragen hätte, war die verhängnisvolle Schwäche aller Religionen. Doch dieser subjektive Fehler wurde nun überkorrigiert, wodurch eine Vorstellung entstand, die ebenso falsch ist: nämlich, daß die Organisierung der physikalischen und physischen Vorgänge in einer Welt ohne Geist gedeihen könne.

Diese Analyse der Technik und der menschlichen Entwicklung beruht auf der Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit, die subjektiven und die objektiven Aspekte der menschlichen Erfahrung miteinander zu versöhnen und zu verschmelzen, durch eine Methodologie, die letztlich beide umfassen wird. Das kann nicht dadurch Zustandekommen, daß man entweder die Religion oder die Wissenschaft ablehnt, sondern, indem man sie beide von ihrem obsoleten ideologischen Nährboden löst, der ihrer beider Entwicklung verzerrt und das Feld ihrer Wechselwirkung einengt. Die wunderbaren Leistungen, die der Mensch in der Übertragung seiner subjektiven Impulse auf institutionelle Formen, ästhetische Symbole, mechanische Organisationen und architektonische Strukturen vollbracht hat, sind durch die methodische Kooperation, die die Wissenschaft vorexerziert und verallgemeinert hat, noch erheblich gesteigert worden. Doch das zulässige Maß an Subjektivität auf das Niveau eines Computers zu beschränken, würde bedeuten, Rationalität und Ordnung von ihren tiefsten Quellen im Organismus abzuschneiden. Wollen wir die Technik vor den Verirrungen ihrer heutigen Repräsentanten und vermeintlichen Götter retten, dann müssen wir in unserem Denken wie in unseren Handlungen zum Menschen als Mittelpunkt zurückkehren: Hier beginnen und enden alle bedeutenden Transformationen.

Das Wesen dieses Zusammenspiels und dieser Vereinigung der subjektiven und der objektiven Aspekte des Daseins läßt sich nicht in extenso beschreiben, da es nicht weniger als die ganze Menschheitsgeschichte umfaßt. Was Goethe über die Natur sagte, gilt gleichermaßen für die Kultur und die Persönlichkeit: »Denn das ist der Natur Gehalt / Daß außen gilt, was innen galt.« Von dieser Voraussetzung ausgehend, habe ich bei der Darstellung des technischen Fortschritts allen Teilen des menschlichen Organismus, nicht nur der Hand und den von ihr stammenden Werkzeugen, Bedeutung beigemessen.

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Und aus dem gleichen Grunde habe ich die Rolle unterstrichen, die Wünsche und Pläne, Symbole und Phantasie selbst in der praktischen Anwendung der Technologie spielen. Denn alle Komponenten des Geistes, nicht nur der Verstand und seine dynamischen Instrumente, sind beteiligt, wenn es in der Technik zu einer grundlegenden Abkehr von konventionellen Verfahren kommt.

Wenn dieser Ansatz richtig ist, führt er zu einer Schlußfolgerung, die allen jenen widerspricht, welche meinen, die Kräfte und Institutionen von heute würden ewig weiterbestehen und immer größer und mächtiger werden, auch wenn ihre Größe und Macht die ursprünglich angestrebten Vorteile aufzuheben drohen. Wenn menschliche Kultur tatsächlich durch neue Vorgänge im Geist entsteht, sich entwickelt und erneuert, dann kann sie durch die gleichen Prozesse verändert und umgewandelt werden. Was der menschliche Geist geschaffen hat, kann er auch zerstören. Vernachlässigung oder totale Interesselosigkeit haben die gleiche Wirkung wie ein physischer Angriff. Das ist eine Lehre, die unsere maschinenorientierte Welt rasch zur Kenntnis nehmen muß, will sie auch nur ihre eigenen erfolgreichen Neuerungen bewahren.

Um in einer kurzen Zusammenfassung darzustellen, welch aktive Rolle der Mensch in seiner technischen Entwicklung gespielt hat – zum Unterschied von der Auffassung, wonach er ein Opfer äußerer Kräfte und innerer Anlagen sei, über die er wenig oder gar keine Macht habe –, beabsichtige ich, das Zusammenspiel des subjektiven und des objektiven Lebens des Menschen in zwei komplementären Richtungen zu verfolgen: Materialisierung und Vergeistigung. Paradoxerweise beginnt der Prozeß der Materialisierung im Geist, während die Vergeistigung von der sichtbaren und äußeren Welt zur inneren Persönlichkeit fortschreitet und im Geist, über Wörter und andere Symbole, als mehr oder weniger zusammen­hängende Weltanschauung Form annimmt.

Die folgende Darlegung der Formen menschlicher Entwicklung darf, trotz verbaler Ähnlichkeit, weder mit dem Hegeischen Idealismus noch mit dem Marxschen Materialismus verwechselt werden, obwohl ein Körnchen abstrakter Wahrheit in beiden Philosophien enthalten ist, indem sie die dynamischen und widersprüchlichen Prozesse anerkennen, die ich mit der konkreten historischen Realität in Einklang zu bringen suche. Ein organisches Konzept kultureller und menschlicher Veränderung muß die inneren und die äußeren Aspekte als nebeneinander bestehend, nicht als einander ausschließend, betrachten. Emerson formulierte in seinem Essay on War annähernd meine Auffassung, als er sagte: »Man achte darauf, wie jede Wahrheit, jeder Irrtum, jeder Gedanke eines Menschen sich in Gesellschaften, Häuser, Städte, Sprache, Festlichkeiten, Zeitungen kleidet.«

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Ich bin Emerson dankbar, daß er – im Gegensatz zu Hegel wie zu Marx – erkannt hat, daß der Irrtum ebenso wie die Wahrheit, das Böse ebenso wie das Gute eine Rolle zu spielen hat, denn, wie er in Uriel sagt: »Das Böse wird zum Segen, und das Eis wird brennen.«

Sowohl Vergeistigung als auch Materialisierung durchliefen eine Reihe unterscheidbarer, aber nicht immer aufeinanderfolgender Phasen; und wenn sie zur gleichen Zeit vor sich gehen, dann bewegen sie sich in entgegengesetzte Richtungen – obgleich nicht immer in gleichem Tempo oder mit gleicher Kraft – in verschiedenen Bereichen der gleichen Kultur. Während die Vergeistigung ursprünglich mit dem unmittelbaren Eindruck beginnt, den der äußere Lebensraum und seine Bewohner im menschlichen Geist hinterlassen, so fängt die Materialisierung eher im menschlichen Geist selbst an, auf einer Stufe vor Einsetzen der Abstraktion und der Symbolbildung: auf der Stufe der Träume und vorbewußten Handlungen, deren Stimulus hauptsächlich von innen kommt, über die Hormone und inneren Sekretionen, vor allem jene, die mit Sexualität, Hunger und Angst zusammenhängen.

Die erste Phase der Materialisierung hat ihren Ursprung in der neuralen Tätigkeit, auf die noch kaum der Begriff Geist angewendet werden kann; was später als Idee auftreten wird, könnte mit größerer Exaktheit als Erscheinung bezeichnet werden, schemenhafter als das traditionelle Gespenst. Diese Erscheinung ist schon von der Begriffsbestimmung her eine völlig persönliche Erfahrung, formlos, sprachlos, nicht mitteilbar — und daher schwieriger in den Griff zu bekommen als ein nächtlicher Traum. Natürlich kann ein solcher intuitiver Prozeß nicht wissenschaftlich untersucht werden; seine Existenz läßt sich nur durch Rückschlüsse aus späteren Entwicklungen deduzieren. Doch der ständige Strom von Reizen, der von den inneren Körperorganen, einschließlich des selbst im Schlaf aktiven Gehirns, ausgeht, muß als Ausgangspunkt allen geformten und strukturierten Geisteslebens angesehen werden.

Die Existenz solcher gestaltloser, subjektiver Vorgänge könnte fraglich bleiben, wäre nicht die Tatsache, daß sie, wenn sie beachtet werden – und speziell bei häufiger Wiederholung –, die Tendenz haben, stabilen Charakter anzunehmen. So kann der entstehende Begriff »Mut«, ehe man ihn als Begriff bezeichnen kann, das anschauliche Bild eines Löwen annehmen. Der Übergang von Innerlichem, Unbewußtem, Privatem zu einer öffentlichen Welt, die mit anderen Menschen geteilt werden kann, ist die nächste Stufe der Materialisierung. An diesem Punkt findet der entstehende Begriff, ehe er noch in Worte gefaßt werden kann, Ausdruck in der Sprache des Körpers. Durch diesen Prozeß ergreifen formative Ideen, die schließlich eine ganze Gesellschaft beherrschen können, Besitz von einem lebendigen Menschen und werden mit der Zeit anderen Menschen offenbar. »Idèesforces« war Alfred Fouillees treffender Ausdruck für solche dynamische, formative Ideen.

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Die meisten aufkeimenden Ideen sterben noch im Augenblick der Geburt; sie kommen nie über das Stadium der Erscheinung hinaus. Selbst eine Idee, die lebenskräftig genug ist, um durchzukommen, braucht eine lange Periode der Ausbrütung und der experimentellen Erprobung, ehe sie genügend gefestigt ist, um, wie ein vom Wind getragener Samen, irgendwo an einem passenden Ort deponiert zu werden, wo sie zu wachsen vermag. Dieser passende Ort muß eine lebende Person sein, wenn auch nicht immer der Urheber oder der einzige Erzeuger. Das ist die Phase der Inkarnation.

Noch bevor eine Idee in Worten mitgeteilt werden kann, verkörpert sie sich, wenn man die klassische Formulierung des Neuen Testaments verwenden darf, im Fleisch und äußert sich in entsprechenden körperlichen Veränderungen. Man soll nicht glauben, die einleitenden Phasen der Intuition und der Begriffsbildung seien in irgendeinem Sinne mystisch: Sie sind Gemeinplätze der täglichen Erfahrung. Auch bezieht sich der Begriff der Inkarnation nicht unbedingt auf die theologische Epiphanie, von der wir diesen Terminus ableiten. Im ersten Teil dieses Buches habe ich aufgezeigt, wie die Idee des Königtums als ein übersinnliches Bild von Macht und Autorität aus der Verschmelzung der Befehlsgewalt eines mächtigen Jägerhäuptlings mit der Anbetung einer Sonnengottheit, Atum-Re – oder in Sumer und Akkad mit der eines ebenso mächtigen Sturmgottes, der dort die erste Stelle einnahm –, entstanden ist.

Doch wir müssen nicht im antiken Mesopotamien, Ägypten oder Palästina nach Beispielen der Inkarnation suchen. Die Sehnsucht nach einer primitiven Gegenkultur, die den streng organisierten und entpersönlichten Formen der westlichen Zivilisation Widerstand leistet, drang zuerst in Form der Romantik, einer Bewegung der Intellektuellen, in das westliche Denken ein. Dieser Wunsch, zu einem Urzustand zurückzukehren, nahm in populärerer, wenn auch weniger artikulierter Form in den elementaren Rhythmen des Jazz vor mehr als einem halben Jahrhundert Gestalt an. Neuerlich brach diese Idee mit fast vulkanischer Macht plötzlich in ihrer Verkörperung durch die Beatles aus.  

Nicht der unerwartete Erfolg der Beatles-Platten deutet auf eine tiefgehende Veränderung in den Köpfen der Jugend hin, sondern die neuartige Persönlichkeit der Beatles mit ihrer neo-mittel­alterlichen Langhaarfrisur, ihrer unbekümmerten Sentimentalität, ihrer nonchalanten Haltung und ihrer träumerischen Spontaneität, die der Generation des Atomzeitalters die Möglichkeit einer unmittelbaren Flucht aus der megatechnischen Gesellschaft eröffnete. Die Beatles verkörperten die Befreiung von allen Repressionen und die Freisetzung der ganzen Empörung gegen die Repressionen; durch Haartracht, Kleidung, Ritual und Lied, alles Veränderungen, die auf rein persönlicher Entschei-

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dung beruhten, wurden die neuen Gegenideen, die die jüngere Generation zusammenhielten, mit einem Mal geklärt und gefestigt. Impulse, noch zu unklar empfunden, um in Worte gefaßt werden zu können, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch Inkarnation und Imitation.

Die Verbreitung eines neuen Evangeliums durch sichtbare Persönlichkeiten kennzeichnet häufig den Anbruch einer neuen Kultur­epoche. Es gab viele Erlöser und Prediger der Rechtschaffenheit, echte und falsche, vor und nach Jesus Christus.

Doch man beachte: Die neue fleischgewordene Persönlichkeit, sei es ein Buddhist oder ein Dionysier aus Liverpool, kann nicht auf sich selbst gestellt, in narzißtischer Betrachtung des eigenen Bildes, überleben. Wie eine einzelne biologische Mutante wäre auch die Idee dem Untergang geweiht, würden nicht ähnliche Impulse ihre Verkörperung in Tausenden anderen Persönlichkeiten finden; nur auf der Basis dieser allgemeinen Bereitschaft vermag die formative Idee tatsächlich, durch unmittelbaren Kontakt und durch Nacheiferung, einer genügend großen Zahl von Schülern und Anhängern ihren Stempel aufzuprägen, ehe die Idee selbst in rein verbaler Form verstanden werden kann. Whitman sprach im Namen aller an diesem Prozeß Beteiligten, als er sagte: »Ich und die meinen überzeugen nicht durch Argumente: wir überzeugen durch unsere Gegenwart.« Bekanntlich lernt man leben, indem man lebt; indem die Idee zuerst körperliche Form annimmt, beginnt sie sich in der Gemeinschaft durch körperliche Imitation auszubreiten, ehe sie durch das gesprochene Wort und intellektuelle Formulierungen wirksamer definiert werden kann.

Durch die Reifung von Ideen, in der täglichen Lebenserfahrung, wird die Kluft zwischen den ursprünglichen Erscheinungen und Intuitionen und den Realitäten des gesellschaftlichen Lebens, an denen sich andere Menschen beteiligen, überbrückt. Dieser Zustand der Formulierung, Begriffsbildung und Vervollkommnung kann den mündlichen Lehren der großen Meister, deren Worte von den Schülern memoriert werden, gleichgesetzt werden:

Man denke an die Sinnsprüche des Konfuzius, an Platos Dialoge oder an die christlichen Evangelien, die schließlich in Büchern festgehalten wurden. An diesem Punkt werden die vereinzelten Einsichten der Inkarnation durch viele andere Ideen verstärkt, die entweder bereits Teil einer Tradition, ja eines Bildungssystems sind oder noch »in der Luft hängen«. Wie im Fall der Inkarnation müssen auch die formativen Ideen, um lebendig zu bleiben, von Generation zu Generation anhand frischer Erfahrungen neu überdacht und überprüft werden.

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Die nächste Stufe auf dem Weg zu einer breiteren Sozialisierung der Idee könnte man als Eingliederung bezeichnen: Endlich wird der ursprüngliche formative Impuls durch bewußte rationale Bemühungen der ganzen Gemeinschaft gefestigt und manifestiert sich in den Gewohnheiten des Familienlebens, den Bräuchen des Dorfes, der Routine der Städte, der Praxis in der Werkstatt, dem Ritual des Tempels, der Prozeßordnung der Gerichte. Ohne diese allgemeine gesellschaftliche Anpassung und Modifizierung würden die formativen Ideen ihren Einfluß und ihre Wirksamkeit verlieren; ja es war die Schwäche des Christentums, daß es seine moralischen Prinzipien auf das Herrschaftssystem ausdehnte und nicht bereit war, der Sklaverei, dem Krieg und der Klassenausbeutung den Kampf anzusagen; trotz der immensen Kräfte, die es auf anderen Gebieten freisetzte, verursachte diese Schwäche seinen Verlust an Schwung, seine innere Zersetzung und sein Unvermögen, zu jener weltumfassenden brüderlichen Gesellschaft zu gelangen, die es proklamiert hatte.

Karl Marx erkannte sehr richtig die wirksame Rolle, die der Organisation der Produktionsmittel (Technologie) bei der Formung der menschlichen Persönlichkeit zukommt. Doch er beging den großen Fehler, die ökonomische Organisation als einen eigengesetzlichen, vom Willen der Menschen unabhängigen Faktor zu behandeln, während diese Art der Materialisierung doch nur eine der vielen Formen ist, in denen die gärenden Ideen einer Kultur akzeptiert, systematisiert und in die allgemeine tägliche Praxis eingeführt werden. In dieser Hinsicht erreichte das soziale Werk des Christentums seinen Höhepunkt vielleicht relativ spät im Mittelalter, als in jeder Stadt Klöster, Armenhäuser, Waisenheime und Spitäler in einem bis dahin unbekannten Ausmaß zu finden waren.

Durch Institutionalisierung verlieren subjektive Bestrebungen ihren privaten, willkürlichen Charakter, ihre Widersprüchlichkeit und Unwirksamkeit und gewinnen somit die Fähigkeit, große soziale Veränderungen zu bewirken. Diese Transformation kann sowohl neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen als auch, wenn sie keine soziale Form annimmt, unerwartete Gebrechen offenbaren. Das Matriarchat in einer Epoche, das Königtum in einer anderen, göttliche Erlösung und Gnade in einer dritten – sie müssen in jede Institution eingegliedert werden und alles kollektive Handeln beeinflussen, wenn die einer Kultur zugrunde liegenden formativen Ideen sich entfalten und sich gegen eine Unmenge von Rückständen und verkrusteten materiellen Überresten, die zählebig und oft noch mächtig sind, durchsetzen sollen. Da die bestehenden Institutionen vor der neuen Idee da waren und sich Werte und Ziele ganz anderer Art eingegliedert haben, müssen in dieser dritten Phase viele Veränderungen vorgenommen werden, die den ursprünglichen Vorstellungen neue Elemente hinzufügen. Doch nur durch diese Eingliederung können Zustimmung und Unterstützung breiterer Bevölkerungskreise gesichert werden.

An diesem Punkt der Eingliederung verliert die neue Kulturform auf jeden Fall ein wenig von ihrer vormaligen Klarheit. Oft schrecken Menschen, die von einer neuen Vision fasziniert sind oder rasch die Maske

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einer neuen Persönlichkeit aufzusetzen versuchten, davor zurück, diese neue Form der Materialisierung hinzunehmen; sie erscheint ihnen bestenfalls als ein Kompromiß, schlimmstenfalls als Verrat. Gewiß, durch die Eingliederung in die bestehenden Institutionen verliert die Idee einiges von ihrer ursprünglichen Reinheit, wenn sie nicht gar bei der Materialisierung in ihre eigene Antithese umschlägt.

So hat die christliche Kirche, als der römische Staat unter Konstantin zum Christentum bekehrt wurde, sich ihrerseits gewissermaßen zum Heidentum bekehrt und tolerierte nicht nur die Sitten Roms, sondern übertrug sogar die sadistischen Rituale der römischen Arena auf die christliche Vorstellung von der Hölle, als Ort des göttlichen Strafgerichts, und machte das Schauspiel der ewigen Folter verdammter Sünder zu einer der höchsten Freuden für die Gläubigen im Himmel.

Die endgültige Materialisierung einer formativen Idee, von ihrem vorbewußten Aufdämmern in vielen einzelnen Köpfen bis zu ihrem voll externalisierten und sozialisierten Zustand, in dem sie von allen geteilt wird, besteht in der Umgestaltung der materiellen Umwelt, sowohl durch praktische Mittel als auch durch symbolische Ausdrucksformen. Diese Phase könnte man als Verkörperung bezeichnen. Erst wird die Fabel skizziert, dann werden die Schauspieler ausgewählt; danach schminken sich die Schauspieler und ziehen ihre Kostüme an; sodann wird das Szenarium entworfen und die Handlung entwickelt; und schließlich wird eine neue materielle Struktur errichtet, um die Idee auszudrücken und zu tragen.

Doch in dieser umgebauten Struktur zeigen sich neuartige Möglichkeiten, die in der ursprünglichen Konzeption nur latent vorhanden waren und in leichter zu bildenden verbalen, graphischen oder musikalischen Symbolen nicht ausgedrückt werden konnten. Hätte Jesus Christus, die spontanste und zwangloseste Persönlichkeit, je geahnt, daß das Christentum letztlich die Gestalt einer formalisierten hierarchischen Organisation annehmen würde, die auf dem gesamten europäischen Kontinent einheitlich operiert, und daß der Höhepunkt dieser weltlichen Bewegung die Errichtung von Kathedralen, Kirchen, Klöstern sein würde, deren technische Kühnheit und ästhetische Lebenskraft in den Intuitionen Jesu nicht vorgebildet war? Und doch hätte es paradoxerweise ohne die christliche Idee kein Durham, kein Chartres, kein Bamberg – und keine heilige Inquisition gegeben! Wie könnte die Unvoraussagbarkeit der Zukunft besser demonstriert werden – zum Unterschied von der heutigen Methode, beobachtete Tendenzen zu extrapolieren?

Wenngleich ich eine beliebige Episode aus der westlichen Geschichte, den Aufstieg der christlichen Kirche, als geeignetes Beispiel gewählt habe, ist der Gesamtprozeß allgemein, mit Abwandlungen auf alle Kulturen anwendbar, nicht zuletzt auf den Sieg des Mythos der Maschine.

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Bei der Beschreibung der einzelnen Materialisierungsphasen in zeitlicher Reihenfolge habe ich simultane Erscheinungen außer acht gelassen und habe Institutionen, Persönlichkeiten und Ideen als separate, formal erkennbare Wesenheiten behandelt, während sie in Wirklichkeit in ständiger Bewegung und Wechsel­wirkung und sowohl inneren als auch äußeren Veränderungen unterworfen sind. So hat beispiels­weise die Inkarnation Jesu nicht nur einmal stattgefunden: Die christliche Idee bedurfte, um am Leben zu bleiben, weiterer Reinkarnationen, mit stets neuen Verwandlungen, in der Person von Paulus, Augustinus, Franz von Assisi und zahllosen anderen christlichen Seelen. In diesen Verwandlungen verlor die strahlende ursprüngliche Botschaft zweifellos an Leuchtkraft, denn Ideen, die einer sterbenden Kultur angemessen sind, eignen sich nicht für die wiedererstehenden Lebenskräfte späterer Perioden. Und obzwar die institutionelle Organisation der Kirche sowie ihr materieller Reichtum die ursprüngliche Flamme dämpften, schwelte diese doch weiter – und schoß in unseren Tagen in der Person des Papstes Johannes XXIII. erstaunlicher­weise wieder empor.

Ein letzter Aspekt der Materialisierung muß noch festgehalten werden: ein Paradoxon. Und zwar bleiben subjektive Ausdrucks­formen viel länger im Geist lebendig als die Organisationen und die materiellen Strukturen, die nach außen hin so solide und dauerhaft erscheinen. Selbst wenn eine Kultur verfällt, geht sie nie total oder endgültig verloren. Ein Teil bleibt erhalten und hinterläßt seinen Stempel im Geist der Nachkommenden in Form von Sport, Spiel, Sprache, Kunst, Sitten. Wenngleich nicht viele Menschen im Westen einen Hindutempel gesehen haben, so liegt die Sanskrit-Wurzel der Wörter Mutter und Vater immer noch auf ihrer Zunge, dauerhafter als jedes Monument; und dieser Symbolschutt vergangener Kulturen bildet einen fruchtbaren Dünger für den Geist, ohne den die kulturelle Umwelt so steril wäre wie die des Mondes. Andre Varagnac hat nachgewiesen, daß eine uralte, mündlich überlieferte Kultur, ihrem Ursprung nach größtenteils neolithisch, vielleicht sogar noch älter, ihren Magieglauben, ihre sexuellen Bräuche und Hochzeitsriten, ihre Folklore und Märchen an spätere Generationen in der ganzen Welt weitergegeben hat.

Diese archaische Kultur bildet immer noch den verborgenen Unterbau unserer Gesellschaft. Die überall üblichen Ballspiele sind Überreste aus den Tempeln, wo der Ball im religiösen Ritual die Sonne und die einander gegenüberstehenden Spieler die Kräfte des Lichts und der Dunkelheit repräsentierten. Das Wiederaufleben von Astrologie und Hexerei in unserer Zeit ist nur das jüngste Beispiel für die Zählebigkeit des Subjektiven.

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Selbst wenn alle materiellen Requisiten, die man für ein unaktuell gewordenes Drama braucht, verschwunden sein werden, wird in Sprichwörtern, Balladen, musikalischen Motiven dennoch eine Spur des Stückes erhalten bleiben und von Generation zu Generation Widerhall finden; das Wort ist dauerhafter als der Stein. Wenngleich die großen Pyramiden Ägyptens eine Ausnahme zu sein scheinen, ist zu bedenken, daß sie bei all ihrer Solidität Symbole des Berges der Schöpfung sind, des Wunsches nach Unsterblichkeit, des Verlangens, Zeit und organischen Verfall zu überwinden.

Den Gegenprozeß zur Materialisierung habe ich Vergeistigung genannt, doch da Arnold J. Toynbee diesen Begriff in einem etwas begrenzteren Sinne verwendet, möchte ich einen gewissen Unterschied klarstellen. In Gang der Geschichte weist Toynbee auf eine Tendenz hin, die in der biologischen wie in der sozialen Entwicklung zum Ausdruck kommt: eine Tendenz zu Verkleinerung und Vereinfachung, begleitet von zunehmender innerer Organisiertheit und Verfeinerung. Siehe den Übergang von den riesigen hohlköpfigen Reptilien zu den kleinen klugen Säugetieren oder von den schwerfälligen Kirchturmuhren des fünfzehnten Jahrhunderts zu den winzigen, exakten Uhren des zwanzigsten. In gröbster Form stimmt diese Verallgemeinerung; aber Toynbee übersieht den ebenso signifikanten Gegenprozeß, den ich beschrieben habe und der in die entgegengesetzte Richtung geht. Für jenen Teil des Prozesses, auf den Toynbee hinweist, würde ich lieber den Terminus Entmaterialisierung verwenden.

Dem Wesen der Vergeistigung entsprechend, wird die greifbare, sichtbare Welt fortschreitend in Symbole übersetzt und im Geist umstrukturiert. Im ersten Teil dieses Buches habe ich versucht, einen Überblick über die Naturgeschichte dieses Prozesses zu geben; hier will ich also nur darstellen, wie eine einst völlig materialisierte Kultur entmaterialisiert wird und so den Weg für eine neue Konstellation formativer Ideen freimacht, die zum Teil als Reaktion gegen die vorherrschende Kultur entstanden sind und doch ständig von eben jenen Gewohnheiten und Institutionen, die sie zu verdrängen suchen, beeinflußt und zeitweilig sogar getragen werden.

Wenn die gestaltende Idee einer Kultur ganz ausgeschöpft, wenn ihr Drama ausgespielt ist und vom ursprünglichen schöpf­erischen Impuls nur noch ein seelentötendes Ritual und zwanghafter Drill übriggeblieben sind, dann ist der Augenblick für eine neue formative Idee gekommen. Gegen eine solche Veränderung bildet jedoch das ganze System der eingewurzelten Institutionen eine geschlossene dicke Mauer; denn was ist eine Institution anderes als eine geschlossene Gesellschaft zur Verhinderung von Veränderungen? Daher beginnt der Weg der Vergeistigung nicht mit einer neuen Idee, sondern am entgegen­gesetzten Ende, mit dem Angriff auf die sichtbaren Strukturen und Organisationen, die, solange sie funktionsfähig sind, keiner neuen Idee gestatten, Einfluß zu gewinnen.

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Der Weg der Vergeistigung wird also oft durch einen Zusammenbruch freigelegt, der zu einem solchen Angriff einlädt. Anfangs ist dies meist ein physischer Zusammenbruch, der die technische Untauglichkeit oder die menschliche Unzulänglichkeit einer scheinbar prosperierenden Gesellschaft zeigt: Kriege und die von ihnen bewirkte materielle Verelendung und Zerstörung, verbunden mit dem Verlust an Leben. Epidemien und Umweltzerstörung, Bodenerosion, Luftverschmutzung, Mißernten. Ausbrüche krimineller Gewalttätigkeit und psychotischer Bosheit - all dies sind Symptome solchen Zerfalls, und sie bringen weitere soziale Mißstände hervor; denn die betroffenen Menschen, die sich betrogen und unterdrückt fühlen, weigern sich dann, ihre alten Pflichten zu erfüllen oder die täglichen Bemühungen und Opfer zu vollbringen, deren es bedarf, um den Mechanismus der Gesellschaft in Gang zu halten.

Als Ursache dieser Zusammenbrüche erweist sich gewöhnlich ein schweres Versagen der Rückkopplung: Unfähigkeit, Fehler einzusehen, mangelnde Bereitschaft, sie zu korrigieren. Widerstand gegen die Einführung neuer Ideen und Methoden, die die Möglichkeiten für eine konstruktive Veränderung schaffen würden. Einmal erkannt, könnten viele der Fehler, die schließlich eine Gesellschaft untergraben, korrigiert werden, vorausgesetzt, daß unter Ausnützung der vorhandenen Mittel rasch gehandelt wird; geschieht das nicht, dann entsteht eine viel schlimmere pathologische Situation, die eher eine Operation als eine Diät erfordert.

Aus diesen Gründen zeigt sich die erste Äußerung der Vergeistigung, obgleich sie subjektiver Desillusionierung und Enttäuschung entspringt, nicht im Bereich der Ideen; sie beginnt vielmehr mit einem Angriff auf sichtbare Gegenstände, mit Bildstürmerei und Zerstörung. Manchmal nimmt dies die Form einer organisierten physischen Attacke an; manchmal, wie es bei der frühchristlichen Ablehnung der großen römischen Baudenkmäler der Fall war, äußert es sich im Aufgeben der alten Bauwerke, so wie die Christen die Arenen und öffentlichen Bäder mieden und sich in anderen Gebäuden an anderen Stellen niederließen. Offenkundig sind die sichtbaren Formen einer Gesellschaft leichter zu erkennen – und zu zerstören – als die ihnen zugrunde liegenden Ideen und Lehren, die man im Geiste bewahren kann, so wie die Juden selbst im katholischen Spanien heimlich an ihren alten Riten festhielten. Doch das Verbrennen von Büchern und das Abreißen solider Bauwerke untergräbt das Vertrauen in die Kontinuität. Man denke an die Bastille!

Während die Materialisierung notwendigerweise ein langsamer Prozeß ist, geht die Entmaterialisierung schnell vor sich. Sogar die Einstellung der Arbeit an neuen Bauten oder deren Umbau in einem neuen Stil, wie etwa die kühn aufragenden gotischen Bauwerke an die Stelle der massiven romanischen Formen traten, stellen einen Vorgang dar, der deutlicher ist als Worte.

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Ist der Abbau weit genug fortgeschritten, dann ist der Weg frei für die positiven Kräfte der Vergeistigung; das Gelände ist gesäubert. Nun beginnen die Möbel, Vorhänge und Tapeten der bestehenden Gesellschaft, auch wenn sie noch den Glanz der Neuheit haben, altmodisch zu erscheinen; und die Appartements, die einmal der Elite vorbehalten waren, werden neuen Mietern angeboten — die, wie zum Hohn, entweder anderswo andere Wohnungen für sich bauen oder noch ältere Gebäude in Besitz nehmen, um sie für ihre neuen Zwecke zu adaptieren; so wurden beispielsweise die Adelspaläste in London, Paris und Rom in Bürohäuser, Hotels und Amtssitze der höheren Bürokratie umgewandelt.

Weitere historische Beispiele für die Vergeistigung erübrigen sich. Auch hier, wie im Verhalten der Organismen, gehen die integrierenden und die desintegrierenden Prozesse gleichzeitig und nicht ohne gegenseitige Beeinflussung vor sich. Um den Verlauf der Vergeistigung zu verfolgen, braucht man nur die Reihenfolge der Materialisierung umzukehren, beginnend mit Abbau und Demontage und endend beim Anfangsstadium, wo ein Wandel in Charakter und Lebensstil sichtbar wird, um jenen Punkt zu erreichen, an dem die formative Idee wieder auftaucht. Denn wenn die negative Phase der Vergeistigung weit genug fort­geschritten ist, dann ergreift eine neue Ideenkonstellation, ein neues Weltbild, eine neue Vision der menschlichen Möglich­keiten von der ganzen Kultur Besitz, ein neues Ensemble betritt die Bühne und spielt ein neues Stück.

Wenn jedoch die Prozesse der Desillusionierung, Entfremdung, Demontage und Zerstörung weitergehen und kein gegenläufiger Vergeistigungs-prozeß einsetzt, dann schreitet die Zerstörung in wachsendem Tempo voran, bis schließlich keine restaurativen Maßnahmen mehr möglich sind. In diesem Falle gewinnen die Anti-Lebenskräfte die Oberhand, und die Schauspieler, welche die Bühnenmitte einnehmen und behaupten, das Lebendige Theater zu repräsentieren, verkörpern das Absurde, den Sadismus, die Grausamkeit und den Wahnwitz, um mit ihrer eigenen Verrücktheit die vom Machtkomplex bewirkte Enthumanisierung zu bekräftigen.

Glücklicherweise gibt es bereits viele Anzeichen, wenn auch nur verstreute, schwache und oft widersprüchliche, daß eine neue kulturelle Umwandlung sich vorbereitet: eine, die davon ausgeht, daß die Geldwirtschaft Bankrott gemacht hat und daß der Machtkomplex durch seine eigenen Exzesse und Übertreibungen machtlos geworden ist. Ob dieser Wandel schon ausreicht, um die Zersetzung aufzuhalten, oder gar, um die nukleare Megamaschine zu demontieren, ehe sie die totale Menschheitskatastrophe herbeiführt, das wird noch längere Zeit fraglich bleiben. Überwindet jedoch die Menschheit den Mythos der Maschine, dann kann eines mit Sicherheit vorausgesagt werden: Die unterdrückten Komponenten unserer alten Kultur werden die dominierenden in der neuen Kultur

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sein; und die gegenwärtigen megatechnischen Institutionen und Strukturen werden auf menschliche Maße zurückgeführt und unter direkte menschliche Kontrolle gebracht werden. Wenn das eintrifft, dann müßte unser Bild der bestehenden Gesellschaft, ihrer technologischen Mißgeburten und ihres menschlichen Mißverhaltens eine gültige positive Orientierung für die Entwicklung einer Lebensökonomie geben.

Wenn diese schematische Darstellung der Materialisierung und der Vergeistigung richtig ist, dann muß sie natürlich auch für die formativen Ideen in Wissenschaft und Technik und für deren Verkörperung in unserem gegenwärtigen Machtkomplex Geltung haben.

Was in den Köpfen von Roger Bacons Zeitgenossen im dreizehnten Jahrhundert nur vage Vorahnungen mechanischer Erfindungen waren, wurde zu einer klar umrissenen Gruppe von Ideen in den Werken einer ganzen Reihe von Denkern des siebzehnten Jahrhunderts, von Campanella und Francis Bacon bis Gilbert, Galilei und Descartes. In der archetypischen Gestalt Isaac Newtons, dessen mathematische Sprache so neuartig und abstrus war, daß sie nur Eingeweihten verständlich war, zeigte sich das neue mechanische Weltbild in seiner reinsten und verklärtesten Form. Auf dieser neuen ideologischen Basis wurde die reichere Polytechnik des Mittelalters, die stets für subjektiven Ausdruck Raum gelassen hatte, eingeengt und reduziert. Die Träume von Kepler, Wilkins, John Glanvill, die diesen menschlichen Faktor ausschlössen, waren frühe Projektionen der Eroberung von Zeit und Raum durch den Menschen.

Wenn die Inkarnation bei der Umwandlung von Wissenschaft und Technik nur eine geringe Rolle spielte, dann lag das wohl daran, daß die Idee der Persönlichkeit für die Automaten, die als Modelle der neuen Vision von der Welt dienten, nicht in Betracht kam. In diesem mechanischen Reich war die menschliche Persönlichkeit ein Hindernis für die neue Auffassung von Objektivität; diesen irrationalen menschlichen Faktor zu eliminieren, war das gemeinsame Ziel sowohl der theoretischen Wissenschaft als auch der modernen Technologie.

Dafür ging die Technik rasch in die nächsten Stadien der Materialisierung über: In einer Vielzahl neuer Erfindungen und Organisations­formen wurden die neuen formativen Ideen des Machtsystems sichtbar und wirksam. Vom achtzehnten Jahrhundert an fand das Ideal mechanischer Regelmäßigkeit und Perfektion Eingang in jede menschliche Aktivität, von der Beobachtung des Himmels bis zum Aufziehen von Uhren, von der Rekrutenausbildung bis zur Getreideaussaat, von der Buchhaltung bis zur Aufstellung von Lehrplänen.

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Auf allen Gebieten wurde diese Vorgangsweise durch enorme quantitative Produktivitäts­steigerung bestätigt, während die qualitativen Ergebnisse als selbstverständlich angenommen wurden. In unserer Zeit hat das mechanische Weltbild schließlich das Stadium vollständiger Verkörperung in einer Masse von Maschinen, Laboratorien, Fabriken, Bürohäusern, Raketenbasen, unterirdischen Schutz­bunkern und Kontrollzentren erreicht. Doch nun, da die Idee voll materialisiert ist, können wir erkennen, daß sie für den Menschen keinen Raum freigelassen hat. Er ist auf einen genormten Servomechanismus reduziert: ein übriggebliebener Rest einer organischeren Welt.

Wenn Technik und Zivilisation und Der Mythos der Maschine auf anderen Gebieten keinen Anspruch auf Originalität erheben können, so sind diese beiden Brüder doch zumindest eine radikale Herausforderung, wenn nicht ein entscheidender Schlag gegen die Vorstellung, der Machtkomplex hätte sich von selbst unter der Einwirkung äußerer Kräfte entwickelt, über die der Mensch keine Macht hatte und die sein eigenes subjektives Leben nicht zu beeinflussen vermochte.

Wenn Maschinen allein andere Maschinen erzeugen könnten, wenn technische Systeme sich automatisch vermehrten, auf Grund der ihnen innewohnenden Kräfte, ähnlich denen, die das Wachstum und die Entwicklung der Organismen bewirken, dann wären die Aussichten der Menschheit für die nächste Zukunft noch schwärzer, als sie in Samuel Butlers zitiertem Brief oder in Henry Adams' späterer Analyse dargestellt wird. Aber wenn das Machtsystem selbst ursprünglich ein Produkt des menschlichen Geistes war - die Materialisierung von Ideen, die organische und menschliche Wurzeln hatten -, dann hält die Zukunft noch viele Möglich­keiten bereit, von denen manche gänzlich außerhalb der Reichweite unserer bestehenden Institutionen liegen. Wenn die modernen technokratischen Rezepte zur Ausdehnung des gegenwärtigen Herrschaftssystems auf die gesamte organische Welt für vernünftige Menschen nicht akzeptabel sind, dann brauchen sie nicht akzeptiert zu werden. Die dringliche Aufgabe des Menschen besteht heute nicht darin, weitere Mißbräuche des Machtsystems zu erdulden, sondern sich davon loszulösen und die subjektiven Kräfte zu pflegen wie nie zuvor.

Erscheint dies als eine nahezu unmögliche Forderung, weil es so aussieht, als hätte die menschliche Persönlichkeit gegen das Machtsystem keine Chance, dann braucht man nur daran zu denken, wie absurd eine solche Absage, eine solche Verweigerung, eine solche Herausforderung den meisten intelligenten Römern erschien, ehe das Christentum eine Alternative bot.

Unter dem ersten römischen Kaiser, Augustus (63 vor bis 14 nach Christus), war das römische Machtsystem, unterstützt und erweitert durch seine massiven Bau- und Kriegsmaschinen, auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Einflusses angelangt. Wer hätte damals geahnt, daß Gesetz und Ordnung der Fax Romana nicht genügend gefestigt waren, um praktisch unerschütterlich zu sein?

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Trotz der frühen Warnungen des Historikers Polybius, dem Henry Adams jener Tage, glaubten die Römer damals, ihr Leben würde ewig so weitergehen. So fest untermauert war ihre Wirtschaft, daß die gebildeten Römer lange Zeit nur Verachtung für die unbedeutende christliche Minderheit übrig hatten, die sich bewußt aus diesem System zurückzog, dessen Güter ablehnte und die erstaunlichen Leistungen der Römer in Straßenbau und Kanalisierung ebenso geringschätzte, wie sie deren Vorliebe für Völlerei und Porno­graphie verurteilte.

Welcher gebildete Römer hätte zur Zeit Mark Aurels gedacht, daß nur zweihundert Jahre später einer ihrer gebildetsten Köpfe, Augustinus, ein Lehrer von hohem Ansehen, mit der Kultur der Vergangenheit wohlvertraut, das Werk Über den Gottesstaat schreiben würde, in dem er die Ungerechtigkeiten der gesamten römischen Staatsordnung bloßlegte und selbst ihre Vorzüge geißelte? Und wer hätte sich träumen lassen, daß nicht viel später Paulinus von Nola, ein Patrizier, dem die Würde eines römischen Konsuls, das höchste Staatsamt, offenstand, sich auf der Höhe seiner Laufbahn in ein entlegenes spanisches Kloster zurückziehen würde, um seinen Glauben an die göttliche Ordnung und an das ewige Leben, das Jesus verheißen hat, zu pflegen; und daß er in seiner Gläubigkeit sich schließlich als Sklave verkaufen würde, um den einzigen Sohn einer Witwe aus der Gefangen­schaft loszukaufen? Und doch haben diese unvorstellbaren ideologischen Wandlungen stattgefunden und diese unvorstellbaren Taten sich wirklich ereignet.

Wenn eine solche Entsagung und Entäußerung im stolzen Römischen Reich möglich waren, sind sie überall möglich, auch hier und jetzt; und heute noch eher, nachdem mehr als fünfzig Jahre lang Wirtschaftskrisen, Weltkriege, Revolutionen und systematische Vernichtungsaktionen die moralischen Grundlagen der modernen Zivilisation in Schutt und Asche gelegt haben. Wenn das Machtsystem nie so gewaltig schien wie heute, da es mit einer brillanten technischen Großtat nach der anderen aufwartet, so war auch seine negative, lebensverstümmelnde Kehrseite nie zuvor so gefährlich: Denn uneingeschränkte Gewaltanwendung und Verbrechen aller Arten, nach dem enthumanisierten Vorbild des Macht-Pentagons, machen sich überall dort breit, wo einst die gesichertsten und unverletzlichsten menschlichen Tätigkeiten zu finden waren.

Dies ist keine Prophezeiung - es ist eine sachliche Schilderung dessen, was vor unseren Augen bereits geschieht, wo mörderische Konfrontationen und infantile Wutanfälle an die Stelle vernünftiger Forderungen und gemeinsamer Bemühungen treten. Die materielle Struktur des Machtsystems war noch nie so klar erkennbar; doch seine menschlichen Stützpfeiler waren noch nie so schwach, so indifferent, so verwundbar.

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Wie lange noch, müssen die nun Erwachenden sich fragen, wie lange kann die materielle Struktur einer fortgeschrittenen Technik sich halten, wenn ihre menschlichen Grundlagen abbröckeln? All dies ist so plötzlich gekommen, daß viele Leute kaum begriffen, daß es überhaupt geschehen ist; doch innerhalb einer einzigen Generation haben wir den Boden unter den Füßen verloren; die menschlichen Institutionen und die moralischen Überzeugungen, die Tausende Jahre brauchten, um auch nur minimale Wirkung zu erzielen, sind vor unseren Augen verschwunden: so völlig, daß die nächste Generation kaum glauben wird, daß sie jemals existierten.

Nehmen wir ein dramatisches Beispiel dieses Zusammenbruchs. Was hätten die großen Statthalter des britischen Weltreichs, die Curzons und Cromers, gesagt, hätte man ihnen 1914 mitgeteilt, daß, allen statistischen Jahrbüchern zum Trotz, ihr Empire innerhalb einer Generation auseinanderfallen würde - und gerade damals entwarf Sir Edward Lutyens die imposanten Prunkbauten in der neuen Hauptstadt Delhi und einen großen Palast für den Vizekönig, so als sollte das Empire noch unzählige Jahrhunderte weiterbestehen. Nur Kipling, obgleich der Dichter des Imperialismus, sah in seinem Recessional jene drohende Möglichkeit voraus.

Konnten diese Mehrer des Reiches ahnen, was heute so klar ist, daß nämlich die dauerhafteste Folge des britischen Imperialismus, in dessen humanster Form als Commonwealth of Nations, darin bestehen würde, den Weg für einen Gegen­kolonialismus und eine Gegeninvasion Englands durch die einst von ihm unterdrückten Völker zu öffnen? Doch all dies ist eingetreten, begleitet von Niederlagen und Demütigungen, die bereits allerorten zu verzeichnen sind, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten. Wenn diese äußeren Bollwerke des Pentagon der Macht erst gefallen sind, wie lange wird es noch dauern, bis das Zentrum selber kapituliert oder in die Luft fliegt?

Das oströmische Reich gewann eine weitere Lebensfrist von tausend Jahren, indem es sich mit dem Christentum einigte. Soll das Machtsystem als aktiver Partner in einem organischeren, der Erneuerung des Lebens dienenden Komplex weiterbestehen, dann nur, wenn seine dynamischen Führer und die von ihnen beeinflußten Gruppen, sich in Herz und Geist, in ihren Idealen und Zielen grundlegend wandeln — so gründlich müßte der Wandel sein wie jener, der den Zerfall des byzantinischen Reichs so lange verzögert hat. Doch man darf nicht vergessen, daß jene Vermischung römischer und christlicher Institutionen auf Kosten der Kreativität ging. Es besteht also Grund, nach einer lebenskräftigeren Lösung Ausschau zu halten, bevor der Zerfall unserer eigenen Gesellschaft noch weiter fortgeschritten ist.

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Ob eine solche Lösung möglich ist, hängt von einem unbekannten Faktor ab: Wie lebenskräftig sind die in der Luft liegenden formativen Ideen, in welchem Maße sind unsere Zeitgenossen bereit, die Anstrengungen und Opfer auf sich zu nehmen, die für eine solche menschliche Erneuerung notwendig sind? Darauf gibt es keine rein technologischen Antworten.

Hat die westliche Zivilisation bereits jenes Stadium der Vergeistigung erreicht, wo Distanzierung und Absage zur Schaffung eines organischen Weltbilds führen, in dem die menschliche Persönlichkeit in allen ihren Dimensionen den Vorrang vor den bio­logischen Bedürfnissen und technologischen Erfordernissen haben? Diese Frage kann nur durch Taten beantwortet werden. Doch Anzeichen für eine solche Wandlung sind schon vorhanden.

Es übersteigt die Kräfte eines einzelnen, auch nur in groben Umrissen die Vielfalt der Veränderungen zu beschreiben, die notwendig sind, um den Machtkomplex in einen organischen Komplex und die Geldwirtschaft in eine Lebenswirtschaft zu verwandeln; jeder Versuch, ein detailliertes Bild zu geben, wäre Anmaßung. Und das aus zwei Gründen. Erstens ist das wirklich Neue unvorhersehbar, außer in Zügen, die in anderer Form in vergangenen Kulturen erkennbar sind. Zweitens und vor allem aber, weil die Materialisierung der organischen Ideologie, obwohl sie gewiß schon begonnen hat, ebensolange brauchen wird, um das bestehende Establishment zu verdrängen, wie das gegenwärtige Machtsystem gebraucht hat, um sich an die Stelle der feudalen, städtischen und kirchlichen Ordnung des Mittelalters zu setzen.

Die ersten Anzeichen einer solchen Transformation werden in einem inneren Wandel bestehen; und innere Veränderungen kommen oft plötzlich und vollziehen sich rasch. Jeder von uns kann, solange das Leben sich in ihm regt, in der Befreiung vom Machtsystem eine Rolle spielen, indem er in stillen Akten geistiger und physischer Lossagung – in Gesten der Nicht­überein­stimmung, der Enthaltung, der Selbstein­schränkung und -hemmung, die ihn der Herrschaft des Macht-Pentagons entziehen – seinen Primat als Person geltend macht.

An Hunderten verschiedenen Orten sind die Anzeichen einer solchen Entmaterialisierung und Vergeistigung bereits erkennbar: viel mehr, als ich anzuführen für notwendig hielt. Wenn ich es wage, eine vielversprechende Zukunft vorherzusagen, die ganz anders ist als jene, welche die Technokraten (die Machtelite) so selbstsicher extrapoliert haben, dann deshalb, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, daß es viel leichter ist, sich vom System loszulösen und dessen Mittel selektiv anzuwenden, als die Verfechter der Überflußgesellschaft ihren fügsamen Anhängern glauben machen wollen.

Ist auch keine unmittelbare und vollständige Rettung vor dem Machtsystem möglich, am wenigsten durch Massengewalt, so liegen doch die Veränderungen, die dem Menschen Autonomie und Initiative wiedergeben werden, in der Reichweite jeder einzelnen Seele, wenn sie erst einmal aufgerüttelt ist.

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Nichts könnte dem Mythos der Maschine und der enthumanisierten Gesellschaftsordnung, die er hervorgebracht hat, gefährlicher werden als ein stetiger Entzug des Interesses, eine stetige Verlangsamung des Tempos, eine Beendigung der sinnlosen Gewohnheiten und gedankenlosen Handlungen. Und hat nicht all dies faktisch schon begonnen?

Wenn der Augenblick gekommen ist, Macht durch Fülle, äußerliche Zwangsrituale durch innerliche Selbstdisziplin, Entper­sönlichung durch Persönlichkeits­bildung, Automation durch Autonomie zu ersetzen, dann werden wir sehen, daß die notwendige Änderung von Haltung und Zielsetzung unter der Oberfläche schon seit hundert Jahren im Gang ist und daß die lange vergrabene Saat einer reicheren menschlichen Kultur nun reif ist, Wurzeln zu schlagen und zu sprießen, sobald das Eis aufbricht und die Sonne sie wärmt. Soll diese Saat gedeihen, dann muß sie sich auch vom Kompost vieler vergangener Kulturen nähren. Sobald der Machtkomplex genügend vergeistigt ist, werden seine formativen universalen Ideen wieder brauchbar sein: Sie werden ihre geistige Kraft und ihre Disziplin, die einst hauptsächlich der Verwaltung von Dingen dienten, zur Verwaltung und Bereicherung des ganzen subjektiven Daseins des Menschen verwenden.

Solange das Leben des Menschen gedeiht, gibt es keine Grenzen für seine Möglichkeiten, keinen Endpunkt für seine Schöpfer­kraft, denn es gehört zum Wesen des Menschen, die Grenzen seiner biologischen Natur zu transzendieren und wenn nötig zu sterben, um solche Transzendenz zu ermöglichen.

Hinter dem Bild der neuen menschlichen Möglichkeiten, das ich in diesem Buch entworfen habe, steckt eine tiefe Wahrheit, der William James vor fast hundert Jahren Ausdruck gegeben hat. »Wenn wir von unserem heutigen fortgeschrittenen Standpunkt«, sagte er,

»auf die vergangenen Stufen des menschlichen Denkens zurückblicken, sind wir erstaunt, daß eine Welt, die uns von so riesiger und rätselhafter Kompliziertheit erscheint, jemals jemandem als so klein und einfach vorkommen konnte ... Es gibt im Geist oder in den Prinzipien der Wissenschaft nichts, das die Wissenschaft daran hindern sollte, sich erfolgreich mit einer Welt zu befassen, in der persönliche Kräfte der Ausgangspunkt neuer Wirkungen sind. Das einzige, dem wir unmittelbar begegnen, die einzige Erfahrung, die wir konkret besitzen, ist unser persönliches Leben. Die einzige vollständige Kategorie unseres Denkens, sagen uns die Philosophie­professoren, sind die abstrakten Elemente dieses Denkens. Und daß die Wissenschaft die Persönlichkeit als Voraussetzung des Geschehens leugnet, daß sie starr an dem Glauben festhält, unsere Welt sei ihrem entscheidenden und innersten Wesen nach eine völlig unpersönliche Welt, könnte sich, wenn das Rad der Zeit sich weiterdreht, als gerade jener Fehler erweisen, der unsere Nachfahren an unserer vielgerühmten Wissenschaft am meisten überraschen wird, als das Versäumnis, das sie in ihren Augen am meisten als perspektivlos und kurzsichtig erscheinen lassen dürfte.«

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Das Rad der Zeit hat sich weitergedreht; und was James über die Wissenschaft sagte, gilt gleichermaßen für unsere zwanghafte, entpersönlichte, kraftbetriebene Technik. Wir haben heute genügend historische Perspektive, um zu erkennen, daß dieser scheinbar vollautomatisierte Mechanismus, wie der alte automatische Schachspieler, in seinem Getriebe einen Menschen versteckt hat; wir wissen, daß das System nicht direkt aus der Natur abgeleitet ist, wie wir sie auf der Erde oder im Himmel vorfinden, sondern Züge aufweist, die an jedem Punkt den Stempel des menschlichen Geistes tragen, teils rational, teils schwach­sinnig, teils dämonisch. Kein äußerliches Herumpfuschen wird diese übermotorisierte Zivilisation verbessern, die sich jetzt ganz deutlich in der letzten versteinerten Phase der Materialisierung befindet; nur die neue Transformation, die bereits im menschlichen Geist begonnen hat, wird einen wirklichen Wandel herbeiführen.

Jene, die nicht fähig sind, William James' Erkenntnis zu akzeptieren, daß die menschliche Persönlichkeit stets der »Ausgangs­punkt neuer Wirkungen« gewesen ist und daß die scheinbar solidesten Strukturen und Institutionen zusammenbrechen müssen, sobald die formativen Ideen, die sie ins Leben gerufen haben, sich aufzulösen beginnen, sind die eigentlichen Propheten des Untergangs. 

Hält die Menschheit sich an die von der technokratischen Gesellschaft gestellten Bedingungen, dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als deren Pläne für einen beschleunigten technischen Fortschritt mitzumachen, auch wenn alle lebens­wichtigen Organe des Menschen ausgeschlachtet werden, um die sinnlose Existenz der Megamaschine zu verlängern. 

Doch an denen von uns, die den Mythos der Megamaschine abgeschüttelt haben, liegt es, den nächsten Schritt zu tun: Denn die Tore des techno­kratischen Gefängnisses werden sich trotz ihrer verrosteten alten Angeln automatisch öffnen, sobald wir uns entschließen, hinauszugehen.

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E n d e

 

 

 

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