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Zweiter Teil: 

Was ist der Mensch?

 

 

Aus dem ersten Teil dieses Buches nehmen wir eine wesentliche Einsicht in den zweiten herüber: Das Weltall ist Veränderung, Bewegung, Entwicklung, wenn auch die Richtung dieser Entwicklung im Zusammen­hang mit den Problemen eines sich ausdehnenden Universums nicht mit absoluter Sicherheit feststellbar ist. Eindeutig feststellbar aber ist die Entwicklungsrichtung der Materie und des Lebens auf unserem Planeten. 

Über immer vielseitiger zusammengesetzte materielle Verbindungen, über die damit ermöglichten Vorstufen des Lebens, über das einzigartige Ereignis der Erstentstehung lebender und lebendiger Materie ging der Weg des Lebens zu immer höheren, besser und feiner organisierten und gestalteten pflanzlichen und tierischen Formen.

Das Höchstergebnis dieser Entwicklung aber, soweit dies nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft für uns erkennbar ist, ist der Mensch. Seine besondere Stellung im Dasein zu umreißen, ist die Aufgabe dieses zweiten Teils unseres Buches.

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4. Die
Sonderstellung
des Menschen
im Dasein

 

 

Der Mensch — 
höchstes Ergebnis der Evolution 

 

 

4.1  Der Mensch — Höchstergebnis der Evolution des Lebens

 

Etwa 3,5 Milliarden Jahre alt ist das Leben auf unserer Erde. Viele Irr- und Umwege hat es auf seinem Entwicklungsweg durch die Jahrmilliarden in Kauf nehmen müssen. Manchmal stockte der Atem der Evolution, manchmal schien ihr Weg in einer Sackgasse endgültig zu enden. Manche Organisationsmuster des Lebens paßten sich ihrer Umgebung derart vollkommen an, daß sie nach den Gesetzen der Selektion (Auslese) in der Natur aussterben mußten, als ihre Umwelt sich tiefgreifend veränderte. 

Wieder andere Arten haben sich seit ihrer Entstehung vor Jahrmillionen kaum weiterentwickelt. Trotzdem läßt sich eine entscheidende Aufstiegsrichtung der aufgrund von Mutation (erblicher Änderung der Merkmale eines Lebewesens) und Selektion immer neue Formen schaffenden Lebensevolution herauskristallisieren: Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere bilden eine Linie wachsender Vervollkommnung des Gehirns. Parallel zu dieser zunehmenden Vielgestaltigkeit und Verfeinerung der Gehirne nahm das Bewußtsein während der Stammesgeschichte zu. Im gleichen Maße nahm die Abhängigkeit von der Umwelt ab, eine gewisse Autonomie, d.h. Selbständigkeit ihr gegenüber zu.

Der Zweig der Evolution, auf dem sich das Leben auf unserem Planeten bisher zu seiner höchsten Daseinsform aufschwang, ist die Ordnung (A) der Herrentiere (Primaten) innerhalb der Klasse der Säugetiere. Zur Ordnung der Herrentiere gehören die Menschen, aber auch die Menschenaffen (Pongiden: Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen). Der Mensch stammt nicht von diesen ab, ist aber ihr naher Verwandter. Hominiden (Menschenartige) und Pongiden haben einen gemeinsamen Urahn, von der sich damit befassenden Wissenschaft, der Paläanthropologie, Proconsul genannt. Von ihm aus gabelte sich die Evolution: einerseits zu den Menschenartigen, andererseits zu den Menschenaffen. Diese entscheidende Trennung und damit der Ansatz für die Erreichung der bisher höchsten Stufe der Evolution, die Ausbildung des Menschen, wird "Tier-Mensch-Übergangsfeld" genannt und begann vor etwa 25 Millionen Jahren. Einen langen Weg hat die Menschheit seitdem zurückgelegt. 

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Am Anfang dieses Weges standen nach dem Proconsul die sogenannten Vormenschen. Etwa 15 Millionen Jahre brauchte die Evolution, um den Übergang vom Vormenschen, dessen wichtigster Vertreter der Ramapithecus ist, zum Urmenschen zu schaffen. Die ersten Urmenschen lebten vor etwa 3 Millionen Jahren. Als ihre Heimat wird vor allem Afrika (Nordost-, Ost- und Südafrika) angesehen. Sie waren wahrscheinlich die ersten Lebewesen mit aufrechter Fortbewegung. In ihnen hatte das Leben einen gewaltigen Sprung vollzogen, der von nun an zu den charakteristischen Eigenschaften des Menschen gehören wird: den Sprung zum aufrechten Gang.

 

Man hat den Menschen als das Wesen bezeichnet, in dem sich das Leben aufrichtete, in dem es sein starkes Verhaftetsein an die Erde überwand. Die Richtung des Körpers vierfüßiger Tiere liegt der Erde an, und die eigentliche Blickrichtung ihres Gesichts ist der waagerechte Ausschnitt der Wirklichkeit, "Umkreis" genannt, in dem diese Tiere Nahrung, Beute und Feind suchen oder erwarten. Der Horizont des Vierbeiners wird auch dadurch nicht wesentlich größer, daß er bisweilen den Blick nach oben wendet, wie der Hund, der den Mond anbellt, oder die Giraffe, die nach Laub sucht. 

Aber auch Zweibeiner wie die Vögel haben keinen eigentlichen aufrechten Gang. Ihre Zweibeinigkeit dient einem anderen Zweck, vor allem dem Erreichen einer günstigen Ausgangsstellung zum Fliegen. Von einer wirklich und grundsätzlich freistehenden und frei gehenden Senkrechthaltung und Hochgestelltheit des Leibes kann nur beim Menschen die Rede sein. Nur die Zweifüßigkeit des Menschen scheint echter Eigenzweck zu sein, so daß die ganze menschliche Gestalt und die menschlichen Gliedmaßen und Organe in ihrem Zusammenwirken am aufrechten Gang orientiert sind. Alle anderen Lebewesen sind "höchstens teils aufrecht oder fast aufrecht oder vorübergehend aufrecht, wie die Menschenaffen. Aber sie sind auch in der 'Menschennähe'" (A. Neuhäusler).

Mit der Herausbildung des aufrechten Ganges hatte die Evolution eine entscheidende Hürde übersprungen, eine echte Grenzüberschreitung vollzogen. Auch das Gebiß des Urmenschen und der Schädel in Hinsicht auf sein Gehirnvolumen und andere Merkmale waren bereits menschlich. Den Sprung zu Werkzeug- und Feuergebrauch allerdings scheint diese keimende menschliche Intelligenzform noch nicht geschafft zu haben. 

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Der Urmensch, mit seinen Varianten von der Wissenschaft zur Gruppe Australopithecus zusammengefaßt, machte vor etwa 800.000 Jahren dem Frühmenschen Platz. Für Weiterentwicklungen im Rahmen der Gruppe der Frühmenschen legt man etwa 500.000 Jahre zugrunde. Auch der bislang bekanntgewordene, älteste europäische Mensch, der Homo heidelbergensis, gehört zu dieser Gruppe. Als Altmenschen bezeichnet man die auf sie folgende Gruppe, die vor 120.000 bis 30.000 Jahren lebte. Zu ihr gehören die Neandertaler, die aber heute nicht mehr zu den eigentlichen Vorfahren des "Jetztmenschen" gerechnet, sondern in eine Seitenlinie in der Evolution des Menschen eingeordnet werden. Der Jetztmensch (Homo sapiens) darf hinsichtlich seines ersten Auftretens auf etwa 40 000 Jahre zurückdatiert werden. Seine Existenz wird durch Funde in Europa, in weiten Teilen Asiens und in Nordafrika bezeugt. Innerhalb dieses Zeitraums von 40000 Jahren scheinen sich auch die heute bekannten Menschenrassen herausgebildet zu haben.

Jede höhere der eben kurz charakterisierten Stufen der Entwicklung der Menschheit stellt ein Mehr an Bewußtsein und Umweltunabhängigkeit, an geistigen und künstlerischen Fähigkeiten, an kulturellen Leistungen dar. In dieser Hinsicht erhebt sich der Jetztmensch aber nicht nur über seine unmittelbaren menschlichen und vormenschlichen Ahnen, sondern auch über alle Lebensformen, die auf unserem Planeten leben und gelebt haben.

So darf zusammenfassend gesagt werden: Die Evolution des lebenden Stoffes auf der Erde führte zum Menschen als ihrem Höhepunkt. Auch schon in rein materieller Hinsicht scheint der Mensch die höchstentwickelte und -organisierte Synthese von Energie und Masse darzustellen. Was die scheinbar so grobe und träge Materie zu sein vermag, zeigt sich am Wunderwerk des menschlichen Leibes. Gerade das menschliche Gehirn als Teil dieses Leibes ist wohl das höchstentwickelte Organ der gesamten Biosphäre, d.h. der Lebensschicht auf unserem Planeten. Im Menschen hat sich also die Evolution eine Lebensform geschaffen, die sich durch die höchste physisch-chemische Ausgestaltung, durch den stärksten Grad der Synthese der Materie, durch ein Höchstmaß an innerer Organisation und Zentralisation sowie durch ein Äußerstes an Bewußtheit und Innerlichkeit auszeichnet, so daß wir hier von der Spitze der Evolution des Lebens und des Psychischen sprechen dürfen.

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4.2 Menschsein — eine Sonderform des Daseins

 

Abgesehen von seiner körperlichen Eigenart ist menschliches Sein vor allem in seelischer Hinsicht eine besondere, anderswo nicht anzutreffende Form des Daseins. Dies läßt sich an fünf Teilbereichen aufzeigen: an seinem Selbstbewußtsein, seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung, seiner Eigenschaft als Person, seinem sozialen Sein und an seiner Sprache.

 

4.2.1 Menschliches Bewußtsein als Selbstbewußtsein

Besonders im Hinblick auf die von ihm erreichte Stufe des Bewußtseins kann und muß man vom Menschen als einem Höchstergebnis der Evolution sprechen. Wir erwähnten bereits, daß die Entwicklung des Lebens auf der Erde trotz verschiedener Um- und Irrwege unter anderem ganz wesentlich ein Aufstieg zu immer höheren Bewußtseinszuständen war. Parallel zur wachsenden Vervollkommnung des Nervensystems und des Gehirns im Laufe der Stammesgeschichte nahm auch das Wahrnehmungsvermögen einen immer höheren Zustand an. Die bisher höchste Qualität in den Bewußtseinsfortschritten der Evolution stellt das menschliche Selbstbewußtsein dar. "Als sich der Instinkt eines Lebewesens zum erstenmal im Spiegel seines Selbst erblickte, machte die ganze Welt einen Schritt vorwärts" (T. de Chardin). 

In der Tat bedeutet dieser Schritt, vergleichbar nur der Biogenese, der Entstehung ersten Lebens aus der unbelebten Materie, eine revolutionäre Neuerung, eine grundsätzliche Grenzüberschreitung alles bisher Dagewesenen. Evolutionsforscher sprechen in Bezug auf diese qualitative Umwandlung tierischen Bewußtseins in Selbstbewußtsein von einer "revolutionären Umbildung", die das Leben in seiner Tiefe durchmachen mußte, um den "vergeistigenden Sprung" ins Ich-Bewußtsein zu schaffen, von einem "radikalen Fortschritt", den das Selbstbewußtsein gegenüber allem vorausgegangenen Leben bedeutet. Durch die Entstehung des Selbstbewußtseins wurde unser Planet auf eine qualitativ ganz neue Stufe gestellt, denn dieses Erwachen des Denkens hatte ja entscheidende Rückwirkungen auf das terrestrische (von latein. terra: Erde) Leben in seiner organischen Gesamtheit.

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Was ist (tierisches) Bewußtsein? Was ist (menschliches) Selbstbewußtsein? Das Tier hat Wahrnehmungen, sieht, riecht, hört, empfindet Schmerz und dumpfe Angst, begehrt und reagiert, hat eine im allgemeinen für jede Art unterschiedliche Merk- und Wirkwelt, bemerkt seine ganz spezielle, gleichsam auf es zugeschnittene Umwelt, die es wie die Schnecke ihr Gehäuse sozusagen mit sich herumträgt. Eine gewisse Auflockerung dieser festen Umweltschranken findet sich beispielsweise bei den Menschenaffen. Aber auch dort ist sie nicht so wesentlich, so radikal, daß man von einer Aufhebung der Schranken sprechen könnte oder echtes Selbstbewußtsein annehmen dürfte. Im Sinne dieser Wahrnehmungen "weiß" das Tier. 

Der entscheidende Unterschied zum Selbstbewußtsein aber besteht darin, daß das Tier nicht weiß, daß es weiß. Es bemerkt seine inneren Zustände, es erhält Sinneseindrücke von Vorgängen und Kraftzentren in seiner Umgebung, aber es vermag keinen Abstand zu diesen "Informationen" zu gewinnen, es ist nicht imstande, sich dieses Wissen noch einmal zu vergegenwärtigen, es sich wie einen Spiegel vorzuhalten und damit kühl, mit Abstand zu würdigen und zu beurteilen. So ist das Bewußtsein des Tieres Oberflächenbewußtsein, veräußerlichtes Bewußtsein, das im großen und ganzen im Dienste des materiellen "Außen", des Nahrungserwerbs und der Fortpflanzung steht. Das tierische Bewußtsein hat nicht die Fähigkeit der Objektivierung, d.h. der Erhebung der Innen- und Außenwelt zu Gegenständen, zu selbständigen Größen, die es als unabhängiger Beobachter betrachten könnte. Daher besteht für das Tier keine Möglichkeit — auch wenn es flieht —, von der es durchflutenden Wirklichkeit irgendwie Abstand zu gewinnen. Es ist so in die Raumzeit hineinverwoben, daß es auch keinen Begriff von Zeit, von Zweck oder Ursache o.a. zu bilden vermag.

Den Sprung ins Selbstbewußtsein schaffte die Natur, die terrestrische Evolution, allein im Menschen. Er ist ihre höchste Leistung, weil er nach einem berühmten Wort des Biologen Julian Huxley "die zum Bewußtsein ihrer selbst gelangte Evolution ist".

Erst im Menschen kommt die Natur zur Klarheit über sich selbst, über ihren (zurückgelegten) Evolutionsweg, über ihr Wesen. Die Natur ist ein sich im Äußeren vollziehendes Geschehen, solange sie nicht in die Innerlichkeit des menschlichen Bewußtseins einkehrt. 

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Ohne den Menschen käme also auch die Evolution nicht zu sich selbst, zum Bewußtsein ihrer selbst als eines raumzeitlichen und letztlich doch sinngerichteten Vorgangs, weil dieser den Menschen trotz aller Zufälle von Mutation und Selektion herausgestaltete. Das dumpfe, blinde Drängen, die sich zu immer höheren, psychisch vollkommeneren Lebensformen herauftastende Strebigkeit, die wir "Evolution" nennen, wird erst im Menschen transparent, d.h. durchsichtig, weil als solche erkannt, begriffen, verstanden. Daß diese Strebigkeit, dieses Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten der Höherentwicklung, diese unklar-keimhafte Wahl zwischen verschiedenen Chancen des Aufstiegs ein schattenhafter Anfang von Geschichte war, daß diese Geschichte nicht sinnlos war, weil sie den Menschen gleichsam in einer sich selbst überschreitenden Anstrengung des terrestrischen Lebens hervorbrachte — dies alles "weiß" die Evolution erst im und durch den Menschen. Im Grunde ist er es, der das Geschehen in Evolution und Universum aus einem sonst blinden Ablaufprozeß zum Begriff der Geschichte ("Geschichte des Weltalls", "Stammesgeschichte", "Menschheitsgeschichte") emporhebt.

Mit dem Selbstbewußtsein besitzt der Mensch ein ganz einzigartiges Organ, das man als "Schlüssel" zum Begreifen der Gesamtwirklichkeit bezeichnen kann. Als Psychologe vermag nun der Mensch gleichsam einen Sitz über sich selbst einzunehmen, von dem aus er das Geschehen in sich selbst beobachten und lenken kann. Als Astronom kann er — amateurhaft oder wissenschaftlich-methodisch — grundsätzlich das ganze Weltall in seine Überlegungen hereinnehmen. Denn das Selbstbewußtsein ermöglicht es, daß der Mensch "Welt hat", nicht mehr bloß Umwelt, daß er "unendlich gesteigerter Weltoffenheit" (M. Landmann) und ganzheitlicher Welterfassung fähig ist (vgl. 2.3).

 

4.2.2  Menschliches Handeln als Selbstbestimmung  

Auch die — freilich nicht unbegrenzte — Fähigkeit, aufgrund geistig eingesehener Gründe sich selbst zu einer Handlung zu bestimmen, macht zusammen mit dem Selbstbewußtsein die einzigartige Sonderstellung des Menschen im Rahmen der Evolution aus. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung müssen engstens zusammenwirken, wenn es gerechtfertigt

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sein soll, von der Handlung eines Menschen zu sagen, sie sei "seiner persönlichen Freiheit entsprungen". Voraussetzung ist die Einsicht des Selbstbewußtseins, der alles würdigenden Vernunft, in die Dinge und ihre Zusammenhänge, in die Faktoren, die an der Ausgangssituation einer Handlung maßgeblich beteiligt sind. Aufgrund dieser Einsicht gibt die Vernunft ein Urteil über die ethische Seite dieser Situation ab, würdigt ihre Bedeutung und setzt sie in ein Verhältnis zur Rangordnung der Werte, an der sich der Betreffende orientiert. Von dieser Rangordnung, die eine unentbehrliche Bedingung des Inkrafttretens der menschlichen Selbstbestimmung ist, wird später noch die Rede sein.

 

Das soeben Gesagte gibt uns aber einen ungefähren Rahmenbegriff von menschlicher Selbstbestimmung und damit die Möglichkeit, sie wie das Selbstbewußtsein als ein Höchstergebnis der Evolution zu verstehen. Ist doch die letztere gekennzeichnet nicht nur durch den Aufstieg zu immer höherem Bewußtsein, sondern in Verbindung damit auch durch eine Zunahme von Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Umwelt gegenüber. Diese Entwicklung erreicht zumindest ihren vorläufigen Höhepunkt erst im Menschen, denn auch die höchstorganisierten Tiere sind trotz größerer Umweltunabhängigkeit und gesteigerter individueller Selbständigkeit nicht frei im Sinne eines Handelns, das sich aufgrund echter Einsicht in das eigene handelnde Selbst sowie in eine Sache oder Situation und ihren Wert zu etwas entschließt, das mit den Trieben oder unmittelbaren Lebensbedürfnissen grundsätzlich nichts zu tun zu haben braucht. Der ganze Bereich der ethischen Selbstverwirklichung des Menschen hängt von solchen, sich über das körperliche Leben erhebenden Entschlüssen ab und gelangt deshalb nicht einmal ins Blickfeld tierischen Handelns. Das Dasein des Tieres "läuft ab", ist ablaufende "einfache Gegebenheit" (B. Rensch), in der Tragik und Schicksal im eigentlichen Sinn keinen Platz haben. Das Dasein des Menschen ist im Gegensatz dazu nicht vorgegeben, sondern seine jeweils individuell so verschiedene Gestalt hängt von lebenswichtigen eigenen Entscheidungen ab. Das Tier braucht keinen Sinn seines Daseins zu erkennen oder zu erringen, die Natur erfüllt ihn durch das Tier hindurch, indem es sich des Tieres als Werkzeug bedient. Der Mensch muß den Sinn seines Daseins suchen, kann ihn verfehlen, kann ihn jedenfalls ohne manchmal schwerfallende Entscheidungen nicht verwirklichen. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zum Tier, auch wenn man vom Menschen gleichfalls sagen muß, er sei nicht absolut frei, sondern vielfach bedingt (naturbedingt, umweltbedingt, erblich bedingt).

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Auch in bezug auf die Selbstbestimmung ist also der Mensch Maßstab der Evolution, und zwar keineswegs ein willkürlicher. Ohne den Menschen bliebe die Steigerung des tierischen Bewußtseins, das trotzdem kein Selbst- und Weltbewußtsein wird, der Aufstieg zur individuell größeren Selbständigkeit und Umweltunabhängigkeit, die sich dennoch nicht zur Selbstbestimmung erheben, eine unverständliche Laune der Natur. Im Grunde gäbe es dann nicht einmal einen Maßstab, um die Bewußtseinszustände und Abhängigkeitsgrade verschiedener Tierarten auf der Stufenleiter der Evolution als höher oder niedriger zu bewerten. Das eben Gesagte gilt übrigens auch von allen anderen Kennzeichen des biologischen Aufstiegs des Lebens.

Nimmt man jedoch den Menschen als Maßstab, dann kann man die Kräfte des Kosmos in ein Schichten­verhältnis bringen, so daß jede höhere Stufe der Wirklichkeit einen Fortschritt zur menschlichen Selbstbestimmung hin bedeutet. Die unterste Stufe des kosmischen Seins, die sogenannte tote Materie, ist dann als Kraft, Wirksamkeit, Energie, Ursächlichkeit die niedrigste Entsprechung zum menschlichen Willen. Die Schicht des Lebendigen nähert sich als Selbstbewegung und Selbstgestaltung aus einer inneren Lebensordnung heraus schon weit mehr der daseinsgestaltenden Selbstbestimmung des menschlichen Geistes. Die höhere Stufe im Bereich des Lebens, wie sie die Tiere, vor allem die höherorganisierten Tiergruppen, bilden, bedeutet in der Form des von Erregungen und Begierden ausgelösten Handelns die stärkste Annäherung an den zu geistigen Zielsetzungen fähigen Willen des Menschen.

Auch in bezug auf die Energie seiner Selbstbestimmung ist der Mensch eine "kleine Welt", eine gewisse Verflechtung und Harmonie aller Wirkkräfte des Universums. Sein Leib bildet die Brücke zu diesen kosmischen Kräften, deren Gesetze sein Wille achten muß, um Leben und Gesundheit des leib-seelischen Organismus zu bewahren. Durch besinnliche Versenkung in die Tiefen des eigenen geistig-seelisch-körperlichen Seins und in die Weiten des Universums vermag sich das menschliche Bewußtsein zu erweitern und geistig zu stärken, so daß der menschliche Wille sein Handeln in einen größeren Bezugsrahmen stellen kann. Große Gedanken sind eine Bedingung großer Entscheidungen.

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4.2.3 Menschsein als Person-Sein, als Ich

Ein Lebewesen, das über Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung verfügt, ist Person, hat personales Sein (A). Unter "Person" verstehen wir ein Zentrum, eine Entscheidungsstelle des und im Menschen, die in sich selbst steht, sich selbst gehört, von keiner anderen Entscheidungsstelle besessen werden kann. Mit Personalität ist ein grundsätzliches Für-sich-Sein gegeben, das freilich mit Egoismus noch gar nichts zu tun hat, weil es sich dabei nicht um einen ethischen, sondern um einen Seinsbegriff handelt. Person-Sein ist höchste Form des bewußten Für-sich-Seins des Daseins, ist Tat, die von einem bewußten und entscheidungsfähigen Zentrum ausgeht und in ihren Folgen von diesem wieder verarbeitet wird, somit wieder in die Person einmündet.

Personalität ist eine derartige Festigkeit und Dichte des Seins, daß es auf dieser Stufe Selbstzweck ist, von keinem anderen Wesen ge- oder mißbraucht, ersetzt oder vertreten, durchsetzt oder verfügt werden kann. Person-Sein begründet ein Verhältnis des Alleinstehens vor sich selbst, mit sich selbst, für sich selbst, zu sich selbst — somit eine gewisse Einzigartigkeit, so daß ein Mensch, der zu personaler Eigenständigkeit gelangt ist, so einzig ist, daß es ihn nicht mehrfach geben kann. Das Selbstzwecksein der Person schließt es aus, eine einfache, wiederholbare Ausführung der Artnatur der Gattung Mensch zu sein. Das Ich hat einen Wert als solches, abgesehen von der Tatsache, daß es ein Individuum innerhalb einer Art ist. Das Einzelwesen bei Tieren hat dagegen Wert vor allem im Hinblick auf die Erhaltung der Art. Das Tier kann deshalb Eigentum eines anderen werden, die Person nicht. Sie kann und darf im Namen vermeintlich höherer Zwecke nicht geopfert werden. Mit dem letzteren ist freilich dem Mißbrauch und Quälen von Tieren in keiner Weise das Wort geredet.

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Mit der Personalität ist die eigentliche und höchste Form der Selbständigkeit in einem Evolutionsvorgang erreicht, der sich durch ständig zunehmende Konzentrierung des Seelischen auf das Einzelwesen auszeichnet. Zwar ist schon mit der Individualität (von latein. individuum: das Unteilbare), d.h. mit jedem lebenden Wesen als einer geschlossenen Einheit von Aufbau und Funktion eine verhältnismäßig hohe Stufe der Selbständigkeit erreicht. Aber selbst bei den höchstentwickelten Tieren, z.B. bei den Pongiden, kann man noch nicht von einem wirklichen Zentrum von Denkakten und Entscheidungen sprechen. Selbständigkeit im Sinne eigentlichen selbstbewußten und sich selbst zu etwas bestimmenden Selbstbesitzes, Über-sich-selbst-Verfügens und eines gewissen Verfügens auch über Natur und Welt wird erst dort erreicht, wo sich die individuale Selbständigkeit zur personalen, die Eigenständigkeit eines Individuums zur geistigen Entscheidungsfähigkeit steigert, wo also ein Ich-Zentrum nicht mehr in seiner Tiefe vom Druck des materiellen Lebens, der Triebe bestimmt wird.

Innerhalb der Evolution auf unserer Erde ist also nur das menschliche Ich im eigentlichen Sinn Verantwortender, Verwirklichender, Verfügender, Selbstbestimmender. Das Person-Sein des Menschen ist so der tiefste Grund seiner Zentralstellung auf unserem Planeten und in seinem näheren Umkreis, der durch Beobachtung mit Hilfe gewaltiger Spiegel- und Radioteleskope sowie durch die Raumfahrttechnik allerdings immer weiter ausgedehnt wird. Als Person, als Ich kann der Mensch gar nicht anders, als alles andere, das All, die ganze Wirklichkeit sich gegenüberzustellen und damit irgendwie zu seinem Gegenstand, seinem Objekt zu machen; auf sich als Subjekt, als Entscheidungszentrum hinzubeziehen, in sich als Mittelpunkt einzufangen. "Die Seele ist in gewisser Weise alles" (Aristoteles).

Als Erkennen, das von einem personalen Zentrum geleitet wird, ist unser Erkennen in den Stand gesetzt, von den Dingen Abstand zu nehmen, dem "Druck und Stoß" der Tatsachen nicht mehr so hilflos ausgeliefert zu sein, eine gewisse Umweltüberlegenheit zu erringen. Dasselbe gilt — teilweise in noch stärkerem Maße — vom Tun des Menschen, vom technischen und kulturellen Schaffen der Person, in dem der Stoff der Wirklichkeit von ihr geformt und umgewandelt wird. Auch die Möglichkeit des Mißbrauchs und der Vernichtung gestalteter Wirklichkeit und Ordnung durch den Menschen hat ihren Grund in seiner personalen Selbständigkeit und Selbstmacht. Die menschliche Person kann sich im Vollzug ihres Daseins zum Guten wie zum Bösen selbst bestimmen, kann sich erheben oder erniedrigen.

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Dies alles läßt sich von keinem anderen Wesen auf Erden sagen. Die "Innerlichkeit", das Bewußtsein auch der höchsten Tiere hat keine selbständige Bedeutung. Das Tier, auch das höchste, dem Menschen leib-seelisch nächststehende, ist im Grunde nicht Subjekt, sondern Objekt, Gegenstand der es hin- und herstoßenden Umwelt. Der gleichsam überindividuelle Lebensstrom durchläuft praktisch widerstandslos die tierische Seele. Zwar erscheint dieser Lebensstrom im Innenbereich der Tiere auf eigenartige, eben seelische Weise, in seelischen Bildern. Aber das Tier hat nicht die Mächtigkeit, diese dem Lebensstrom entsprechende Bilderkette gedanklich und willentlich zu beeinflussen, zu lenken, zu steigern oder zu bremsen — mit einem Wort: zu beherrschen. Das Tier ist also trotz und mit seiner Seele ein "Sklave", ein allem Stoff- und Formenwechsel Ausgelieferter. Es hat kein eigentliches Innenzentrum, keinen geistigen Sammel- und Brennpunkt allen Geschehens. Es ist mit seinem Willen den für sein körperliches Leben bedeutsamen Reizen der Umwelt ausgeliefert.

Selbst wenn man die Tiere so großzügig wie nur möglich sieht, wenn man sie nicht ausschließlich auf die Tätigkeiten von Ernährung, Fortpflanzung und Selbstschutz festlegt, ihnen also auch gewisse Möglichkeiten des Erlebens, des Einander-Begegnens zubilligt, muß im Vergleich mit ihnen vom menschlichen Selbst- und Weltbewußtsein, von der menschlichen Selbstbestimmung und Persönlichkeit gesagt werden: Der Mensch ist in der uns bekannten Wirklichkeit das Wesen "des höchsten Begreifens seiner selbst und der Welt, das Wesen der tiefsten Begegnung mit sich selbst, das Wesen der größten Freiheit des Tuns, das Wesen des empfindsamsten und nuanciertesten Erlebens, das Wesen der unbegrenzten Dimensionen des Gefühls. Er ist die Mitte der erlebensfähigen Welt, die irdisch mögliche Erfüllung ihres Drangs, sich selbst zu gewinnen" (A. Neuhäusler).

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4.2.4  Personales Sein als Zusammensein mit anderen

Das Für-sich-Sein, die Selbstgehörigkeit und Selbständigkeit der Person dürfen nicht überdehnt werden. Es gibt jene überhebliche menschliche Haltung, die eine unbedingte, sich von allem und jedem losbindende Selbständigkeit sucht. Man strebt die reine Unmittelbarkeit zu sich selbst, die völlige "Identität" (A) mit sich selbst an. In der Auswirkung dieser Haltung liegt die Ausschaltung jeder von anderen ausgehenden Anregung, die Empfindung jeder "Dazwischenkunft" als Übel und Einschränkung der eigenen Entfaltung, zuletzt die weitestgehende Isolation (Absonderung), der Tod jeder persönlichen Fühlungnahme, weil sie als Gefährdung der eigenen Einzigartigkeit und Selbstherrlichkeit gefürchtet wird. Dann wird der Mitmensch als das Abträgliche, ja schlechthin Negative erfahren: "Die Hölle — das sind die anderen" (J.-P. Sartre).

Eine solche Haltung ist allerdings oberflächlich. Sie übersieht, daß der Mensch seine Möglichkeit und Fähigkeit, Person zu sein, nur in der Begegnung mit dem Du, d.h. mit anderen Personen und mit der Welt ihrer Erfahrung, zu verwirklichen vermag. Das Beispiel der sogenannten Wolfskinder beweist, daß ein an sich menschliches Wesen ohne diese Begegnung mit menschlichen Personen auf einem sprachlosen, tierischen Niveau stehenbleibt, ohne sich aus eigener Kraft darüber erheben zu können. Fast der gesamte erste Teil dieses Buches liefert überdies den Beweis, daß die einzelnen Gemeinschaften (Familie, Schule, Gemeinde, Heimat, Volk, Gesellschaft, religiöse oder weltanschauliche Gruppen, kulturelle Vereinigungen usw.) für die Personwerdung des Menschen, bei seiner Erhebung zu einem sozialen und kulturellen Wesen, eine entscheidende Rolle spielen, mag man sonst auch noch so viel Negatives gegen sie vorbringen.

Die Person hängt also wirklich davon ab, daß es noch andere Personen gibt. Indem das Kind, der junge Mensch, anderen Personen begegnet, sie erlebt, ihre Anerkennung und Liebe erfährt, bildet und festigt sich überhaupt erst das personale Zentrum in ihm. Nur dadurch wird es bzw. er befähigt, auch in sich selbst hineinzublicken, sich sein eigenes Sein gegenüberzustellen, zu vergegenwärtigen, es sich als für-sich-seiendes Selbst bewußt zu machen. Für-sich-Sein ist demnach Folge des Füreinander-Seins! Die Anlage zum Selbstsein, zur Personalität muß vorhanden sein, aber sie verkümmert oder sie verwirklicht sich nie, wenn kein Kontakt zu anderen Personen und ihren Gemeinschaften zustande kommt. Selbstbewußtsein, Bewußtsein, ein Selbst und für sich zu sein, existiert und entsteht beim Menschen überhaupt nur im Zusammenhang

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mit Erfahrung des Du und in Abhebung von ihm, vom anderen Bewußtsein, vom Fremdbewußtsein. In unserem Personenkern führen wir gleichsam immer schon eine unsichtbare und unhörbare Aussprache zwischen der Wirklichkeitsauffassung der anderen und der eigenen. Unser Selbst ist insofern schon immer dialogisch, d.h. auf Zwiesprache angelegt, weil es stets im Hinblick auf die Meinungen, Überzeugungen und Erfahrungen anderer oder mindestens eines anderen seine eigenen Inhalte und Werte prüft und klärt. Besonders in ethischer Hinsicht gilt, daß der Mensch nur im Weggehen von sich selbst und der entschiedenen Hingabe an die anderen und an Gemeinschaften sich, seine Eigenart, seine Ganzheit, sein Selbst gewinnt. Die oft erschütternden negativen Folgen des Gegenteils, nämlich der Selbstverweigerung gegenüber den anderen, zeigen die modernen Wissenschaftszweige der Psychoanalyse und Psychopathologie immer neu auf.

 

4.2.5 Sprache als Öffnung und Vermittlung des Selbstseins

Im vorigen Abschnitt stellten wir fest, daß der Mensch nur dadurch wirklich Person wird, daß er einem Du, d.h. anderen Personen und ihrer Welterfahrung, begegnet. Diese Begegnung geschieht vornehmlich durch das Mittel der Sprache. Sie ist die Brücke, durch die das Selbstsein des einen mit dem Selbstsein des anderen Kontakt gewinnt, die Innenwelt des einen sich der Innenwelt des anderen öffnet und erschließt. Sie ist das wesentlichste Verständigungsmittel des Menschen. Jeder Mensch lebt in der zweifachen Weise des Seins mit den Mitmenschen und des In-der-Welt-Seins. Alle Inhalte dieser beiden Seinserfahrungen, die so überaus mannigfaltig und vielschichtig sein können und von Person zu Person verschieden sind, verkörpern sich in der menschlichen Sprache. Sie schwingen mindestens in ihr mit, auch wenn das nicht jedem bewußt wird. So stellt die Sprache den Ausdruck, gleichsam die Verleiblichung unserer Welt-, Personen- und Innenerfahrung dar, auch wenn sie vordergründig nur zur Verständigung über die Dinge des Alltags, des Konsums, zur Verbesserung von Arbeitsabläufen, zur Absprache über den besten Weg für die Erreichung irgendeines praktischen Nutzens dient. In Hinsicht auf die Selbstverwirklichung und Personwerdung des Menschen aber ist Sprache Grenzüberschreitung zum anderen hin im praktischen Vollzug. Mit dem "anderen" ist hier sowohl "der andere" wie "das andere" gemeint.

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Wie der Leib überhaupt die konkrete, greifbare Erscheinungsweise unserer geistig-seelischen Innenwelt ist, so ist das gesprochene Wort die konkrete, wahrnehmbare Erscheinungsweise unserer Gedanken, Gefühle, Absichten und Willensregungen. Sprache ist aussagendes und in eine logische Form gebrachtes Denken. Sie ist das voll zu sich selbst gekommene, sich selbst klar gewordene Denken, somit letzte Verwirklichungsstufe und Vollendung menschlicher Gedanken, Einfälle und Ideen. Indem sie so zur Trägerin geistiger Bedeutungen wird, die unser Bewußtsein hochschätzt, geht sie weit über das praktisch-sinnliche Mitteilungsbedürfnis, über ihre eigene Aufgabe als ein praktischen Zwecken dienendes Verständigungsmittel hinaus. 

Sprache auf ihrer höheren Stufe ist somit der sich ausdrückende und eröffnende, dementsprechend auch der sich voll verwirklichende denkerische Vollzug unseres Selbstseins. Sie ist Selbstsein im Vollzug seiner Selbstmitteilung an den oder die anderen. So gehört Sprache ganz entscheidend zur Selbstverwirklichung des menschlichen Selbstseins, weil dieses ohne Du nicht werden und leben kann, das Du aber wiederum hauptsächlich auf dem Weg über die Sprache erreicht wird. Jeder wird schon an sich bemerkt haben, daß er durch das Gespräch mit anderen zu größerer Klarheit seiner Denkinhalte und Gefühlszustände, seiner Meinungen und Beweggründe gelangt ist, die ohne solche Aussprachen, Diskussionen u.a. oft verschwommen bleiben bzw. denen die Schärfe der Umrisse fehlt. Das veranschaulicht, daß unser personales Selbst erst durch Sprache ganz zu sich kommt.

Wo dementsprechend Sprache sich voll verwirklicht, wo sie ihren Höhepunkt erreicht, wird sie zum Zwiegespräch des Eigentlichsten und Wesentlichsten im Menschen mit demjenigen des anderen Menschen. In der Humanisierung, der Vermenschlichung des Menschen, spielt sie also eine besondere Rolle. Die Kultur eines Menschen kann man an der Art, an der Gediegenheit seiner Sprache erkennen.

Damit ist schon angedeutet, daß die Sprache ein äußerst wertvolles Kulturgut darstellt. In ihr schlägt sich ja die Kultur eines Volkes als Gesamtheit geistiger Schöpfungen der Jahrhunderte nieder. Sie ist gleichsam ein durch die Zeit laufendes Förderband, auf dem sie in ihrem Sprachschatz die kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit bewahrt und an die Nachkommen weiterreicht.

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Sprache ist somit auch Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, weil diese ohne Tradition, ohne kulturelle Überlieferung und Vermittlung von Werten, die die Vergangenheit bereits gefunden hat, ständig in dürftigster Weise jeweils wieder beim Nullpunkt anfangen müßte. Natürlich gibt es auch den Ballast der Vergangenheit in Form von veralteten, mühsam weitergeschleppten Kulturgütern. Da aber Sprache zugleich Ausdruck der Reflexion, d.h. in Worte gebrachtes kritisches Nachdenken unseres alles prüfenden Selbstbewußtseins ist, vermag sie auch so manchen überlieferten Ballast auszuscheiden, wegzulassen, der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, zu verschweigen.

Sprache soll — ethisch gesprochen — Ausdruck unseres Selbstseins sein. Sie kann die Innenwelt der Person aber auch falsch darstellen, in einem anderen Licht erscheinen lassen, sie kann geradezu lügen, der Verschleierung der Wahrheit dienen; so wie ja auch unser Gesicht durch Aufmachung und Mienenspiel sich verstellen, ein falsches Bild von uns vermitteln kann. Sprache kann also dem Guten wie dem Bösen dienen, weil sie an der Fähigkeit der menschlichen Person zur Selbstbestimmung teilhat. Auch dadurch erweist sich ihr unerhört enger Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, den Wilhelm von Humboldt so unübertrefflich formuliert hat: "Der Mensch ist nur Mensch durch die Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, mußte er schon Mensch sein". Trotzdem zeigte uns der Abschnitt über den Menschen als Höchstergebnis der Evolution (4.1), daß Menschsein und Sprachbesitz nicht plötzlich hereingebrochen sein können. Der Aufstieg der Hominiden, der Menschenartigen, zum Selbstbewußtsein und zu einer in deutlichen Lauten ausgebildeten Wortsprache war ein langer und mühsamer Weg. Anfänglich diente die "Sprache" der Vormenschen ebenso wie etwa die Signalsprache der Bienen oder die Verständigungslaute, die wortlosen Zurufe und Anrufe, wie wir sie bei manchen höherorganisierten Tierarten annehmen müssen, nur den unmittelbaren, sinnlich-leiblichen Bedürfnissen, dem Suchen von Nahrung, Wohnung und Geschlechtspartnern. Die Sprachforscher sprechen in diesem Zusammenhang von der "biologischen Situationsgebundenheit" der Tiersprache. Diese Gebundenheit müssen wir auch für weite Strecken der Höherentwicklung der Hominiden annehmen.

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Die Loslösung von der biologischen Situation und damit die keimhafte Entfaltung einer echt menschlichen Sprache begannen, als Hominiden die Fähigkeit erwarben, sich im Spiegel ihres Selbst zu erblicken, sich — freilich noch in aller Einfalt — selbst wahrzunehmen, sich auf sich selbst zurückzuziehen und sich selbst in Besitz zu nehmen. Mit dem Selbstbewußtsein entstand die Sprache als Trägerin, Vermittlerin und Eröffnerin geistiger Bedeutungen.

Wie hoch wir auch immer die Verständigung in der Tierwelt einschätzen mögen, sie wird von keinem Sprachforscher als eine die unmittelbaren Lebensbedürfnisse überschreitende Leistung angesehen. Keiner von ihnen dürfte heute bereit sein, der sogenannten Tiersprache eine überbiologische, geistige Rolle zuzugestehen. Von der menschlichen Wortsprache aber darf gerechtfertigterweise gesagt werden, daß sie grundsätzlich situationsentbunden, situationsgelöst, situationsfrei sein kann, wobei — wie gesagt — mit "Situation" die biologische, sinnlich-körperlich bedeutsame, gerade gegenwärtige Reiz- und Handlungsumwelt gemeint ist. Bezüglich dieser grundsätzlichen Situationsentbundenheit menschlicher Sprache sagt der Biologe Adolf Portmann mit vollem Recht: "Neu ist die Überschreitung der puren Möglichkeit des spontanen Ausdrucks von subjektiven Stimmungen, die Fähigkeit zur beherrschten, von der Situation losgelösten Aussage." Man muß allerdings noch weiter gehen: Die menschliche Sprache kann ganz neue Situationen schaffen. Manchmal kann ein einziges, mit geistig-sittlicher Willenskraft geladenes Wort eine Situation herbeiführen, die dann selbst durch einen überbiologischen Charakter ausgezeichnet ist, durch den Umstand nämlich, daß Menschen in ihrer durch Sprache geweckten Begeisterung für sittliche Werte z.B. Hunger, Durst und Lebensgefahr in Kauf nehmen.

Wie immer also die menschliche Sprache tatsächlich entstanden sein mag — sie war sicherlich auch ein Ergebnis des Daseinskampfes in dem Sinne, daß sie bei allen Gemeinschaftsunternehmungen in der Übergangsphase zum Menschsein, z.B. bei der Jagd auf kräftemäßig überlegene Tiere, eine bedeutende organisatorische Rolle spielte und daß die Einzelwesen, die über größere sprachliche Begabung verfügten, dadurch auslesebevorzugt waren. Aber es steht fest, daß sie heute grundsätzlich und ihrer wirklichen Möglichkeit nach im Unterschied zu jeder tierischen Verständigung der biologischen Situation entwachsen und ihr überlegen ist.

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Fassen wir kurz zusammen: Die biologische Situationsentbundenheit des Menschen ist die Fähigkeit, sich über seine psychophysische Organisation und Wunschstruktur und über die auf diese Organisation und Struktur bezogene sinnlichkörperlich bedeutsame Situation zu erheben. Wir können den gleichen Gedanken durch Zuhilfenahme des Begriffs "Selbstbewußtsein" ausdrücken. Denn es ist gerade das Selbstbewußtsein, das es dem Menschen ermöglicht, einen Standpunkt auch noch über sich selbst, über seiner psychophysischen Organisation, über sich selbst als Lebewesen und psychischem Geschehensstrom einzunehmen.

Aus dieser Tatsache, daß der Mensch aufgrund seines Bewußtseins von sich selbst der Selbstvergegenwärtigung, der Selbstumfassung, der Distanzierung von dem ihn durchflutenden Lebensdrang fähig ist, ergibt sich für die Sprache, daß sie Trägerin und Vermittlerin, Eröffnerin und Befördererin überbiologischer, geistiger Inhalte zu sein vermag, daß sie das Selbst der menschlichen Person in seinem inneren Vollzug nach außen hin darstellen kann.

 

4.3 Der Mensch als Kulturschöpfer

Die Fähigkeit des Menschen, Kultur zu schaffen und sich selbst sowie der gesamten von ihm erkannten Wirklichkeit einen Sinn zu geben, fließt unmittelbar aus seinem selbstbewußten und sich selbst zum Handeln bestimmenden Selbstsein. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung sind jene Grundkräfte im Menschen, die die humane Phase der Evolution einleiten und begründen; die also aus der biologischen Evolution der Tierwelt eine von ihr wesentlich verschiedene, jedoch noch von ihren Kräften mitgetragene, geistige Entwicklung machen, d.h. sie in einen kulturellen, wissenschaftlichen, technischen, sozialen und ethischen Vorgang verwandeln.

Zwar kann man versucht sein, auch im Zusammenhang mit bestimmten Tieren, etwa bei Bienen- oder Ameisenvölkern, von "Kultur" zu sprechen. Aber diese teilweise zweifellos als kulturähnlich anzuerkennenden Leistungen von Tieren besitzen ein Wesensmerkmal menschlicher Kultur nicht: deren dynamisch-fortschreitenden Charakter. 

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Tierische Organisation und ihre Werke ändern sich nur nach Maßgabe von langsam sich aneinander­reihenden Erbänderungen und langanhaltenden Umwelteinflüssen, somit in ungeheuren geologischen Zeiträumen, nicht aber aufgrund einsichtigen und sich selbst zu etwas bestimmenden Planens besserer oder zweckmäßiger erscheinender Zustände. Das Tier ist auch dort, wo es dem Menschen sinnvoll erscheinende, kulturähnliche Organisationsleistungen vollbringt, restlos vom Gesamtzweck der Artnatur beherrscht und in seinem ganzen Verhalten bestimmt. Es ist gleichsam sklavisches Werkzeug überindividuellen Artlebens, das nach einem bestimmten, über Jahrmillionen hinweg gleichbleibenden Verhaltensmuster arbeitet.

Dieser Wesensunterschied von tierischer und menschlicher Kulturfähigkeit entspricht genau dem Unterschied von (tierischem) Bewußtsein und (menschlichem) Selbstbewußtsein. Hätte nämlich das Tier Selbstbewußtsein, d.h. ein Wissen um sein Wissen, dann hätte seine kulturähnliche Leistung keinen so konservativ-beharrenden Charakter. Ist doch Selbstbewußtsein einem scharfen und hellen Lichtstrahl vergleichbar, der in alle "Ecken und Enden" der Wirklichkeit hineinleuchtet und Unvollkommenheiten und Mängel ans Licht bringt. Auf dieser Grundlage bestimmt sich dann das Selbst zum Handeln, d.h. zur Abstellung dieser Mängel: Es schafft Neues, verändert immer wieder einen schon bestehenden Kulturzustand. Insofern beweisen gerade die ständig getätigten Veränderungen der Kultur das Vorhandensein von Selbstbewußtsein.

Dagegen könnte nun jemand einwenden, daß ein Tier trotz vorhandenen "Selbstbewußtseins" seine "Kultur" nicht verändern wolle, weil sie ihm als die bestmögliche erscheint. Dieser Einwand ist nicht ganz auszuräumen, weil wir keinen unmittelbaren Einblick in das Selbstbewußtsein anderer haben, nicht in das Bewußtsein unserer Mitmenschen, um so weniger in ein etwa bei Tieren vorhandenes. Und selbst bei manchen Menschen und Menschengruppen ist es ja schon so, daß sie aus Bequemlichkeit, aus Anhänglichkeit an die "gute, alte Zeit" oder aus anderen Gründen gar nicht bereit sind, den erreichten kulturellen Zustand zu verlassen oder zu verändern. Allerdings geht solches Beharren ohne jegliches Streben nach Veränderung einer bestehenden Kultur meist mit einer Verkümmerung des menschlichen Selbstbewußtseins, seiner reflektierenden, kritischen Tätigkeit einher. 

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Als Endzustand dieser Verkümmerung, als Nullpunkt, an dem das Selbstbewußtsein ganz aufhört, an dem nur noch Bewußtsein im Sinne von Empfindungen vorhanden ist, könnte man sich das tierische Bewußtsein vorstellen, weil dieses überhaupt keine Initiativen mehr entwickelt, um Kultur zu verändern, so daß tierische Organisation, tierische Sprachsignale usw. über Jahrmillionen hinweg gleichbleiben. Daß außerdem ein tierisches Verhaltensmuster nie und nicht für alle Zeiten das bestmögliche für eine Tierart ist, geht daraus hervor, daß auch dieses Muster sich ändert, freilich nicht aufgrund "eigenmächtigen" Handelns tierischer Lebewesen, sondern im Zusammenhang mit erblichen Änderungen der Eigenschaften einer Tierart und mit Wandlungen der Umwelt.

Wir können also mit der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit sagen: In der uns bekannten Evolution des Lebens ist es allein der Mensch, der aufgrund seines Selbstbewußtseins als Kulturschöpfer bezeichnet werden kann. Dieses — immer zugleich kritische — Selbstbewußtsein bildet den Grund dafür, daß er von keinem gegenwärtigen Zustand seines Soseins und Daseins, seiner Kultur als der Gesamtheit geistiger Errungenschaften (Sprache, Weltanschauung, Wissenschaft, Ethik, Kunst, Religion, Technik, Sozialleben) ganz befriedigt und erfüllt wird, so daß ersieh immer wieder auf weitere Kulturziele hin selbst überschreitet. Gerade das Selbstbewußtsein befähigt den Menschen, sich aus dem kosmischen Werdestrom, dem auch er entstammt, herauszustellen, nicht mehr wie das Tier im Augenblick aufzugehen und mit der tatsächlichen Wirklichkeit — auch noch dort, wo es flieht — zufrieden zu sein oder sich abzufinden. Selbstbewußtsein bewirkt, daß Vergangenheit und Gegenwart überschaut werden können; es treibt dazu an, sie in kulturellen Gestaltungen fortzusetzen oder zu überwinden. Indem der Mensch aufgrund seines Selbstbewußtseins sein eigenes leib-seelisches Sein, durch das er Teil der Welt ist, und diese selbst zum Gegenstand seines Denkens macht, unterscheidet er sich bereits von ihr und gewinnt so einen Standpunkt, von dem aus er die Welt kulturell verändern kann. Heute zeigt sich, daß das menschliche Selbstbewußtsein, das menschliche Denken auch imstande ist, mit den Mitteln der von ihm selbst geschaffenen Technik die Erde zu zerstören. Der Mensch kann mithin durch die Kraft seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstbestimmung Kulturscriöpferwie Kultur-, ja Lebenszersförersein!

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Bleiben wir aber noch einen Augenblick beim Menschen als Kulturschöpfer stehen. Wir konnten bereits über gewaltige Kulturleistungen der geschichtlichen Menschheit, beispielsweise die der Azteken, der Maya und der Inka (vgl. 2.2.2) berichten. Kulturschöpfer ist der Mensch als Künstler (Bildhauer, Maler, Komponist, Musiker, Schriftsteller, Dichter, Schauspieler usw.); als Denker (Schöpfer großer philosophischer Gedankensysteme wie z.B. Aristoteles, Plato, Kant oder Hegel; Wissenschaftler, z.B. Naturwissenschaftler, Mathematiker, Logistiker, Psychologe, Soziologe); als Ethiker, der neue Wertmaßstäbe der Sittlichkeit aufrichtet oder die bestehende Moral einer Gesellschaft reformiert (wie Sokrates oder Albert Schweitzer).

Aber selbst wer lediglich ethische Ideale, die von anderen aufgestellt wurden, zu verwirklichen versucht, trägt etwas zum Gesamtklima einer Kultur bei. Kulturschöpfer ist der Mensch ebenfalls als religiöses Wesen. Dies nicht bloß deshalb, weil Religion allem Anschein nach in der Vergangenheit überall der Mutterboden war, aus dem sich die einzelnen Kulturgebiete erst herausentwickelten. Auch nicht bloß deshalb, weil große Religionsstifter im allgemeinen auch neue große Kulturbewegungen ausgelöst haben, wie z.B. Buddha oder Mohammed. Sondern weil — natürlich auch im Zusammenhang mit dem eben Gesagten — Religion ein untrennbarer Bestandteil jeder geschichtlich bekannten Kultur ist und weil für nicht wenige Menschen Religion der tiefere Grund ihres kulturellen Schaffens und ihres sozialen Wirkens ist. Allerdings darf man nicht übersehen, daß gewisse Ausgestaltungen der Religion, wie z.B. die jahrhundertelange völlige Jenseits-Ausrichtung des Christentums, zur Kulturfeindlichkeit führen können und oft tatsächlich geführt haben.

Kulturschöpfer ist der Mensch ebenfalls als Techniker, wiewohl wir heute angesichts der katastrophalen Möglichkeiten weltweiter Vernichtung mit Hilfe der "Wunderwaffen" der Technik eher geneigt sind, zwischen Kultur und Technik einen Trennungsstrich zu ziehen. Zuzugestehen ist zwar, daß nicht alle Wege, die die Entwicklung der Technik ging, im ethischen Sinne gut waren. Andererseits wären wir ohne Technik stets der Willkür der Natur ausgeliefert, wären wie die Tiere ihre Sklaven geblieben. Ist doch Technik das Mittel, sich die Kräfte und Rohstoffe der Natur nutzbar zu machen, aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse Methoden zu ersinnen und Werkzeuge herzustellen, die uns den Daseinskampf inmitten einer vor allem in der Vergangenheit oft feindlichen Natur wesentlich erleichtern.

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Der Technik ist es also zu verdanken, daß sich der Mensch von der übermächtigen Gewalt der Naturelemente und den Sorgen eines in der menschlichen Ur- und Frühzeit fast ununterbrochenen Daseinskampfes für kulturelles Schaffen weitgehend freigemacht hat. Andererseits hat sich als Kehrseite dieser Entwicklung die leider teilweise schon massiv angewandte Möglichkeit ergeben, daß Menschen zu Sklaven der Technik werden; zu Sklaven der von ihr entwickelten, immer raffinierteren Konsumgüter und künstlich geweckten Bedürfnisse. Ob sie auch zu Sklaven ihrer unheimlichen Beherrschungs- und Manipulationsmöglichkeiten werden, etwa durch Eingriffe in das Erbmaterial des Menschen oder durch raffinierte technische Mittel zur totalen Überwachung seines Privatlebens, — das wird die Zukunft zeigen.

 

4.4 Der Mensch als Sinngeber der Wirklichkeit

Als Kulturschöpfer, als Erzeuger kultureller Werte und Güter, ist der Mensch zugleich Sinnstifter oder Sinngeber. Was heißt Sinn? Was meinen wir, wenn wir sagen: "Das Leben hat einen Sinn" oder "Es hat einen Sinn weiterzuleben"? Wir meinen damit, daß im Leben Werte enthalten oder erreichbar sind; Werte, die uns etwas bedeuten; Güter, die uns wünschenswert und erstrebenswert erscheinen. Im dritten Teil dieses Buches werden wir eine Aufgliederung dieser Werte vorlegen. Hier können wir nur kurz die Sinnstiftung durch den Menschen behandeln. Sinngeber der Wirklichkeit ist der Mensch bereits durch sein Erkennen und Fühlen, sein Bewußtsein. Denn die atemberaubende Mannigfaltigkeit der von der Evolution hervorgebrachten Lebensformen, die Großartigkeit und die gewaltige Weite des kosmischen Entwicklungsgeschehens, die Schönheit und unermeßliche Erhabenheit des unbelebten und belebten Universums wären nach menschlichem Verständnis sinnlos ohne ein Bewußtsein, das all dies zu bewerten und zu würdigen, ja zum Teil erst zu eigentlicher Würde und Schönheit emporzuheben vermag. Ist doch Schönheit immer erkannte und empfundene Schönheit, also ein Wert, der erst durch das Erkennen und Fühlen — freilich

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nicht ohne Grund in der Wirklichkeit selbst, im Gegenstand der Erkenntnis — zu dem wird, was er ist. Ein Bewußtsein, das noch vollständig auf die biologischen Bedürfnisse hingeordnet ist oder das nur in einfachen Ansätzen Sinnesreize als etwas Schönes zu empfinden vermag, wie das selbst noch für die höchstorganisierten Tiere gilt, ist nicht geeignet, in der Natur Sinn zu finden.

Beleuchten wir noch ein wenig die Rolle des Menschen als Sinngeber der Natur. Der Mensch ist ein Teil der Natur. Der Stoff, aus dem die Natur ist, ist auch in ihm. Die Schichten des Kosmos (unbelebte Materie, Leben, Seele, Geist) bilden die Aufbauelemente der einzigartigen Einheit Mensch. Aber nicht bloß aus demselben Material wie die Natur besteht der Mensch. Er ist auch Teil der Natur, weil er mit der nichtmenschlichen Natur, mit Pflanzen und Tieren abstammungsmäßig durch den großen, alles Leben auf unserem Planeten verbindenden Evolutionsstrom vereint ist (vgl. 4.1). Zugleich ist der Mensch aber nicht nur Teil der Natur. Während er die unteren drei Schichten der Natur (Materie, Leben und Seele) mit Pflanzen bzw. Tieren gemeinsam hat, eignet nur ihm die höchste Stufe der Natur, der Geist im Sinne von Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (vgl. 4.2.1 und 4.2.2).

In diesem Geist-Haben aber wurzelt die Sinnstiftungsfähigkeit des Menschen gegenüber der Natur. Indem er wenigstens keimhaft die Welt, ihre sowie seine eigene Entwicklung und leib-seelische Organisation zum Gegenstand seines Denkens macht, überschaut und durchschaut, tritt er aus dem ihn tragenden und bergenden Lebens- und Entwicklungsstrom in gewisser Weise heraus. Er kann nicht mehr wie Pflanze und Tier ganz in ihm aufgehen. Paradox, d.h. anscheinend widersinnig ausgedrückt: Der Mensch muß seine Heimat in der Natur, im Leben, in der Evolution aufgeben und verlieren, um ihnen in seiner Innerlichkeit Heimat gewähren zu können. Er muß welteinsam sein, um der Welt einen Sinn einzustiften, in ihr etwas für menschliches Verständnis Sinnvolles zu entdecken. Freilich, der Mensch muß sich gerade aufgrund seines kritisch prüfenden Selbstbewußtseins stets erinnern, daß er auch Teil der Natur ist, daß also eine schroffe Gegenüberstellung von menschlichem Bewußtsein auf der einen und Natur, Materie, Leben, Seele auf der anderen Seite nicht der Wirklichkeit entspräche. 

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Ist doch der Mensch auch nach seinem bewußtseinsmäßigen Heraustreten aus der Naturgebundenheit weiterhin von dem gewaltigen Lebens- und kosmischen Werdestrom getragen, der auch noch seine ganz vergeistigten Taten durch seine Kräfte mitspeist. Stellt sich derart der Mensch mittels seines Selbst- und Weltbewußtseins außerhalb des Lebensstromes, so gewinnt er doch gerade dadurch einen festen Standpunkt, von dem aus er seine Stellung gegenüber Leben, Natur und Kosmos wirklichkeitsentsprechend zu bestimmen vermag. Auf dieser Grundlage kann er nun in ein neues, andersartiges Einheitsverhältnis zur Natur und Welt treten, in eine Einheit, die zwar jedes unbefangene Unmittelbarkeitsverhältnis zur Natur im Sinne des Verhaftetseins an sie, des Aufgehens in ihr ausschließt, die aber um so inniger und tiefer zu sein vermag, als sie durch die wertfühlende Innerlichkeit des menschlichen Geistes gestiftet wird, die alles in sich aufzunehmen und anzueignen imstande ist ohne die Gefahr der geringsten Beschädigung der erkannten Gegenstände selbst. Der Mensch ist also Sinngeber der Wirklichkeit, weil er die Verinnerlichung des Seienden, die Vergeistigung der Natur durch deren Hereinnahme in sein Bewußtsein vollzieht.

Sinnstifter im Kosmos ist der Mensch ebenfalls durch seine Selbstbestimmung. Sie vermag die uns mit den Tieren gemeinsame Sinnlichkeit zu versittlichen und zu vergeistigen, die naturhafte Selbstsucht in Hingabe und Liebe umzuwandeln, die dumpfe Naturgebundenheit des Tierischen in uns in die Bewegung zu den universalen Zielen des Geistes: der Wahrheit, der ethischen Güte und der Schönheit emporzureißen. Auch alle positiven Kulturschöpfungen des Menschen, von denen oben die Rede war, sind Einstiftungen von Wertvollem und Sinnvollem in den oft so spr den und widerständigen Boden der Wirklichkeit. Bleibt zu hoffen, daß die die Spitze der Lebensevolution bildende, sinnstiftende und kulturschöpferische Kraft des Menschen sich auch in Zukunft auf ihre Aufgabe, Sinngeberin der Wirklichkeit zu sein, besinnt und den verheerenden, umweltvernichtenden Folgen des materialistischen Eigennutzes und Eigeninteresses von Völkern und Staaten endlich Einhalt gebietet, ehe es gänzlich zu spät ist. Der Sinn der Evolution auf unserer Erde und in einem Teil des Kosmos steht auf dem Spiel. Damit ist schon die ethischreligiöse Seite des menschlichen Verhaltens angeschnitten, die uns im dritten Teil des Buches beschäftigen wird.

 

 

 

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