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Die Natur kommt erst in der 
Ökologischen Religion und Spiritualität 
wieder voll zur Geltung

 

 

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Ökologische Religion hat also zum Gegenstand nur die Natur, den Kosmos, das Universum, das Leben. Aber Natur, Universum und Leben werden jeweils in ihrer größten Tiefe und Weite ausgelotet, und dann enthalten sie auch das absolute Prinzip, dann gehört Transzendentes ganz natürlich zu ihnen. Ökologische Religion ist nur der Natur zugewandt und nichts anderem. Aber diese Natur ist mehr als Natur in ihrer vordergründigen Bedeutung. Der Begriff umfaßt weit mehr, als gewöhnlich mit Natur gemeint ist, weist in transzendente Tiefen, zu ihr gehört ein »Hintergrund der Unerschöpflichkeit«,3) das Mitsehen und Anerkennen der »Werttiefe ihrer Existenz«.5)

Gewöhnlich versteht man unter Natur einfach einen Katalog von Dingen und Lebewesen: Tiere, Pflanzen, Blumen, Bäume, Steine, Sonne, Erde, Licht, Luft, Wind und Wasser. Der Durchschnittswissenschaftler wird darüber hinaus Natur als das definieren, was als Materie oder Energie den Gesetzen der Physik genügt oder als Material nach den Gesetzen der Ökonomie benutzt wird. Aber auch seine Sicht beinhaltet noch eine Blindheit gegenüber der Natur. »Der gemeinsame blinde Fleck in der Wahrnehmung der Natur durch die Physik und die Wirtschaft ist, daß für die Wirtschaft alles zum Material wird, was für die Physik Materie ist. Der ökonomische Ausdruck für Material ist: Ressource. Die ganze weite Welt, soweit die Materie reicht und Naturgesetze herrschen, wird für die industrielle Wirtschaft zur Ressource, um daraus mit Hilfe von Energie etwas Neues zu machen, worin die natürliche Welt nur noch als Material erscheint: wirtschaftliche Güter.«5)

Allein die auch von der industriellen Wirtschaft endlich wahrgenommenen Grenzen der Ressourcen, ihre Endlichkeit, lenken jetzt wenigstens den Blick der Mächtigen in Wirtschaft, Industrie und Politik auf die bisher völlig unterschlagenen sogenannten Sozialkosten,6) d.h. auf das, was durch den wirtschaftlichen Verbrauch der Industriegesellschaften an (Qualität der) Lebensbedingungen, an Naturressourcen geschädigt wird oder verlorengeht und vorher in den betriebswirtschaftlichen Kostenrechnungen gar keine Berücksichtigung fand.

Aber auch für die wissenschaftliche Umweltökonomie, die also die Sozialkosten im Wirtschaftsprozeß zu berücksichtigen bereit ist, die Wasser, Luft usw. nicht mehr als kostenloses, freies Gut behandelt, kommt die Natur »immer nur als Ressource im Sinn des bloßen Materials« vor, »aus dem nicht schon von sich her etwas Gutes wird, sondern das erst durch die Menschen zu einem Gut gemacht werden muß«.7)

Wer aber die Natur nur als Ressource sieht, sieht an ihr vorbei, sieht nicht das Eigentliche an ihr: ihren Selbstwert und ihre auf diesem Wert beruhenden Eigenrechte. Ein Selbstwert der Natur ist z.B. die Schönheit ihrer mannigfaltigen ästhetischen Gestaltungen, die ja in der Behandlung der Natur als Ressource so gut wie vollständig unter den Tisch fällt. Selbstwert schließt Bezugswert keineswegs aus. Es ändert sich an dem eben Gesagten also nichts, wenn erkenntnistheoretisch behauptet wird, die Schönheit der Natur komme erst im Erkenntnisvermögen und -prozeß reflex-bewußter Lebewesen, wie des Menschen, voll zur Geltung. Schließlich muß das fundamentum in re, die Grundlage in der Sache selbst vorhanden sein, wenn etwas vom Menschen als schön erkannt und gewürdigt werden soll.

Wir übersehen in unserer Naturvergessenheit, unserer anthropozentrischen Naturblindheit und Bewunderung für die technischen Errungenschaften der modernen Menschheit allzu häufig, daß die Natur auch und wesentlich ohne Zutun des Menschen Gutes und Schönes in einer atemberaubenden Überfülle erzeugt. Gerade »die Schönheit ist eine Zugabe zur Notdurft des Lebens von idealem selbständigem Wert... sie ist so alt wie die Natur selber und wird erst mit ihr sterben; denn sie ist nach einem ewigen Gesetz an die Offenbarung der Idee in der Erscheinung gekettet. Die Schönheit der Natur allein sollte hinreichen, uns von der in ihr sich offenbarenden Idee unmittelbar zu überzeugen und uns für immer vor dem Irrtum zu bewahren, als ob jemals ein toter Mechanismus die Natur würde erklären können.«8) In der Tat ist Schönheit »ein Wesenselement der Natur«.9)

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Unter dem Mikroskop zeigt sich auch das kleinste Tier, die winzigste Pflanze als harmonisch-schönes Gebilde. Der Umriß jeder Pflanze weist bei voller individueller Eigenart die Kennzeichen echter Kunst auf, ebenso wie jedes Blatt eines gesunden Baumes eine vollkommene Gestalt hat. Jedes Tier trägt die Idee einer bestimmten Vollkommenheit und Schönheit in sich, so daß Arten, die sich aufgrund von Anpassung an besonders schwierige Lebensbedingungen oder infolge eines spezifischen Schutzbedürfnisses sozusagen gegen das Schönheitsideal entwickelt haben, den — allerdings oft ebenfalls künstlerischen — Eindruck des Grotesken hervorrufen. Auch die Bewegungsabläufe der Tiere sind dynamische Schönheit, bewegte Gestaltganzheiten, so der Flug der Vögel oder die Schwimmkunst der Fische. Aber selbst »die kristallinischen Linien der Elemente und ihrer Verbindungen, von der Schneeflocke bis zu unendlich kleineren Formen sind so wunderbar, daß der Künstler nichts Besseres tun kann, als sie nachzuahmen«.10)

Die Schönheit in der Natur entspricht einer ganz ursprünglichen Tendenz derselben, ist ein originärer Eigenwert, der auch durch das darwinistische und neodarwinistische Prinzip der Selektion, der Auslese des Zweckmäßigen, in keiner Weise ausreichend erklärt werden kann. Wer die zahllosen schönen Formen in der belebten Natur und die mannigfaltigen harmonischen, kunstvollen Einrichtungen mit ihrer Darstellungsfunktion und Ausdruckskraft selektionistisch im Sinne von Nutzwerten zu erklären versucht, der ist von einer fatalen Blindheit für die Eigenart und den Eigenwert des Naturschönen befallen.

Morphologische Schönheit ist ein Gestaltungsgesetz der Natur und kann aus dem Zusammenspiel planloser Mikromutationen und wechselnder, Auslese betreibender Umweltbedingungen nicht abgeleitet werden: »Es ist schwer zu begreifen, wie man jemals den mit künstlerischer Phantasie geladenen, übervitalen Gestaltungswillen der <Natur> hat übersehen können und die unübersehbare Vielfältigkeit der Formen- und Farbwelt, die da entgegentritt, als Folge des Kampfs ums Dasein und der Notwendigkeit etwa von Anpassung und Auslese hat deuten wollen.

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Es existiert hier eine mit vitalen Fortsetzungszwecken nur lose zusammenhängende Produktivitätsexuberanz, die im Schönen, im Häßlichen, in den Ausdrucksformen des Gutmütigen, des Bösen, des Hinterlistigen alles menschlicher Phantasie Mögliche weit übersteigt und die unendlich variierte Chiffre des beabsichtigten überzweckmäßigen Ausdrucks mit absoluter Sicherheit zeichnet. Im Reichtum der Farbenkomposition, in der Präzision und Fülle der linearen Gestaltung ist diese Produktivität schlechthin unerreichbar. Ja, gelegentlich ist sie bis ins Kapriziöse gesteigert«.11)

Wir alle müssen wieder wahrnehmen lernen, daß die Natur eine ästhetische Grundkomponente besitzt. Gedacht sei dabei auch an die unerhörte Vielfalt der musikalischen Leistungen der Singvögel13, an den Spieltrieb vieler Tiere, ja der Natur überhaupt mit ihren vielfältigen spielerischen Hervorbringungen.13 Im Streben der Natur nach Schönheit, in den künstlerischen — wenn auch weitgehend instinktiven — Leistungen der Tiere (z.B. den kunstvollen Nestern der Schwalben oder des Webervogels, den baulichen Leistungen des Bibers im Wasser, der Ingenieurkunst und Staatsorganisation von Ameisen, Termiten und Bienen, den kultivierten Formen der Brautwerbung vieler Tierarten), in den Spielformen und der Musikalität mancher Tierarten zeigt sich »eine ganz ursprüngliche Lebenserscheinung, die, unabhängig von aller Zweckbestimmtheit, zunächst als solche aus einem ganz elementaren, tief eingewurzelten Lebenstrieb heraus verstanden werden muß, der, durchaus entsprechend der Analogie zwischen Menschengeist und Welt, das Reich der Menschen wie der Tiere durchdringt«.14

»Selbstdarstellung«, »Ausdruck« (noch vor jedem sprachlichen Ausdruck wie bei uns Menschen) ist ein »Urphänomen des Lebendigen überhaupt« (Max Scheler). Nach dem Schweizer Biologen Adolf Portmann müssen allem Lebendigen zwei oberste Kennzeichen zugeordnet werden: 1. eine Innerlichkeit, die den Umgang des Organismus mit der Welt in sich schließt, zum guten Teil unbewußt, bis hinab zur stillen Seinsweise der Pflanze; 2. das Vermögen dieser Innerlichkeit, sich in einer äußeren Erscheinung, in Gestalt, in Farbe oder Ton »darzustellen«.

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Aufgrund dieser — auch uns Menschen ungeheuer bereichernden — Innerlichkeit und eigenständigen Darstellungsweise der Natur sind wir verpflichtet, der Natur einen Selbstwert und ein (wenigstens relatives) Eigenrecht zuzugestehen. Die Natur verkörpert Sinn, Sinnvolles ganz unabhängig vom Sinn (vermeintlich erstmalig) stiftenden Menschen. Sie verdankt ihre Gestaltungen und Hervorbringungen zu einem großen Teil keineswegs dem Zufall, dem blinden Walten mechanischer Kräfte. Deshalb hat sie ein Anrecht darauf, nicht wie ein zufällig entstandener grober, roher Stoff, wie ein relativ wertloses, formloses Material — eben eine Ressource — behandelt zu werden, das erst in den Händen des Menschen zu etwas eigentlich Wertvollem umgeformt wird. 

»Heute beginnt man wieder, zu empfinden, daß das Wort Zufall für das Werden der großen Tier- und Pflanzentypen... ein Unbegriff und ein Unsinn ist, trotz der vermeintlich schöpferischen Kraft, die der Begriff <Selektion> diesem Zufall einflößen sollte... Heute empfinden viele wieder das von innen heraus Gesetzmäßige, Planvolle, Harmonische des Kosmos und der lebendigen Welt... sachlich auf Grund eines verfeinerten Gefühls für Gleichgewicht, Stil, Rhythmus. Was so in sich und mit seiner Umwelt ausgeglichen ist und dabei so deutlich eigenen >Stil< verrät, wie eine Birke, ein Falke, ein Kristall, das hat ebensowenig mit >Zufall< zu tun wie der Bauplan und Werdegang einer Blüte, eines Wirbeltieres, einer Biene, eines Kunstwerkes, eines mathematischen Axioms, eines Planetensystems oder des Elektronengefüges in einem Atom.«15

Wir alle sind aufgerufen, die durch die Technokratie unseres Zeitalters hervorgerufene Zerstörung unseres Wahrnehmungsvermögens wieder rückgängig zu machen, wieder sehen zu lernen, wieviel Schönheit trotz der weitreichenden Ausbeutung und Mißhandlung der Natur noch in ihr anzutreffen ist. Gerade gegenüber dem Problem des Schönen in der Natur ist die Mutations-Selektions-Theorie des (Neo-)Darwinismus letztlich ratlos, ja man muß sagen, daß sich an diesem Punkt ihre Erklärungen besonders hilflos ausnehmen. In der Pflanzenwelt, genauer bei den von Insekten befruchteten Blüten überschreitet z.B. der Aufwand an Schönheit, an Farben und Formen, bei weitem das, was das Insekten­auge wahrnimmt.

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Anders ausgedrückt: ein großer Teil dieser Schönheit ist »funktionslos« und »zwecklos« im utilitaristischen Sinne der (Ausgerichtetheit auf die) Fortpflanzung und damit Arterhaltung. Die pflanzliche Blütenwelt entfaltet nach dem Botaniker W. Schumacher »natürlich... eine gewisse Lockwirkung«, sie erleichtert das »Auffinden und Wiederfinden bestimmter Blüten«. Aber: »Die Feinheiten des Blütenbaues entgehen sicher den viel zu stumpfen Insektenaugen. Gestaltungskraft und Mannigfaltigkeit gehen weit über die biologischen Bedürfnisse hinaus.« Schumacher nimmt eine »innere Gestaltungskraft« an, die aller äußeren Anpassung vorangehen muß. 

Die wunderbaren Blütengebilde mit ihren bunten Farben und feinen Düften »können gelegentlich in Wechselwirkung mit der Umwelt treten und Selektionswert erlangen. Das alles aber ist sekundärer Art, was die Wirksamkeit primärer Triebkräfte bereits voraussetzt.«16 Adolf Portmann weist auf die überwältigende »Blätterfülle der grünen Vegetation« hin, die »optisch fast ausschließlich zur bescheidenen Rolle eines >Hintergrundes< gebraucht... in tausend Formen die gleiche lebenserhaltende Rolle als chemische Arbeiterin im Dienst des Lebens« erfüllt. Aber er macht geltend, daß zwar »manches in der Blattstruktur dieser Leistung dient«, daß jedoch »vieles andere in der Blattgliederung, in der Gestaltung der Umrisse nicht Anpasssung, sondern Glied der Selbstdarstellung eines pflanzlichen Wesens« ist.17

Der große Biologe Ludwig von Bertalanffy spricht vom »Kunstgewerbe des Schmetterlingsflügels«, das, mit geringen Einschränkungen, praktisch funktionslos im Sinne des darwinistischen Zweckmäßigkeitsprinzips ist. Und R. Woltereck hat den Begriff der »Aristie der Gestaltung«18 in die Biologie eingeführt, d. h. den Begriff des möglichst reinen, über technisch-zweckmäßige Perfektion hinausgehenden Ausdrucks einer Ebenmaß und Harmonie beinhaltenden Formidee in Tieren und Pflanzen. Gedacht sei bei dieser Aristie der Gestaltung z.B. an Edel-Hirsche, -Tannen, -Falken, an Löwen, Adler, prachtvolle Pferde, schöne Eichen usw.

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Diesbezüglich kann man geradezu mit Händen greifen, daß die lebendigen Formen und die verschiedenen Arten von Lebewesen neben ihrer physiologischen Funktion auch eine eigenständige morphologische, rein ästhetische und ideale Aufgabe erfüllen.

Hier wäre noch eine Unmenge ästhetischer Fundamentalelemente der Natur auszubreiten, um uns für diesen Eigenwert innerhalb der natürlichen Wirklichkeit wieder sensibel zu machen. Diese Arbeit ist aber bereits einige Male geleistet worden19 und kann schon aus Raumgründen hier nicht noch einmal vollzogen werden. Doch kommt kein wahrhaft religiöser Mensch, der nach dem oben Gesagten »ökologisch-religiös«, »natur-religiös« sein muß, weil ihm sonst das Absolute abstrakt-unanschaulich entschwindet, daran vorbei, die ästhetischen, keinem besonderen Leistungszweck dienenden Wesenselemente der Natur immer neu zu entdecken und aufzuspüren.

Freilich entspricht das dem technokratischen Zeitgeist keineswegs. In der offiziellen, industriell bzw. staatlich-universitär unterstützten Forschung herrscht ja noch weitgehend die Tendenz zum so gut wie ausschließlichen technischen Verstehen der Organismen vor. Man hat diesen Weg des technischen Verstehens als »eine besonders breite und vielbefahrene« Straße, als eine »wahre Autostraße« bezeichnet, auf der »der Blick nur noch einem Ziel zugewandt ist und daher vieles von der wirklichen Mannigfaltigkeit des Lebendigen gar nicht mehr zu sehen vermag«. 

Daß diese Tendenz, dieses fast exklusive Fragen nach den Leistungen der Organismen und ihrer Teile als besonders wesentlich gilt, ist allerdings »im Zeitalter der Technik... nicht weiter verwunderlich«. Die Schulbücher sind voll von Darstellungen der Leistungen tierischer und pflanzlicher Organismen, weil dies »der Anteil der lebendigen Gestalt ist, den der technische Verstand am schärfsten und raschesten auffaßt und der uns infolgedessen die Sicherheit gibt, daß wir da wenigstens etwas vom Rätsel des Lebendigen ganz klar durchschauen«. Ihre extreme Formulierung fand die technische Deutung des Organismus in der These: Form follows Function, die Form also das Ergebnis der Leistung, die Form als Zweckgestalt.

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Aber auch wenn heute noch das technisch-zweckmäßige Verstehen der »Hauptfaktor für die Formung unseres gegenwärtigen Bildes vom Lebendigen«20) ist, ist es falsch, weil nicht wirklichkeitsgemäß. Das technisch Richtige ist nun einmal nicht das alleinige Ziel der Natur, der technische Verstand kann stets nur einen relativ geringen Teil der lebendigen Gestalt erhellen. Das Verheerende ist nur, daß unsere extrem einseitige, technisch-manuelle Natursicht sowohl die nichtmenschlichen Lebewesen als auch uns selbst zu Dingen degradiert, die nur noch als Leistungsobjekte etwas wert sind. Hier liegt der eigentliche Grund dafür, daß wir die Tiere dann auch in zahllosen sinn- und nutzlosen Tierversuchen »verwerten«, daß wir viele von ihnen, die »eßbar« sind, in einem permanenten Holocaust abschlachten und daß die Staaten Millionen ihrer eigenen Menschen in die wahnwitzigen Materialschlachten des modernen Krieges schicken und dort verenden lassen. Auch die Konzentrationslager entsprangen nur zum Teil faschistisch-rassistischer Überheblichkeit, sie sind auch Ausdruck und letzte Konsequenz der Tatsache, daß man der Natur und dem Menschen das geistige Antlitz geraubt und sie nur noch als Leistungsträger im Sinne des Nazi-Mottos »Arbeit macht frei!« bewertet und behandelt hat.

Unter dem Einfluß des Darwinismus und des Leistungsdrucks (Konkurrenzprinzips) der technisch-industriellen Gesellschaft sehen viele Naturwissenschaftler und in ihrem Gefolge die meisten Zeitgenossen Tiere und Pflanzen nur in einer Rolle: der der Lebenserhaltung, der Erhaltung des Individuums und der Art. Sie sei der Zweck, der Sinn der Gestalt, der Form, der Struktur. Daher der Triumph der funktionellen Morphologie und auch des noch moderneren Zweiges: der Biotechnik. Natürlich kann und soll gar nicht geleugnet werden, daß ökonomisch-technische Werte in der Biosphäre in einer Fülle von Funktionen und Einrichtungen, die der Erhaltung des Individuums und der Art dienen, verwirklicht sind. Auf diese Werte braucht uns auch niemand zu stoßen, sie drängen sich uns als erste auf. Wir alle haben ja die Brille des technischen Zeitgeistes auf und filtrieren entsprechend die uns begegnende Wirklichkeit.

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Wir glauben, ein Tier sofort und umfassend verstanden zu haben, wenn wir es technisch erklären können. Wir haben dann z.B. einen schnell durchs Wasser gleitenden Fisch »verstanden«, wenn wir seine Torpedogestalt als Mittel zur Leistung des schnellen Schwimmens und damit im Dienst überraschender Raubzüge oder eiliger Flucht vor Feinden, also der Lebenserhaltung, erkannt haben. Die Torpedoform als Konvergenzerscheinung bei Fischen, Delphinen oder beim ausgestorbenen Reptil Ichthyosaurus ist dann auch für uns das Mittel zum »Verstehen« dieser Tierarten. 

In Wirklichkeit haben wir damit aber nur einen Aspekt dieser Lebewesen und nicht einmal ihren wichtigsten in den Blick genommen. Aber der Biotechnik genügt das, weil sie nur die Parallelen zwischen »technischen« Hervorbringungen im pflanzlichen und tierischen Körper und technischen Einrichtungen des Menschen zu entdecken und die ersteren für die Perfektionierung der menschlichen Technik auszuwerten sucht. Deswegen ist sie nur an den »technischen Wunderwerken« der Natur interessiert (und stellt die Befriedigung dieses Interesses dann als volles Verstehen der Organismen hin), z.B. an dem »reinen Flugwesen« der Segler unter den Tieren, an der Konstruktion des Vogel- oder Insektenflügels, der regulierbaren Tauch- oder Schwebefunktion der Luftkammern einiger Tintenfischarten, dem Hebelwerk der Beine tierischer Steppenläufer, den Bälkchensystemen der Knochensubstanz in ihrer Anpassung an die jeweiligen Kraftlinien, weil sie dem Ideal der Festigkeit in den Berechnungen menschlicher Ingenieurskunst so erstaunlich entsprechen, ähnlich wie der Feinbau der Stützgewebe in den Pflanzenstengeln, z. B. den Gräsern, eine überaus gut abgestimmte Harmonie von Festigkeit und Elastizität darstellt. Auch das höchste Organ der ganzen terrestrischen Biosphäre, das menschliche Gehirn, interessiert ja den Biotechniker nicht als Träger des Geistes und geistiger Werte, sondern nur als Wunderwerk der Technik, das weitere, noch größere Wunderwerke der Technik ersinnen soll. 

Das pflanzliche, tierische und menschliche Erbgut fasziniert ihn vor allem unter dem Gesichtspunkt der Mikroelektronik, im Hinblick auf die Frage,

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wie man eine so gewaltige Menge von Erbinformationen auf kleinstem Raum ansiedeln konnte und wie das technisch nachzuahmen und zu realisieren wäre. 

Mit einem Wort: Statik, Motorik, Leistungen der pflanzlichen und tierischen Sinnesorgane, Stoffwechsel, Erbinformationen — das allein ist der vermeintlich legitime Gegenstand der biotechnischen Forschung, weil dieser Bereich der Lebewesen ja auch weitgehend präzis mit den Mitteln der Chemie, Physik und Mathematik, also mit Hilfe der exaktesten Wissenschaften einsichtig gemacht werden kann.

Das alles ändert aber nichts an der der Wirklichkeit von Tier und Pflanze nicht entsprechenden Dürftigkeit und Einseitigkeit des biotechnischen Weltbildes. Vor allem der Schweizer Biologe Adolf Portmann hat einen Großteil seines Forscherlebens darauf verwandt, die Unrichtigkeit dieses Weltbildes nachzuweisen. In seinem Gefolge sind von anderen Forschern zahlreiche weitere Belege für die Tatsache erbracht worden, daß die Natur keineswegs nur die Erhaltungsleistung, also die Zweckmäßigkeit in bezug auf die Art- und Individualerhaltung im Sinne hat. 

In einer Rangordnung der Lebensmerkmale, wie sie Portmann zu begründen versuchte, müßten die erhaltenden Strukturen und Prozesse im tierischen und pflanzlichen Organismus als eine Gruppe den Merkmalen, die der »Weltbeziehung durch Innerlichkeit« und der »Selbstdarstellung in der Erscheinung« dienen, als einer anderen Gruppe untergeordnet werden. »Alle Erhaltung... steht im Dienste dieser obersten Kennzeichen des Lebendigen.« 

Der Selbstwert der Tiere und Pflanzen, dessentwegen ihnen auch vom Menschen Eigenrechte zugebilligt werden müssen, besteht darin, »daß der Organismus nicht dazu da ist, um Stoffwechsel zu treiben, sondern daß Stoffwechsel von ihm betrieben wird, auf daß diese besondere Lebensform in Individuen wirklich sei, da sei. Der Organismus betreibt Stoffwechsel, damit seine spezifische Seinsweise in Einzelwesen sich eine Weile lang in der Erscheinung behaupten kann. Das besondere Gebilde, das hier und jetzt als diese Pflanze, jenes Tier vor uns ist, ist als Ganzes mehr als die Ordnung von Prozessen, die es am Leben erhält... Erscheinen schlechthin in kenn-

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zeichnender Form, in typischem Verhalten ist ein Glied der frühesten Weltbeziehung, zu der jeder Keim der apparativen Lebensstufe sich ausformt. Weltbeziehung ist nicht nur auf Austausch von Stoffen angelegt, sondern auch auf Darstellung der Sonderart im Erscheinungsbild. Der größte Anteil der Formenfülle, die uns Botanik und Zoologie schildern, empfängt seine umfassende Deutung nicht von den elementaren erhaltenden Funktionen her, sondern zuallererst aus dem Faktum dieser Selbstdarstellung.«

 

Die Lebewesen sind nicht und waren nie die bloßen Stoffwechselwesen, die <physiologischen Säcke>, zu denen eine nur die Erhaltung beachtende Biologie sie zuweilen entwertet hat«. Die lebendigen Gestalten haben einen Eigenwert, einen Wert, »der über die bloßen Erhaltungsfunktionen hinausweist«,21 die Organismen sind nicht nur und nicht einmal in jeweils erster Linie »Träger von lebensfördernden Funktionen«; sie sind »Lebensformen«, die sich nicht bloß am Leben erhalten und ihre eigene Art fortpflanzen, sondern die »auf vielerlei Weise gerade diese eine besondere Art des Seins in Gestalt und Gehaben manifestieren«.22)

Portmann betont noch eigens die Unmöglichkeit der Erklärung der Schönheit bzw. der der Kategorie des Ästhetischen im weitesten Sinne untergeordneten Selbstdarstellung in der Erscheinung durch Selektion und (die uns bisher bekannten) Mutationen. Er weist hin auf »geordnete Phänomene«, die als Erbgeschehen und Merkmal schon vorhanden sein müssen und so erst die Voraussetzung und Grundlage einer möglichen Selektion, der Möglichkeit ihres Einwirkens bilden. Erscheinungen, wie die Zusammenarbeit mehrerer Vogelfedern zu einer optisch wirksamen Einheitsleistung oder die rhythmische Eigenstruktur beim Muster des Schlangenleibes, weisen nach dem Basler Biologen auf gestaltende Wirkweisen hin, »die nicht von den Faktoren geleistet werden, welche uns die bisherige experirrtentelle Forschung als >Mutationen< am Werk zeigt«. Es sei auch nicht möglich, Wirkungen wie die soeben genannten als eine Nebenfolge anderer Mutationseffekte zu deuten, die ihrerseits Selektionswerte besäßen.

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»Diese Nebenwirkungen müßten experimentell bezeugt sein, was sie in keinem Fall der eigenartigen kombinierten Einheitsleistungen sind, die [z.B.] in vier getrennten Flügelanlagen eines Falters Musterteile zu einem künftigen Ganzen >komponieren<.« Die große Anzahl von Kennzeichen des Lebendigen, von Formmerkmalen also, die nicht im Dienst lebenserhaltender Leistungen stehen und daher als »un-adressierte Erscheinungen« zu gelten haben, darf nach Portmann nicht dadurch verharmlost werden, daß man diese Erscheinungen genetisch als belanglose Nebenresultate von Vorgängen hinstellt, denen ihrerseits Erhaltungswert zukommt. Vielmehr nimmt der Organismus für »die Selbstdarstellung seiner besonderen Art in seinem Keim bereits ebenso viele und ebenso komplizierte Aufbauprozesse und Strukturen in Dienst, ebenso viele Fermentwirkungen und Ketten von Vorgängen, wie er sie für die bloße Erhaltung des Individuums oder der Art aufwendet«.23 

Ja, es müsse die Möglichkeit offengelassen werden, »daß für die Organisation der Selbstdarstellung oft Anlagen bereitgestellt werden, deren Leistungen die der Selbsterhaltung übersteigen«. Die hypertelischen- oder Luxusbildungen, die »luxurierenden Formbildungen« (z. B. das übermächtig gewordene Geweih des Riesenhirsches der Vorzeit), bekämen in dieser Perspektive vielleicht einen neuen Sinn. Sie wären nur insofern hypertelisch, über das Ziel hinausschießend, als mit diesem Ziel die Erhaltung gemeint ist. Sie wären sozusagen nur eine physiologische Übertreibung, andererseits aber könnten sie als die Erfüllung einer wichtigen, der Darstellung der eigenen Seins- oder Artform zugeordneten »Aufbauleistung des lebendigen Stoffes« gelten.

Das Lebendige als Ganzheit und »Einheit von Innerlichkeit, Erscheinung und Erhaltung«24 widersetzt sich also nachdrücklich der anthropozentrischen Sicht und der technokratischen Behandlungsweise. »Wir verfehlen den Sinn unserer Existenz und damit die Menschenwürde, wenn wir so leben, als sei der Rest der Welt nichts als für uns da. So zu leben ist unmenschlich.«25

Leider haben wir alle unsere Sinnesorgane und Wahrnehmungsrezeptoren schon so geschädigt, daß wir die Häßlichkeiten der industriellen Welt, die ebenso viele Mißhandlungen der natürlichen Mitwelt, der Tiere, Pflanzen und der Landschaft beinhalten, oft nicht mehr empfinden.

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Aber »wenn wir die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt mit unverbildeten Augen betrachten, bemerken wir: alles, Was unsere Umwelt schädigt, ist häßlich. Der Sinn für Schönheit ist ein Vermögen, das uns darüber belehren könnte, was in der Natur zulässig ist und was nicht. Wir besitzen in unseren ästhetischen Organen ein unerhört sensibles Instrument, um Wechselverhältnisse und Systemstrukturen erfassen zu können, die für die plumpen Mechanismen unseres rationalen Denkens zu komplex sind.«26

Letztlich aber ist nur eine Ökologische Religion, eine die ganze Weite und Tiefe der Natur liebende und ehrfurchtsvoll zugewandte Religiosität, imstande, das ästhetische Sensorium am Leben zu erhalten und auf die Dauer nicht verkümmern zu lassen. »Nur wenn der Mensch heute die anthropozentrische Perspektive überschreitet und den Reichtum des Lebendigen als einen Wert an sich zu respektieren lernt, nur in einem wie immer begründeten religiösen Verhältnis zur Natur wird er imstande sein, auf lange Sicht die Basis für eine menschenwürdige Existenz des Menschen zu sichern. Der anthropozentrische Funktionalismus zerstört am Ende den Menschen selbst.«27

Was hier relativ ausführlich, aber notgedrungen keineswegs erschöpfend über den ästhetischen Selbstwert der Natur dargelegt wurde, wäre nun auch — an sich wenigstens in derselben Ausführlichkeit — von weiteren Wesensaspekten der Natur analog zu sagen. Ganz besonders von den altruistischen und sozialen Eigenwerten, die im nichtmenschlichen Teil der Biosphäre bereits (wenn auch überwiegend instinktiv) realisiert werden. Aber wir müssen uns hier auf einige Hinweise beschränken. Soziale Triebe, Tendenzen, Tätigkeiten, Wechselbeziehungen stellt ein offener Forscherblick allenthalben im Pflanzen- und Tierreich fest. Letztlich scheint die eigentliche Dominante, der Grundzug in allen Lebewesen doch Annäherung, Gemeinschaft, teilweise ein echtes Mitempfinden und Mitgefühl zu sein. Altruistische und soziale Strebungen sind in ihren Ansätzen, Anfängen bzw. Entsprechungen tief im subhumanen Bereich, im Leben der Natur, verankert.

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Es besteht eine »Einheit in der Entwicklung«, ein Band, das auch noch die höchsten Werte und Vorzüge des Menschen mit analogen Merkmalen des vormenschlichen Bereichs auf irgendeine Weise fest verknüpft. Die mannigfachen, oft unter großen Anstrengungen und Opfern durchgeführten sozialen Leistungen in der Biosphäre können meist nur schwer oder gar nicht mit den (neo-)darwinistischen Prinzipien des Eigennutzes, des Daseinskampfes und der Selektion vereinbart bzw. erklärt werden. 

Die Abstempelung der sozialen, altruistischen Tätigkeiten von Lebewesen zu abgeleiteten, aus ursprünglich »egoistischen«, utilitaristischen Verhaltens- und Anpassungsweisen hervorgegangenen Aktivitäten wird der elementaren Gewalt des sozialen »Urtriebes« nicht gerecht. Der Drang des Lebens nach Vergemeinschaftung, nach Vereinigung, Hilfe, Zweckdienlichkeit, ja nach einem gewissen »Geben« und »Beschenken« muß als ebenso ursprünglich und primär — in manchen Fällen sogar als vorrangiger — anerkannt werden, wie der pure Selbsterhaltungstrieb, wenn dieser auch manchmal — das sei nicht geleugnet — Lebewesen zum Zusammenleben zwingen kann, indem diese den Vorteil, der ihnen daraus erwächst, instinktiv spüren bzw. bei höherer Bewußtheit aufgrund ihres sinnlichen Urteilsvermögens irgendwie »berechnen«. Besonders deutlich zeigt sich die unableitbare Urgewalt des sozialen Triebes in der Mutterliebe, von der man mit Recht gesagt hat, es sei »unmöglich, ihre tief im Biologischen verankerten Motivkräfte eigentlich und allein auf Ichbezogenheit zu begründen«.28)

Ein Indiz dafür, daß die Idee des Friedens und Wohlwollens keimhaft in den Tieren verankert liegt, könnte ihr Verhalten angesichts von Naturkatastrophen sein. Verschiedene Tierarten handeln im Angesicht einer gemeinsamen Gefahr so, als seien sie Angehörige der gleichen Familie. Einer Überschwemmung, einer Dürrekatastrophe, einem Waldbrand u.a. bieten sie nicht einzeln, sondern als Gruppe Trotz. »Nicht nur tun sich Elefanten mit den fliehenden Wieseln zusammen, sondern Panther helfen den wilden Büffeln, und Reiher zeigen Sperlingen, auf die sie in gewöhnlichen Zeiten Jagd machen, den Weg.« 29)

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Vielleicht ist es mehr dem Dichter als dem nüchternen Forscher vorbehalten, solche Phänomene zu sehen und sprachlich gebührend auszudrücken. Bei Stefan George heißt es: »Wie das Getier der Wälder, das bisher Sich scheute oder fletschend sich zerriß, Bei jähem Brand und wenn die Erde bebt Sich sucht und nachbarlich zusammendrängt.«

 

Neben der Mutterliebe im Tierreich und dem eben dargestellten sozialen Verhalten der Tiere bei Naturkatastrophen sei noch auf das eindrucksvoll altruistische Verhalten der Schimpansen hingewiesen. Es besteht bei diesen sogar ein starkes und durchaus wirksames Bedürfnis, gefährdete Artgenossen unter Einsatz des eigenen Lebens zu retten.31 Auch die Tatsache, daß man Schimpansen nicht in Fallen fangen kann, muß wohl in erster Linie »sozial« erklärt werden, und nicht wie bisher primär durch den Hinweis auf ihre Intelligenz, die es verhindere, daß sie in Fallen hineinlaufen. Jedenfalls fand der holländische Zoologe Adriaan Kortlandt »Anhaltspunkte dafür, daß ein gefangener Schimpanse von seinen Truppgenossen sofort wieder aus der Falle befreit wird«. Die Hilfsbereitschaft der Schimpansen erstreckt sich nicht nur auf Artgenossen. Der soeben genannte Zoologe pflockte allerlei lebende Tiere — ein Küken, eine schwarze Ziege und andere — an, um in Erfahrung zu bringen, wie sich Schimpansen zu ihnen verhalten würden. Das Ergebnis seiner Beobachtung lautet: »Ohne das zarte Bein des Kükens zu verletzen, befreiten die robusten Schimpansen das kleine Tier von der Fessel. Auch die übrigen Tiere wurden losgebunden.«

Die Schimpansen sind überhaupt — allerdings im Gegensatz zu ihren hinter Zoogittern gefangengehaltenen Artgenossen, die mit zunehmendem Alter immer mürrischer und gewalttätiger werden — »selbst in der Erregung würdevoll und gutmütig. Niemals bringen sie sich gegenseitig um«. Prügeleien kommen bei wildlebenden Schimpansen selten vor.

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»Meist lassen es die Streitenden bei lautem Geschrei und Drohfuchteln bewenden.« Kortlandt betont, daß von den etwa fünfzig Schimpansen, die er beobachtete, keiner Verletzungen, Bißwunden oder Narben aufwies. Die Beziehungen der Tiere zueinander sind im allgemeinen »recht freundschaftlich«. »Die Männchen kämpfen nicht einmal um ein Weibchen. Jedes gehört jedem.« Selbst wenn zwei Schimpansengruppen im Urwald aufeinandertreffen, kommt es nicht etwa zu Kämpfen, sondern zu recht deutlichen Ausdrucksweisen der Wiedersehensfreude. Die beiden Gruppen bleiben für einige Stunden, mitunter sogar tagelang zusammen. Währenddessen scheinen sich neue Neigungen, Sympathien, soziale Bindungen herauszubilden, denn die Gruppen, die sich dann wieder trennen, sind fast immer anders zusammengesetzt als die, die sich vorher begegneten.31

Mit Recht betont deshalb J. Goodall gerade unter Bezugnahme auf die Schimpansen: »Wenn die Aggressivität des Menschen angeboren sein sollte — was immer das bedeutet —, so können wir diese verderbliche Eigenschaft keinesfalls unseren vormenschlichen Ahnen zur Last legen.«32)

Man darf schließlich wohl mit gutem Recht auch von einem sozialen Prinzip und sozialen Tendenzen innerhalb des Organismus selbst sprechen. Damit meinen wir den Sachverhalt, daß alle Glieder und Organe eines Lebewesens mit ihren eigentümlichen Funktionen der Entwicklung des Ganzen dienen und nur mittelbar sich selber. Das Leben ist ökologische Einheit und Einheitstendenz in der Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Organe und Funktionen. In der Überlegenheit des Ganzen, in der überlegenen Einheit des Ganzen kann man eine Verknüpfung des Machttriebes und des (sozialen oder) Einheitstriebes des Lebens erblicken, so jedoch, daß der erstere im Dienste des letzteren steht,33 daß er die auseinanderstrebenden oder gar gegensätzlichen Tendenzen bzw. Leistungen der einzelnen Teile, Glieder und Organe zum Dienst an der Einheit zwingt, aufeinander abstimmt, machtvoll im Sinne und zugunsten des lebenden Ganzen koordiniert. Es zeigt sich auch hier, daß der besonders vom Darwinismus des vorigen Jahrhunderts hochgespielte »Kampf der Teile« im Organismus »nur eine Nebenerscheinung34 gegenüber dem eigentlich beherrschenden sozialen Aufbauprinzip des Organismus«35 ist.

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Auch die moderne Medizin wird auf die Dauer den Organismus nicht als Maschine, als Apparatur mit auswechselbaren, transplantierbaren Ersatzteilen betrachten und behandeln dürfen, sondern »mehr und mehr als eine Art echtes Sozialgebilde mit echter Gliedhaftigkeit seiner Teile ähnlich den menschlichen Gemeinschaftsformen«. An die Stelle des Vergleichs mit einer Maschine müßte das »Bild einer Gemeinschaft lebender Subjekte« treten, in dem Organe, Zellen, Gewebe nicht mehr als gestoßene Objekte erscheinen, sondern »eben als Subjekte in echten >Partnerschaftsakten< und in harmonischem Gesamtvollzug Werk und Leistung im Dienst des Ganzen«36 vollbringen.

Nach F. Dessauer ist »der größte, der am feinsten durchorganisierte, am besten gelenkte Staat mit all seinen Funktionären, die so verschiedene Aufgaben, jedoch alle im Dienste der Einheit, erfüllen... eine kindliche Stümperei an Primitivität, gegenüber den koordinierten, differenzierten, einheitlich-vielgestaltigen, sich selbst regenerierenden, steuernden, sich entfaltenden, auf die Umwelt reagierenden Formen und Funktionen in einer Hierarchie des lebendigen <Zellenstaates>, die jede Vorstellung übersteigt. Wird der Vergleich weitergetrieben, so daß jeder differenzierten Zellform eine Beamtenart, jeder Zellfunktion eine spezifische Beamtentätigkeit zugeordnet wird, dann ergeben sich einige überraschende Analogien — aber zugleich wird anthropomorphistischem Gedankenspiel Zugang gegeben. Wir lassen dies beiseite und halten fest, daß der >Zellstaat< ein unsagbar feineres, besser geordnetes und millionenmal reicheres Gebilde ist als das Erzeugnis menschlicher Gesellschaftsformung.«37)

In diesem Zusammenhang sei auch noch auf das Phänomen der Anagenese in der Stammesgeschichte, des Aufstiegs zu immer neuen und höherrangigen Typen hingewiesen. Kennzeichen dieser Höherentwicklung sind unter anderem zunehmende Komplikation, Integration und Zentralisation.

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Man kann diese Kriterien der Anagenese mit gutem Recht unter sozialem Gesichtspunkt sehen, d.h. als Zeugnisse einer zunehmenden Vergesellschaftung, Vereinheitlichung, Arbeitsvereinigung38 in den einzelnen Organismen. Tatsächlich werden ja auch diese Kriterien von führenden Biologen oft mit Hilfe von Ausdrücken beschrieben, die dem sozialen Bereich entnommen sind. Man spricht von Zentralisation als demjenigen, »was der Differenzierung oder Sonderung im Organismus entgegenwirkt und die auseinanderstrebenden Glieder von einem gewissen organischen >Zentrum< aus beherrscht«, »was die Sonderung in einzelne Teile zwar nicht aufhebt, aber sie dermaßen in Schranken hält, daß die Formen für unser Auge harmonisch bleiben« (V. Franz), von »Synorganisation«, d. h. der »Zuordnung verschiedener Teile des Organismus zu einem funktionellen Ganzen« (A. Remane), von »physiologischer Zentralisation«, d. h. »Vervollkommnung der korrelativen Beziehungen der Organe zur Erhöhung der Einheitlichkeit und der Harmonie aller Leistungen des Organismus« (L. Plate), von »Staffelung und Überordnung« (O. Jackel), von »zunehmender Verflechtung (Komplexikation)«, »Zusammengesetztsein und Zentriertheit« (Teilhard de Chardin), von »immer großartigeren Verflechtungen der Funktionen und Fähigkeiten« (E. Hennig), von »harmonischer Zunahme der Komplikation« (L. Plate), von »Vielheit in der Einheit« (J. Huxley), ja sogar von einer »Innigkeit der Wechselbeziehungen« (L. v. Bertalanffy).39

Der von seiner Kirche indizierte, modernistische katholische Theologe Herman Schell sah schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts geradezu als einen »Weltzweck, dem alles Naturstreben dient«, an die »möglichst große Belebung der Welt durch eine zunehmende Fülle von Formen und von Beziehungen, die möglichste Überwindung der Masse, der Einförmigkeit und Gleichgültigkeit, der Unterschieds- und Zusammenhangslosigkeit, der Gleichheit und der Vereinzelung... die möglichste Belebung des tatsächlichen Seins durch Beziehungen«, die Bereicherung des lebenden Stoffes durch die »mannigfaltigsten Wechselbeziehungen«.

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Eruierung immer neuer und innigerer Wechselbeziehungen, »Zentralisation« und »Gruppierung« seien ein »Grundgesetz«40 in der Evolution des Lebens. Das erinnert an Teilhard de Chardin, nach dem »die lebende Materie offensichtlich die Eigenschaft hat, ein System zu bilden, <in dem nach aller Erfahrung die erreichten Formen im Sinne ständig steigender zentro-komplexer Werte aufeinander folgen>«.41) 

Der Weg von der Zelle, die bereits eine »außerordentliche Komplexität« der Struktur aufweist und einen »Triumph der Vielfalt, die sich in einem Raum-Minimum organisch zusammendrängt«,42) darstellt, über die mehrzelligen Organismen mit ihrer wachsenden Organisationshöhe bis zum Zentralnervensystem des Menschen, dem nach ihm differenziertesten Sozialgebilde der Biosphäre, ist nach Teilhard ein sozial-biologischer Entwicklungsprozeß von gigantischem Ausmaß, zugleich ein Beweis der »evolutionistisch-schöpferischen Funktion der Synthese«. »Auf jeder höheren Kombinationsstufe... strebt etwas, das nicht auf isolierte Elemente zurückgeführt werden kann, zu einer neuen Ordnung auf.«43)

Neuerdings hat auch der bekannte Evolutionsbiologe Rupert Riedl eine fundamentale Polemik gegen die »Spaltung des Weltbildes« durchgeführt, indem er die allgegenwärtig wirkende Interaktion in jedem lebenden Organismus von Teil zu Teil, Schicht zu Schicht, aber auch innerhalb aller Teile und Schichten sowie durch alle hindurch hervorhebt. Alles in der Natur dränge nach immer komplexerer Vernetzung und zugleich aufwärts, so daß aus Teilen, die ihrerseits bereits eine Synthese von Teilen seien, »Material« für ein jeweils höheres Ganzes werde und dieses Ganze im sozialhierarchischen Aufbau der Natur wiederum nur ein Bauteil-Angebot für eine weitere Stufe der Komplexität darstelle.44

Die hier soeben durchgeführten Erwägungen über soziale Phänomene und Entwicklungsrichtungen in der Natur lassen das Urteil Armin Müllers, eines Denkers, der sich diesem Phänomen gerade unter dem Gesichtspunkt seiner Nichterklärbarkeit durch die (neo-)darwinistische Mutations-Selektions-Theorie mit besonderer Sorgfalt gewidmet hat, voll berechtigt erscheinen.

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Der »Soziabilität« im Bereich des Organischen muß nach ihm »ein ganz ursprünglicher, der Nutzhaftigkeit übergeordneter Eigenwert« zugesprochen werden. Das Soziale, »nicht das Ökonomische im Sinne der bloßen Selbsterhaltung, wie der Darwinismus glaubt«, bedinge »wesenhaft die Struktur jeglicher lebendigen Organisation, zumal der höher entwickelten«. Die Hinwendung zu fremdem Leben sei keine abgeleitete Erscheinung in der organischen Welt, sondern ein »primärer Urtrieb«, auf dem »schon auf der Stufe des Instinktes alles soziale Zusammenleben bis hin zur tierischen Staatenbildung, aber auch... der sogenannte Zellenstaat des Einzelorganismus« beruht.45

Kein Zweifel, es gibt in der Natur nicht bloß den Kampf ums Dasein, sondern es sind auch »bis zur Selbstaufopferung gehende altruistische <Instinktfaktoren> wirksam: das Verhalten der Eltern für ihre Jungen, das Verhalten zwischen <Genossen>. Wobei in den bekannten Ameisen- und Bienenstaaten die Selbstaufopferung... von einem überindividuellen Gesamtwillen« zeugt.46 Neue Beobachtungen an Ameisen, die man im Rahmen von Testreihen in der letzten Zeit durchgeführt hat, belegen diesen sozialen Gesamtwillen auf überaus eindrucksvolle Weise. Danach gehört absolut gerechtes Teilen der Nahrung und des Wassers zum »zentralen Bestandteil des Soziallebens« der Ameisen; sie scheinen in ihren Kolonien keine wie immer geartete Kommandozentrale zu haben, es genügt das »automatische Steuerungssystem« eines wahrhaft sozialen Gebens und Nehmens. 

Wenn z.B. in einer Ameisenkolonie Hunger herrscht, zeigt dieses Steuerungssystem durch das bohrende Gefühl in den Eingeweiden jeder einzelnen Ameise an, daß auch der Rest des Staates Hunger leidet. Auf diese Weise wird der Korpsgeist in geradezu unbegrenzter Weise zur Tat gerufen. »Nahrungsstücke mit einem Vielfachen des Körpergewichts werden über weite Strecken geschleppt. Die meisten der mehr als 10.000 Ameisenarten nutzen eine spezielle Technik, um auch Flüssigkeiten sicher transportieren zu können: Arbeiterinnen verstauen das überlebenswichtige Naß im Kropf, Nestgenossen bedienen sich von Mund zu Mund. Hungermäuler... fordern ihren

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Anteil, indem sie mit ihren Fühlern und Vorderbeinen auf ein unterlippenartiges Gebilde der Jägerinnen trommeln.« Das Teilen von Wasser und Nahrung geschieht mit »klickender Präzision«, obwohl doch das Gehirn der weiblichen Arbeitsameisen nur etwa eine Million Nervenzellen vereinigt (das des Menschen annähernd 100 Milliarden).

Aufgrund dieser Beobachtungen kommt der amerikanische Soziobiologe Edward O. Wilson von der Harvard University zu der Überzeugung, daß Altruismus, der über die eigene Nachkommenschaft hinausgehe, ein »wichtigerer Bestandteil fortgeschrittenen sozialen Verhaltens [sei] als Herrschaft, Führertum und jede andere Art von Interaktion«. Daß unter den seit über 350 Millionen Jahren existierenden Insekten Ameisen, Bienen und Wespen im letzten Drittel dieser Zeitspanne den Schritt zum organisierten Gemeinschaftsleben geschafft haben, bezeichnet dieser Biologe als einen geradezu »kosmischen Sprung«.47

Sozial-altruistische Eigenwerte der Natur stellen auch die oft nicht anders als wunderbar harmonisch zu bezeichnenden Symbioseerscheinungen zwischen Tieren und Pflanzen dar. Durchgehend zeigen z. B. Blütenbiologie und Insektenleben eine sehr enge, wechselseitige, feinabgestimmte Bezogenheit, wobei Phänomene wie die Armierung der Staubbeutel der Salbeiblüten an einem zweiarmigen Hebel zur Pollenablagerung auf dem Rücken besuchender Hummeln oder die überaus kunstvollen Befruchtungseinrichtungen bei den Orchideen noch besonders herausragen.48 Bei solchen systematischen, einheitlich und übergreifend ausgerichteten Symbioseerscheinungen »muß von einem Verwobensein der Lebenslinie von Tier und Pflanze, einer Verzahnung ihres vitalen Gefüges gesprochen werden. Hier liegen in der Tat im wesentlichen noch durchaus ungelöste Rätsel des Lebendigen vor«.49 Bei manchen Symbiosephänomenen äußert sich in besonderer Weise die eigene Wirksamkeit von innen, die Eigengesetzlichkeit und -ursächlichkeit des Wirtsorganismus. »Wenn uns der Wirtsorganismus immer wieder wie ein Wesen anmutete, das vor bestimmte Aufgaben gestellt wird und das nun unter den ihm zur Verfügung

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stehenden Mitteln das jeweils beste auszuwählen vermag, und wir nicht selten geradezu wie von einem Erfinder sprachen, so... sollte das bekunden, daß nach unserer festen Überzeugung derartige Anpassungen niemals von außen angezüchtet werden konnten, sondern auf im Organismus wirkende Kräfte zurückgehen müssen.«50

Die Natur realisiert aber in der ihr eigenen Sinnhaftigkeit und Sinnfülle nicht nur ästhetische und sozial-altruistische Werte, sondern auch Empfindungs- und Bewußtseinswerte. Ein offener, unverklemmter Blick auf die Natur in ihrem onto- und phylogenetischen Werden wird sich kaum des Eindrucks erwehren können, daß es der Biosphäre an einem Wachstum des Bewußtseins gelegen ist, daß sie gleichsam nach immer mehr »Licht« verlangt, um sich über sich selbst klarzuwerden. Fische, Amphibien, Reptilien, Säugetiere bilden in bezug auf ihre Gehirn- und Nervenstrukturen eine aufsteigende Linie der Vervollkommnung. Parallel zu der wachsenden Komplexität dieser Strukturen nahmen das Empfindungsvermögen und das Bewußtsein ganz generell im Laufe der Stammesgeschichte zu. In den Primaten und speziell im Menschen, aber auch z.B. in walartigen Säugetieren wie den Delphinen, hat sich das Bewußtsein der Natur bereits außerordentlich komplexe und relativ perfekte zentrale Steuerungssysteme und Empfindungs- bzw. Erkenntnisorgane geschaffen. In diesem Sinne spreche ich hier von der »Tendenz« der Natur, logische oder Wahrheitswerte — verstanden als Wahrheit über sich selbst — zu verwirklichen. Die aufsteigende Lebensevolution drängt zu immer tieferer, erkenntnismäßiger Durchdringung des »objektiven Logos«, der alle Strukturen und den Gesamtaufbau des Universums als mathematische Gesetzmäßigkeit, als Zweckmäßigkeit der Einrichtungen, als Planmäßigkeit — trotz aller vordergründigen Zufälle! — des Emporentwicklungsprozesses der Welt, als Gesetz der Schönheit, der Sympathie und der sozialen Affinität bestimmt. Die Natur, sowohl die leblose als auch die belebte, ist objektive Weisheit, und sie scheint ganz offensichtlich danach zu streben,

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auch subjektive Weisheit, Wissen um ihr eigenes Wesen zu werden. Die Vervollkommnung der Sinnesapparaturen in der Pflanzen- und Tierwelt, die aufsteigende Linie zunehmenden Bewußtseins in der Biosphäre weisen auf die Tendenz der Natur hin, ihrer selbst innezuwerden, die objektive Weisheit und Schönheit, die sie verkörpert, auch zu empfinden, zu genießen, zu erkennen. Die Vergegenwärtigung, Abbildung und Aufnahme der Natur in die »Innerlichkeit des Bewußtseins« scheint ein »maßgebendes Gesetz für die ganze Einrichtung der Natur«51 zu sein.

Es ist so, daß sich das Universum in der Zeit entfaltet und dabei »ständig komplexer und reicher an Informationen« wird. »Weil biologische Prozesse auch Informationen hervorbringen und weil uns das Bewußtsein befähigt, diese Prozesse unmittelbar zu erleben, erfaßt die intuitive Wahrnehmung der Welt als Evolutionsprozeß in der Zeit eine der fundamentalsten Eigenschaften des Universums.«52 Die Natur hat im ganzen Ablauf ihrer bisherigen Geschichte »ständig unvorhersehbare neue Informationen« hervorgebracht, »echte Novitäten, und die Bestimmung der neuen Informationen ist die Evolution höherer Formen«. Unter informationstheoretischen Gesichtspunkten läßt sich in der Tat »das gesamte Universum einschließlich dessen, was wir als materiell bezeichnen, als eine Form von Information ansehen, und es liegt auf der Hand, daß die Informationen ständig anwachsen«, denn ihr Vorrat ist »prinzipiell unbegrenzt«.53

»Leben selbst«, sagt der Begründer der Vergleichenden Verhaltensforschung, Konrad Lorenz, so kurz wie präzis, »ist ein erkenntnisgewinnender Prozeß.« Es ist tatsächlich so, »daß das Leben mit einer konstitutiven Seite seines Wesens ein Erkenntnisvorgang ist, daß seine Entstehung mit derjenigen einer Struktur gleichzusetzen ist, der die Fähigkeit zukommt, Information zu gewinnen und festzuhalten, und die gleichzeitig so beschaffen ist, daß sie aus dem Strome der dissipierenden Weltenergie genügende Mengen an sich zu reißen vermag, um die Flamme der Erkenntnis mit Brennstoff zu versorgen«.54

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Die Evolution ist demnach ein Selbstorganisationsprozeß auch des Bewußtseins im Rahmen der Stammesgeschichte, so daß die Grundvoraussetzungen, gleichsam die Grundmuster der menschlichen Vernunft schon naturgegeben, also angeboren sind.55 Unser bewußtes Erkenntnisvermögen ist »der jüngste Überbau über einem Kontinuum von Erkenntnisprozessen, das so alt ist wie das Leben auf diesem Planeten«, es ist »in den Grundlagen seiner Vernunft als eine Weiterentwicklung seiner Stammesgeschichte zu verstehen«.56

Wir haben also in der Evolution der belebten Natur ein in etwa parallel strukturiertes, fundamentales Ordnungsgeschehen zu konstatieren, in welchem das Leben, in Ontogenese und Phylogenese sich selbst überhöhend, zu immer neuen Stufen der Gestaltverwirklichung und des Erlebnisreichtums emporsteigt. Einerseits verwirklicht sich jedes Lebewesen nach außen hin in der Ausfüllung der Raum-Zeit, in der dynamischen, zielgerichteten Entwicklung seiner äußeren Gestalt, andererseits entfaltet es in vielfacher wechselseitiger Bedingtheit damit und parallel dazu seine Subjektivität, sein Empfindungsvermögen, sein Bewußtsein, erweitert es seinen Bereich der Informiertheit. Die Frage nach der Deutung dieses Geschehens ist ein philosophisches Anliegen. »Vor der Größe des Geheimnisses, das hinter diesem Anliegen steht, wandelt sich das Schweigen des Biologen in Ehrfurcht. Wer aber glaubt, daß es je möglich sein werde, das organismische Geschehen in seiner Innerlichkeit durch integrative Prozesse nach physikalischen Prinzipien im Sinne einer explicatio ultima aus dem absoluten Zufall erklären zu können, macht sich selbst zum Gegenstand eines psychologischen Problems. Whitehead hat dieses Problem treffend charakterisiert: >Forscher, deren Lebensziel es ist, die Ziellosigkeit des Lebens nachzuweisen, bilden einen interessanten Forschungsgegenstand<. «57

Der Zufall hat natürlich eine Funktion in der Evolution, aber es ist nicht der absolute Zufall, sondern der relative, und dieser wird vom Leben als erkenntnisgewinnender Prozeß immer sofort in seinen Dienst genommen. 

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»Schon im Präbiotischen besteht die Strategie im Einfangen des Zufalls und in der Bewahrung der daraus resultierenden Strukturgesetze, wie Manfred Eigen zeigte. Dieses <Order-on-Order>-Prinzip reicht... durch die ganze Evolution der Organismen; und es setzt sich... in der Entwicklung des Kindes, .. .im Verhalten des Erwachsenen, .. .in den Vorbedingungen der Sprache und... im Phänomen der Tradierung kultureller Muster fort. Die Einheit dieser >Strategie der Genesis< ist heute wohlbegründet.«58 Immer aber ist »alles Lebendige, solange es lebt, in steter Bewegung befangen; in einer ruhelosen Suche nach etwas mehr Überschau und Voraussicht; mit dem unerreichbaren Ziel der Ruhe und Gewißheit«.59

 

Eine ökologische Religiosität, die in ihrer universal-ganzheitlichen Haltung allen Aspekten der Wirklichkeit gerecht werden will, wird sodann einen weiteren Grund für den Eigenwert und die Rechtshoheit der Natur darin sehen, daß diese auch eine Fülle intelligenter mathematischer Strukturen hervorbringt. Unter den deutschen theoretischen Physikern hat Werner Heisenberg vielleicht am nachdrücklichsten auf die mathematische Gesetzmäßigkeit in der Natur aufmerksam gemacht. Ihm zufolge bestimmt »noch heute den Weg der exakten Naturwissenschaft... der Glaube an die sinngebende Kraft mathematischer Strukturen«. Wer seinen Blick für »die gestaltende Kraft mathematischer Ordnung geschärft habe, erkenne ihr Wirken in Natur und Kunst auf Schritt und Tritt«. »Wenn in einer musikalischen Harmonie oder einer Form der bildenden Kunst die mathematische Struktur als Wesenskern erkannt wird, so muß auch die sinnvolle Ordnung der uns umgebenden Natur ihren Grund in dem mathematischen Kern der Naturgesetze haben.« Die Ordnung in der Natur sei »mathematisch faßbar«, zum Elementarteilchen der modernen Physik gehöre eine mathematische Gleichung. »Diese Gleichung formuliert das Naturgesetz, das den Aufbau der Materie beherrscht; sie enthält den zeitlichen Ablauf etwa einer chemischen Reaktion ebenso wie die regelmäßigen Formen der Kristalle oder die Töne einer schwingenden Saite.« 

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Deshalb gilt nach Heisenberg die mathematische Einfachheit als das oberste heuristische Prinzip bei der Auffindung der Naturgesetze in einem durch neue Experimente erschlossenen Gebiet. Eigens betont noch der Entdecker der sog. Unscharferelation, daß die Atomlehre der modernen Physik dadurch wesentlich von der antiken Atomistik unterschieden sei, »daß sie die Ausgestaltung oder Umdeutung zu einem naiven materialistischen Weltbild nicht mehr zuläßt«. 

Nun ist die moderne Atomphysik gerade in der Gestalt ihrer mathematischen Gleichungen und Berechnungen ein Buch mit sieben Siegeln für die meisten Zeitgenossen. Auch die ökologische Religion kann von niemandem verlangen, Mathematiker oder Physiker zu werden, um die mathematischen Ordnungsstrukturen der Natur in eine möglichst umfassende Wahrnehmung der Gesamtwirklichkeit einzubringen. Aber wie ein intuitives, feinfühliges Empfinden der Natur in ihrer Schönheit und Erhabenheit, ihren sozial-altruistischen Aspekten und ihrem Drang nach höheren Bewußtseinszuständen möglich ist, ohne daß man einige Semester an einer Kunstakademie absolviert oder Vorlesungen über Sozialethik, Evolutionsbiologie und Philosophie gehört haben muß, so gibt es auch nach Heisenberg »dahinter«, das heißt hinter der bewußten Kenntnis der mathematisch formulierten Naturgesetze »noch ein unmittelbares Verstehen der Natur, das diese mathematischen Strukturen unbewußt empfängt und im Geist nachbildet, und das sich allen den Menschen erschließt, die zu einer innigeren, aufnehmenden Beziehung zur Natur bereit sind«.60

Für Heisenberg sind die mathematischen Gesetzmäßigkeiten in der Natur ein Ausfluß der »zentralen Ordnung«, von der auch ökologische Religion in ihrem Sinnglauben zutiefst überzeugt ist. Am Anfang war seiner wissenschaftlichen Überzeugung nach nicht das Teilchen im Sinne der Demokritischen These, »am Anfang war die Symmetrie«. »Die Elementarteilchen verkörpern die Symmetrien, sie sind ihre einfachsten Darstellungen, aber sie sind erst eine Folge der Symmetrien.« Der — mathematisch so unberechenbare — Zufall kommt in der Entwicklung des Kosmos ebenfalls später ins Spiel. Aber auch er »fügt sich den zu Anfang gesetzten Formen, er genügt den Häufigkeitsgesetzen der Quantentheorie«.

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In der späteren, immer komplizierter werdenden Entwicklung wiederholt sich dann dieses Spiel auf immer höheren Ebenen. Heisenberg zieht eine Verbindungslinie zur Philosophie Piatos. Er vergleicht die Elementarteilchen mit den regulären Körpern in Piatos »Timaios«. »Sie sind die Urbilder, die Ideen der Materie. Die Nukleinsäure ist die Idee des Lebewesens. Diese Urbilder bestimmen das ganze weitere Geschehen. Sie sind die Repräsentanten der zentralen Ordnung. Und wenn auch in der Entwicklung der Fülle der Gebilde später der Zufall eine wichtige Rolle spielt, so könnte es sein, daß auch dieser Zufall irgendwie auf die zentrale Ordnung bezogen ist.«61

Wie das technisch Zweckmäßige, so ist auch das mathematisch und damit quantitativ Faßbare in der Natur besonderer Gegenstand der exakten Naturwissenschaften und in ihrem Gefolge der Technik. Das Übel liegt darin, daß der Blick der meisten Naturwissenschaftler und der der sogenannten offiziellen Naturwissenschaft einseitig und so gut wie ausschließlich in diese Richtung des Quantitativen und technisch Relevanten geht, daß die (anderen) Qualitäten der Natur dabei gar nicht mehr gesehen oder glatt geleugnet werden. Dabei sind gerade das Mathematische und das Schöne in Natur und Kunst keineswegs einander wesensfremd oder getrennt voneinander zu sehen. Schon der große Astronom Johannes Kepler (1571-1630) sah die grundlegende Verbindung beider Aspekte in der Natur, mag uns auch seine Begründung heute zu theologisch anmuten: »Damit die Welt eine beste und schönste Welt werde, damit sie jene Idee aufnehmen könne, hat der allweise Schöpfer die Größe geschaffen und die Quantitäten ausgedacht.«62 »Denn die Welt«, sagt Kepler an anderer Stelle63; »hat an der Quantität teil, und der Geist des Menschen... erfaßt nichts so gut, wie eben die Quantitäten, für deren Erkenntnis er offenbar geschaffen ist.«

Tatsächlich begegnen, ja vereinigen sich Mathematik und Schönheit z. B. in jeder musikalischen Harmonie, in der Bewegungsrhythmik der Körper und in ihren Symmetrieeigenschaften.

Bei den Kristallgestalten in der anorganischen Natur beispielsweise basiert deren Schönheit ganz und gar auf den Ordnungen der Symmetrie.

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Es ist die gesetzmäßige Wiederholung gleichartiger Elemente im Raum. »Die regelmäßige Wiederholung gleichartiger Flächen, Kanten, Winkel macht die Schönheit der Kristalle aus. Je nach der Ausbildung bzw. Wachstumsstörung bemißt sich der Grad der Schönheit.«64 Die mannigfaltigen Kristallformen in der Natur erwecken den Eindruck jeweils verschiedener Raumgefüge und im Zusammenhang damit erhebende sinnlich-sittliche Wirkungen. Eine schlanke Quarzsäule ruft das Gefühl eines anderen Raumgefüges hervor als ein würfeliger Flußspatkristall. Aber in beiden Fällen kommen den Linien dieser Kristallkörper ästhetische Wirkungen zu. So offenbart sich in den Ergebnissen der Kristallisationsprozesse die morphologische Schönheit der Natur in »regelmäßigen Formen«, in »mathematischer Regelmäßigkeit«. Die »Kristallisation der Mineralien ist deren angemessenes Gestaltungsgesetz, ebenso durch die Härte und Strenge der mathematischen Linien wie durch die Gleichgültigkeit hinsichtlich der Ausdehnung«.65 Vergessen sei dabei auch nicht die Schönheit mineralischer Farben, die man etwas pathetisch, aber nicht zu Unrecht als »Taten des Lichts« bezeichnet hat. Der Physiko-Chemiker K. L. Wolf hat, unter Einbeziehung streng mathematischer Methodik, in zahlreichen Arbeiten die »komplizierten Architekturen« von Atomen, Molekülen und Makromolekülen, von Schneekristallen, von Diatomeen, ferner Zeichnungen von Schlangenhäuten, von Ornamenten ganz allgemein, von Wachstumsformen der Bäume bis hin zu menschlichen Architekturgebilden sorgfältig auf ihre Symmetriebeziehungen hin analysiert und beschrieben. Diese Symmetrie ist es nach ihm, auf der »die gestaltliche Schönheit in der Hauptsache beruht«.66 Hier eröffnen sich Neuansätze und Perspektiven für eine gleichsam kosmisch-mathematische Ästhetik, die ja auch bereits Keplerin seiner »Sphärenharmonie« angestrebt hatte. Leider muß man sagen, daß die exaktwissenschaftliche Mineralogie die Schönheit der Mineralien stillschweigend übergeht, in ihrer Begrenztheit den Blick für deren Schönheit sogar oft verdunkelt. Es gehört eben eine ganzheitlichere, auch intuitiv-emo-

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tionale, letztlich kosmisch-religöse Grundhaltung dazu, um Schönheit in der schweigenden Natur wahrzunehmen. Gegenüber dem, der wahrzunehmen bereit ist, spricht diese Natur dann allerdings sehr Vieles und Wichtiges aus.

Hier wären jetzt noch Erwägungen über das Zusammenspiel von Mathematik und Schönheit, von proportionaler Quantität und Ästhetik in der lebenden Zelle anzuschließen. Da es uns im Rahmen dieses Buches nur darum gehen kann, die mit ökologischer Religiosität zusammenhängende Sensibilität für die Weite und Tiefe der Natur in ihren mannigfachen sinnvollen Bezügen durch zwangsläufig fragmentarische Hinweise und Erhellungen anzuregen, verweisen wir diesbezüglich lediglich auf weiterführende Literatur.67 Auf die Aristie der Gestaltung lebender Großorganismen, in der sich edle Schönheit und mathematisch erfaßbare Symmetrien und Strukturen ebenfalls vereinigen, haben wir oben bereits hingewiesen. Auch die oben erwähnte Zweckmäßigkeit vieler Gestaltungen und Bewegungsabläufe im Tierreich (Torpedogestalt, Flugwesen usw.) beruht auf einem Zusammenspiel ästhetischer Elemente und mathematischer Proportionen. Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang das immerhin interessante Phänomen hinzufügen, daß der Mensch quantitativ, d.h. nach Größe und Gewicht, in der »goldenen Mitte« zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen den kleinsten Elementarteilchen und dem gewaltigen Universum liegt.68

Wer die Natur, vor allem auch das großartige Phänomen ihrer über Jahrmillionen sich erstreckenden Aufwärtsentwicklung, auf sich einwirken läßt, der ist auch immer wieder von dem »Neuen« fasziniert, das sie erfinderisch schafft. Im Laufe ihrer Geschichte brachte sie immer wieder neue Formen und Typen hervor. Die Evolution des Lebendigen ist von außerordentlichen gestaltlich-strukturellen Umformungen der Organismen gekennzeichnet. Neue Baupläne und Typenorganisationen, neue Synorganisationen und Organsysteme, die Entstehung verschiedenartiger Instinktkomplexe, die ständige und dennoch merkwürdig-erstaunliche Steigerung der Organisationshöhe des jeweils bisher erreich-

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ten Niveaus der Evolution, die Genese fremddienlicher Zweckmäßigkeit, das Ungleich werden vorher gleichartiger Teile mit neuen Zell- und Funktionsdifferenzierungen, der Ursprung der Baupläne der Stämme des Tier- und Pflanzenreiches — all das sind »Neuheiten« in der Evolution, die zugleich noch einer tiefergehenden system-kausalen Erklärung bedürfen, weil die bisher bekannten Erbänderungen, wie die Genmutationen, Chromosomenmutationen, Transduktionen, Genommutationen und Plasmonmutationen diese Novitäten denn doch nicht ausreichend zu erklären vermögen. Die bisherigen Ergebnisse der Mutationsforschung besagen ja nur, daß formändernde Summierungen von Mutationen, die den Bereich einer Tier- oder Pflanzenart überschreiten, bisher nicht beobachtet worden sind. Die bisher beobachteten Abänderungen halten sich im allgemeinen im Rahmen der Art und betreffen keine Neubildungen von Organen, sondern stets nur relativ geringfügige graduelle Abwandlungen bereits vorhandener Organe nach Größe, Form, Zahl, Farbe usw. Die beispielsweise bei der Märtyrerin der genetischen Forschung, der in Tests und Operationen millionenfach malträtierten Taufliege Drosophila experimentell untersuchten Mutationen der Flügelausbildung zeigen uns nicht etwa, wie der Drosophila-, Dipteren- oder noch allgemeiner der Insektenflügel entstanden ist, sondern sie veranschaulichen uns lediglich den Ausprägungsgrad und gewisse von der Norm abweichende Gestaltungen dieses längst im Erbgut verankerten Organs.

Zwar gibt es auch einige erbliche Abänderungen von Merkmalen höherer systematischer Einheiten (etwa Ordnungscharaktere), aber die meisten der Mutationen, die Familien- und Ordnungscharaktere ändern, sind Rückschläge, Atavismen. Auch besagt die Tatsache, daß eine Mutation ein Merkmal ändert oder erreicht, das in gewissen Fällen zur Abgrenzung von Familien oder Ordnungen gebraucht wird, noch keineswegs, daß damit die Entstehung von Familien und Ordnungen aufgezeigt sei. Die für Familien, Klassen, Ordnungen aufgestellten Ordnungsmerkmale sind ja von der Biologie oft recht willkürlich gewählt.69

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Zweifellos liefern die heute bekannten Wirkungsmechanismen ein befriedigendes Verständnis der Mikroevolution, des experimentell erfaßbaren Formenwandels niederen Grades. Die Entstehung kleinerer Dauerabweichungen, Rassen, vielleicht auch neuer Arten kann bzw. (bei Arten) könnte auf diese Weise erklärt werden. In der Ausdrucksweise der Spezialforschung: »Die direkte genetische Untersuchung beschränkt sich auf das Gestaltungsniveau unterhalb der Art, in diesem >subspezifischen< Gestaltungsbereich ist sie vollwertig. Für die Entstehung von Unterarten (Subspecies) gelten die Darwinschen Regeln.«70

Aber es scheint ganz so, daß wir die Makroevolution, die großartigen Schöpfungen der Natur, ihre gewaltigen »aktiven Umkonstruktionen« (H. Böker), d.h. die Wandlungen der Typen, der ganzheitlichen Baupläne ganzer Ordnungen oder Stämme bisher noch nicht hinreichend durchschauen, vielleicht nie ganz durchschauen werden. Das Inventar der (neo-)darwinistischen Kausalmechanismen — die Summation kleinster mutativer Abweichungen plus Orthoselektion, d.h. positive Erfassung der Mutanten, die in der Richtung statistisch anfallen, in der die Auslese längere Zeit hindurch wirkt, plus evtl. noch Isolation und die Wirkungen der Populationsgröße — kann eventuell auch noch gewisse Teilprozesse der über die Arten hinausgehenden, der sogenannten transspezifischen Evolution erklären. Aber die Hauptprobleme der Makroevolution, etwa auch die Entstehung großer und großartiger Abweichungen in der Biosphäre, wie sie uns in den Gestaltungen der Vögel oder der Säugetiere, der Insekten oder der Spinnen entgegentreten, sind auf diese Weise nach allem, was wir bisher wissen, nicht zu lösen. Das, was bisher diesbezüglich an Erklärungsangeboten dargereicht worden ist, nimmt sich angesichts der Größe der in ihrem Entstehen zu erklärenden Wirklichkeiten der Natur recht dürftig aus.

Mikromutationen können also kaum zu den neuen Funktionsund Gestaltungssystemen, die die Natur im Verlauf ihrer Höherentwicklung hervorgebracht hat, geführt haben. Die Selektion konnte andererseits nur auslesen, was schon vorhanden war oder (im Fall der dynamischen Auslese) neue Bedingungen für den Auftritt des Neuen schaffen.

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Die geschlechtliche Fortpflanzung konnte lediglich schon Vorhandenes neu kombinieren. Auf diese Weise wäre wohl nie ein neuer Bauplan mit neuer Funktion entstanden. Mit anderen Worten: Die Selektion, dieser General, dem viele Evolutionsforscher geradezu allmächtige, strategische Wirkungen zuschreiben, kann nur die Anpassungsmerkmale innerhalb der einzelnen Baupläne, nicht aber diese selbst auslesen. Hier zeigt sich wieder die eigentliche »erhabene Zwecklosigkeit« der Natur in ihren großen Gestaltungen. Es ist »auf die wesentliche Unterscheidung des Baustiles, der Architektonik der Typen, der Familien, Ordnungen usw. hinzuweisen gegenüber der bloßen Ausgestaltung dieses architektonisch Festgelegten durch Merkmale äußerer Anpassung im Sinne der Zweckmäßigkeit. 

Ein Formtypus trägt seine eigene Formbestimmtheit in >erhabener Zwecklosigkeit< (A. Schopenhauer) in sich; erst sekundär kommt es in zahlreichen Abwandlungen zur Anpassung an verschiedenste Umweltverhältnisse. Im Bilde gesprochen: Die Architekturgeschichte läßt Gotik, Renaissance-, Barock-, Rokokostil usw. unterscheiden. Jeder dieser Stil typen hat zunächst mit Anpassung nichts zu tun. Er ist reine >Ausdruckserscheinung<. Wohl aber wurden in diesem Stiltypus Baulichkeiten von verschiedenster Zweckbestimmung aufgeführt: Wohn-, Korn-, Rathäuser, Burgen, Schlösser, Kirchen.«71 Kein Zweifel: Die Natur gefällt sich in »Geniestreichen einer Hervorbringung von etwas völlig Neuartigem«, wie der bekannte Paläontologe O. H. Schindewolf das einmal formuliert hat.72 Wir können gelassen die weiteren Antworten der Naturwissenschaft auf die Kausalfrage der Makroevolution abwarten. Wir müssen auch keineswegs unbedingt transzendent-vitalistische Prinzipien zur Erklärung der großen Novitäten, die in der Stammesgeschichte der Natur auftraten, heranziehen. Denn eines ist heute schon sicher: Alle Übergänge, selbst alle eventuellen Sprünge zu etwas Neuem in der Phylogenie waren Resultate ganzheitlich-systematischer Prozesse, waren Wunderwerke der Natur an systemmäßiger, ganzheitlicher Präzision.

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Der berühmte Vererbungsforscher R. Goldschmidt, der durchaus das Zusammenwirken von Zufall, natürlicher Auslese und Isolation bei der Makroevolution anerkennt, hält trotzdem die bloße Summierung von Kleinmutationen beim Übergang von einer Art zur anderen für nicht ausreichend. Für die transspezifische oder Makroevolution müssen, diesem Forscher zufolge, »Systemmutationen« zur Erklärung herangezogen werden, ganzheitliche Ummusterungen also des Chromosomenbestandes, so daß die Keimentwicklung in frühem Stadium in eine andere Richtung abläuft. Die Arten und die Wurzeln größerer Stammbaumzweige müssen direkt aus komplexen Mutationen, aus »Groß-«, »System-« oder »Schlüssel-Mutationen« hervorgegangen sein.73

Goldschmidt war es auch, der eine ganz wichtige Entwicklung zur Ganzheitssicht in der Erbforschung mit der radikalen Frage einleitete, ob das Gen noch als eine Erbeinheit von separierter Existenz aufgefaßt werden dürfe. Dies hat zu sehr detaillierten Vorstellungen »einer hierarchischen Organisation des genetischen Materials innerhalb des ganzen Anlagenkomplexes (Genoms) der Zelle geführt, ferner zu der Annahme, daß die Gene bzw. die Glieder der hierarchischen Ordnung in ihrer Aktivität kybernetischen Wechselwirkungen und Rückkoppelungen wie geregelte Systeme unterworfen sind, auch einer Regulierung von Seiten des Zellplasmas unterliegen«.74

L. von Bertalanffy hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, daß durch das Herauslösen und die analytische Klärung einzelner physikalisch-chemischer Vorgänge das Hauptproblem der Organisation des Keimes und der Formbildung ungelöst bleibe. »Denn eine Reaktion zwischen — definierten oder nicht definierten — Genhormonen und organbildenden Stoffen kann immer nur chemisch definierbare Körper liefern, nicht aber organisierte Formen, wie die Entwicklung sie produziert«, und wohl auch nicht Funktionsordnungen. Auf dieser Grundlage vertritt von Bertalanffy die wissenschaftliche Überzeugung, daß die Keimentwicklung aufgrund der erblichen Anlagen organismisch-ganzheitlich15) und dynamisch verläuft, daß sie nicht durch Prinzipien erklärt werden kann, die aus der unbelebten Natur bekannt sind, sondern daß »ein spezifisches, dem Organismus immanentes Gestaltungsprinzip vorausgesetzt werden muß«.76

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Man muß dieses immanente Gestaltungsprinzip nicht zwangsläufig vitalistisch auffassen. Im Rahmen der Systemtheorie kann man durchaus die Annahme nur physikalisch-chemischer Kräfte machen, die allerdings im ganzheitlichen, neue Qualitäten hervorbringenden System der Wechselwirkungen und Rückkoppelungen des Lebendigen ganz andere, höhere, gerichtete Funktionen und Organisationsaufgaben erfüllen. Wenn »nicht nur zwischen den Erbfaktoren unter sich (Zistronen und Genen) Rückkoppelungen nach Art von Regelkreisen bestehen, sondern auch Rückwirkungen der Keimteile auf die Gene (in Form von Aktivierungen verschiedener Gengruppen) tätig sind, so erhebt sich die Frage, ob nicht die Möglichkeit zu bejahen ist, daß das finalistische — auf ein Endziel unaufhaltsam und nicht umkehrbar zustrebende — Geschehen der ontogenetischen Entwicklung aus den Eigenschaften und Leistungspotenzen eines hochkomplizierten, multistabilen, aus Untersystemen in hierarchischer Ordnung aufgebauten Regelsystems erklärbar ist; dieses komplexe System würde dann das immanente Gestaltungsprinzip des Organismus repräsentieren, und zwar auf rein physikalisch-chemischer Basis.«77

Was für die Ontogenese gelten mag, könnte auch für die Phylogenese richtig sein. Das heißt, daß systemtheoretische Überlegungen vielleicht Licht in die entscheidenden Vorgänge der Makroevolution bringen könnten. Denn trotz der »geradezu unheimlichen Erfolge« der Genetik, ist ja bisher »die Frage nach der Kausalität der Makroevolution im strengen Sinn unbeantwortet« geblieben.78 Die gerade von der Paläontologie aufgedeckten Diskontinuitäten mit langdauernden Verzögerungen (»Retentionen« im Fachjargon) und darauffolgenden großen Sprüngen in der Evolution wären im Grunde nur durch die Annahme von nicht auf physikalischem Zufall beruhenden Makromutationen zu überbrücken. Aber eine solche Annahme widerstrebt den meisten Biologen, obwohl der theoretische Physiker W. Heitier in detaillierten mathematischen Berechnungen mehrfach nachgewiesen hat, daß die

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faktisch zur Verfügung stehende Zeitspanne für die Entstehung neuer und höherentwickelter biologischer Typen auf der Grundlage des physikalischen Zufalls entschieden, ja um ganze Äonen zu kurz ist. Seine Berechnungen der Wahrscheinlichkeit einer Makromutation und der für sie benötigten Zeitspanne lassen für ihn nur einen Schluß zu: »Auf physikalischem Zufall beruht der Aufbau des DNS-Moleküls, das für einen höheren Organismus verantwortlich ist, sicher nicht.«79

Aber vielleicht kann die Systemtheorie Faktoren und Aspekte ins Spiel bringen, die denen ähnlich sehen, die wir bereits bei der ontogenetischen Entwicklung angesprochen haben. Es könnte »ein im Prinzip ähnlicher kybernetischer Mechanismus höherer komplexer Struktur« sein, der auf der Grundlage von Wechselbeziehungen mehrerer Rückkopplungssysteme »von sich aus neue Wege sucht und verwirklicht, den Organismen eine immer höhere Fähigkeit zu verleihen, sich in der Umwelt mit ihrer Art bleibend durchzusetzen und diese zu beherrschen«.80 Wenn auch diese systemtheoretische Erklärung der großen Sprünge der Makroevolution noch weitgehend hypothetisch bleibt, ist doch an den »organischen Gesetzmäßigkeiten« (L. v. Bertalanffy), die die Evolution beherrschen, nicht zu rütteln. Während des ganzen Lebens eines Einzelwesens und ebenso während der ganzen Evolution bleibt eine Strukturganzheit vom molekularen Bereich bis zu den höchsten Organsystemen durchgängig trotz ständigen Wechsels und Umbaus erhalten. Die Dignität jedes lebenden Organismus besteht darin, daß er — ob in Vergangenheit oder Gegenwart — stets als eine respektable und sinnvolle Ganzheit vor uns stand bzw. steht. Der Organismus jedes Tieres, jeder Pflanze ist ein hierarchisch geordnetes Ganzes, das stets mehr ist als die Summe seiner Teile, das durch Unter- und Überordnung von Teilsystemen als Ganzes neue Eigenschaften und Möglichkeiten funktionellen Wirkens gewinnt, die durch bloße Summierung der Teile nicht verständlich werden.

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Der Selbstwert dieser organismischen Ganzheiten von Tieren und Pflanzen besteht u. a. auch darin, daß sie selbststeuernde und  selbstregulatorische Systeme sind. Selbstregelung ist ein »Urprinzip der Lebensvorgänge«.81 Die Selbstregelung des zur Persönlichkeit herangereiften Selbst des Menschen ist ohne diese Selbstregelung in der Biosphäre überhaupt und von den untersten Organismen an gar nicht zu verstehen. Das erstaunliche Phänomen der Selbstregulation und Selbstorganisation der lebenden Natur zeigt sich am deutlichsten in zwei Arten von Aktivitäten: denen der Selbsterhaltung und denen der Selbst-Transzendenz, der Selbst-Transformation. 

Obwohl jeder Organismus, jede Art unerhört viel für die Selbsterhaltung, für die eigene Konservierung sozusagen, tut — man denke an die Anstrengungen der Heilung, der Selbsterneuerung, der Homöostase, der Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen usw. —, gibt es in der Evolution der Organismen trotzdem die noch bemerkenswertere Tendenz zum Lernen, zur Vermehrung der Information, auch der genetischen, zur Höherentwicklung, zum Über-sich-hinauswachsen, um neue Strukturen und neue Verhaltensformen zu schaffen. »Dieses schöpferische Hinausgreifen in ein Neuland, das im Laufe der Zeit zu einer geordneten Entfaltung von Komplexität führt, scheint eine fundamentale Eigenschaft des Lebens zu sein, ein grundlegendes Charakteristikum des Universums, das — zumindest für den Augenblick — keiner weiteren Erklärung zugänglich ist.«83

Ohne diese geheimnisvolle Selbst-Transzendenz der lebenden Natur wären wir nicht da, sie hat uns hervorgebracht, so daß wir gegenüber den vor- und nichtmenschlichen lebenden Daseinsformen, die uns auf dem Weg der Evolution zum Menschen begleitet bzw. uns mitbewirkt haben, schon aus diesem Grunde eine gewisse Dankbarkeit hegen müßten. »Der ursprüngliche Zusammenhang der Menschheit mit der übrigen Welt ist der naturgeschichtliche. Der Mensch ist mit Tier und Blume, Baum und Stein aus der Naturgeschichte hervorgegangen als die Besonderung Homo sapiens unter Hunderten von Säugetierarten, Tausenden von Wirbeltierarten und Millionen von Tier- und Pflanzenarten am Baum des Lebens insgesamt. Sie alle und die Elemente der Natur sind unsere natürliche Mitwelt... Denn wir sind ein Teil der Natur.«83

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Geheimnisvoll nannte ich diese Selbst-Transzendenz der lebenden Natur, weil sie — wie Konrad Lorenz mit Recht sagt — »die wunderbarste Leistung des Lebendigen« und gleichzeitig diejenige ist, »die einer Erklärung am meisten bedarf«. Diese Leistung des Lebendigen besteht darin, »daß es sich, in scheinbarem Widerspruch gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, in der Richtung vom Wahrscheinlicheren zum Unwahrscheinlicheren, vom Einfacheren zum Komplexeren, von Systemen niedrigerer zu solchen höherer Harmonie entwickelt.«84 Organismen sind also selbstorganisatorische, selbstregulatorische Systeme, die in einem Kreis positiver Rückkoppelung Energie gewinnen. Aber den Grund, warum es Evolution als einen so umfassenden Prozeß, der überall im Universum in gleicher Weise abläuft, gibt, warum dieser Prozeß das ständige Entstehen, Wachsen und Ausbreiten von Komplexität, von Mustern, von Information beinhaltet, weiß kein Wissenschaftler anzugeben. »Die Wissenschaft kann noch nicht beweisen, daß Komplexität stets wachsen muß. Sie kann auch nicht begründen, warum das so ist.« Sie kann nur als sicheres Ergebnis des Gesamts ihrer bisherigen Beobachtungen feststellen, daß der Natur dieses Verhalten zunehmender, geordneter Komplexität konstitutiv eignet. »Auch wenn man sagt, es läge in der Natur ein Systemzwang vor, der Zufallsereignisse immer nur in einer Richtung auswählte, ist das keine Erklärung, sondern nur eine Beschreibung der Beobachtung mit anderen Worten.«85

Wäre die Selbsterhaltung des Lebens höchstes Gesetz, dann wäre Anpassung um jeden Preis bitterste Notwendigkeit. Dann gäbe es keine Selbst-Transzendenz des Lebens, keine Zunahme der Komplexität, keinen Erfindungsreichtum, keine Neuschöpfungen, keine Kreativität, keine Spontaneität der Neuaufbrüche. Der Sprung des Lebens vom Einzeller zum Vielzeller, der Schritt zu immer höherer, aber auch gefährdeterer Organisation, zu immer feiner strukturierten Sozialgebilden wäre nie gewagt, nie getan worden, wenn Nützlichkeits-»motive« (der Selbsterhaltung), wenn Anpassung an die Umwelt des Lebens höchste Normen wären.

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Das risikolose, konservativ-träge Verbleiben auf primitivsten, wenig spezialisierten, weniger differenzierten und komplizierten Lebensstufen wäre zweifellos das Nützlichste im Sinne der relativ ungefährdetsten Angepaßtheit an die Umwelt gewesen.

Unter dem Eindruck des triumphalen Siegeszuges des Darwinismus hat man lange die Tatsache verkannt, daß z. B. Bakterien wegen ihrer Unkompliziertheit durchaus weit mehr Chancen haben, am Leben zu bleiben und vor dem Aussterben bewahrt zu werden, als kompliziert gebaute Organismen. »Wenn die organischen Lebewesen, anstatt im bisherigen Zustand nach Nützlichkeitszwecken konservativ zu beharren, nach Variation und Vervollkommnung drängen, so wird jeder Schritt trotz der darin steckenden Gefahren gewagt. 

Wie das Geistige plötzlich Evolutionen macht — so bei der Entstehung der Philosophie im Altertum und der damaligen explosiven Anwendung aller geistigen Möglichkeiten, von der wir heute noch zehren —, so auch das Organisch-Körperliche. Unter größten Gefahren und Opfern für die Art werden einige vorgetrieben und wird der Wurf nach höherer Organisation und Leistungsfähigkeit gewagt. Das Erfassen der günstigen Gelegenheit unter gegebenen Bedingungen ist wie bei Erfindungen das Geheimnis, welches die Neuschöpfung im Organischen umgibt.«86

Einerseits muß also das Leben als Selbsterhaltungs- und Anpassungsvorgang beschrieben werden. Hier greifen die Mechanismen der neo-darwinistischen Theorie, hier stellen Faktoren wie Mutation, Auslese, die Struktur der DNS, Fortpflanzung, Vererbung das notwendige Instrumentarium zur weitgehend einsichtigen Erklärung zur Verfügung. Aber komplementär dazu, ja in vielen Hinsichten vorrangig muß Leben als die den eben erwähnten genetischen Mechanismen zugrundeliegende »Dynamik der Evolution« beschrieben werden, »deren zentrale Charakteristik nicht Anpassung, sondern Kreativität ist. Stünde die Anpassung allein im Mittelpunkt der Evolution, dann wäre es schwer zu erklären, warum sich lebende Formen jemals über das Stadium der blaugrünen Algen hinausentwickelten, die perfekt an ihre Umwelt angepaßt, in ihrer Fortpflanzungsfähigkeit unübertroffen sind und seit Milliarden von Jahren ihre Fähigkeit zum Überleben unter Beweis gestellt haben«.87

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Im Gegensatz zu dieser Möglichkeit, daß sich Leben auf ganz primitiv-unkomplizierten Stufen für immer eingerichtet, »etabliert« hätte, steht die Tatsache, daß ein wesentlicher Aspekt der Dynamik der Selbstorganisation des Lebens sein fundamentaler Trieb zur Höherentwicklung, zur schöpferischen Entfaltung immer komplexerer Formen ist. Auf allen Ebenen der Evolution entstehen neue größere Gebilde, die ihrerseits wieder die Möglichkeit, den Drang, den Trieb der Vereinigung zu höheren, komplexeren Ganzheiten haben. Dieser Drang, dieser Trieb des Lebens nach Höherentwicklung, größerer Komplexität und Harmonie ist wissenschaftlich nicht erklärbar, weder durch die tonangebende, weil analytisch am präzisesten arbeitende neo-darwinistische Theorie noch durch irgendeine andere wissenschaftliche Erklärungshypothese. Dieser Trieb ist vielmehr die zu akzeptierende Voraussetzung, auf der jede naturwissenschaftliche Theorie dann weiter aufbauen kann. Auch andere Wissenschaftsdisziplinen sind ja nicht voraussetzungsfrei, müssen gewisse unbewiesene und unbeweisbare Axiome zum Fundament ihrer weiteren wissenschaftlichen Erkenntnisschritte machen. Die erkenntnistheoretische Ausgangsposition ist diesbezüglich also überall die gleiche.

 

Am besten wird noch die neue Systemtheorie dem Leben in seiner Komplexität gerecht, aber nur weil und soweit sie den Aufwärtsdrang des Lebens ganz generell in ihrer Rechnung voraussetzt und nicht wiederum durch die von der Systemtheorie namhaft gemachten Beziehungsgefüge, Regel- und Rückkoppelungs-systeme (weg-)erklären will. Die Dynamik der Selbst-Transzendenz und Selbst-Transformation des Lebens ist vielmehr das A und O einer echten Systemtheorie, die mit Hilfe dieses grenzüberschreitenden Dranges erst die enorme, aber stets ganzheitlich-geordnete Komplexifizierung der Beziehungen und Rückkoppelungen verständlich machen kann. Die Natur als ein aufgrund ihres Dranges zur Selbstüberschreitung sich ständig auf einem höherem Niveau selbstorganisierendes und selbstetablierendes System!88

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Diesem System der Natur kommt auf allen Stufen seiner Selbstorganisation eine gewisse Autonomie zu, für die ökologische Religiosität ein weiterer Grund, die Natur zu achten, weil unsere — ebenfalls nur relative — Autonomie bestenfalls ein höherer Grad und die Fortentwicklung der Autonomie der Natur ist. Jedes System auf allen Stufen der Evolution befindet sich zunächst und prinzipiell in einem ökologisch ausgeglichenen Zustand mit seiner Umwelt, einem Zustand dynamischen Gleichgewichts, in Homöostase, wie der Fachausdruck heißt.

Vielfache, wechselseitig abhängige Fluktuationen kennzeichnen diesen Zustand. Störungen des Systems haben zunächst zur Folge, daß seine Selbsterhaltungsenergien mobilisiert werden. Es ist dann bestrebt, durch negative Rückkopplungsmechanismen stabil zu bleiben, Abweichungen von seiner bisherigen Ausgeglichenheit zu reduzieren. Aber die andere Tendenz des Lebens neben der der Selbsterhaltung und Anpassung, nämlich die Dynamik der Selbstüberschreitung zu höheren, komplexeren Formen kann auch bewirken, daß Störungen, d.h. Abweichungen vom bisherigen Zustand der Ausgeglichenheit positiv aufgegriffen, im Innern der Organismen durch positive Rückkopplung verstärkt werden. Das geschieht nicht einmal immer im Rahmen einer Antwort, einer Reaktion auf Umweltveränderungen, sondern — auch dies ein Zeichen der Autonomie der Natur — manchmal spontan ohne alle äußeren Einflüsse. »Die Stabilität eines lebenden Systems ist also niemals absolut. Sie besteht so lange, wie die Fluktuationen unterhalb eines gewissen kritischen Umfangs bleiben, doch ist das System zu jedem Zeitpunkt bereit, sich umzuwandeln, stets zur Evolution bereit.«89

Das gilt bereits in gewisser Weise für chemische dissipative Strukturen, wie der Physiko-Chemiker Ilya Prigogine (Nobelpreis 1977) nachgewiesen hat. Nach seiner »Theorie Dissipativer Strukturen« muß das Maß an Chaos (Entropie) in jedem offenen System — sei es chemischer, biologischer, gesellschaftlicher oder ökonomischer Art — bis zu einer kritischen Grenze anwachsen, wenn ein Evolutionssprung auf ein höheres Organisationsniveau möglich werden oder tatsächlich erfolgen soll.90)

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In dieser Grenzsituation muß dann im Zeichen der Autonomie des Systems die Entscheidung, die freie Wahl für oder gegen einen neuen Weg der Entwicklung getroffen werden. »Wird ein System instabil, so gibt es stets mindestens zwei mögliche Strukturen, zu denen hin es sich entwickeln kann. Je weiter das System sich vom Gleichgewicht entfernt hat, desto mehr Optionen stehen zur Verfügung. Es ist unmöglich vorherzusagen, welche dieser Optionen schließlich gewählt wird; es besteht eine echte Freiheit der Auswahl. Wenn das System sich dem kritischen Punkt nähert, >entscheidet< es selbst, welchen Weg es einschlagen will, und diese Entscheidung wird seine Evolution bestimmen.«91 

Damit stehen wir hier vor einem Bild der Natur als Evolution, das sich wesentlich von dem unterscheidet, welches die klassische darwinistische (und auch noch weitgehend die neo-darwinistische) Theorie zeichnet. Nach dieser Theorie entspringt alles Zweckmäßige, alles Wert-, Sinn- und Gestalthafte der sich entwickelnden Natur nicht irgendwelchen inneren Systemkräften der Organismen, sondern im Grunde nur der rein passiv erlittenen Aufprägung durch äußere Faktoren. Das Leben ist dieser Theorie zufolge keine Eigenaktivität von innen heraus, keine Selbsttätigkeit aus sich heraus, sondern im Grunde bloße Reaktivität auf äußere Reize. Evolution ist stets nur Anpassung an äußere Umstände, an wechselnde Umweltbedingungen, also Übergang von einer bisherigen in eine neue Ruhelage. Der große Phänomenologe, aber auch Lebensphilosoph Max Scheler sprach daher von den »Lehnsesselkategorien des Daseins« als einem Charakteristikum des Darwinismus.92 Das ganze Evolutionsgeschehen reduzierte sich damit für diese als klassisch geltende Theorie mehr oder minder zu einem bloßen Geschobenwerden, gleichsam einem blinden Vorwärtsstolpern von einem Gleichgewicht zum anderen.93

Demgegenüber hatte auch der große Vordenker einer »évolution créatrice«, Henri Bergson, der u. a. auf Teilhard de Chardin einen starken Einfluß ausgeübt hat, geltend gemacht, daß das Leben gegen Trägheit und Zufall zu immer höheren, gewagteren, freieren Formen aufsteigt, daß es sich der absteigenden Tendenz der Materie, der Entropie, durch seine innere »ektropische« Gesetzmäßigkeit entgegenstellt und diese Tendenz überwindet.94)

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Angesichts mannigfacher systemtheoretischer Erkenntnisse und Einsichten in Struktur und Funktion des Lebendigen muß heute das Hauptdogma der klassischen Evolutionstheorie aufgegeben werden. Die Evolution ist nicht Bewegung auf einen Gleichgewichtszustand hin, ist nicht immer perfektere Anpassung der Organismen an ihre Umwelt. Jenseits der absoluten Dominanz der Gleichgewichtskategorien und -normen entfaltet sie sich in einem freien Wechselspiel von Anpassung und Schöpfung. Wohl gibt es wie in der (neo-)darwinistischen Theorie den Zufall: den Zufall planloser Mutationen und der eben erwähnten Fluktuationen als Resultat des Aktions-Reaktions-Mechanismus zwischen Organismus und innerer bzw. äußerer Umwelt. Ist jedoch der ebenfalls schon erwähnte kritische Grenzpunkt erreicht, dann kommt zwar ebenfalls wie im (Neo-)Darwinismus Notwendigkeit ins Spiel,95 aber im Unterschied zu ihm handelt es sich hier um die Notwendigkeit zur Freiheit, zur freien Wahl des weiteren Entwicklungsweges, der keineswegs im Sinne bisheriger Anpassungsnotwendigkeiten verlaufen muß. »In der Systemschau wird der Prozeß der Evolution nicht von >blindem Zufall< beherrscht, sondern stellt die Entfaltung einer Ordnung und Komplexität dar, die man als eine Art Lernprozeß mit Autonomie und Freiheit der Wahl ansehen kann.«96

Die Natur mit ihrem Drang nach Komplexität und Höherentwicklung ergreift also auf der Stufe der Biosphäre die zufällig günstigen Mutationen in eigenständiger Weise, um auf diesem neueröffneten Weg sich zu höherer Organisation und höheren Zuständen emporzuschwingen. Das Leben der Natur als Ganzes ist ein umfassend-offenes Unternehmen. Damit will ich sagen, daß alles Leben einen mehr oder weniger unbewußten Drang zur Selbst-Transzendenz, zum Mehr-Sein, Höher-Sein, Schöner-Sein usw. hat, daß es in der gesamten Biosphäre gleichsam ein »Tasten nach oben« gibt, worauf Teilhard de Chardin stets so nachdrücklich hingewiesen hat.97

J. V. Kopp hat dieses Anliegen Teilhards unübertroffen wie folgt kommentiert: »Alle Lebewesen suchen das Höchste und Letztgeplante zu finden.

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Die Biosphäre gleicht also einem Wald von tastenden Fühlern. Begegnet einer dieser Fühler einer günstigen Mutation, das heißt einer Öffnung, die Zugang zu einem neuen Abschnitt des Lebens verspricht, dann gewinnt dieser Zweig, statt sich in gleichförmigen Abwandlungen auszuleben, eine neue Beweglichkeit. Es beginnt eine neue Entwicklungslinie. Auf dem eröffneten Weg erneuert sich der Pulsschlag des Lebens. Aus dem frischen Reis sproßt ein zweites, aus ihm ein drittes und so fort, vorausgesetzt, daß die Richtung gut ist.«98

Die Evolution der Natur in ihrer Gesamtheit ist also ein gewaltiger Baum mit vielen Ästen und Zweigen, der an jedem Abzweigungspunkt freie Entscheidungen offenhält. Die Natur ist immer schöpferisch, kreativ, weder vom Zufall der Mutationen, Fluktuationen und damit wechselnder Umweltbedingungen noch von einem eindeutig festgelegten Entwicklungsplan sklavisch bestimmt und abhängig. Ihre Bestimmtheit — wenn man so will: ihre Determination — ist nur ein allgemeines, in den Einzelheiten nicht festgelegtes, vielmehr Raum für Spontaneität lassendes Entwicklungsmuster, das lediglich die universale Tendenz zur Zunahme der Komplexität, der Koordination, der wechselseitigen Interdependenz, zur stärkeren Differenzierung und Verfeinerung verschiedener Organe, Funktionen und Verhaltensweisen, zur Integration primitiverer Ganzheiten in höhere, vielschichtigere Systeme einschließt. Ansonsten ist die Evolution der Natur ein permanentes »offenes Abenteuer, das seinen eigenen Zweck fortlaufend selbst schafft«,99 während die Einzelheiten des allgemeinen, aber umfassenden Entwicklungsmusters wegen der Autonomie, die lebenden Systemen in Selbstorganisation und Evolution eignet, grundsätzlich unvorhersagbar sind.

Die klassische Evolutionstheorie (weitgehend ebenfalls noch der Neo-Darwinismus) hat auch den Auslesefaktor Umwelt zu einseitig, monokausal und mechanistisch gesehen. Man kann heute, vor allem im Rahmen systemtheoretischer Modelldarstellungen und -berechnungen, nachweisen, daß die lebenden Organismen während der gesamten Zeitspanne der Evolution und die jeweilige Umwelt stets eine übergreifende Gesamteinheit bildeten.

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Die Umwelt ist im engsten Zusammenhang mit den Organismen gleichsam selbst ein lebendes, zur Anpassung und Evolution befähigtes System. Die Entwicklung auf der Erde verlief so, daß auch das sich entfaltende Leben ganz wesentlich die Bedingungen der Umwelt veränderte. 10º Das kann man Schritt für Schritt exemplifizieren, was hier aber aus Raumgründen nicht geschehen kann. So viel aber sollte als Quintessenz festgehalten werden: Es gibt nicht das »biologische Atom« im Sinne des (Neo-)Darwinismus, nämlich die grundlegenden Bausteine oder evolutionären Überlebenseinheiten (Gattung, Untergattung, Art), die die Natur als mechanisches System aufbauen. Überlebenseinheit ist stets der »Organismus in seiner Umwelt«.101 Die Überlebenseinheit ist nie ein Organismus, eine Art, eine Gattung, also kein eigenständiges Wesen, sondern ein Organisationsmuster, das den Organismus, die Umwelt und die Wechselwirkungen zwischen ihnen umfaßt. Die Entfaltung, die geordnete Zunahme der Komplexität resultiert nicht aus der Anpassung der Organismen an eine vorgegebene Umwelt, sondern aus der Kooperation und Ko-Evolution von Organismus und Umwelt, und zwar auf allen Entwicklungsstufen des Systems bzw. Organisationsmusters.

Das hat weitreichende, auch ökologische Konsequenzen. Wenn die eigentliche Überlebenseinheit der »Organismus in seiner Umwelt« darstellt, wenn Evolution der Natur die Ko-Evolution von Organismus plus Umwelt ist, wenn also das Organisationsmuster »Organismus-Umwelt-Wechselbeziehungen« bestimmend ist, wenn der Selektionsprozeß im Grunde auf interdependenten Verhaltensweisen102 von Organismus und Umwelt beruht, dann darf sich kein Lebewesen, auch nicht der Mensch, ebensowenig wie die Menschheit, der Umwelt ökonomisch-industriell überlegen fühlen oder sie im Sinne dieser Überlegenheit behandeln. Organismen, subhumane oder menschliche, die an sich selbst und ihr eigenes, isoliertes Überleben denken, zerstören ihre Umwelt und nachfolgend sich selbst. Nur kooperative, ko-evolutive Verhaltensweisen zwischen Organismus (bzw. Mensch) und Umwelt sind ökologisch, lebenserhaltend und -fördernd.

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Hier zeigt sich auch die unökologische Konsequenz der klassischen darwinistischen Evolutionstheorie. Sie hat »diese wechselseitige Anpassung und Ko-Evolution vernachlässigt und sich auf lineare, zeitlich aufeinanderfolgende Vorgänge konzentriert, wobei dann transaktionale Phänomene außer acht gelassen wurden, die sich gegenseitig bedingen und gleichzeitig ablaufen«.103) So paradox es klingt: Die mehrdimensionale, multikausale, holistische Denkweise der sogenannten Primitiven müßte unter den veränderten Bedingungen der modernen Zivilisation (sozusagen im Rahmen einer spiralförmigen Höherentwicklung des menschheitlichen Bewußtseins) wiedereingeführt werden.

Die bisherigen Ausführungen dieses Kapitels stellten vor allem den — allerdings notgedrungen fragmentarischen — Versuch dar, die Natur in der imposanten Fülle ihrer Werte und Sinnbezüge, in ihrem Reichtum, ihrer Erhabenheit und Leuchtkraft, in ihrer überwältigenden Komplexität und Selbsttransformation ins Bewußtsein zu heben. Selbstwerte, wie das Ästhetische und das Sozial-Altruistische in der Natur, das Streben nach immer höherer Integration, nach schöpferischen Um- und Neubildungen, nach neuen Organisations-, Funktions- und Gestaltungszusammenhängen, die relative Autonomie und Wahlfreiheit des Lebendigen in seiner Entwicklung, der Drang zu immer vielschichtigeren Ganzheiten in einem einerseits immer arbeitsteiligeren, andererseits immer stärker vereinigenden Prozeß, die mathematisch-strukturellen und mathematisch-funktionellen Gesetze des Lebens, seine steigenden Empfindungs- und Bewußtseinswerte, die Selbst-Transzendenz des Lebens, in der sich Kreatives, Spielerisches und Ordnungs- bzw. Systemkategorien, Schöpfung und Anpassung, Schönheit und Zweckmäßigkeit zu ökologischer Einheit harmonisieren — all diese Selbstwerte und fundamentalen Aspekte der Natur sollten hier wenigstens ansatzweise zum Ausdruck kommen.

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Wer die Natur in dieser ungeheuren Mannigfaltigkeit ihrer Bezüge und Werte unvoreingenommen und unverklemmt auf sich wirken läßt, dem wird auf dieser Grundlage erst so richtig klar, wie sehr die darwinistische und die sich mit ihr paarende utilitaristisch-technisch-industrielle Denkweise unsere moderne Sicht der Natur maßlos verengt haben.

Man hat in diesem Zusammenhang von »einem Hineinsehen der Struktur menschlicher Nützlichkeits­zivilisation in die natürliche Lebewelt« (M. Scheler) gesprochen. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß der Sieg des Utilitarismus, d.h. die Anwendung des Nützlichkeitsgesichtspunktes, der ökonomisch-technischen Wertung als des höchsten und praktisch alleinigen Maßstabes auf das Gebiet der organischen Natur, ferner die damit verbundene Sicht der Organismen als bloßer Resultate der Anpassung an die Umwelt, als im Daseinskampf am Leben gebliebener Formen, zu einem großen Teil die Schuld daran tragen, daß die Natur vielen Menschen nichts mehr zu sagen hat.

Es kommt zu einer »dämonischen« Wechselwirkung: Der Mensch hat den Egoismus, die vermeintlich auch noch den sog. altruistischen Taten zugrundeliegende Eigennützigkeit als die eigentliche und ursprüngliche Triebfeder aller menschlichen Handlungen »entlarvt« und macht nun in der Ethik des Utilitarismus den Nutzen, die »Utilität« zum entscheidenden Prinzip und höchsten Wertmaßstab der Sittlichkeit. Unwillkürlich sieht er hernach auch die Natur durch die Brille dieses Maßstabes. 

Jetzt aber ist diese Sicht (des Menschen) gewissermaßen ein Teil, ja der bestimmende Faktor der Natur selbst geworden und bestimmt als solcher nun seinerseits das wertende Denken vieler Menschen, welche das in der Natur vermeintlich alleinherrschende Prinzip des biologischen Nutzwertes und des rücksichtslosen, kalt-nüchternen Daseinskampfes unwillkürlich als »Norm« für das menschliche Werten und Handeln betrachten. Die vom Menschen aller ästhetischen und anderen Werte bar erklärte Natur »rächt« sich an ihm, indem sie zusammen mit anderen Faktoren (Skeptizismus, Nihilismus, verstiegener Spiritualismus, dialektische Theologie u.a.) dazu beiträgt, daß das menschliche Dasein freudlos, kalt, eng und ohne jeden Schwung ist.

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Der Mensch hat der Natur vorgeschrieben, wie sie zu sein hat, und die so konstruierte, so gesehene Natur bildet nun die Norm für den Menschen, schreibt nun dem Menschen vor, wie er und die Gesellschaft zu sein haben. Ein wechselseitiger und gefährlicher Abmagerungsprozeß ohnegleichen!

Natürlich muß das eben negativ Gesagte nicht für alle Zeitgenossen gelten, und selbstverständlich muß man nicht unbedingt religiös, »natur-religiös«, »Öko-religiös« sein, um die Natur über die utilitaristische Verengung hinaus in der Vielfalt ihrer Wesensäußerungen zu sehen oder in einem heute geforderten Neuanlauf diese Verengung zu überwinden. Andererseits darf aber von vornherein und gleichsam noch auf intuitiver Grundlage behauptet werden, daß Menschen, die von einer ökologischen Religiosität durchdrungen sind, eine besondere Bereitschaft, Sensibilität und Fähigkeit zur Wahrnehmung der über das technisch Zweckmäßige und Nützliche hinausgehenden Wesenszüge der Natur aufweisen. 

Wer in der Natur kein übergeordnetes, also schon vor jeder Sinnstiftung durch den Menschen waltendes, umfassendes Sinnprinzip anerkennt, der wird bei aller Liebe zur Natur und ihren mannigfachen Werten am Ende doch immer geneigt sein, diese Werte auf den Zufall zurückzuführen, auf die Notwendigkeit der Anpassung im Daseinskampf, der in einem universalen Puzzlespiel der Zufälle nur das Angepaßteste und damit Zweckmäßigste am Leben erhält. Alle Schönheit, alles Altruistische usw. der Natur ist dann nur ein Akzidenz, eine nette Beigabe des Lebens oder allenfalls ein Resultat der Anpassung, dessen Zweckmäßigkeit heute noch nicht, aber morgen durchschaut sein wird. Woher sollten auch die sinnvoll erscheinenden Teilbezüge der Natur kommen, wenn die Natur in dieser Sicht als ganze selbst auch nur sich dem blinden Zufall verdankt oder einfach da ist und da war als ein sinnloses factum brutum, an das man nicht die Warum- oder Sinnfrage stellen kann. Letztlich werden die Selbstwerte der Natur und ihre darauf basierenden (relativ) eigenständigen Hoheitsrechte, die auch der Mensch zu wahren hat, nur dann nicht der Reduktion und der Erklärung zu Illusionen anheimfallen, wenn sie als Ausdruck und selbständige Wesensentfaltung eines absoluten Seins- und Sinnprinzips der Natur anerkannt werden.

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Auf die Dauer kann nur eine Ökologische Religion, die die Natur in ihrer breitesten Weite und ihrer größten Tiefe sieht (also als sinnvoll schaffende, hervorbringende Natur und als auf diese Weise sinnvoll hervorgebrachte, bewirkte Natur104), den Wesensansprüchen der Natur gerecht werden, die Wert- und Sinnhaftigkeit der Natur als eigenständige, nicht vom Demiurgen Mensch abhängige Größen hochhalten und behaupten. Ökologische Religion, die die Natur in ihrer ganzen Weite und Tiefe sieht und anerkennt, die die Natur nicht nur in ihrer Phänomenalität, ihrer äußeren Erscheinungsweise, sondern auch in ihrem letzten Wirkprinzip betrachtet, ist also im Grunde allein dagegen gefeit, die Natur zum universalen Würfelspiel (ohne von Anfang an festgelegte Spielregeln), zum gespenstischen Legospiel der — dann auch in der Gentechnologie beliebig manipulierbaren — kleinsten Erbeinheiten verkommen zu lassen. Die Natur ist letzlich nur dann mehr als eine zufällige Anhäufung und Kombination von Bausteinen, in die als auslesender Faktor der General-Selektion nachträglich Ordnung hereinbringt, wenn die Natur in der Sinneinheit von hervorbringendem (absoluten) Naturprinzip und hervorgebrachten Naturdingen, -werten, -gestalten gesehen und anerkannt wird. Dieses Sehen und Anerkennen ist der zentrale Lebensnerv der Ökologischen Religion, und daher ist sie für ein den Dingen auf den Grund gehendes Denken die konsequenteste ökologische Kraft, die letzte und grundlegendste Garantie für die ökologische Erhaltung der Natur. Langsam bricht sich auch in der Philosophie die Einsicht Bahn, daß auf lange Sicht nur »ein wie immer begründetes religiöses Verhältnis zur Natur« imstande sein wird, »den Reichtum des Lebendigen als einen Wert an sich zu respektieren«.105

Nur Ökologische Religion wird also letztlich der Totalität und Universalität der Natur ganz gerecht, ihrer Totalität und Universalität in der Vertikalen wie in der Horizontalen. Natur ist ihr nicht irgendein Ausschnitt der Wirklichkeit, z.B. der belebte, nicht irgendein Bereich des Seienden, den man dem Bereich des Geistes oder des Geistigen gegenüberstellen könnte. Ökologische Religion faßt Natur als die universale Größe, d.h. als die Wirklichkeit ausnahmslos alles dessen, was existiert.

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Die unendliche Einheit alles Seienden, die allein und ursprünglich schon dadurch gegeben ist, daß alles Seiende ist, daß es existiert, ist das, was Ökologische Religion als Natur kennzeichnet und verehrt. Ein erster Grund für diese Verehrung ist, daß Natur als Einheit und Allheit alles Seienden in jedem dieser Seienden teilhat am Wunder des Wirklichseins. Alles, was existiert, partizipiert am Wunder des Seins.

Aber zur Natur als Einheit und Gesamtheit alles dessen, was wirklich ist, gehört auch, ja grundlegend, das hervorbringende Prinzip, die unendliche Seinsmächtigkeit, die unendliche Potenz der Natur. Die Quelle, aus der alles Wirkliche hervorkommt, gehört ebenso zur Natur wie das Hervorgebrachte, die Dinge der Natur, die Seienden. Jedes Naturding, jedes Seiende hält sich im Sein, in der Wirklichkeit durch seine Kraft, die zugleich — tiefer gesehen — die hervorbringende Kraft der Natur selbst ist, die sich in jedem Seienden vereinzelt, ausdrückt, ausprägt. Das hervorbringende Prinzip, der Grund der Wirklichkeit, ist aber nicht etwa ein transmundaner, überweltlicher, unweltlicher, übernatürlicher (in diesem Sinne un-natürlicher) Gott; dieses Prinzip ist also nicht etwas außer oder neben der Natur, sondern diese selbst in ihrem Charakter als hervorbringende, schaffende. Die Natur trägt den Grund ihrer selbst in sich, schließt die Kraft ein, sich selbst hervorzubringen. »Das Sein der Natur hat nicht einen Grund außerhalb von ihr, sondern sie existiert aus ihrer eigenen Kraft.«106

Ökologische Religion verehrt und bewundert demnach Natur in der ganzen atemberaubenden Weite und Mannigfaltigkeit ihrer Gestalten, verehrt und bewundert aber noch mehr die Natur in der Tiefe ihres einen und grundlegenden Seins- und Schaffensprinzips. Göttlich ist daran (und deshalb verehrungswürdig) die unendliche Seinsmacht der Natur, die ungeheure Kraft, mit der sie das Seiende, und damit auch alles Werthafte, ins Sein setzt, also auch ihr Wertwille. Der Geheimnischarakter der Natur (und das Geheimnismoment darf in keiner Religion, die diesen Namen verdient, fehlen) besteht für Ökologische Religion darin, daß Natur die Einheit von Hervorbringendem und Hervorgebrachtem, von Sein und Seiendem ist.

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Sichtbar ist nur das Seiende, das Hervorgebrachte, aber es ist durch tausend Fäden mit dem geheimnisvoll-unsichtbaren Sein der Natur verbunden, es existiert nur durch die hervorbringende Kraft dieses Seins. Die Seinswertigkeit und Seinsmächtigkeit jedes einzelnen Seienden der Natur ist ein Teil der unendlichen Seinsmächtigkeit und Seinswertigkeit der Natur als des absoluten hervorbringenden Prinzips.

Damit besitzt Ökologische Religion die denk-gültige und denkkonsequente letzte Basis für die Anerkennung des Selbstwerts und der Eigenrechte jedes nichtmenschlichen Seienden der Natur. Alles einzelne Seiende der Natur hat ja teil an der hervorbringenden Kraft der Natur. Es kann von der hervorbringenden Natur nie getrennt werden. Die Macht des Seins ist in ihm, ist ihm immanent. Die hervorbringende Natur ist die immanente Ursache der Dinge der Natur. Natur ist nicht eine »neutrale Ansammlung von Objekten... sondern jedes dieser Dinge ist gedacht im Hinblick auf das Wunder seiner Existenz. In jedem äußert sich die Macht, mit der die göttliche Natur das Seiende aus dem Nichts setzt. Alles einzelne existiert nur als Modifikation dieses Ganzen, das sich selbst hervorgebracht hat«.107

Im Sinne der soeben gemachten Darlegungen steht Ökologische Religion vor uns als umfassendes Ganzes, als konsistentes System, das eine logisch begründete, gedanklich vermittelte, letzte Grundlage für die Anerkennung der Eigenwerte und -rechte der Tiere und Pflanzen als Seiender bietet. Die Natur erscheint als aufsteigendes Gebilde immer höherer, umfassenderer, vielschichtigerer Ganzheiten, was schon die verschiedenen Disziplinen der Evolutionsbiologie — ohne jede Investition eines Glaubensaktes — demonstrieren können, aber im Rahmen Ökologischer Religion wird diese Aufeinanderfolge immer höherer, hierarchischer Ganzheiten (d. h. von Ganzheiten, die niedere Ganzheiten sich integrieren und in ihren Dienst nehmen) durch eine noch grundlegendere, noch höhere und umfassendere Ganzheit abgeschlossen: durch die Ganzheit des hervorbringenden, absoluten Naturprinzips.

 

Gemäß den hier gemachten Ausführungen ist Ökologische Religion tatsächlich »Natur-Religion«, allerdings auf einer höheren Stufe der Bewußtseins­entwicklung der Menschheit. Es handelt sich bei dieser »Natur-Religion« nicht um die Rückkehr, um eine infantile Regression auf die Stufe archaischer Naturreligionen, also auch nicht um die religiöse Verehrung personifizierter Objekte und Äußerungen der Natur, um keinen Fetischismus, Dynamismus oder Mana-Glauben im vordergründigen Verständnis dieser Begriffe, die selbst in der seriösen wissenschaftlichen Literatur oft nicht auf das Dahinterliegende und wirklich Gemeinte hin untersucht werden.108)

Es handelt sich auch nicht um eine neue Natur-Romantik, um eine schwärmerische Sentimentalität für die Natur oder um eine naive Rückkehr zur idyllischen Natur, die sie ja in Wirklichkeit nie war, da ja auch das Grausame, bisweilen geradezu dämonisch Anmutende der Natur nicht geleugnet werden darf. Ökologische Religion ist »Natur-Religion« einzig und allein in dem Sinne, daß sie Natur als das Seinsganze, als die Ganzheit aller Wirklichkeit, als die Einheit von hervorbringendem absolutem Prinzip und hervorgebrachten Naturdingen oder Seienden, einschließlich des Menschen, engagiert-existentiell sieht, anerkennt, bewundert und verehrt und daraus die entsprechenden Konsequenzen zieht. 

Ökologische Religion ist »Natur-Religion« deshalb, weil sie die uns erscheinende Natur als Wertsystem und Sinngefüge erkennt, weil sie aufsteigenden Sinn in ihr verkörpert sieht, den ihr nicht erst der Mensch zulegen muß; Sinn, der jedenfalls als Fundament bereits in der Natur als solcher verankert ist,109) allerdings mit dem Menschen als Teil der Natur wächst und integral zusammen zu sehen ist. Damit ist jener Punkt unserer Überlegungen erreicht, an dem wir uns mit den Bewußtseins- und Verhaltensformen des Menschen gegenüber der Natur befassen sollten.

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