Dritter Teil:
Das Verhalten des Menschen
in ethisch-religiöser Sicht
Im ersten Teil dieses Buches wurde eine Orientierung in der Umwelt des einzelnen Menschen nach räumlichen und zeitlichen Gesichtspunkten gegeben. Im zweiten Teil wurde versucht, das Wesen des Menschen in leib-seelischer und geistiger Hinsicht und seine Stellung in Natur und Kultur zu erhellen. Aufgabe dieses dritten und letzten Teils ist es, aus den bisher gewonnenen Einsichten Schlüsse zu ziehen und die Möglichkeiten, Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten menschlichen Verhaltens in der praktischen Wirklichkeit zu erörtern. Zu diesem Zweck werden zunächst in Abschnitt 5 die Probleme der ethischen Stellungnahme und Entscheidung des einzelnen Menschen im vielgestaltigen Kraftfeld der Werte dargelegt. Der abschließende Abschnitt 6 wird das ethische Verhalten in den Zusammenhang mit Humanität und Religiosität stellen und Richtpunkte zu ganzheitlichem Lebensvollzug aufzeigen.
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5.
Der Mensch |
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Der
Mensch
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Aus dem in Abschnitt 4 dargestellten Wesen des Menschen ergeben sich Folgerungen für sein Verhalten im praktischen Leben. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (vgl. 4.2.1 und 4.2.2) befähigen den Menschen nicht nur, eine bestimmte und bestimmende Haltung gegenüber der umgebenden Wirklichkeit einzunehmen und ihr somit einen Sinn zu geben (vgl. 4.4). Sie setzen ihn auch instand, sich zu sich selbst zu verhalten und dieses Verhalten sittlich oder ethisch zu bewerten. (In der Philosophie wird strenger zwischen "sittlich" und "ethisch" unterschieden: Ethik ist ihr zufolge die Theorie der Sittlichkeit, die Lehre von den sittlichen Verhaltensweisen. Ethik und Sittlichkeit verhalten sich also wie Theorie und Praxis zueinander). Auch jedes Verhalten zu den Mitmenschen, zu den im ersten Teil behandelten menschlichen Gemeinschaften und zur umgebenden Natur entspringt einer bestimmten ethischen Werthöhe des menschlichen Einzelwesens und damit seiner im Verhältnis zu sich selbst eingenommenen Haltung. Insofern ist Ethik Wesensbestandteil der menschlichen Natur. Der Mensch als "ethisches Wesen" hätte im zweiten Teil abgehandelt werden können.
Jeder Mensch befindet sich, bildlich gesprochen, inmitten eines Kraftfelds verschiedenartiger Werte, aus denen er seine Wahl und Entscheidung für sein eigenes Verhalten trifft, deren Rang und Geltung er aber auch selbst mitbestimmt. Die Darstellung dieser Werte und der möglichen Verhaltensweisen ihnen gegenüber bildet den Hauptinhalt dieses Abschnitts.
5.1 Die Voraussetzungen ethischen Verhaltens
Wir haben bereits in Abschnitt 4.2.2 darauf hingewiesen, daß die Voraussetzung einer sittlichen Handlung die Einsicht der Vernunft in die Gründe und Zusammenhänge ist, die an der Ausgangssituation zu dieser Handlung maßgeblich beteiligt sind. Zur Sittlichkeit einer Handlung gehört aber noch als weitere Voraussetzung, daß an die gegebene Situation, ihre Gründe und Zusammenhänge ein Wertmaßstab angelegt wird. Die Wertrangordnung eines Menschen, d.h. die von ihm als verbindlich angesehene Einstufung von Werten ermöglicht es ihm, die Situation zu bewerten und seiner nun erforderlichen Handlung diese oder jene Richtung, dieses oder jenes Wertziel zu geben.
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Das ist eine Aussage, die zunächst sehr theoretisch und allgemein klingt. Aber die Sache wird sehr viel anschaulicher, wenn wir im folgenden eine Aufgliederung der Werte und eine Darstellung ihres Ranges im einzelnen entwickeln.
5.2 Arten und Rang der Werte
Die Diskussionen um Begriff und Einteilung der Werte nehmen kein Ende. Die Literatur dazu ist seit langem nicht mehr überschaubar. Im Rahmen eines Auswahlverfahrens bedienen wir uns daher eines bestimmten Begriffs von "Wert" und bieten eine logisch begründbare Aufgliederung und Einstufung der zahllosen möglichen Werte. Wert ist alles das, was ein Bedürfnis befriedigt. Auch die menschlichen Bedürfnisse sind zahlreich, und ständig können neue Bedürfnisse künstlich geweckt werden. Trotzdem gibt es so etwas wie einen Rahmen, in dem alle Bedürfnisse und dementsprechend grundsätzlich alle Werte untergebracht werden können. Wir können von elementaren, d.h. grundlegenden menschlichen Bedürfnissen sprechen und diese der leib-seelisch-geistigen Beschaffenheit des Menschen entsprechend in einfachere und höhere aufteilen. Demgemäß gibt es dann auch einfachere und höhere Werte.
5.2.1 Die einfacheren, leib-seelischen Werte
Dem Menschen als einem leib-seelischen Wesen mit den seinem leiblichen und seelischen Befinden unmittelbar naheliegenden Bedürfnissen sind folgende Gruppen "einfacherer" Werte zuzuordnen:
a) Die Genuß- oder Lustwerte (hedonische Werte, von griech. hedone: Lust, Freude): Gaumen- und Geschlechtslust, also die Befriedigung, die mit Essen, Trinken und sexueller Betätigung verbunden ist, gehören zu dieser Wertgruppe.
b) Die biologischen Werte: Gemeint sind damit die Werte, die das menschliche Leben in seiner organisch-körperlichen Verfassung und Erscheinungsweise betreffen und so anziehend wirken wie Körperkraft, (strotzende) Gesundheit, körperliche Spannkraft und Anpassungsfähigkeit, starkes sexuelles Leistungsvermögen, ausdauernde Rüstigkeit, körperliche und seelische Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten und den Unbilden der Natur usw.
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c) Die Nützlichkeitswerte: An sich kann jeder Wert, welcher Wertgruppe und -stufe er auch angehören mag, in den Dienst anderer Werte und Zwecke gestellt werden und stellt dann etwas "Nützliches" dar. Hier wollen wir aber den Begriff "Nützlichkeitswert" enger fassen: als Dienstwert im Verhältnis zu den beiden bereits gekennzeichneten Wertklassen. Nützlichkeitswerte sind dann Werkzeuge und Mittel, die der Erzeugung solcher materieller Güter dienen, die unsere mit der leiblichen Lebenserhaltung und -förderung verbundenen Bedürfnisse befriedigen. Sowohl die Werkzeuge wie die Güter selbst (z.B. Kleidung, Wohnung usw.) sind Mittel der Bedürfnisbefriedigung und damit Nützlichkeitswerte. Man kann sie auch als "ökonomische" oder "wirtschaftliche Werte" bezeichnen.
5.2.2 Die höheren, geistigen Werte
Die Gruppen der "höheren", d.h. der leib-seelischen Unmittelbarkeit enthobenen Werte sind dem geistigen Seinsbereich des Menschen und den daraus entspringenden Bedürfnissen zugeordnet. Hier sind zu nennen:
a) Die theoretischen Werte: Hierzu gehören Wissenschaft und Philosophie, Erkenntnisdrang und -interesse, Liebe zur Forschung, Wahrheitsstreben und -besitz, soweit dieser dem Menschen überhaupt möglich ist, Freude am Entwerfen von Wirklichkeitsmodellen, Eifer im logischen Aufbau von Ideensystemen, die Neigung, die Rätsel der Wirklichkeit zu lösen, zu finden, "was die Welt im Innersten zusammenhält".
b) Die ästhetischen Werte: Das Schöne, das Erhabene, das Anmutige und Liebliche, das Tragische wie das Komische, das Erlebnis der Begeisterung durch ein Naturereignis oder durch ein menschliches Kunstwerk — all das gehört zur Gruppe des Ästhetischen (von griech. aisthesis: Wahrnehmung). Die ästhetischen Werte stehen gleichsam im Übergangsfeld zwischen einfacheren und höheren Wertklassen, weil zu ihrem Wesen, wie immer dieses von den verschiedensten, miteinander streitenden Kunstrichtungen bestimmt wird, auf jeden Fall die von den Sinnen wahrnehmbare Darstellung, der sinnlich-anschauliche Ausdruck einer geistigen Idee, eines unsinnlichen Gedankeninhalts gehört. Ästhetische Werte sind Ausdrucks- oder Darstellungswerte.
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c) Die ethischen Werte: Güte, Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit, Solidarität mit den Schwachen und Ausgebeuteten, Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mut im Dienste der Gemeinschaft, Wahrhaftigkeit, Selbstlosigkeit, Geradlinigkeit, Toleranz, Verantwortlichkeit, Charakterfestigkeit, Unerschrockenheit, Selbständigkeit — das sind nur einige wenige ethische Werte, mehr willkürlich als planmäßig aus der umfänglichen Liste möglicher sittlicher Haltungen herausgegriffen, da wir das Wesen ethischer Werte in diesem Teil des Buches ohnehin noch eingehender behandeln müssen.
d) Die religiösen Werte: Sie sind Menschen, die die entsprechenden Erfahrungen nicht gemacht haben, schwer verständlich zu machen. Es sind bestimmte Erlebniswerte und diesen Werten entsprechende Haltungen, die man als "religiös" bezeichnen muß. In Abschnitt 1.3.4 (Weltanschauungen) sprach der Biologe Julian Huxley einen religiösen Wert an: das Betroffensein vom Geheimnischarakter der Wirklichkeit, die staunende Bewunderung alles dessen, was besteht, in seiner Ganzheit und Tiefe: "Die Wissenschaft hat den verhüllenden Schleier des Geheimnisses ... von vielen Phänomenen gelüftet; aber sie konfrontiert uns mit einem grundlegenden und universalen Geheimnis — dem Mysterium der Existenz überhaupt, und der Existenz des Geistes im besonderen".
Dem bekannten Humanisten Gerhard Szczesny sind religiöse Werte Transzendenzwerte, ohne die menschliche Kultur auf die Dauer nicht bestehen kann.
"Man muß der Welt nicht irgendein phantasiertes Rätsel hinzufügen, um auf ihre Transzendenz zu stoßen, sondern man muß nur ihre volle Erfahrung zulassen. Wer seine Aufmerksamkeit nur für einen Augenblick auf ein Ding und einen Vorgang konzentriert und nicht sogleich wieder auf der Rutschbahn der Faktizitäten weitergleiten läßt, kann gar nicht umhin zu bemerken, daß alles Bekannte ständig ins Unbekannte übergeht. Transzendenz in dem hier von mir gemeinten Sinn ist nicht irgendeine geheimnisvolle Macht jenseits unserer Welt, sondern ereignet sich in ihr, mit ihr und durch sie ... Tatsächlich ist dieses Unbekannte und Nicht-Verfügbare ... ein immer und überall anzutreffendes Element der Wirklichkeit. Wir begegnen ihm nicht nur, wenn wir den Blick hinaus ins Universum richten, sondern auch dann, wenn wir ihn ins Innere der Dinge versenken. Die Atomphysik stößt an die gleiche Grenze wie die Astrophysik".
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Auch die Betrachtung des eigenen Daseins kann nach Szczesny zu religiöser Erfahrung führen: "Es ist die ... Vergegenwärtigung der Transzendenz alles Lebens, die den Menschen befähigt, auch sein persönliches Dasein als einen unabgeschlossenen, aus dem Unbekannten kommenden und ins Unbekannte gehenden Versuch zu leben, der mit der Geburt nicht begonnen hat und mit dem Tode nicht endet, der in der Tiefe frei ist von allen Bindungen und Bedingungen, der aufgehoben ist in einer das Vergängliche und Nicht-Vergängliche gleichermaßen umfassenden Wirklichkeit."
Albert Einstein, der Bahnbrecher der modernen Physik, meint etwas Ähnliches wie Julian Huxley und Gerhard Szczesny, wenn er vom religiösen Wert des mystischen Erlebens spricht: "Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen ... Wem dieses Gefühl fremd ist, wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot. Das Wissen darum, daß das Unerforschliche wirklich existiert und daß es sich als höchste Wahrheit und strahlendste Schönheit offenbart, von denen wir nur eine dumpfe Ahnung haben können — dieses Wissen und diese Ahnung sind der Kern aller wahren Religiosität."
Innerhalb der hier mehr angedeuteten als erschöpfend behandelten Wertgruppen kommt den ethischen und religiösen Werten der höchste Rang zu. Warum dem so ist, wird sich in den nächsten beiden Abschnitten deutlicher zeigen.
5.3 Die ethischen Werte als Maßstab der Wertordnung
Die Überlegenheit der ethischen Wertklasse gegenüber allen anderen Werten besteht unter anderem darin, daß sie mit dem gerechtfertigten Anspruch auftritt, deren entscheidender Beurteilungsmaßstab zu sein. Alle Werte müssen vor den Richterstuhl der Ethik! Menschliches Leben ist Wertleben. Ständig greifen oder streben wir nach Werten, eignen wir sie uns an, erfreuen uns an ihnen, stellen uns auf ihre Seite.
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Aber diese unsere gesamte, werterfüllte Lebensführung steht unter dem Geltungsanspruch der Ethik, muß sich an ethischen Maßstäben messen lassen, soll ihnen nicht widersprechen. Man hat in diesem Zusammenhang von Universalität und Ganzheit des Ethischen gesprochen, weil jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens aufgefordert ist, das Gute zu tun, das Schlechte zu meiden. Nur die ethischen Werte sagen immer und in allen Lebenslagen: "Du sollst!", "Du sollst nicht!", treten also mit dem Charakter unbedingter Forderungen an die Menschen heran. All das kann man in diesem Umfang von keiner anderen Wertklasse sagen. Es wäre z.B. unsinnig, von allen Menschen zu verlangen, daß sie ästhetische Werterlebnisse haben, künstlerisch tätig sind, in allen Abschnitten ihres Lebens Kunst treiben oder Kunst lieben und genießen.
Mit dem eben behandelten Charakter der ethischen Werte haben wir einen Prüfstein an der Hand, um alle Werte und das ihnen zugeordnete Verhalten der Menschen richtig zu .beurteilen und einzustufen. Ethik, Sittlichkeit, läßt sich geradezu als die richtige Ordnung unserer Wertliebe in unseren Werthaltungen beschreiben.
Das prüfende und fordernde Wertbewußtsein äußert sich im einzelnen Menschen besonders in den Erscheinungen des Gewissens und des Verantwortungsgefühls; Erscheinungen, die auch der jugendliche Mensch in der Regel schon aus eigener Erfahrung kennt. Über diese beiden Begriffe wird gegenwärtig von den Wissenschaftszweigen der Psychologie und der philosophischen Ethik lebhaft und mit sehr unterschiedlichen Beurteilungen diskutiert. Auf die dabei angeschnittenen vielfältigen Probleme kann im Rahmen dieses Buches nicht eingegangen werden.
5.4 Richtiges und falsches Verhalten gegenüber den Werten, aufgezeigt in sieben Wertbereichen
Allen Arten von Werten kommt grundsätzlich, wie schon in 5.2 ausgeführt, die Eigenschaft des Erstrebenswerten, des Guten, des Positiven, d.h. zu Bejahenden zu. Das gilt sowohl für die "einfacheren", leib-seelischen wie für die "höheren", geistigen Werte.
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Es ist also richtig, wenn wir die Genußwerte, die biologischen Werte und die Nützlichkeitswerte anstreben und lieben; wenn wir unseren Körper, seine Gesundheit, Schönheit und Kraft als angenehm empfinden und dafür etwas tun; wenn wir Freude an der Lust und am wirtschaftlichen Erfolg haben. Unser ethisches Wertbewußtsein richtet sich nicht nur nicht dagegen, es fordert sogar eine bejahende Haltung zu diesen Werten von uns. Als mahnendes, abwehrendes oder sich empörendes Gewissen tritt das ethische Wertbewußtsein erst gegen uns an, wenn wir eine dieser drei Wertklassen zur Vorherrschaft erheben, d.h. zur für uns einzigen und höchsten machen, so daß alle anderen Werte gar nicht für uns vorhanden sind bzw. sich bedingungslos unterordnen müssen.
Ähnlich ist unser Verhältnis zu den "höheren", geistigen Werten, die in den Gruppen der theoretischen, der ästhetischen, der ethischen und der religiösen Werte zusammengefaßt sind. Sie sind grundsätzlich sehr erstrebenswert; insbesondere können sie den Menschen von dem oft leidvollen Gebundensein an die leiblichen und materiellen Bedingungen seines Daseins in einem erheblichen Ausmaß lösen und befreien und ihm einen geistigen Freiraum, eine Heimat im Reich der Gedanken und Ideale verschaffen. Aber auch bei diesen Wertgruppen muß eine einseitige Bevorzugung, eine unverhältnismäßig gesteigerte Hochschätzung einer einzelnen als ethisches Fehlverhalten bezeichnet werden.
Prüfen wir nun die einzelnen Wertbereiche, vor allem hinsichtlich der Formen falschen Wertverhaltens, die in ihnen vorkommen. Gerade die fehlerhafte Beurteilung von Werten ist es ja, die oft zu Fehlentwicklungen in der Lebensgestaltung führt, aus denen sich verheerende Folgen für die einzelnen, für ganze Gesellschaften und sogar für die Menschheit ergeben können.
5.4.1 Der Bereich der Genußwerte
Das Wohlgefühl unserer Sinne trägt zur Lebensfreude erheblich bei: Wohlgeschmack beim Essen und Trinken, angenehmer Geruch, wohliges Hautgefühl beim Baden, freudige Erregung der sexuellen Empfindungen und anderes mehr. In Frage zu stellen ist aber, wie hoch diese Genüsse im ganzen einzuschätzen sind.
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Die Überbewertung der Lustwerte ergibt weltanschaulich den Hedonismus, ethisch den Genußmenschen. Für beide ist bezeichnend, daß ihnen Lustgewinn als höchster Wertmaßstab des Lebens gilt. Der Volksmund hat für den hedonistischen Menschen, das Wort "Schlemmer" bzw. "Lüstling" geprägt. Aus der einseitigen Einstellung auf Gaumen- und/oder Geschlechtslust ergeben sich unter anderem die Fehlformen der Maßlosigkeit in der Ernährung und in der Sexualität: Eßgier und übertriebene Feinschmeckerei; Genußmittelsucht bis zum Alkoholismus und zur Drogenabhängigkeit; ständig wechselnde Triebliebe; geschlechtliche Ichsucht als Beschränkung auf den eigenen Leib als dauerndes Lustobjekt und -mittel; Unfähigkeit, bei sexueller Vereinigung mit einem anderen zu dessen geistig-personalem Wesen Fühlung zu bekommen, usw.
Lust kann nicht alleiniger Richtpunkt bei der Lebenssinngebung eines Menschen sein. Wem jedes Mittel der Lustgewinnung recht ist, der wird weder die eigene Würde bewahren können noch Achtung vor der Würde des anderen haben. "Die vornehme Seele hat Achtung vor sich selbst" (F. Nietzsche). Wer ein Höchstmaß von Lust zum Zentralwert erhebt, kann sein Leben nicht sinnvoll führen, weil höhere Werte, wie z.B. die ethischen, nur verwirklicht werden können, wenn man bereit ist, auch manchmal auf Lust zu verzichten. Ohne die höheren, geistigen Werte bleibt aber das Leben auch bei voller sinnlicher Befriedigung oberflächlich, leer und hohl, weil es dann gegen das eigentliche Wesen des Menschen verstößt, der eben nicht nur leib-seelischer Organismus wie das Tier, sondern auch Geist im Sinne von Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Selbstsein ist. Gerade als Gemeinschaftswesen muß der einzelne mit seiner Lust zurückstehen, wenn ihr Gewinn einen Schaden für andere nach sich zieht. Wirklich menschliche Lust kann ohne seelisch-geistige Anteilnahme keine echte Erfüllung bringen; sonst ist sie lediglich Augenblickslust, auf die stets Unlustgefühle folgen.
Den nur den Lustwerten nachjagenden Menschen hat Goethe im "Faust" anschaulich gekennzeichnet:
"Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed' Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genügte, ließ ich fahren,
Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht,
Und abermals gewünscht
Und so mit Macht
Mein Leben durchgestürmt."Goethe hat aber auch das Urteil über diesen nur genießenden Lebensstil gesprochen: "Genießen macht gemein!"
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5.4.2 Der Bereich der biologischen Werte
Als biologische Werte bezeichnen wir, wie in 5.2.1 ausgeführt, die den gesunden Menschen als leib-seelischen Organismus auszeichnenden Vorzüge; man kann sie kurz zusammenfassen in den Worten "Gesundheit und Lebenskraft". Ihre Wertschätzung ist heute in einer Zeit weitgehender medizinischer Aufklärung und allgemeiner Gesundheitspflege selbstverständlich. Der Satz des römischen Dichters Juvenal "sit mens sana in corpore sano" (Ein gesunder Geist soll in einem gesunden Körper wohnen) besitzt auch heute noch volle Gültigkeit. Aber auch in diesem Wertbereich gibt es fehlerhafte Verhaltensweisen.
Die Überbewertung der biologischen Werte wird als Biologismus bezeichnet. Wer bewußt oder unbewußt dieser Weltanschauung huldigt, dem sind Gesundheit, Kraft und Schönheit des Leibes die höchsten und im Grunde einzigen Werte. Allein das Körperliche in seinen verschiedenen Wertmöglichkeiten zählt für ihn. Die moderne Massenkultur, die Illustrierten, die Boulevard- und Regenbogenpresse, die Werbung und ein großer Teil der Filmindustrie in der Welt stehen im Dienst des biologischen "Ideals" — und ziehen daraus ihre Gewinne. Die Vermarktung des Körpers, insbesondere des weiblichen, hat groteske Formen angenommen. Schönheitswettbewerbe, um die Frau mit den aufreizendsten Kurven zu ermitteln; Männlichkeitswettbewerbe, um den Mann mit den größten Muskelpaketen herauszufinden; körperliche und sportliche Höchstleistungswettbewerbe, deren Sieger als Größte der Menschheit gefeiert, verehrt und von kritiklosen Fans geradezu angebetet werden; ungeheure Summen, die von den Regierungen der Staaten für den Hochleistungssport ausgegeben werden, um die Werbekraft des Sports als Mittel der Politik zu nutzen; Fitness-Training, das zum Selbstzweck erhoben wird und gar nicht mehr der Gesundheit und Jungerhaltung des Körpers als des Mittels dient, dessen sich unsere geistigen Strebungen bedienen — all das beweist, daß der folgende Ausspruch nicht ungerecht ist: "Das Leben selbst ist grauenhaft sinnlos geworden, und in der Wüste dieser Sinnlosigkeit wird der Thron des Leibes errichtet. Der Leib selber wird zum Sinn des Lebens" (W. Stählin).
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In der Tat haben wir es hier mit einer Ersatzreligion zu tun. Aber gegen die Erhebung des Biologischen zum einzigen und ausschließlichen Wert, gegen seine Vergötterung wehrt sich der ethische Maßstab in uns. Das vernünftige, kritische Wertbewußtsein zeigt uns, daß die Anbetung der biologischen Werte keine tragfähige Sinngrundlage für das ganze Leben bilden kann, daß sie der ganzen Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist, nicht gerecht wird. Denn die Vergottung des Körpers übersieht und verschweigt seine Bedrohtheit und Hinfälligkeit, sein Alt- und Krankwerden und seine Sterblichkeit. Sie ist blind für die nicht minder tatsächliche Kehrseite der Wirklichkeit, wie sie der häßliche, verkrüppelte, zermürbte, unterernährte, verkümmerte, dahinsiechende, innerhalb einer Umwelt mit abnehmender Lebensqualität dahinvegetierende, schmerzgepeinigte, durch Not und Laster verbrauchte und dahinwelkende Leib darstellt.
Biologismus ist auch blind für den durch die grauenhafte moderne Kriegstechnik zerstückelten, zerfetzten, den atomar oder chemisch verseuchten Leib; für den Leib als vermodernden Leichnam. Der eitle Kraftprotz und der naiv-optimistische Lebensanbeter verkörpern Fehlformen biologischen Wertverhaltens, die vor der tragischen Seite der Wirklichkeit klein beigeben müssen. Dieser Seite der Wirklichkeit läßt sich auch kein biologischer Sinn überstülpen.
Ein Fehlverhalten ist es jedoch auch, die biologischen Werte völlig zu mißachten und Körper und Gesundheit zugunsten anderer Werte zu vernachlässigen oder verkommen zu lassen. Das gilt nicht nur für süchtige Genußmenschen oder habgierige Raffer, sondern auch für fanatische Vertreter geistiger Werte. Mit Recht hat der Philosoph Friedrich Nietzsche sich gegen die »Verächter des Leibes« gewandt und ihnen zugerufen: "Hört auf die Stimme des Leibes! ... Der Leib ist eine große Vernunft."
Biologische Werte gelangen dann zu hoher positiver Bedeutung, wenn sie im Rahmen eines ganzheitlichen Lebensentwurfs in vernünftigem Maß gepflegt werden, eingeordnet in das Gesamtgefüge der Werte und von ethischen Werten überwacht.
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5.4.3 Der Bereich der Nützlichkeitswerte
In der Wohlstandsgesellschaft von heute braucht man für die Nützlichkeitswerte kaum ein Wort einzulegen, da sie im allgemeinen eher zu hoch geschätzt werden. Doch darf man nicht vergessen, daß es auch in dieser Gesellschaft Menschen gibt, die mit wirtschaftlichen Gütern nicht genügend versorgt sind, ja bei denen nicht einmal Grundbedürfnisse wie Nahrung und Kleidung befriedigend erfüllt werden. Ein großes Übel ist die vielerorts herrschende Wohnungsnot, von der besonders Familien mit Kindern betroffen sind. In allen diesen Fällen ist die Hilfe mit materiellen Werten ein ethisches Gebot, eine Forderung der sozialen Gerechtigkeit.
Die Überbewertung der ökonomischen oder wirtschaftlichen Werte dagegen führt zum ethisch-praktischen Materialismus bzw. zum Kapitalismus. Diese Werte sind dann nicht mehr (nützliches) Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Ein grenzenloser Erwerbstrieb, ein Streben ohne Ende nach ständigem wirtschaftlichem Wachstum, nach Geld und Gut ist innerster Kern des Kapitalismus, gleichgültig, ob es sich um Privat- oder Staatskapitalismus handelt. Alle, selbst die höchsten geistigen Werte werden allein unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit und Verwendbarkeit für die eigene Bereicherung und Machterweiterung betrachtet und behandelt. Geld als handfestes Symbol allen wirtschaftlichen Besitzes ist der allmächtige Götze des neuzeitlichen Bürgertums. Denn Geld verleiht Einfluß und Macht über Menschen, läßt sie bestechlich werden. Es verleiht auch dann noch Ansehen, wenn man es selbst gar nicht erworben hat, weder durch Fleiß noch durch Klugheit, sondern durch die Zufälligkeiten einer Geburt, einer Erbschaft, einer Schenkung, eines Glücksspiels ans Geld gekommen ist. "Geld stinkt eben nicht", weiß der Volksmund treffend zu formulieren.
Für die "Macher" der modernen Industriekultur spielen nur die Begriffe "Geld", "Tausch", "Produktion", "Konsum", "Gewinn" und "Erfolg" eine wesentliche Rolle. Alle anderen Werte, die für das Funktionieren der bürgerlichen Tauschgesellschaft nicht unbedingt notwendig sind, drängen sie in den Bereich des Privaten, Beliebigen und Unverbindlichen zurück. Der Mensch ist ihnen nur noch unter ökonomischen Gesichtspunkten wichtig, er wird als Mittel behandelt, das nach seiner Arbeitskraft, seiner Kapital- und Kaufkraft bewertet wird.
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Geblendet von der wirtschaftlichen Macht, unterwerfen sich die modernen Industrieunternehmer immer weitere Teile unseres Planeten; selbst klimatisch so wichtige Urwaldgebiete am Amazonas lassen sie aus wirtschaftlichen Interessen heute abholzen. Kein noch so notwendiges und wertvolles Naturschutzgebiet kann vor ihnen dauerhaft sicher sein. Die letzten Rohstoffquellen der Erde werden von ihnen beschleunigt ausgebeutet. Teile großer Ernteerträge werden vernichtet, nur um die Preise zu halten. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert sagte der Psychologe der Lebensformen, Eduard Spranger: "Das Nützliche ist in der Regel geradezu ein Feind des Schönen.
Aus wirtschaftlichen Motiven werden Landschaftsbilder zerstört, Kunstwerke vernichtet, glückliche Stimmungen verdorben. Beides scheint nicht Raum nebeneinander auf derselben Erde zu haben. Und auch nicht in derselben Seele." Wenn Ludwig Feuerbach recht hatte mit der Behauptung, daß nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott nach seinem Bild geschaffen habe, dann wird der "Gottesglaube" vieler Wirtschaftsmenschen verständlich. Gott ist ihnen der Superreiche, der Gaben spendende Oberboß; jener Spielart des Wirtschaftsmenschen, wie sie der Börsenmakler mit seinen religiös-abergläubischen Vorstellungen verkörpert, erscheint Gott als die "Macht, die sie sich an der Spitze der großen Weltlotterie stehend denken" (E. Spranger).
Mit dem ungezügelten Erwerbs- und Besitzstreben ist eine große Zahl ethischer Fehlformen verbunden, auf deren unsystematische Aufzählung ohne nähere Charakterisierung wir uns hier beschränken müssen: Habgier, Diebstahl, Hochstapelei, Hehlerei; Betrug, dessen schlimmste, jedoch am wenigsten gerichtlich verfolgte und bestrafte Formen heute der Wirtschaftsbetrug und die Umgehung umweltfreundlicher Bestimmungen durch industrielle Betriebe sind, z.B. Verseuchung der Flüsse durch Industrieabwässer, unerlaubte Lagerung von Giftfässern und Atommüll. Ferner Kriegsgewinnlertum (Verkauf von Waffen in militärische Krisenherde), Geiz, Verschwendung, Neid; brutale Vernichtung wirtschaftlich schwächerer Betriebe in unredlich geführtem, erbittertem Konkurrenzkampf; Preistreiberei durch Disziplinlosigkeit sowohl in der Erhöhung der Preise durch die Verkäufer wie in dem unbeherrschten Erwerb um jeden Preis durch den Käufer.
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Zu beanstanden ist auch die Reise-, Repräsentations- und Bausucht mancher Behörden sowie verhältnismäßig hohe, dem Bürger auferlegte Steuern, um die dadurch entstandenen Kosten wieder auszugleichen. Ethisch anfechtbar ist das dem Arbeiter aufgezwungene Akkordsystem, z.B. das Stachanow- oder Hennecke-System der Arbeit im sogenannten realen Sozialismus sowie die Nichtbeteiligung der Arbeiter an der Verantwortung für den Produktionsprozeß, d.h. die Ablehnung der Mitbestimmung. Schwere Bedenken sind zu erheben gegen die Beeinflussung der Menschen durch raffinierte, auf den Erwerb auch minderwertiger oder entbehrlicher Güter um jeden Preis ausgerichtete Reklame und gegen die rücksichtslose Einbeziehung der empfänglichen Seele von Kindern und Jugendlichen in den Sog und die Zwecke dieser Reklame; gegen unlauteren Wirtschaftswettbewerb und in seinem Gefolge Einschüchterung, Verleumdung, Wirtschaftsspionage, Erpressung usw.
Eine gewisse Verkörperung der Übersteigerung wirtschaftlicher Werte stellt der Manager- und Funktionärstyp in seiner negativ-extremen Ausgestaltung dar. Wie gesagt: in seiner negativen Übertreibung. Denn nicht das Managen im Sinne der Anbahnung und Vermittlung von Aufträgen und Verträgen mit erlaubten Mitteln, der Organisierung und Durchführung verschiedenster Unternehmungen auf geschickte, aber ehrliche Weise ist hier gemeint. Gemeint ist vielmehr der raffinierte "Macher", der im Dienste seines Egoismus und seines Unternehmens dem Kunden bzw. Vertragspartner praktisch alles "anzudrehen" imstande ist; der im Namen des zu erzielenden Nutzeffekts bzw. des Interesses der Gruppe, die er vertritt, alle ethischen Hemmungen der Ehrlichkeit, Sachlichkeit und Achtung vor dem anderen Menschen beiseite schiebt und rücksichtslos andere ausspielt; der nur noch Funktionär ist, d.h. darin aufgeht, Funktion des Betriebes zu sein, dem er dient, unabhängig davon, ob die Ziele dieses Unternehmens sittlich oder unsittlich sind. Eine Abart davon ist der wissenschaftliche Funktionär, der geblendet von den in Aussicht gestellten großzügigen Honoraren für ein Industrieunternehmen jedes gewünschte Gutachten anfertigt. So ein Manager ist einer, der die Menschen wie Puppen tanzen läßt; dem sie nur Mittel zum Zweck, nie Selbstzweck sind; dem jede Methode gut erscheint, wenn sie nur zu seinem egoistischen Ziel führt; der, von Gewissensbissen nicht belastet, um so eleganter die Leute an der Nase herumzuführen vermag.
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Das gekonnte Spielen auf allen Apparaturen des technischen Zeitalters vermittelt dem Manager- und Funktionärstyp das Gefühl, ja den Rausch unbegrenzter Macht und Verfügung über die Menschen, über Raum und Zeit. In Wirklichkeit ist er ein Mensch ohne Selbst, ohne Innenraum, ohne Seele, der in der Ruhelosigkeit, Betriebsamkeit, Geschäftigkeit, im pausenlosen Organisieren aufgeht, aufgehen muß, weil er sonst seine innere Leere und die ständige Flucht vor sich selbst bemerken könnte. Er ist ein "Mensch ohne Charakter", wenn wir hier unter Charakter die Beständigkeit im Sittlichen, die konstante Ausrichtung eines Menschen auf positive ethische Werte gemäß ihrer Rangordnung verstehen. Seinen Charakter hat der Manager an der Pforte des Betriebs, dessen Funktionär er nun ist, abgegeben. Jetzt ist er nur noch gewissenloser Befehlsempfänger und -ausführer, Vertreter und Verkünder der Interessen, Ansichten und Parolen "seines" Unternehmens. Dieser Funktionärstyp hat heute eine ungeheure Ausweitung erfahren: Er managt im hier umschriebenen Sinn nicht mehr bloß auf dem Gebiet der Industrie und Wirtschaft, in Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, sondern in manchem Verein, in Bildung, Kultur, Politik und Religion, in staatlicher Fürsorge und Bürokratie, in fast allen Lebensbezirken. Was machbar ist, wird vom Manager auch gemacht, selbst wenn dabei Menschen und Dinge Schaden erleiden.
Die elementaren ethischen Grundwerte der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit werden vom ökonomischen Menschentyp, sobald und soweit er im Besitz der Macht ist, nicht selten brutal verletzt. Das Stichwort, nach dem er handelt, wenn er mit Menschen, Gemeinschaften und der Natur in Berührung kommt, heißt Nutznießen bzw. Ausbeuten. Selbst ästhetische Werte, zu denen er oft gar keine innere Beziehung aufzunehmen imstande ist, dienen ihm — z.B. in Gestalt wertvoller Kunstwerke — lediglich als Mittel der Zurschaustellung seines Reichtums oder der Erhöhung seiner Vertrauenswürdigkeit. Gern gebärdet er sich als Förderer von Kunst und Kultur, wenn daraus ein wirtschaftlicher Vorteil, bessere ökonomische Kontakte usw. hervorgehen. Auch ethisch-soziale Werte, z.B. den der Solidarität, des Gemeinschaftsgefühls, erkennt er nicht in ihrer Eigenbedeutung an. Freundlichkeit, die nicht auf ihren Vorteil bedacht ist, selbstlose Hilfeleistung, ein Gefühl echter Zusammengehörigkeit, also auf Gleichheit beruhende Solidarität in ihren zahlreichen Einzelerscheinungen kennt er kaum.
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Für die Rechtfertigung solchen Gemeinschaftsempfindens durch den Hinweis, daß wir alle Menschen, also Schwestern und Brüder, auf dem einen, uns umfassenden Schicksalsplaneten Erde sind, hat mancher nur ein mitleidiges Lächeln übrig, es sei denn, er könnte eine solche Rechtfertigung schon wieder als motivierenden Antrieb für die Arbeitsleistung seiner Untergebenen nutzen. Gewiß, wir haben hier den reinen Typus des Wirtschaftsmenschen etwas kraß gezeichnet. Es gibt daneben viele Mischformen im Sinne des jeweils in einer bestimmten Situation erfolgenden Vorziehens auch anderer Werte als nur der ökonomischen.
Die üblen Folgen der Verfehlung des Lebenssinnes durch die einseitig-ausschließliche Ausrichtung auf den ökonomischen Nutzen treten heute deutlicher als bei der Überbewertung irgendeiner anderen Wertklasse hervor. Vor allem hat die rücksichtslose, nur auf Gewinn gerichtete wirtschaftlichindustrielle Ausbeutung der Rohstoffe unserer Erde in einem erschreckenden Ausmaß zur Verschlechterung der Umwelt- und Lebensbedingungen des Menschen geführt. Die Anbetung der ökonomischen Werte, ihre Erhebung zur höchsten Gottheit der Moderne, rächt sich sehr viel mehr als die Überschätzung anderer Werte.
In Anbetracht dieses Umstandes ist heute eine neue ökologische Ethik (A) vonnöten. Sie darf sich nicht mehr am Götzenbild ständig neuer Produktions- und Konsumwerte ausrichten, nicht mehr der Erweckung und Befriedigung immer neuer Bedürfnisse, dem zügellosen Erwerbs- und Besitzstreben dienen, nicht mehr den Göttern des Wachstums, des Wettbewerbs, des Ertragsdenkens usw. blind ergeben sein, vielmehr müßte sie uns grenzüberschreitende Wege zur Vertiefung und Festigung der weltweiten Solidarität und Verständigung mit allen Menschen, ja auch mit den noch unseren Planeten bewohnenden Lebewesen, und zur Entdeckung der Tiefen unseres eigenen Seins aufzeigen. Das Abenteuer der Ausbeutung des als unerschöpflicher Rohstoffspender betrachteten und behandelten Planeten Erde muß beendet sein. Es beginnt, es muß beginnen, das Abenteuer des Vordringens in alle Möglichkeitsbereiche solidarischer menschlicher Selbstverwirklichung. Das Zeitalter der menschheitlichen Unreife, gekennzeichnet durch die schnell fortschreitende Zerstörung des riesigen, unsere einzige Lebensgrundlage darstellenden Spielzeugs Erde, ist vorbei, um das ernüchternde Erwachsenwerden kommt die Menschheit nicht mehr herum.
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Die neue Art ethischer Verantwortung, die mit der schöngeistigen Ethik von gestern nichts mehr zu tun hat, hat Carl Amery treffend folgendermaßen beschrieben:
"Der Industrielle, der die letzte, biologisch entscheidende Dosis Gift in die Weltmeere kippt, kann persönlich noch so feinsinnig sein, er mag ein Förderer der Künste, ein zärtlicher Ehemann, ein vorbildlicher Arbeitgeber, ein überzeugter Christ oder Sozialist sein; in dem Augenblick, da seine Ladung von der Kippe oder vom Schleppkahn rutscht, ist er der planetarische Schurke Nummer eins. Der Sittenstrolch, der Heroin-Fixer, der Massenmörder mögen nach unserem gegenwärtigen Empfinden wesentlich tiefer stehen; ihre Taten oder Unterlassungen sind ein wahres Nichts, verglichen mit der Endgültigkeit des Verbrechens, das er (von unseren Gerichten vermutlich mit 5000,- DM Geldstrafe geahndet) an der Menschheit begeht."
Der geballte, durch Selbstbegrenzung auf dem Gebiet ökonomischen Herstellens und Verbrauchens nur noch gestärkte und veredelte Freiheitsdrang der einzelnen, die den unverminderten "Tanz um das Goldene Kalb" der Mächtigen dieser Erde als tödliche Bedrohung der Menschheit durchschaut haben, wird ethische Mittel und Maßnahmen der Aufklärung und der Gewinnung der Massen, wird eine "Organisation des Mangels" entwickeln müssen: Aufklärung über die industriell-wirtschaftlichen Kreisläufe, die die Weckung immer neuer Bedürfnisse und den wahllosen, gelenkten Verbrauch zwangsweise notwendig machen; über Verzichthaltung, d.h. notwendige Auswahl der Antriebe, ohne die es nie irgendeine Form von Freiheit gab; über die Schaffung einer Rangliste von "Gegenbedürfnissen", von "alternativen Bedürfnissen" als Gegensatz zur heute herrschenden flachen Verbrauchermoral; über unsere Lage einer Schicksalsgemeinschaft auf dem einen Raumschiff Erde, aus der niemand ausbrechen kann, und damit die Bewußtmachung einer Höchstform von Gemeinsamkeit, wie sie so noch nie da war. Unmißverständliche Aufklärung auch über die unvermeidliche Katastrophe, der wir alle entgegeneilen, wenn wir keine "Umkehr" vollziehen; über einen neuen Sinn der Natur und der Erde, die es nicht länger erträgt, der Spielball unserer Wünsche zu sein.
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Überlegungen zur frei von uns gesetzten, zugleich aber notwendigen Gemeinschaftsbildung sind über alle Aufklärungsanstrengungen hinaus notwendig: Überlegungen zur Beeinflussung der uneinsichtigen Mächtigen, die zugunsten befriedigter Interessen von heute das Raumschiff Erde in die Katastrophe von morgen hineinzusteuern drohen; Überlegungen zur Erarbeitung eines Rechtes, das dieser Weltsituation gerecht wird und nicht das Bestehende, und das heißt die vorhandenen Produktionsverhältnisse und das herrschende Wachstumsdenken der Industrienationen, einfach absegnet; Überlegungen zur Entwicklung eines deutlich ablehnenden Verhaltens gegenüber dem "Goldenen Kalb" des wirtschaftlichen Fortschritts, dessen Krebscharakter längst offenbar geworden ist.
Die ökonomische Selbstbegrenzung wird eine stärkere, deutliche Entgrenzung des Menschen auf anderen, wichtigeren Gebieten zur Folge haben. Der Mensch sollte sich zu vordergründigen Geschäften menschlichen Umgetriebenseins nicht mehr mißbrauchen lassen, vielmehr sollte er sich nur noch auf das ihm Gemäße hin selbst überschreiten, auf die höchste Form menschlicher und menschheitlicher Selbstverwirklichung. Der Mensch von heute könnte mit einer neu verstandenen Freiheit und Ethik ein Übergang, eine Stufe sein auf dem Wege zu einem gemeinsamen Gewissen der Menschheit.
5.4.4 Der Bereich der theoretischen Werte
Mit diesem Abschnitt beginnen wir die Erörterung des richtigen und falschen Verhaltens gegenüber den in der Gruppe der "höheren", geistigen Werte zusammengefaßten theoretischen, ästhetischen, ethischen und religiösen Werten. Obwohl diese nicht, wie die schon behandelten "einfacheren", leib-seelischen Werte, unmittelbar an die körperlichen und materiellen Bedingungen des menschlichen Lebens gebunden sind, kommt es auch bei ihnen zu Fehlhaltungen.
Wie sieht es damit im Bereich der theoretischen Werte aus? Denken, Erkennen, Forschen, wissenschaftliche Tätigkeiten im weitesten Sinne, insbesondere Analysieren, d.h. zergliederndes Untersuchen der Wirklichkeit, und Synthetisieren, d.h. sinnvolles Zusammensetzen der Bruchstücke des Erkennens: Man braucht angesichts der ungeheuren Erfolge der Wissenschaft, vor allem in den letzten vier Jahrhunderten, den Wert dieser theoretischen Akte unseres Geistes gar nicht mehr besonders zu betonen (vgl. auch die Würdigung des alles erkenntnismäßig durchdringenden Selbstbewußtseins des Menschen in Abschnitt 4.2.1).
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Dennoch gibt es auch im Verhältnis zu den theoretischen Werten Fehlformen des Verhaltens. Eine solche Fehlform ist der Intellektualismus, mit dem wir hier eine derartige Übersteigerung und Überschätzung der Leistung des Intellekts, des Verstandes meinen, daß andere Leistungs- und Wertgebiete unseres Geistes zwangsläufig stiefmütterlich behandelt werden und verkümmern. Für einen "reinen Verstandesmenschen" zählt nur das Wissen. Er folgt dem Grundsatz Spinozas: "Nicht weinen, nicht lachen, sondern erkennen!" So entwirklichen sich ihm die Menschen, die Lebewesen, die Natur.
Er glaubt, sie zu sehen, aber er bemerkt an ihnen nur das begrifflich Faßbare, das in das Netz seiner begrifflichen Konstruktionen Eingehende. Sie sind ihm nicht lebendige Wirklichkeit, sondern Gegenstand des Analysierens, Unterscheidens, Verallgemeinerns und Einordnens. Sie bilden Teile, Punkte der Theorie, die er sich von der Wirklichkeit macht. Gefühlsbeziehungen und -bindungen lehnt er im Grunde seines Wesens ab, weil sie ihm als einseitige Verfärbung seines reinen Erkennens erscheinen.
So sinkt auch das Ich, das personale Wesen seiner nächsten Mitmenschen zu einem gefühllos-dinglich betrachteten Gegenstand herab, den er in kühlem Abstand betrachtet. Die Nöte und Ängste der Menschen interessieren ihn höchstens als wissenschaftliches, z.B. psychologisches Problem. Denn wenn er nicht gerade selber in wirtschaftlichen oder anderen Existenzschwierigkeiten ist, kennt er nur das Leiden an theoretischen Problemen, an wissenschaftlichen Fragen, deren Beantwortung ihm noch nicht geglückt ist. Da er alles in seinem Umkreis, alles ihm Begegnende vergegenständlicht, wird er sich selbst zum ständig beobachteten Gegenstand. Seine Natürlichkeit verliert er auf diese Weise völlig und damit auch die Fähigkeit, ganzheitlich nicht bloß mit dem Verstand auf die Anstöße der Wirklichkeit zu reagieren. Seine Erlebnisunfähigkeit führt dazu, daß er nur noch Erwägungen und Theorien über menschliches Erleben und Erfahren an- bzw. aufstellen kann. Er kann sich durchaus für religiös halten, aber seine "Religiosität" ist nicht etwa das Erleben religiöser Werte, sondern z.B. Philosphie über ein höchstes Wesen.
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Er wird auch nie Künstler oder Kunstempfindender sein, sondern ästhetische Theorien aufstellen, ohne je von der Schönheit der Natur oder eines Kunstwerks viel verspürt zu haben, geschweige überwältigt worden zu sein. Gegen die ästhetischen Werte, deren Erleben und Gestalten ganz besonders an Fantasie und Gefühle gebunden ist, hat er ohnehin eine starke Abneigung. Das Einfühlen und Hineinversenken des Künstlers in seine Schöpfung tut er verächtlich als Schwärmerei, Geheimniskrämerei und falsche Romantik ab. Anschaulich verdeutlicht sich das hier Gesagte in der Äußerung eines Mathematikers zu einer eben angehörten Beethoven-Symphonie: "Schön! Aber was ist hiermit bewiesen?" Die Abneigung des theoretischen Menschen gegen die ästhetischen Werte rührt auch davon her, daß jedes Kunsterlebnis und jedes Kunstwerk etwas besonders Individuell-Wirkliches ist, das sich dagegen wehrt, begrifflich gefaßt oder in einer allgemeinen Idee "aufgehoben" zu werden. Nicht ohne Grund hat ein klassischer Theoretiker, das Begriffs- und Formulierungsgenie Immanuel Kant, die Musik als die "unintellektuellste Kunst" bezeichnet.
Man könnte die Kirche im Dorf, den einseitig-theoretischen Menschen ruhig in seinem elfenbeinernen Turm lassen, wenn die Wissenschaft, besonders die Naturwissenschaft, heute nicht einen so überragenden Einfluß auf alle Lebensbereiche der modernen Welt ausübte. Diese Erkenntnis der Bedeutung der Wissenschaft und der fast unermeßlichen Auswirkungsmöglichkeiten ihres Einflusses kann einen bisweilen geradezu überfallartigen Schrecken auslösen.
Als arabische Fachleute das Erstaunliche der militärischen Erfolge von 3 Millionen Israelis über 126 Millionen benachbarter Araber untersuchten, muß sie ein solcher Schrecken heimgesucht haben, wenn sie ihn auch nur in den fast geistlos klingenden Satz kleideten: "Die Wissenschaft wird allgemein als Schlüsselelement für wirtschaftliche Entwicklung, technologischen Fortschritt und militärische Macht anerkannt." In der wissenschaftlich-technischen Überlegenheit der Israelis erkannte man das Geheimnis ihrer militärischen Siege.
Im Zurückdrängen oder Abwürgen der gefühlsmäßigen, sozialen und ethischen Bestandteile seines Wesens liegt die Gefahr des Vollblut-Naturwissenschaftlers. Er ist nur von einer Leidenschaft gepackt, ja besessen: den Durchblick durch die Natur zu vollziehen, Einblick in ihre geheimnisvollen, rätselhaften Abläufe zu bekommen.
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Es gibt für ihn nur die Beurteilung "wahr" oder "falsch"; ob die Ergebnisse seiner Forschung und deren Anwendung nützlich oder schädlich, gut oder böse für den Menschen, für die Gesellschaft sind, interessiert ihn an sich nicht. Auf die Gefahr, die in der Natur bzw. den Folgen der reinen, "wertfreien" Wissenschaft liegt, wurden breitere teile der Öffentlichkeit eigentlich erst aufmerksam, als gegen Ende des Zweiten Weltkrieges die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen. Bis dahin betrachteten auch Naturwissenschaftler
"ihren Beruf ... vorwiegend als jenseits aller Emotionen liegend und daher als wertfrei. Moral und Ethik waren für sie Dinge, die erst dort anfingen, wo ihr Beruf aufhörte. Zur Tragik dieser heutigen Situation gehört es, daß gerade die Wissenschaftler, die mit großer Besessenheit sich nur ihrem Beruf widmen und alle anderen Gedanken ausschalten, die größte Chance neuer Entdeckungen haben. Die Naturwissenschaft ist auf einer so vollendeten Stufe, daß Neuerungen meist nur noch nach sehr hohem Einsatz zu erwarten sind. Trotzdem müssen wir versuchen, auch den letzten Wissenschaftler zum Nachdenken über sein Tun zu bringen. Der weitabgewandte Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der nur dem faustischen Drang nach Erkenntnis leben will, kann nicht mehr 'erlöst' werden, wenn er sich nicht der Verantwortung vor den Folgen seines Tuns stellt. Wir können heute Wissenschaft nicht mehr als Selbstzweck sehen" (W.A.P. Luck).
Trotzdem kann die "Erlösung" nicht in einer Einschränkung oder gar einem Verbot weiteren Forschens liegen, sondern nur in seiner Verknüpfung mit der Rücksicht auf die anderen und das andere (Altruismus, von lat. alter: der andere; eine von A. Comte geprägte Bezeichnung für die aus Rücksicht auf die Mitmenschen hervorgehende Denk- und Handlungsweise).
Der Forscher, der das ganze Reich der Werte und die ganze Wirklichkeit (Menschen und Natur) sowie deren Wohl stets zu berücksichtigen bemüht ist, wird die heute anstehenden schwerwiegenden Entscheidungen in der Atomphysik, in den Fragen der Verwendung der Kernkraft, in der Biotechnik und -chemie, in der Molekularbiologie und den Fragen der Erbgutveränderung in einer humaneren Weise treffen als der von allen Rücksichten absehende "Fachidiot". In der hier behandelten Hinsicht liegt das "Heil" der Menschheit tatsächlich in der Ganzheit. "Ihr sucht ein Mittel, den Individualismus in Zucht und Ordnung zu bringen und die Niederträchtigkeit zu unterdrücken.
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Ihr werdet kein anderes finden, als vor den Menschen die Größe des Ganzen zu preisen, das sie verkennen und dessen Gelingen ihren Egoismus in Frage stellen würde ... Enthüllt ihnen dagegen ohne Zögern die Majestät des Stromes, zu dem sie gehören. Laßt sie das unermeßliche Gewicht der aufs Spiel gesetzten Anstrengungen spüren, für die sie die Verantwortung tragen." Nur "in seiner Vereinigung mit dem Ganzen" findet jedes Element der Wirklichkeit "nach und nach die Vollendung" (T. de Chardin).
Nationale und internationale Zusammenarbeit der Wissenschaftler, die ihre ethische Verantwortung für das Ganze der Wirklichkeit eingesehen haben, muß also das Ziel sein. Die ethischen Werthaltungen der Unabhängigkeit und des Mutes zur eigenen Meinung werden sie bitter nötig haben, um den Traum einer gewissenhaften, ehrlichen Zusammenarbeit und gegenseitigen rückhaltlosen Information über die Grenzen der Machtblöcke, der weltanschaulichen und militärischen Systeme hinweg zu verwirklichen. Denn sie sind ja im allgemeinen auf Geldgeber für ihre teuren Instrumente angewiesen, ohne die sie nicht forschen können; sie fürchten sich wie alle Menschen vor materiellen Nachteilen für sie und ihre Familien; zugleich spüren sie die Macht und die materiellen Vorteile, die sich aus ihren Erkenntnissen, Entdeckungen, Erfindungen für sie selbst ergeben. Unabhängigkeit im Sinne des Verzichts auf Ruhm und glänzende Augenblickserfolge, um den "inneren Frieden und die wahre Freiheit" zu erringen, ist daher nach Max Planck eines der "höchsten Güter des menschlichen Geistes". Etwas Ähnliches ist von der Zivilcourage, dem Mut zur eigenen Meinung, zu sagen, die angesichts der Zwänge auch in demokratischen Staaten heute immer mehr abhanden kommt und die John F. Kennedy in seinem gleichnamigen Buch treffend so formuliert hat: "Das Handeln im allgemeinen sozialen Interesse entgegen der herrschenden Meinung und unter zu erwartenden erheblichen persönlichen Nachteilen".
Der Biologe Hans Mohr hat in seinem Buch "Wissenschaft und menschliche Existenz" (1967) die ethischen Verhaltensweisen zusammengestellt, die für den Fortschritt der Wissenschaft wie für echte Zusammenarbeit der Wissenschaftler notwendig sind:
1. Bedingungslose intellektuelle Ehrlichkeit; 2. Freiheit des Denkens; 3. Objektivität; 4. Verifizierbarkeit der Aussagen, d.h. Nachprüfbarkeit durch andere Wissenschaftler; 5. gegenseitige Achtung und Anerkennung der Leistungen;
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6. Vorherrschen der geistigen Aktivität und Lebensweise in der Person des Wissenschaftlers; 7. Klarheit der Ausdrucksweise; 8. Verzicht auf Dogmatismus, d.h. auf unbedingtes Recht-haben-Wollen. Der Physikochemiker Werner A.P. Luck hat diese Verhaltensrichtlinien noch ergänzt: 9. Zurückstellen der eigenen Person vor der Sachnotwendigkeit der Wissenschaft; 10. Mitteilungspflicht von Erkenntnissen und Erkenntnismethoden an die Öffentlichkeit; 11. Bereitschaft zur Zusammenarbeit; 12. Ausdehnung des wissenschaftlichen Teilethos auf die gesamte Privatsphäre nach der Devise: "Ein guter Forscher soll auch ein guter Mensch sein."
Luck, Sprecher des Rates der Professoren der Universität Marburg, war auch maßgeblich am Aufbau der "Gesellschaft für Verantwortung in der Wissenschaft" (GVW) in Deutschland beteiligt. Diese Gesellschaft verwirklicht bereits einen Teil der Forderungen der ethisch verantwortlichen wissenschaftlichen Zusammenarbeit, indem sie sich bemüht, "Wissenschaftler, Techniker, Ärzte und andere Berufsgruppen anzuregen, immer im Bewußtsein der Verantwortung für das Wohl der Menschen zu handeln. Neben dem Bestreben, die Verantwortung für die Konsequenzen seiner Arbeit mitzutragen und nicht seinen Vorgesetzten zu überlassen, erwartet die GVW von ihren Mitgliedern: mit wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen den Behörden, der Wirtschaft und den Laien zu helfen, die Mittel der Wissenschaft und Technik menschenwürdig zu gebrauchen".
5.4.5 Der Bereich der ästhetischen Werte
Ein wichtiger, nicht wegzudenkender Bestandteil menschlichen Wesens ist sein Schönheitssinn, d.h. die Fähigkeit, Wahrnehmungen seiner Sinne als schön zu empfinden. Dieses Schönheitsempfinden löst Erlebnisse aus, mit denen sich ästhetische Bewertungen verbinden (vgl. 5.2.2). Die so entstandenen ästhetischen Werte vermögen das menschliche Dasein sehr zu beeindrucken, zu verschönern und zu bereichern.
Aber auch im Bereich der ästhetischen Werte ist ethisches Fehlverhalten möglich. Die einseitige Bevorzugung dieser Werte heißt Ästhetizismus. Auch für diese Haltung verliert die Welt etwas von ihrer Wirklichkeit; sie wird aber nicht, wie für
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den reinen Theoretiker, zu einem unanschaulichen Begriffsgebilde oder zu einer mathematischen Formel, sondern zu einem Fantasiegebilde des Schönen und Stimmungsmäßigen. Alles verklärt sich in der "schönen Seele" dieser Menschen zu einem malerischen Bilde, sogar die Armut anderer Menschen; denn sie selbst frönten ja nicht dem Ästhetizismus, wenn sie sich keine sorgenfreie Existenz leisten könnten. Der wirklichen Welt mit ihren Härten und Stößen fühlen sie sich enthoben, sie ist für sie nur ein Theater, das sie als Zuschauer erleben und genießen. Selbst der Daseinskampf der anderen ist für sie noch ein Schauspiel, das sie in der reichen Vielfalt ihrer stimmungsmäßigen Fantasiebilder nicht missen möchten.
So liegt der ästhetizistischen Haltung letztlich ein unethischer Zynismus, d.h. ein verletzend-spöttisches Verhalten zugrunde, wie es sich etwa in Picassos Wunsch ausdrückt: "Ich möchte reich sein, um wie die Armen leben zu können." Auch ein bestimmter Egoismus charakterisiert den Ästhetizismus. Es ist zwar nicht der Egoismus des oben behandelten Genußmenschen. Die rein ästhetische Einstellung zur Wirklichkeit ist begierdelos. Als "interesseloses Wohlgefallen" hat sie Kant bezeichnet. Es geht dem Ästheten nicht um den derben Griff nach den Dingen wie dem Genußmenschen. Nicht wirklicher Besitz und Genuß ist sein Ziel, sondern Aufhebung der Schwere der wirklichen Welt und ihrer Gegenstände, ihre Erhebung auf die Stufe lustvoller Anschauung. Nicht körperlicher, sondern seelischer Genuß wird von ihm angestrebt. Es handelt sich hier also um eine Art feineren, veredelten Egoismus: Erleben der Wirklichkeit als ästhetisches Spiel und Genießen des eigenen Selbst als eines durch dieses Spiel stimmungsvoll bewegten. Genuß des Bilderspiels des Lebens und damit verbundener Selbstgenuß!
Auch Ungerechtigkeit gegenüber anderen Wertklassen zeichnet den Ästhetizismus aus. Den theoretischen Werten wird er nicht gerecht, weil ihm das Anschauliche, Bildhafte, Mythische näher steht als die kalte, nüchtern-begriffliche, wissenschaftliche Tatsache oder Wahrheit. Diese erscheint ihm als "graue Theorie", als Ausdörrung des fruchtbaren Lebens. Der Ästhetizist neigt zur Weltanschauung der mythologischen Allbeseelung. Nur ganz Große wie Plato oder Goethe haben es verstanden, das Ästhetische und das Theoretische zu einer harmonischen Weltanschauung zu verschmelzen,
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so wenn Plato die mathematische Ordnung des Maßes als Grund der Schönheit der Welt, als Kosmos und der Schönheit der Seele ansieht. Der reine Ästhetizismus ufert dagegen in Mythologien und Symbolismus (Denken in Sinnbildern) aus. Seine Vorstellungen wuchern über die Grenzen des Wirklichen hinaus, hinter allen tatsächlichen Vorgängen ahnt und wittert er dunkle, tiefere Sinnbezüge, die er dazu noch oft genug personifiziert oder dämonisiert, d.h. sich in guten oder bösen Geistern verkörpert denkt.
Auch den sozialen und ethischen Werten wird der Nur-Ästhet nicht gerecht. Nicht, daß er nicht gesellig wäre. Aber auch die Menschen, mit denen er in gesellschaftliche Verbindung tritt, sind für ihn in erster Linie Gegenstände des Kunstgenusses, des ästhetisch einfühlenden Mitempfindens. Sie müssen irgendwie interessant sein, sonst hört die Verbindung mit ihnen sehr bald auf. Eine Zuwendung aus der Erkenntnis der Not des anderen heraus geschieht nicht. Der ethische Wert der Zurückstellung des eigenen Ich, um dem anderen tatkräftig zu helfen, gehört nicht in den Lebenszusammenhang des reinen Ästheten. Er ist Individualist, der sich auch in einfühlendem Aufnehmen fremder Wesensart "ausleben" will, aber alle Verbindlichkeiten und Pflichten, die sich aus menschlichen Begegnungen ergeben, ablehnt oder flieht. Das freie, leichte bis leichtsinnige Berührungsspiel der interessanten Individualitäten liebt, pflegt und genießt er. Aber selbst die Verschmelzung mit einer anderen Seele treibt er nie bis zu dem Punkt, wo er sittliche Verantwortung für sie übernehmen müßte. Aufopferung für Menschen ohne Reiz und Anmut wäre ihm ein Greuel. Er sieht seine Bestimmung allein darin, schön zu sein, schön zu erscheinen (dekoratives Auftreten!) und in der Atmosphäre des Schönen zu leben.
Mitunter kann sich mit dieser Denkart auch ein Machtgefühl und Machtstreben verbinden. Deutlich ausgeprägt findet es sich bei manchen Romanschriftstellern, die durch den Glanz, ja das Feuerwerk ihrer Sprache, die meisterhafte Handhabung von Wörtern, hinter denen kein besonderer Inhalt steht, Eindruck machen, Tiefe und Tiefsinn vortäuschen wollen. Es klingt wie ein Urteil über diese Art von Menschen, wenn Albert Einstein in einem seiner Bücher, das der allgemeinverständlichen Einführung in die Relativitätstheorie dienen soll, betont, daß darin nur die Sache selbst sprechen solle und daß er die Eleganz den Schustern und Schneidern überlasse.
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Ein anderer Großer, Jean-Jacques Rousseau, sah die Gefahr des Romanschriftstellers, der er selbst in hoher Vollendung war, darin, daß er die Leidenschaften hochzupeitschen imstande ist, ohne im gleichen Maße fähig zu sein, Maßstäbe und Kräfte für ihre ethische Bewältigung bereitzustellen.
Das vornehme Überlegenheitsgefühl der Künstler verträgt keinen Widerspruch. Stößt es auf den Widerstand der so "uneinsichtigen Banausen", zieht es sich beleidigt in sich selbst zurück. Dieses Beleidigtsein hat manchmal tatsächlich seinen Grund in der höheren, künstlerischen Einsicht. Oft aber auch einfach darin, daß dem nur ästhetisch eingestellten Menschen alle Einschränkungen und Begrenzungen, wie sie mit dem gesellschaftlichen Leben, mit der Einfügung in jede Art von Gemeinschaft notwendigerweise verbunden sind, als Übel erscheinen. Die Selbstdisziplin, die zu jeder Übernahme einer Rolle in der Gesellschaft gehört, ist ihm wesensfremd.
Ethische Begriffe sind nicht die Orientierungspunkte seines Daseins. Nicht was gut oder böse im ethischen Sinne ist, was der Gemeinschaft nützt oder schadet, ist Leitlinie seines Lebens. Vielmehr formt er sein Leben nach den ästhetischen Gesichtspunkten des Takts, des Anstands, des Geschmackvollen, des Angemessenen. Da aber gerade diese Sichtweisen besonders vom Zeitgeist und seinen jeweiligen Stimmungen abhängen, wehrt er sich um so mehr gegen alles Endgültige und Verbindliche der ethischen Entscheidungs- und Verantwortungssphäre. Das Willkürlich-Unverbindliche und Fantasiehafte seines Lebensstils steht in eigentümlichem Gegensatz zum Ernst der sittlichen Entscheidung und zur Schwere der Verantwortung für die anderen und für die Gemeinschaft.
Damit ist aber auch eine Verarmung des nur ästhetisch eingestellten Menschen verbunden. Da er sich von den Tatsachen nicht beflecken, vom Daseinskampf nicht unmittelbar berühren lassen will, da er erleben und genießen, nicht eigentlich handeln und auf den Druck des Wirklichen reagieren will, ist sein Dasein verkürztes Dasein, lebt er im Grunde aus zweiter Hand. Deshalb versagt der reine Ästhet so oft, wenn der Kampf ums Dasein ihn doch mal erreicht. Deshalb auch wird er so oft zum Spielball politischer Interessen, wenn unmoralische Diktaturen von ihm etwas verlangen. Wer immer nur vom Leben erwartet, künstlerisch angemutet zu werden, fällt eben aus allen Wolken, wenn dieses Leben überfallartig mit ungeahnten Mißklängen aufwartet. Die Widerstandskraft der Nur-Ästheten in solchen Fällen ist sehr gering.
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Selbstverständlich gibt es nicht den rein ästhetischen Typ in seiner Ausschließlichkeit. Und auch im hier als Sondertyp gezeichneten Nur-Ästheten wären noch Unterscheidungen vorzunehmen. Da gibt es z.B. den Impressionisten, der nur vom Eindruck (latein. impressio) lebt, aber selbst beim einzelnen Eindruck nicht stehenzubleiben vermag, sondern die unaufhörliche Folge neuer Eindrücke braucht; der nicht so sehr den Eindruck, sondern ihre bunte Abfolge genießt. Hier herrscht also gewissermaßen das Außen über das Innen. Der Gegensatz dazu ist der Expressionist (Ausdrucksmensch, von latein. expressio) als Lebensform, der so in seiner Gefühlswelt, seiner Innenwelt, seinen persönlichen Stimmungen aufgeht, daß er von vornherein alle Eindrücke anders sieht, als sie sind: nämlich von dieser seiner Stimmungswelt her. Er stülpt ihnen, gleichsam noch bevor er sie eigentlich wahrgenommen hat, den Mantel seiner Innerlichkeit über und gibt ihnen damit eine persönliche Färbung. Hier herrscht das Innen über das Außen.
Das unbedingte sittliche Gebot, dem sich ja auch der ästhetische Mensch zu beugen hat, lautet: Forme deine Eindrucks- und Ausdruckswelt zu einem harmonischen Ganzen. Denn über allen Schöpfungen des Künstlers steht das Kunstwerk einer ausgewogen geformten Persönlichkeit. In der Formung der Persönlichkeit als höchstem künstlerischen Vorgang, als stärkster schöpferischer Leistung, begegnen sich Ästhetik und Ethik auf halbem Wege, weil hier beider Anliegen, ganz gerecht unter ihnen aufgeteilt, zum Tragen kommt. Form, Maß, Ausgeglichenheit, an sich ästhetische Begriffe, werden so in Hinordnung auf die ganze Person, ihre sittliche Menschwerdung, zu ethischen Merkmalen. Das Leben als Kunstwerk — das ist nicht nur höchstes Ziel der Ästhetik, sondern auch eine ethische Forderung. Deswegen haben auch viele Pädagogen und Philosophen in der Selbstgestaltung, Selbsterschaffung, Selbsterzeugung des Menschen den Zweck seines Lebens erblickt. Der große Pädagoge Pestalozzi bezeichnet den Menschen als das "Hauptwerk seiner selbst"; der Paläontologe und Anthropologe Franz Weidenreich sagt von ihm: "Was er ist, verdankt er zum guten Teil der Selbstgestaltung"; und Kant unterscheidet zwischen dem, was die Natur aus dem Menschen macht, und dem, was er selber aus sich macht.
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Selbstverständnis und Selbstverbesserung, immer tiefere, wirklichkeitsentsprechendere Deutung des eigenen Daseins und tätige Selbstformung in lebendiger Auseinandersetzung mit der Außen- und Innenwirklichkeit bedeuten die Lebensgemeinschaft des so wichtigen ästhetischen und ethischen Wertbereichs des Menschen, sind ein wesentlicher Teil seiner humanen Selbstverwirklichung.
5.4.6 Der Bereich der ethischen Werte
Von der Gruppe der ethischen Werte war schon in 5.2.2 und 5.3 mit einigen grundlegenden Sätzen die Rede. Bisher ist uns das Ethische, der ethische Wert, stets nur als Orientierungspunkt, als überlegener Maßstab und richtungweisende Regel für alle anderen Wertklassen begegnet. Sie alle mußten vor den Richterstuhl der Ethik. Wir haben dann auch Ethik dargestellt als die richtige Ordnung in unserer Liebe zu allen möglichen Werten, in unseren so mannigfaltigen Werthaltungen. Ethisch gut ist also ein solches Verhalten, das in einer gegebenen Situation und unter Berücksichtigung aller an ihr beteiligten Umstände gemäß der Rangordnung der Werte handelt und keine einzelne Wertklasse zur alleinherrschenden macht.
Selbst die Richter- und Wächterstellung des Ethischen gegenüber allen anderen Wertklassen darf jedoch nicht als Alleingültigkeit der Ethik mißverstanden werden. Dieses Mißverständnis ist aber möglich, und das ist einer der Gründe, warum Fehlformen menschlichen Verhaltens auch innerhalb der ethischen Wertklasse möglich sind.
Die Überbewertung und Heraushebung der Richter- und Wächterfunktion der Ethik gegenüber anderen Wertklassen, die Umwandlung ihrer Beurteilungsaufgabe in eine dauernde Verurteilung aller anderen Werte nennen wir Rigorismus. Der Rigorist hat kein Gespür für andere Werte. Sie sind seiner Meinung nach allesamt von Übel. Er vermag sie nur von seiner ausschnitthaften Auffassung der Ethik her zu sehen, die Pflicht, kalte, unerbittliche, harte, eben rigorose Pflicht heißt. Pflicht ist für ihn etwas, das in unversöhnlichem Gegensatz zur Neigung steht. Die Erfüllung einer Pflicht, deren Durchführung ihm auch Spaß machte, also einer Neigung entspräche, empfände er bereits als sittlich wertlos oder gar als Vergehen.
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Deshalb haßt er besonders die hedonistischen und ästhetischen Werte, weil diese ja wesenhaft mit Lust, Freude, Neigung verbunden sind. Aber auch innerhalb des ethischen Bereichs selbst verurteilt er das gute Handeln derjenigen, die zugleich aus Freude am ethischen Wert, etwa an der Wahrhaftigkeit, der Güte, der Mitmenschlichkeit usw., nicht bloß aus Pflichtgefühl tätig werden. Der Rigorist ist deshalb auch Formalist (ein starr auf gegebenen Formen Beharrender), ethischer Fanatiker; unerbittlicher und engstirniger Prinzipienreiter, unduldsamer Verurteiler des seiner Meinung nach stets und nur bösen Zeitgeistes; Prediger und Kritiker der sich auflösenden, verfallenden und entarteten Moral; Kämpfer gegen alles Triebhafte und damit auch gegen alles Unmittelbare und Ursprüngliche des Lebens selbst; denn die Triebe gehören zum Leben und sind positiv zu bewerten, wenn sie der Wertrangordnung richtig eingefügt werden (siehe 5.4.1). Kein Wunder, daß sich in der Nähe eines solchen rigorosen Moralisten kein Mensch wohl fühlt, daß man in seinem Umkreis zu erfrieren scheint. Viele Kirchenprediger der Vergangenheit und nicht wenige der Gegenwart, mit den in Hirtenbriefen stets den moralischen Zeigefinger erhebenden Bischöfen an der Spitze, sind dem Typ des Rigoristen zuzurechnen (vgl. mein Buch "Eros und Klerus", S. 280-282).
Zwischen dem moralischen Rigorismus und einerweiteren ethischen Fehlhaltung gibt es Überschneidungen und Verbindungen. Diese Fehlhaltung heißt Überheblichkeit. Früher hätte man diese Haltung folgendermaßen kennzeichnen können: Es gibt besonders tugendhafte Menschen, die aufgrund ihrer Tugend aber auch sehr eingebildet sind. Beschreiben wir denselben Sachverhalt moderner: Die tadellose Erfüllung besonders schwer erscheinender Pflichten, die von einem Menschen immer wieder aufgebrachte Selbstüberwindung der egoistischen Seite seines Wesens bei ethischen Entscheidungen kann in ihm ein übersteigertes Selbstwert- und Eigenmachtgefühl auslösen. Hochmütig, überheblich und verächtlich schaut er dann auf die ethischen Versager herab und ebenso auf den Massenmenschen, der den Konsumfreuden folgt oder erliegt.
Gerade weil der ethische Wert an der Spitze der Wertrangordnung steht, weil er tatsächlich wegen seines Maßstab- und Forderungscharakters eine gewisse Erhabenheit und Überlegenheit über die anderen Wertklassen besitzt, steht der die ethischen Werte sich besonders
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gewissenhaft aneignende, die ethischen Forderungen besonders gut erfüllende Einzelmensch in Gefahr, sich auch eine besondere Eigengeltung und Eigenmacht, ja auch Macht über andere zuzuschreiben oder anzumaßen. Macht kann sich mit allen Werten verbinden, kann alle Werte in ihren Dienst stellen. Der biologische Mensch kann mit seiner Körperkraft oder Schönheit auffallen und Macht ausüben, d.h. sich andere unterwerfen. Wir werden aber sein Verhalten eher als eitel belächeln, denn als stolz und hochmütig einstufen.
Eine besondere Form der biologischen Überheblichkeit ist der Rassenwahn: Man fühlt sich einer aus biologischen Gründen besonders wertvollen und edlen Rasse, einer "Herrenrasse", zugehörig und leitet daraus Ansprüche auf Vorrechte und Macht ab.
Der ökonomische Mensch kann wegen seiner Verfügung über finanzielle und technische Mittel ungeheure Lenkungsmaßnahmen mit Menschen vollziehen. Der ästhetische Mensch kann als großer Künstler bezaubern (und auch diese Bezauberung ist eine Spielart der Machtausübung). Von noch höherem Rang ist die Art der Machtausstrahlung des ethischen Menschen. Wir sahen ja schon, daß die echte Mensch- und Personwerdung besonders an die Aneignung der ethischen Werte, die Erfüllung der sittlichen Forderungen gebunden ist. Echte Menschwerdung ist vor allem ethische Menschwerdung. Eine sittliche Persönlichkeit strahlt deshalb eine besondere geistige Kraft und wesenhafte Überlegenheit aus. Sie gerät damit aber auch in Gefahr, überheblich zu werden und zu wirken, ihre geistig-ethische Autorität in Autoritarismus, in Widerspruch ausschließende Besserwisserei und -könnerei umzumünzen.
Fehlhaltungen innerhalb der Ethik selbst sind des weiteren auch aufgrund des Widerstreits sittlicher Werte und Forderungen möglich. Diese können also untereinander in der Bewertung durch einen Menschen, der vor einer Entscheidung steht, aneinandergeraten, ja hart aufeinanderprallen. Wahrhaftigkeit beispielsweise ist ein hoher ethischer Wert. Wer das Gegenteil tut, d.h. lügt bzw. sogar betrügt, legt damit nicht nur seine(n) Mitmenschen herein und handelt so gegen Gerechtigkeit und Liebe, er verkrümmt und verdunkelt auch sein eigenes Wesen. Dieser Wert der Wahrhaftigkeit kann aber trotzdem in einen schweren Gegensatz mit dem Wert der Liebe (im Sinne des ethischen Füreinander-Daseins) einer
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Ehefrau für ihren Mann geraten, der von der Polizei wegen eines Vergehens gesucht wird. Wenn sie von der Polizei gefragt wird: "Wissen Sie, wo Ihr Mann sich versteckt hält?" — wie wird sie sich entscheiden? Ein Widerstreit zweier ethischer Werte und damit die Möglichkeit eines Fehlverhaltens sind hier jedenfalls gegeben. Die Entscheidung kann ihr niemand abnehmen, und auch eine eindeutig-allgemeingültige ethische Antwort für alle ähnlich gelagerten Fälle ist nicht möglich. Ein Widerstreit ethischer Werte kann ebenfalls auftreten, wenn auf der einen Seite die ethische Ehrfurcht vor allem Leben, damit auch vor dem beginnenden Leben, auf der anderen die schwerwiegende soziale Notlage einer ledigen schwangeren Frau steht, die ja auch die sittliche Pflicht hat, das künftige Leben ihres Kindes und seine Aussichten einigermaßen, aber auf jeden Fall gewissenhaft vorauszuplanen. Soll sie die Leibesfrucht austragen oder nicht? Wie immer sie sich nach gewissenhafter Überlegung entscheidet, man wird ihr keinen Vorwurf machen können. Schon daraus erhellt, wie zweifelhaft es ist, Abtreibung vollständig zu verbieten oder unter Strafe zu stellen, wie das immer wieder die moralischen Rigoristen der beiden Großkirchen in der Bundesrepublik fordern.
Gerade im weiten Umfeld der Verhaltensformen gegenüber Personen und Gemeinschaften (vgl. den ersten Teil dieses Buches und Abschnitt 4.2.4) sowie gegenüber der heute so mißhandelten Natur (vgl. 4.4) ergeben sich fast zwangsläufig immer neue Widerstreitsmöglichkeiten zwischen ethischen Werten. Die Selbstbestimmung des Menschen (vgl. 4.2.2), seine intellektuelle und ethische Reife müssen sich hier ganz besonders bewähren. Denn Gemeinschaft und Natur sind ihr härtester Prüfstein.
5.4.7 Der Bereich der religiösen Werte
Auch das religiöse Leben und Wertverhalten untersteht dem Maßstab des Ethischen. Insofern stehen die ethischen, nicht die religiösen Werte an der Spitze der Wertrangordnung. Unter anderen Gesichtspunkten eignet religiösen Werten allerdings ein noch grundlegenderes, umfassenderes und noch stärker bewegendes Gewicht als den ethischen. In dieser Hinsicht kann dann von den religiösen Werten als den höchsten gesprochen werden.
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Dies auszuführen und näher zu begründen, wird Aufgabe des letzten Abschnitts dieses Buches sein, der den grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen Ethik, Humanität und Religion gewidmet ist. Hier und jetzt haben wir nur den Maßstab der Ethik an religiöse Verhaltensformen anzulegen.
Religiosität einer ethisch gereiften und gefestigten Persönlichkeit kann etwas außerordentlich Positives sein. Einen Hauch davon konnten wir verspüren, als wir bei der Darstellung religiöser Werte (vgl. 5.2.2) Albert Einstein, Julian Huxley und Gerhard Szczesny zu Wort kommen ließen. Religiosität, die sich ethischen Forderungen und Begrenzungen nicht unterwirft, kann dagegen sehr ungünstige Wirkungen zeitigen. Geschichte und Gegenwart bieten dafür unendlich viele Beispiele. Das folgende ist also nur ein kleiner Ausschnitt aus der Fülle richtiger und falscher Verhaltensformen im Bereich des Religiösen.
Es gibt religiöse Menschen, die aus ihrer umfassenden, weit- und lebensbejahenden Religiosität heraus zu allen Wertklassen eine positive Beziehung haben und der Wertrangordnung gemäß leben. Es gibt andere, die gerade in dieser Beziehung eine Gefahr für die Religion sehen. Sie glauben, ihre eigene, persönliche Religiosität, ja die Religion überhaupt, sei in Gefahr, wenn Wissenschaft, Kunst, Kultur usw. hochgeschätzt werden. So suchen sie auf allen nichtreligiösen Wertgebieten nur das Negative herauszufinden, um auf diese Weise die Bedeutung der Religion stärker hervorheben zu können. In diesen kleinlich-engen Seelen lebt die Größe der Religion von der Kleinheit, vom Elend der anderen Wertgebiete.
Dementsprechend wird die Wissenschaft einer kleinlichen Kritik unterzogen: Sie könne keinerlei sichere, geschweige das menschliche Leben stützende und befruchtende Erkenntnisse liefern; sie sei geboren aus dem Hochmut weltfremder, sich in ihren Gedankenflügen verlierender und verirrender Theoretiker, die sich der religiösen, "geoffenbarten" Wahrheit widersetzten. Die jahrhundertelange Wissenschaftsfeindlichkeit der geschichtlichen Religion des Christentums ist bekannt. Inquisitionsprozesse gegen Naturwissenschaftler wie Galilei, Verketzerung und Verleumdung jeder neuen Entdeckung und Erfindung auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet, Index (Verzeichnis) verbotener wissenschaftlicher und philosophischer Werke — das
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sind nur einige wenige Stichworte zur Beleuchtung dieser Wissenschaftsfeindlichkeit. Nicht nur wissenschaftsfeindlich, auch kunst- und kulturfeindlich im umfassendsten Sinn des Wortes "Kultur" war die Religion der beiden christlichen Kirchen im weit überwiegenden Teil ihrer Geschichte. Doch geht es uns hier nicht um Geschichtsschreibung, sondern um grundsätzliche Fehlformen religiösen Verhaltens. Ein solches religiöses Fehlverhalten ist also die Wissenschafts- und Kunstfeindlichkeit, -verachtung bzw. -geringschätzung.
Es gibt die Religion der unbedingten Lebensbejahung. Giordano Bruno (1548-1600) verkörperte sie in hervorragender Weise. Es gibt aber auch die Religion der weitestgehenden Lebens- und Weltverachtung und -verneinung. Giordano Bruno fiel ihr zum Opfer. Die Inquisition der Kirche verurteilte ihn zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Hieran zeigt sich, daß weltverneinende religiöse Menschen meist auf einen Teilbereich, der ja auch zur Welt gehört, "weltlich" ist, nicht gern verzichten: auf Macht und Herrschaft.
Man kann sogar berechtigterweise sagen: Die Ausartung der Macht ist dort am größten, wo sie religiös begründet ist, wo man sie beispielsweise von einem Gott als oberstem Quell alles Seins, aller Macht herleitet, sich von ihm berufen, durchdrungen und geleitet fühlt. Religion ist jener Seelenbereich im Menschen, wo die Möglichkeit besteht, daß jedes Interesse, jeder Wunsch, jedes Begehren, jede Regung, jeder Ehrgeiz zur Alleingültigkeit erhoben, übersteigert, ins Unendliche verlängert wird, wo das Wertwidrige böse und teuflisch, das Gute heilig, anbetungswürdig und göttlich werden, wo das Bewußtsein, mächtig zu sein, in Machtrausch, die Bestrafung des Gegners in abgründige Grausamkeit ausarten kann.
Der Ruf "Gott selbst will es so" hat die verheerendsten Kreuzzüge und Kriege in der Geschichte der Menschheit ausgelöst. Die religiöse Erregung ist die tiefste, sie kann zu fruchtbarsten, aber auch zu furchtbarsten Taten befähigen. Religiös motiviertes und verkleidetes Machtstreben, religiöse Selbstbeeinflussung und religiöser Selbstbetrug sind gefährlicher und auch weit schwerer zu durchschauen als entsprechende Fehlformen in sonstigen Bereichen. Religion vermag in manchen Menschen das Gefühl fast grenzenloser, von Gott oder einem anderen geglaubten Urprinzip der Wirklichkeit selbst stammender und gerechtfertigter Macht entstehen zu lassen, da Gott oder dieser Urgrund zwar alles sei, sie selbst jedoch vermeintlich berufen und bevollmächtigt habe, sein Werk auf Erden durch sie zu vollziehen, die Taten Gottes durch sie tun zu lassen.
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"Allah ist Allah, und Mohammed ist sein Prophet!" lautet die allgemeingültige Formel der Machtbesessenheit durch Religion. Immer wieder empfanden Große und Kleine in der Geschichte der Menschheit das dringende Bedürfnis, den Wert ihrer Handlungen zu erhöhen, zu verewigen und mit einem Heiligenschein zu umkleiden, indem sie sich für die "eherne Notwendigkeit" dieser Aktionen auf den Befehl Gottes oder die Vorsehung beriefen. Der Ayatollah Khomeini im Iran ist ein modernes Beispiel dafür.
Wissenschaftsfeindlichkeit, Kulturfeindlichkeit und Machtbesessenheit aus Religiosität verbinden sich zur religiösen Intoleranz und zum religiösen Unfehlbarkeitswahn. Im Bekenntnis der katholischen Kirche ist die Unfehlbarkeit des Papstes als des Oberhauptes dieser Kirche Dogma, d.h. unumstößlicher Glaubenssatz, der unter Androhung der ewigen Verdammnis geglaubt werden muß. Den Gläubigen, die sich nicht an die allein unfehlbaren Wahrheiten und moralischen Gebote des kirchlichen Lehramts halten, werden Schuldgefühle eingeflößt, die bis zu religiösen Zwangsneurosen (psychischen Erkrankungen) führen können. Weite Teile der religiösen Gebräuche der beiden christlichen Großkirchen und vieler christlicher Sekten dienen der Erweckung und Aufrechterhaltung des Sündenbewußtseins im Menschen. Der Fanatismus von Menschen, denen seit ihrer Kindheit tiefe, personzerstörende Schuldgefühle eingeimpft wurden, gegen lebensbejahende, lebensfrohe Menschen ist sattsam bekannt und psychologisch verständlich. Ihr entwertetes Ich reagiert mit empörten Haßgefühlen auf jede positive Lebensweise.
Wie das Machtstreben, so verbirgt sich auch das menschliche Besitzstreben gern hinter einem religiösen Schleier. Das Erbetteln unsagbarer Reichtümer durch religiöse Bettelorden (Franziskaner, Dominikaner usw.) und durch moderne Jugendsekten ist eine feststehende Tatsache. Große Religionsstifter wie Buddha oder Jesus haben den schärfsten Teil ihrer Unterweisung der Verurteilung des Reichtums der Frommen gewidmet. Trotzdem konnte der letztere nicht verhindern, daß die christliche Kirche durch Mittel der Religion, durch Androhung ewiger Höllenstrafen bzw. Lockung mit unendlicher Belohnung im Himmel für die im Diesseits der Kirche dargebrachten Geldopfer, gewaltige Reichtümer erwarb und ansammelte.
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Die Geld- und Besitzsucht bedient sich jedes Weges, jedes Mittel ist ihr recht: "Je besser die Tarnung, desto sicherer der Erfolg, je heiliger die Motivation, desto sicherer die Tarnung" (der katholische Moraltheologe W. Heinen). Der Fetischismus (Zauberglaube) der Primitiven und mancher Naturreligionen ist da sogar noch entschuldbarer als die Besitzabhängigkeit der vermeintlich ethisch so hochstehenden Offenbarungsreligion, die einem ihrer Stifter zugeschriebenen Wort zufolge Gott doch nur "im Geist (nicht im Materiellen!) und in der Wahrheit" anbeten sollte. Die protestantische Kirche hat zwar durch ihren Begründer, den Reformator Luther, das abstoßende Ablaßtreiben der römisch-katholischen Kirche verurteilt. Luther lehnte ein "Heilskonto" im Himmel ab, auf das man gute Werke und schließlich auch Geld einzahlen und sich so die Seligkeit sichern und durch die bevollmächtigten kirchlichen Organe gewährleisten lassen konnte.
Aber die geldgierig ausgestreckte Hand gegenüber Fürsten und Königen in der Vergangenheit, gegenüber Diktatoren und allen möglichen Staatssystemen in der Gegenwart war und ist stets ein Teil des religiösen Umgangs der beiden christlichen Großkirchen mit der sogenannten Welt. In ihrem religiös verbrämten Macht- und Besitzstreben brauchen sie den Staat, um sich überhaupt am Leben zu erhalten, weil echte und positive religiöse Beweggründe für sie nicht mehr sinngebend sind. Auch das hinduistische Kastenwesen geht auf Macht- und Besitzstreben religiöser Natur zurück. Die den einzelnen Kasten zugeordneten Hauptberufe verkörpern zugleich ein Mehr oder Weniger an Macht, Besitz und Geltung in der Gesellschaft.
Lebens- und wertbejahende Religiosität kann freilich auch ein geordnetes Besitzstreben und positive Kulturarbeit fördern. Das "ora et labora" (bete und arbeite) als formelhafte Zuordnung der religiösen und kulturellen Lebensweise der frühen Benediktinermönche wie die gemäßigte Ansammlung von Gütern als Erweis göttlicher Gnadengewährung bei verschiedenen protestantischen Kirchen und Sekten Amerikas seien in diesem Zusammenhang erwähnt. Der naheliegende Mißbrauch tritt allerdings im zuletzt genannten Beispiel schon wieder deutlich zutage. Kein Zweifel: Aufgrund der religiös verschleierten Macht- und Besitzsucht kann man gerade "auch mit dem christlichen Gott Geschäfte machen, wie man mit ihm Politik gemacht hat" (der Psychologe E. Spranger).
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Eine der Ethik entledigte Religiosität kann geistliche Fürsten, religiöse Manager, machtbesessene Politiker, politisierende Volksverführer, eiskalte Organisatoren des Massenwahns u.a. erzeugen.
Eine Fehlhaltung, zu deren Hervorbringung die Religion als verfaßtes Glaubens- und Kultsystem für viele Gläubige neigt, ist der Dogmatismus, Autoritarismus, Traditionalismus und Orthodoxismus, d.h. die blindgläubige Anerkennung von Lehrsätzen, Autoritäten, Überlieferungen und Richtlinien. Die religiösen Manager und Organisatoren sehen geradezu ihre wichtigste Aufgabe in der Schaffung eines solchen Typs von Menschen, die etwas schon deshalb für heilig und unverletzlich halten, weil man es ihnen so beigebracht hat und sie es seit ihrer Jugend so geglaubt und gehalten haben. Die individuelle religiöse und Lebenserfahrung wird möglichst ausgeschaltet. Am Ende dieses Weges steht der sinnentleerte, an eigener Sinngebung gehinderte Mensch, der nur Vorgekautes nachzudenken vermag, der das System dogmatischer Sätze sklavisch und gedankenlos nachplappert, das ihm eine in festen Einrichtungen erstarrte Religion eingeprägt hat.
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