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Das religiöse Bewußtsein unseres ökologischen Auftrags gegenüber der Natur 

 

 

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Einheit mit der Natur, wie wir sie besprochen haben, bedeutet nicht Einerleiheit. Jedes Ding, jede lebende Art hat eine spezifische Funktion, eine besondere Rolle und Aufgabe im Sinnganzen der Natur, auch wenn und wo das für den Menschen nicht gleich erkennbar ist, vielleicht in manchen Fällen nie erkennbar sein wird. Selbst eine sehr spezielle Rolle, wie sie dem Menschen in den nachfolgenden Ausführungen zugeschrieben wird, schließt die grundlegende, fundamentale Einheit alles Lebenden, alles Existierenden nicht aus. 

Im Gegenteil: Wir Menschen bleiben dann im Naturganzen, im Naturzusammenhang, in der (bewußten) Einheit mit der Natur, wir entsprechen gerade dann der Natur und sind »natürlich«, wenn wir die spezifischen Aufgaben wahrnehmen und erfüllen, die sie von uns verlangt, die sie in unsere Natur eingegeben, eingeprägt hat. Denn es ist die Natur selbst, die sich mit uns forttreibt, wie es in dem oben angeführten, Goethe zugeschriebenen Fragment über die Natur heißt.139) Ihre Kräfte, Potenzen, Tendenzen sind in uns und drängen zu den uns eigenen, uns entsprechenden Rollen und Verhaltensformen. Wir sind unvermögend, wie es in diesem Fragment ebenfalls heißt, aus dem Kreislauf ihres Tanzes herauszutreten, ihren Gesetzen nicht zu gehorchen, auch wo wir ihnen widerstreben.

Wozu drängt, worauf hinaus will also die Gesamtnatur im Naturwesen Mensch? Wohin will sie sich mit uns forttreiben? 

Das können wir nur erkennen, wenn wir zuvor wissen, was wir innerhalb der Natur sind, welche Stellung wir im Ganzen der Natur einnehmen, inwiefern und wodurch wir uns von anderen Lebewesen trotz der vielen im vorigen Abschnitt charakterisierten Gemeinsamkeiten unterscheiden. Aus eventuellen Unterschieden zu anderen Lebewesen, aus einer diesbezüglich eventuell resultierenden Sonderstellung ergäbe sich dann folgerichtig unsere besondere Aufgabe, unser ökologischer Auftrag der Natur gegenüber.


Kommt dem Menschen eine Sonderstellung innerhalb der Natur zu?
Wodurch unterscheidet sich das Naturwesen Mensch von anderen Lebewesen?

 

Die Sondernatur des Menschen, im Vergleich zu allen anderen uns bekannten Lebewesen in dem sie und uns umfassenden Reich der Natur, ist besonders auffällig an der aufrechten Haltung, der Höherentwicklung des Gehirns, insbesondere des Großhirns, und an der Ausbildung der Sprache, der Schrift und der mit ihnen eng verbundenen geistigen Fähigkeiten abzulesen.

Den unerhört wichtigen, für seine Sondernatur vielleicht bedeutendsten und ausschlaggebendsten Evolutions­schritt der endgültigen Aufrichtung seiner Haltung hat der Mensch vor etwa 500.000 Jahren vollzogen. Davor aber liegen zahlreiche Etappen, in denen die Natur in vielerlei Anstrengungen und in einem etwa 12 Millionen Jahre währenden Prozeß die Aufrichtung des Ganges, der Haltung in den tierischen Vorfahren des Menschen erprobte und anstrebte. 

Das Unerhörte dieses Schrittes in der Emporentwicklung der Natur zeigt sich vielleicht auch daran, daß selbst dem Jetztmenschen die Anpassung an diesen Schritt offenbar noch nicht voll gelungen ist, sonst würde er nicht ständig an Krankheiten und Beschwerden laborieren, die eine Folge der aufrechten Haltung darstellen. Man denke diesbezüglich beispielsweise an Bandscheibenschrumpfung und -prolaps, Eingeweidesenkungen, Belastungsbeschwerden der Füße (Senk- und Spreizfuß), venöse Stauungen in den Bein- und Beckenvenen, orthostatische Regulationsstörungen bis zum Kollaps, arthrotische Vorgänge an Wirbelsäulen-, Hüft- und Beingelenken usw.

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Offenbar war es der Gesamtnatur wichtig, trotz des hohen Preises an Beschwerden und Krankheiten, den sie dafür erbringen mußte, den evolutionären Schritt zur Aufrichtung des Lebens im Menschen zu wagen und durchzusetzen.

An der aufrechten Haltung, die allein der Mensch hat und die doch einige Tierarten fast haben, auf die auch viele menschen­ähnliche oder fast-menschliche Tierarten sozusagen hingearbeitet haben, zeigt sich ganz besonders deutlich, daß sich dieses menschliche Sondermerkmal der Natur als hervorbringender Kraft verdankt, daß es dem Menschen eine herausragende Stellung in der Natur und nicht jenseits oder außerhalb von ihr zuweist. Der Mensch ist jenes Wesen der Natur, in welchem sich das Leben selbst aufrichtete, in welchem es aufstand und sich von der Erdenschwere, von der starken Verhaftetheit an die Erde relativ frei machte. 

Phylogenetisch wissen wir, daß das Leben sehr früh in den Primaten den Mechanismus ausgebildet hat, den Rumpf in aufrechter Position zu halten. Die Fähigkeit, die Arme weit vorzustrecken, und die vollständige Streckung der hinteren Extremitäten (Beine) folgten bei ihnen später. Eine ganze Menge mutativ bedingter und ermöglichter Umkonstruktionen und ihre Synorganisation waren nötig, um die aufrechte Haltung einzuführen und zu stabilisieren: Die Umgestaltung und Vorwärtsneigung des Beckens, die Ausgestaltung der Kurvaturen der Wirbelsäule, die Ausbildung des Fußgewölbes, die Umgestaltung der Beckengürtelmuskulatur, die Verschiebung der Kopf-Wirbelsäule-Verbindung usw.

Vielleicht ist ein weiteres Indiz für das unerhörte Novum des aufrechten Ganges im Reich der Natur und das keineswegs Selbstverständliche daran, daß auch ontogenetisch, d. h. von jedem ins Leben tretenden menschlichen Individuum die aufrechte Haltung jeweils neu errungen werden muß. Vor allem Adolf Portmann hat wiederholt darauf hingewiesen, daß »kein einziges unter den Säugetieren seine artgemäße Haltung so wie der Mensch erst längere Zeit nach der Geburt und durch aktives Streben«,140) Lernen und Nachahmen erreicht.

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Die Anatomie, der Körperbau mit seinen Wachstumsverschiebungen ermöglicht diese Prozedur aktiven Strebens und Lernens des aufrechten Ganges. Weist doch beim Neugeborenen die Wirbelsäule noch nicht die für die aufrechte Haltung typischen und notwendigen Kurvaturen auf; sie ist da noch fast gerade und bekommt die spezifische Krümmung einer federnden Stützstruktur des senkrecht stehenden Körpers erst spät, ebenso wie das Becken seine typische Stellung erst spät erhält. Psychisches und Körperliches arbeiten hier Hand in Hand, um die dem Menschen und seiner Sonderstellung in der Natur gemäße Haltung herauszubilden.

Man vergegenwärtige sich den gewaltigen Bogen, den die Natur von ihren ersten Lebenskeimen vor etwa 3 1/2 Milliarden Jahren bis zur aufrechten Haltung im höchsten ihrer terrestrischen Geschöpfe in der Stammesgeschichte gezeichnet hat. An der Spitze der Evolution des Lebens auf unserem Planeten steht jedenfalls vor uns eine einzigartige Gestalt, die voll aufgerichtete Körperhaltung, die den Menschen allein auszeichnet. »Das vierfüßige Tier mag schnell und leichtfüßig sein und die Erdschwere oft besser überwinden als der Mensch; dennoch liegt die Richtung seines Leibes der Erde an, und sein Gesicht erhebt sich nicht über den Horizont des Umkreises, in dem Nahrungsfund, Beute und Feind zu erwarten sind. Sicher kann der Hund den Mond anbellen, aber deshalb wird sein Horizont nicht umfassender. Sicher trägt auch die Giraffe den Hals ausnehmend hoch, aber nur um nach Laub zu suchen, von einer frei stehenden und gehenden Vertikalität, von einer grundsätzlichen <Weitschweifigkeit> des Blickes, zu dem ein seiner ganzen Natur nach hochgestellter Leib mit seinem hochgetragenen Haupt beinahe zwingt, kann nicht die Rede sein.

Auch ist es unpassend, die aufrechte Haltung der Vögel mit der des Menschen zu vergleichen. Sie ist bestenfalls eine fast aufrechte, im Grunde nur eine Zweibeinigkeit, die durch die anderweitige Verwendung der Vordergliedmaßen bedingt ist und die den Körper so in Balance hält, daß er stehen, laufen und vor allem abfliegen kann. 

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Die Bipedie des Vogels ist eine sekundäre, von der primären Funktion des Fliegens abhängig — auch wenn es <entartete> Vögel gibt, die nur mehr laufen können; aber gerade dann ist von aufrechter Haltung — siehe Strauß — kaum mehr etwas zu bemerken. Die Bipedie des Menschen ist primär, die ganze Gestalt ist daran orientiert, er ist das einzige aufrechte Wesen par excellence — alle anderen sind höchstens teils aufrecht oder fast aufrecht oder vorübergehend aufrecht, wie die Menschenaffen. Aber sie sind auch in der <Menschennähe>.«141)

 

Mit dem aufrechten Stehen und Gehen auf zwei Beinen erschließt sich dem Menschen die Natur, die Welt in einer ganz neuen Weise, tritt er ihr auch in ganz neuer Weise sehend und handelnd gegenüber. Die Arme und Hände sind jetzt frei, sie werden im wesentlichen nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht. Freiheit der Arme und Hände bedeutet ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten einer neuen Verwendung dieser Organe zu zahlreichen hochdifferenzierten Bewegungen, zum Gebrauch von Werkzeugen verschiedenster Art, zur Herstellung von Waffen (die in der Frühzeit des Menschen sicher notwendig waren, heute aber in ihrer modernsten Form als A-, B-, C-Waffen das unökologischste Instrument darstellen, das die Menschheit je hervorgebracht hat). 

Ein reichgestaltetes Instrumentarium technischer Mittel gelangte auf diese Weise buchstäblich in die Hand des Menschen. Man hat mit Recht gesagt: »Aufrichtung bedeutet Freiwerdung der Hände zum >Handeln<, da sie bislang zur Fortbewegung engagiert waren. Freiwerdung der Hände bedeutet Freiheit für neue Arten der Daseinsbewältigung: greifend, werkend, handelnd kann die Welt gestaltet werden.«142 Die zunächst wörtlich und rein sinnlich-wahrnehmbar gemeinte »Handlungsfreiheit« der Arme und Hände setzt sich dann aber auch in den geistigen Raum hinein fort. Das Greifen der Hände, das Be-greifen der Gegenstände der Außenwelt ermöglicht bzw. erleichtert der menschlichen Intelligenz das Begreifen ihrer Wesensart, die Bildung von Begriffen über diese Objekte. Untersuchen, Formen, Gestalten wird zu einer sowohl sinnlichpraktischen wie geistigen Tätigkeit. Die Hände sind Greif- und Begreif-Organ. 

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Gerade im Vergleich mit den Händen der Menschenaffen und Affen überhaupt zeigt sich die Souveränität, die überlegene Freiheit der Hand des Menschen. Die Hände der Affen sind alle in einer besonderen Art angepaßt, spezialisiert, angepaßt nämlich an die hangelnde und kletternde Lebensweise. Im Vergleich damit ist die menschliche Hand unspezialisierter, »primitiver«, z.B. nicht für das Hangeln verlängert wie beim Orang-Utan. Der Daumen ist opponierbar, so daß die Finger einschließlich des Daumens ein vielseitiges Greif-Organ bilden. Die Hand ist auf diese Weise sozusagen greif-frei. Die »Primitivität« und gewisse Unspezialisiertheit der Menschenhand bewahrt sie vor Einseitigkeit, ermöglicht ihr einen viel größeren Spielraum von Handlungsmöglichkeiten als den Affen, Handlungsmöglichkeiten auch zur Hege und Pflege und zum Schutz der Tiere und Pflanzen, wovon später noch die Rede sein wird.

 

Mit der aufrechten Haltung, dem erhobenen Haupt ist aber auch eine Erweiterung des Gesichtsfeldes, des menschlichen Sehraums gegeben. Und auch dieser sinnliche Raum, der Raum der visuellen Wahrnehmung setzt sich in die geistige Dimension fort: Ein& tiefere Erfassung und Durchdringung der Umwelt, wie sie dem Vierbeiner, auch noch dem kletternden Menschenaffen in dieser Weite und Tiefe nicht möglich ist, wird zur Weltoffenheit schlechthin. Hingewiesen sei auch noch auf das enge Verhältnis von Greifhand und zentraler Repräsentanz des Raumes als wesentliche Voraussetzung der Menschwerdung, wie das vor allem Konrad Lorenz dargelegt und begründet hat.143

Die Ausbildung der Hand, ihre Handlungsfreiheit und -Vielfalt, die Erweiterung und Vertiefung des Sehraums stehen natürlich obendrein in einander gegenseitig bedingenden Abhängigkeitsverhältnissen mit der Höherbildung des Gehirns. Die menschliche Hand wäre lahm und hilflos, klobig und ungeschickt, wenn sie keine Impulse von einem hochentwickelten, größeren und spezialisierteren Gehirn erhielte als dem der Menschenaffen. Ein hochdifferenziertes Nerven- und Hirnsystem ermöglicht auch die Fülle von Tastorganen auf der Handinnenfläche und an den Fingern. Stammesgeschichtlich haben sich gerade durch die »enge gegenseitige Rückkoppelung von Motorik und Sensorik« diejenigen Gehirnteile und -funktionen ausgebildet, »durch die sich der Mensch über die höchsten lebenden Säugetiere emporhebt«.144

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Das menschliche Gehirn ist das höchstentwickelte Organ der gesamten Biosphäre der Erde. Wenn Teilhard de Chardin vom Menschen ausgesagt hat, er zeichne sich durch eine »extreme physischchemische Komplexität« aus, so daß die Materie in ihm ihren »höchsten Grad der Synthese« erlange, ferner durch ein »Höchstmaß innerer Organisation«, durch die er »das vollkommenste und am meisten zentrierte Korpuskel« des Kosmos sei, schließlich durch ein »Höchstmaß an psychischer Entwicklung«, so daß er die »Spitze des Lebens« bilde,145 dann gilt dies alles in besonderer Weise vom menschlichen Gehirn, diesem höchsten Komplexitätstriumph der Evolution der Biosphäre.

Wie bei der Entwicklung der aufrechten Haltung, so hat auch bei der Höherentwicklung des Gehirns die Natur lange und zähe Arbeit geleistet. Die Höherentwicklung des Gehirns, seine spezifischen funktionellen Neuerwerbungen ereigneten sich in einem Prozeß von Jahrmillionen, der sich bis zum Ende der letzten Eiszeit hinzog. Seitdem, etwa seit dem Auftauchen des Cro-Magnon-Menschen, hat sich das Gehirn nach Volumen und Form (Furchung) nicht mehr meßbar verändert. Hier scheint eine morphologische Entwicklungsstufe des Gehirns, dieses führenden, dominanten Teilorgans des Zentralnervensystems erreicht zu sein, die bisher jedenfalls den geistigen und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen keine Grenzen gesetzt hat. Die funktionellen Möglichkeiten des menschlichen Gehirns aufgrund seines jetzigen morphologischen Entwicklungsniveaus scheinen noch nicht ausgeschöpft.

 

Vergleicht man nun z.B. das Verhältnis von Gehirn- und Körpergewicht bei Menschenaffen und Mensch, so ergibt sich ein ziemlicher Unterschied. Es beträgt beim männlichen Gorilla 0,57 Prozent, beim männlichen Schimpansen 0,86, beim erwachsenen Menschen 2,07, ist also beim Menschen zwei- bis dreimal höher. In bezug auf den Gehirninhalt besteht z. B. zwischen Gorilla und Homo sapiens ein Verhältnis von 500 zu 1325 cm3. Zum entwicklungsgeschichtlichen Vergleich: Der Pithecanthropus modjokertenois, 1939 auf Java gefunden (Alter 700.000 Jahre), hatte einen Gehirninhalt von 600-750 cm3.

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Diese Zahlen Verhältnisse werden hier so herausgestellt, weil die Unterschiede zwischen Menschenaffen und Mensch, in bezug auf das morphologische Substrat des Gehirns, tatsächlich und eigentlich von nur quantitativer, nicht qualitativer Art sind. Erhebliche Differenzen sind aber bezüglich der Zelldichte und der Ausbildung der Neuronenverbindungen festzustellen, so daß der sog. Grau-Zellen-Koeffizient beim Homo sapiens um etwa 50 Prozent höher liegt als beim Schimpansen. »Durch Zunahme der Faserverbindungen und damit der synaptischen Verbindungen der Neurone könnte ohne grob anatomische Veränderungen doch eine funktionelle Höherstufung erzielt werden. Hierin allein könnte der sogenannte Fortschritt der Menschheit innerhalb ihrer Kulturentwicklung in geschichtlicher Zeit (der letzten 5000 bis 10000 Jahre) eine materielle Grundlage finden. Denn es gibt sonst keinen morphologischen Befund, daß in dieser letzten Zeitspanne ein entscheidender Schritt der biologischen Evolution des Gehirns durchlaufen worden wäre.«146

Jedenfalls führt der quantitative Unterschied zwischen Anthropoiden- und Menschengehirn in morphologischer Hinsicht zu ganz erheblichen Differenzen in der funktionell-physiologischen Leistung der beiden Gehirnsysteme.

Wir haben also folgenden zunächst gegensätzlich erscheinenden Tatbestand vor uns: Einerseits gibt es »die gewaltige Kluft, die den Menschen von den höchsten Primaten, den Pongiden, trennt« (K. Lorenz147). Andererseits gibt es »im Gehirn... kein Teilorgan, das nur dem Menschen eigentümlich wäre« (D. Starck148). Der (scheinbare) Widerspruch löst sich dadurch auf, daß, wie schon gesagt, die Zelldichte und die Ausbildung der Neuronenverbindungen beim Menschen wesentlich weiter fortgeschritten sind als bei den Pongiden, daß aber darüber hinaus als »spezifisch menschlich ... die absolut große Stirnhirnentwicklung« (C. v. Krogh149) zu gelten hat. 

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Selbst gegenüber Pithecanthropus und Neandertaler liegt beim Homo sapiens ein beachtlicher Ausbau des Stirnhirns vor, besonders eine Entfaltung der orbitalen (über den Augenhöhlen gelegenen) Partien. Aber schon das Gehirn der Pithecanthropus-Stufe und des Neandertalers zeigt im Vergleich zum Affengehirn eine überaus deutliche Verbreiterung der Scheitel-Schläfen-Region. Zusammenfassend wäre demnach zu sagen: »Die Großhirnrinde des Menschen leistet also funktionell bedeutend mehr als diejenige von Affen, nicht nur, weil sie große Bezirke enthält, die der Rinde des Affen völlig fehlen, sondern auch deshalb, weil diese Felder erheblich reicher funktionell aufgegliedert sind als irgendwelche am Affenhirn abgrenzbaren Felder.«150 Hier, mit dieser hohen Cerebralisation des Menschen ist erst die materielle, genauer physiologische Grundlage für sein begriffliches Denken gegeben, durch das er sich endgültig vom Tier absetzt und Sprache und Tradition als eine neue, spezifisch menschliche Art der »Vererbung« schafft, die die Kultur ermöglicht.

Gerade in bezug auf die Entwicklung des Gehirns erweist sich der Mensch somit zugleich als Teil der Natur wie auch als Privilegierter der Natur: »Versucht man einmal, die... Verhältnisse als Ganzes zu betrachten, wobei selbstverständlich weder das gleichsinnige noch das unterschiedliche Verhalten bei Hominiden und höheren Primaten außer acht gelassen werden darf, so ist das wesentliche Kennzeichen ein mehr oder weniger gradueller Übergang, der sich von den niederen bis zu den höchsten Primaten erstreckt und den Menschen eindeutig einschließt. Wenn andererseits der Mensch eine stärkere Differenzierung des Gehirnes und damit einen deutlichen Cerebralisationsunterschied erkennen läßt, so kommt hierin die besondere Spezifität der Hominiden zum Ausdruck.«151

Kommen wir nun noch zu einem weiteren Sondermerkmal des Menschen in der Natur, zu seiner Sprache und überhaupt seinen mit der Sprache meist eng verknüpften geistigen Fähigkeiten. Die diesbezügliche Grenze zwischen Mensch und Tier verläuft nicht unbedingt so, daß man sagen müßte: »Kein Tier hat Sprache — der Mensch hat Sprache.« Vielmehr hat sich die Natur auch in den

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nichtmenschlichen Lebewesen eine ganze Menge von Kommunikationsformen geschaffen. Alle diese »Sprachen«, wenn wir sie so benennen wollen, sind aber keine Wortsprache im eigentlichen Sinn. Diese besitzt unter den Lebensformen auf unserer Erde nur der Mensch. Nur er hat sich in der Sprache eine Kommunikationsform, ein Mittel geschaffen, »durch welches zum Zwecke der gegenseitigen Verständigung, des geordneten Denkens, des sinnvollen Gestaltens der Wahrnehmungen, der Selbstbesinnung und des Ausdrucks des inneren Lebens — mit Hilfe einer Anzahl artikulierter und in verschiedenen Sinnverbindungen auftretender symbolischer Zeichen« (gegliederter Laut- und Zeichengebilde) — »Forderungen und Wünsche zum Ausdruck gebracht, Tatbestände der inneren und äußeren Wahrnehmung angezeigt, Denkinhalte formuliert und Fragen zur Veranlassung von Mitteilungen und der Selbstkontrolle gestellt werden«.152

 

Tiere sind zweifellos nicht einfach als sprachlos zu bezeichnen. Die Natur hat sie bzw. manche von ihnen mit einer Laut- und Gebärdensprache ausgestattet, weil diese eine Hilfe für ihre »Orientierung im Dasein«153 darstellt. Es besteht ja auch zumindest eine äußere Ähnlichkeit im Lautmaterial, das heißt zwischen den Lauterscheinungen bei Tier und Mensch. Die Säugetiere haben einen Stimmapparat, der dem des Menschen nicht unähnlich ist. Allerdings zeigt ein Vergleich sofort den viel größeren Stimmumfang des Menschen, dessen Sprechen zwei, dessen Kunstgesang bis 3V2 Oktaven umfaßt. In bezug auf den Stimmumfang kommt unter den Tieren der Gibbon mit einer Oktave dem Menschen noch relativ am nächsten. Was den Lautschatz betrifft, so kommt diesbezüglich der Schimpanse wegen des Reichtums und der Differenziertheit der ihm zur Verfügung stehenden Laute dem Menschen näher als alle anderen Tiere. Nicht bloß im Lautschatz des Schimpansen, auch in den Lauten anderer Säugetiere finden sich Vokale, die den menschlichen Vokalen hinsichtlich des Schwingungsaufbaus oft sehr ähnlich sind. Selbst Konsonanten (B, F, G, K, M, S, T, W) kommen vor, wenn auch signifikant seltener als beim Menschen. Bei Affen, besonders deutlich beim Schimpansen,

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werden die Laute von lebhaften Ausdrucksbewegungen des Gesichts, oft des ganzen Körpers begleitet, so daß die sog. Affensprache als Verbindung von Gebärden- und Lautsprache zu bezeichnen ist. Entsprechende Vergleichsuntersuchungen, z. B. die von N. Kohts,154 ergaben, daß die bei einem einjährigen Schimpansenkind ermittelten 23 verschiedenen Laute als Ausdrucksmöglichkeiten schon bei 7 Monate alten Menschenkindern vorhanden sind. Offensichtlich wäre der periphere Stimmapparat der höchsten Säugetiere motorisch und innervatorisch ausreichend befähigt, die verschiedenen Sprachlaute des Menschen hervorzubringen.

 

Woran hapert's also? Worin liegt der berühmte Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier auf dem Gebiet der Sprache? Zunächst ist zu sagen, daß selbst die Ähnlichkeit in dem Tieren und Menschen verfügbaren Lautmaterial nur eine recht oberflächliche ist. Nehmen wir einmal an, es gäbe eine autochthone Sprache der Gibbons, der Schimpansen, der Hunde, Katzen usw., so müßte doch von all diesen Laut-»Sprachen« der Tiere gesagt werden: Ihrer äußeren Erscheinung wie ihrer inneren Struktur nach zeigen die Lautäußerungen der Tiere keine einzige der Besonderheiten, die der menschlichen Sprache eigen sind. Die Tierlaute besitzen keinen phonematischen Charakter. Sie besitzen keine solchen strukturierten Lautelemente wie die Phoneme der menschlichen Sprache, aus denen ihr Lautmaterial gleichsam aufgebaut wäre, daher lassen sie sich auch in kein Lautsystem einordnen. Vom Gibbon hat man treffend gesagt, daß er zwar im Oktavenumfang singe, aber nicht in Lauten spreche, die zu Worten zusammengesetzt sind. Die Einzelgebilde der Tier-»Sprache« fügen sich »nicht zu einer Verbindung zusammen..., die ihrerseits etwas anderes ausdrücken würde als die Einzelgebilde selbst. Daß sie nicht die geringste Spur einer Sonderung in Redeteile, geschweige denn eines grammatischen Baues zeigen, bedarf keiner Erwähnung.«155

Zwar sind die Lautformen der Tiere offenbar keineswegs immer nur Begleiterscheinungen bestimmter Stimmungen und Befindlichkeiten, die also bei Angst, Freude, Wut oder anderen Spannungsentladungen auftreten.

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In manchen Fällen sind diese Lautformen schon das Mittel der Verständigung. Sie werden mit der Absicht verwendet, sich über einfache Sachverhalte zu verständigen. Sie enthalten also, entgegen dem Urteil mancher Sprachforscher, durchaus auch Objektives, haben eine Darstellungsfunktion, zeichnen oder bezeichnen etwas Gegenständliches. Einfache Situations- und Gegenstandsbezeichnungen liegen durchaus im Funktionsbereich der Tierlaute. Doch ist damit auch schon die Grenze dessen, was sie zu leisten vermögen, angedeutet. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt nicht unbedingt in der Absicht, sich zu verständigen. »Sondern das völlig Neue der menschlichen Sprache gegenüber der tierischen liegt im reichen Inhalt der Verständigung, indem die Laute nicht nur als Ausdruck von Gefühlen oder zur einfachen Situations- und Gegenstandsbezeichnung verwendet, sondern zur Übermittlung höherer, komplexer und völlig abstrakter Begriffe verwendet werden. Laute und Worte werden damit überwiegend zu Symbolen von Begriffen in Kurzform. «156 So ist das (menschliche) Wort in einem viel höheren, präziseren und differenzierteren Sinn als der tierische Laut Träger einer Bedeutung geworden, wobei noch hinzuzufügen ist, daß bei den Tierlauten die eindeutige Verbindung zwischen Lautausdruck und Bedeutung gar nicht gegeben ist. Ein und derselbe Laut kann verschiedene Bedürfnisse signalisieren, aber umgekehrt können auch verschiedene Laute auf dasselbe Bedürfnis bezogen werden. Noch nie ist es gelungen, Lautäußerungen von Affen, Vögeln, Hunden usw. mit bestimmten Begriffen in Verbindung zu bringen,157 es sei denn, man bezeichnet ihr in den verschiedenen Lautformen sich ausdrückendes Wahrnehmen und Erkennen bereits als eine Begriffsform.

Auch wenn wir also der Natur, wie sie sich in den höheren Tierarten zum Ausdruck bringt, ein gar nicht so bescheidenes Repertoire an lautlichen Kommunikationsformen zubilligen müssen (Lock-, Warn-, Zu- und Anrufe158), so haben doch diese tierischen Ruflaute weder die phonologische Struktur noch die morphologisch-grammatikalische Form echter Sprachgebilde.

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Es sind wortlose Rufe, eine Kommunikation ohne Worte. Soweit zwischen diesen wortlosen Kommunikations­mitteln und den Lautworten sinnfällige Übereinstimmungen bestehen, beziehen sie sich auf »das bloße Lautphänomen, nicht aber auf die Lautgestalt und den differenzierten intentionalen Inhalt des Lautbildes«.159

Wort- und Begriffssprache sind also das, was dem Tier fehlt. Wenn wir den oben gemachten Vergleich zwischen Schimpansen und Menschenkind weiter fortsetzen, so stellt sich heraus, daß das letztere im achten Lebensmonat menschliche Worte nachzuahmen versucht und mit etwa 15 Monaten Worte gebraucht, um Gegenstände zu benennen. »Der Schimpanse dagegen verfällt nie auf die geringste Nachahmung irgendeines Lautes, der in der Umgebung regelmäßig wiederkehrt.«160 Er verwendet auch keine Worte als Zeichen in freier, von einer bestimmten Situation losgelöster Verfügung. Offenbar sind nur dem Menschen, aufgrund der höheren Großhirnentwicklung, jene Assoziationen möglich, die für die Formung höherer Begriffe und für die Umsetzung dieser Begriffe in die Lautfolgen von Worten und Sätzen nötig sind. Offenbar kann dagegen das Großhirn selbst der höchsten Säugetiere »die Verknüpfungen der Erregungselemente (Teilmuster) zu ganzen Folgen von Erregungsmustern auf der sensorischen und motorischen Seite noch nicht bewältigen... Die symbolhafte Zuordnung von Sachverhalt und Lautfolge als Darstellung und Mitteilung... stellt nicht nur eine graduelle, sondern eine wesenhafte Grenze gegenüber der tierischen Lautgebung dar.«161

Übrigens besteht diese Grenze auch zwischen den Sprachen der sog. Primitiven und der tierischen Lautgebung. Die ersteren sind nämlich von der Sprache des modernen Zivilisationsmenschen gar nicht so himmelweit entfernt. Es war vor allem der Ethnologe Levi-Strauss, der aufgrund linguistisch-ethnologischer Strukturanalysen beweisen konnte, daß das »wilde, komplex begriffliche Denken« der Primitiven ebenso strenge und beachtenswerte Strukturen und Denkmuster wie das »gezähmte« Denken der großen Kulturvölker aufweist.162

Über die Art und den Ort, wie und wo das Vermögen zur Wort- und Begriffssprache in der Hominidenreihe phylogenetisch aufgetaucht ist, gibt es nur verschiedene Hypothesen von größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit. Größere Übereinstimmung herrscht nur bezüglich der Annahme, daß die drei Leistungen der Sprache (1. die Kundgabe oder Äußerung von Gemütsbewegungen, 2. die Auslösung von Reaktionen beim Hörer, 3. die Mitteilung) aufeinanderfolgende biologische Stufen der Sprache darstellen, somit die drittgenannte Funktion als biologisch jüngste anzusehen ist, die in der Tierwelt keine Präzedenz hat. 

Die Mitteilung, zumindest im Sinne symbolhafter Zuordnung von Sachverhalt und Lautfolge, stellt die »unübersteigbare Trennungswand«163 zwischen Mensch und Tier dar. Die sog. mitteilenden Rufe des Tieres (Lock- und Warnrufe, Zu- und Anrufe) sind in Wirklichkeit nur auslösende Funktionen im Rahmen der zweiten der drei eben erwähnten Leistungsgruppen der Sprache. Übereinstimmung herrscht noch darüber, daß sich die enge Verknüpfung zwischen den beiden Sondermerkmalen des Menschen, der aufrechten Haltung und der Wortsprache, auch daran zeigt, daß phylogenetisch der Mund für das Sprechen erst frei werden konnte, als er nicht mehr zu greifen und zu kämpfen brauchte. 

Die Aufgaben des Greifens und des Kampfes erfüllt ja bei den Menschenaffen der Mund immer noch. Beim Menschen haben dagegen Arm und Hand diese Aufgaben übernommen, was ebenfalls nur durch die aufrechte Haltung ermöglicht wurde, weil damit die Beine und Füße das alleinige Instrument der Fortbewegung wurden, die Hände und Arme also für andere Aufgaben, vor allem das Greifen und »Begreifen«, frei wurden. 

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