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I.  Ökologische Elemente und Lebensregeln bei den Naturvölkern 

 

Ein Streifzug durch die bizarre Welt der vorgeschichtlichen und der Naturreligionen

 

 

2. Mensch und Natur in der Sicht der Naturvölker

 

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Viel mehr, weil historisch feststellbar oder an unsere Gegenwart heranreichend bzw. noch direkt an den Rändern unserer Zivilisation auftretend, läßt sich über die Verhaltensweisen der Naturvölker, somit auch über die Arten ihres Verhältnisses zur Natur aussagen. Schon der Begriff »Naturvölker« könnte etwas über ihre Nähe zur Natur ausdrücken, doch darf er nicht dazu verführen, zu viel in ihn hineinzulegen.

»Die Bezeichnung <Naturvölker> ist als eine Äußerung unseres Heimwehs nach einem Leben in Ruhe und Unschuld in Gebrauch gekommen, nach einer Einheit des Lebens, die bei uns verlorengegangen ist. Zwar ist diese Ruhe und Unschuld den Naturvölkern fremd wie uns, die Einheit des Lebens ist wohl bei ihnen aber stärker als bei uns intakt.« 7)

Auf diese größere Einheit des Lebens bei den Naturvölkern ist hier allein der Akzent zu legen, denn auch zu den »Kulturvölkern« darf man sie nicht in einen schroffen Gegensatz stellen. Es ist nicht wahr, daß sie keine Kultur haben; nicht einmal unbedingt, daß ihre Kultur eine niedrigere sei. Wer dies behauptet, setzt Kultur bewußt oder unbewußt mit der Perfektion der bei uns herrschenden Technik gleich. Technik ist aber höchstens eine bestimmte Richtung, in die sich eine bestimmte Kultur entwickeln oder auch verirren kann, wobei noch hinzugefügt werden müßte, daß kein Stamm, kein Volk, keine Kultur ohne Technik ist, mag diese Technik in unseren Augen auch primitiv erscheinen. 

Die wesentlichen Kriterien einer Kultur aber, nämlich die Betätigung logischer Denkfunktionen, die Entwicklung ethischer Vorstellungen, Regeln und Normen, sowie die Sprache, mit der eigentlich erst eine Kultur beginnt, fehlen bei keinem Naturvolk.

»Es dürfen den Vertretern einer frühen Kultur weder ein entwickelter Intellekt noch ein echtes sittliches Bewußtsein zugeschrieben werden, da beide das Endprodukt einer sehr langen Entwicklung sind. Dieses Bild vom frühen Menschen ist ausschließlich eine Konstruktion, die von jedem ernsthaften Bericht über die Naturvölker nicht nur nicht bestätigt, sondern eindeutig widerlegt wird.«8)

Man kann die Kultur der Naturvölker auch nicht einfach als primitiver als unsere bezeichnen, obwohl dies schon dadurch nahegelegt wird, daß manche Ethnologen und Religionswissenschaftler immer noch lieber mit dem Ausdruck »Primitive« als mit dem Begriff »Naturvölker« operieren. Zwei Mißverständnisse enthält der Begriff »Primitive«. Das erste ist ein evolutionistisches. Vor allem im 19. Jahrhundert glaubte man, die noch lebenden oder gerade ausgestorbenen Naturvölker spiegelten die »primitive«, die ursprüngliche Form der Religion der Menschheit in Reinkultur oder zumindest in ziemlicher Annäherung wider.9 Das hat sich als Irrtum erwiesen. Die Naturvölker des Altertums wie des Mittelalters und der Neuzeit haben eine lange Geschichte hinter sich. Die Begegnung mit ihnen bedeutet keine Annäherung an die Uranfänge der Menschheit.

Das zweite Mißverständnis setzt »primitiv« mit »einfältig«, »einfach«, ja »simpel« gleich. Auch das ist ein Irrtum. Oft ist die Kultur von Naturvölkern nicht einfacher, sondern komplizierter als unsere. Das gilt häufig für ihre wirtschaftlichen und ihre religiösen Beziehungen und Vorschriften, die Grammatik ihrer Sprache und ihre Verwandtschaftssysteme. Auch der Ausdruck »weniger differenzierte Kulturen« trifft daher für manche Naturvölker nicht zu.

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Im Grunde bleibt vor dem Forum einer kritischen Betrachtung als Differenz zu den europäischen und asiatischen Kulturvölkern nur das bei fast allen Naturvölkern zu konstatierende Fehlen der Schrift übrig. Denn bei den letzteren handelt es sich, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen10, um schriftlose Völker. Der Ausdruck »schriftlos« darf aber wiederum nicht zur evolutionistischen Annahme verführen, es handele sich dabei um ein »vor-schrift-liches« Stadium, dem dann das vermeintlich höhere schriftliche Stadium der Menschheit folge. »Schriftlos« bedeutet hier einzig und allein »nicht-schriftlich«. »Evolutionistische Gedanken sind hier nicht im Spiel, der Ausdruck ist rein deskriptiv gebraucht, so etwa, wie man von Menschen mit und ohne Auto sprechen kann.«11)

Geben wir eben nur noch in etwa das Verbreitungsgebiet der Naturvölker an, ehe wir uns ihren Vorstellungen vom Mensch-Natur-Zusammenhang zuwenden. Bei den Naturvölkern handelt es sich um die Völker des Pazifikgebiets (Australien, Neu-Guinea, Polynesien, Mikronesien, Melanesien), Indonesien (Ausnahme: Java, Bali), um einige Völker in den weniger zugänglichen Regionen Indiens und Südostasiens, sodann um die Völker Nordasiens, Afrikas südlich der Sahara und eine Reihe schriftloser Völker in Amerika. Lebenssicht und -weise dieser vielen Völker sind keineswegs einheitlich. In Wirklichkeit weisen die Naturvölker »eine solche Mannigfaltigkeit auf, daß es sogar sehr schwierig ist, einige für sie alle gemeinsame Züge zu finden.«12)

Die Ganzheit und Einheit des Lebens, die oben schon angedeutet wurde, ist aber sicherlich ein gemeinsamer Grundzug im Denken und Fühlen der Naturvölker. So gut wie alle haben »die religiöse Vorstellung von der mystischen Zusammengehörigkeit von Mensch, Tier und Natur.«13) Mensch, Tier, Pflanze und der ganze Kosmos stehen zueinander in der Beziehung der Wesensverwandtschaft, oft sogar einer keine Unterschiede zwischen ihnen machen-

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den Gleichheit. Jeder Mensch innerhalb der Naturvölker »lebt aus einer Wesenseinheit heraus, die ihn hält und trägt«, und dazu gehört auch die Umwelt, der Raum der Natur: Er gehört

»mit in den Einheitsbezug hinein, der für das Leben konstitutiv ist. Der Raum ist ein Teil des Wesens, und man kann ihn nicht beliebig wechseln, ohne am Leben Schaden zu nehmen.« Diese »Welt ist in ihrer Erstreckung total. Wesensverbunden gehört ihr ihre Sonne zu, und jedes Tier kann mit hineingehören wie der Baum. Diese Welt ist unendlich viel tiefer als unsere Welt... das Menschsein zieht hier keine Grenze zum Tier... Der Raum selbst, also die Welt, und Tier, Baum, Sonne und Mensch in ihr, stehen in einer tiefen Verwobenheit zueinander... Die Beziehung zu den Tieren wie zur Welt überhaupt hat immer die direkte Bezogenheit auf das wahre Leben des Menschen...«14)

Von unserer teilenden und zerteilenden, spezialisierenden und analysierenden, die entstandenen Teile und Teilchen dann aber höchstens »synthetisch« zusammenstückelnden Naturforschung unterscheidet sich das »Weltbild« der Naturvölker durch seinen organischen, beseelten, partizipatorischen und ganzheitlichen Charakter. Alles in ihm ist belebt, organisch, alles ist auf die eine oder andere Weise kraftvoll wirkend und hat »Seele«. Menschen, Tiere, Pflanzen, aber auch Steine haben eine Seele. Der Unterschied zwischen beseelt und seelenlos, lebend und leblos, organisch und anorganisch, geistig oder immateriell und materiell besteht nicht. Der Leib der Menschen, aber auch der der Tiere und Pflanzen ist ja — um es biblisch zu sagen - mit »Lebensodem« erfüllt, daher eine »lebendige Seele« (1. Mose, 2,7). Jeder die Ganzheit aufhebende Dualismus ist hier ausgeschlossen. Auch für die alten Israeliten mit ihrem dem der Naturvölker durchaus analogen Weltbild, war selbst der Geist Gottes ein feiner Stoff (hebr. ruah — Wind, Luft, Geist), allerdings stärker, mächtiger als das »Fleisch« des Menschen; alles Leben war zugleich etwas Stoffliches; »das Leben, die Seele, ist im Blut«, war ihre Überzeugung.

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Es gibt auch einige moderne Naturforscher, die von dem psychischen Innencharakter aller Wirklichkeit sprechen und die sog. tote Materie als protopsychisch bezeichnen bzw. ihre »asymptotische Annäherung« an das Lebendige hervorheben. Insofern gibt es auch heute Versuche, wieder zu einer ganzheitlicheren Sicht der Natur und der Wirklichkeit zu gelangen. Man denke da z.B. an Teilhard de Chardin, den Zoologen Bernhard Rensch oder neuerdings an F. Capra, an die panpsychistische Sicht des Naturphilosophen Alois Wenzel u. ä. Aber von diesen mühsamen Versuchen, von den so unterschiedlichen Dimensionen und Ergebnissen der einzelnen Teildisziplinen der Naturwissenschaften her wieder zu einer Ganzheit zurückzufinden, unterscheiden sich die Naturvölker durch die durchgehende Entschiedenheit und Natürlichkeit ihres ganzheitlichen Weltbildes.

»Das, was wir das >Ganze< und den >Teil< nennen, sind für den Primitiven zwei Seiten ein und derselben Realität. Er unterscheidet z. B. nicht zwischen dem Volk oder Stamm und dem Einzelnen. Im Einzelnen erscheint gerade das Ganze, in den Nachkommen lebt der Stammvater.«15)

Daher gibt es für ihn auch die sog. »mystische Partizipation«:

»Alle Teile des Ganzen mehmen teil< an dem vollen Wesen des Ganzen, oder richtiger: Diese Wesensfülle ist im gleichen Maße sowohl im Ganzen als auch in allen seinen Teilen gegenwärtig. Eines Mannes >Leben<, >Seele< oder >Macht< ist zu gleicher Zeit gegenwärtig in ihm selbst und in allem, was zu ihm gehört«. Das »>Ganze< ist das Eigentliche, was sich mehr oder weniger vollständig in den Einzelnen offenbart... Die Aufgabe des Einzelnen ist, dieses Wesen (des Ganzen, meine Hinzufügung), den... Typus zu verwirklichen. Wir können uns eine Vorstellung davon machen... wenn wir an Piatons Lehre von der >Idee< als dem Wirklichen denken eine Lehre, deren Zusammenhang mit >primitivem< oder <mythischem> Weltbild klar genug ist.«16)

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Natürlich soll mit diesen Ausführungen zur Mentalität der Naturvölker nicht die Höherwertigkeit ihrer Natur- und Weltsicht als ganze im Vergleich zu unserem Weltbild dargetan werden. Beide, die »primitive« wie die moderne Sicht, haben Vor- und Nachteile. Aber ein unleugbarer Vorteil der Wirklichkeitsauffassung der Naturvölker ist wohl doch das ihr zugrunde liegende tiefe Bewußtsein und Überzeugtsein von der organischen Ganzheit Mensch-Natur. 

Das Auseinanderreißen dieses Zusammenhangs - vor allem im Prozeß der Säkularisierung des neuzeitlichen Menschen - ist eine der Hauptursachen der heutigen Radikalkrise von Mensch, Umwelt und Gesellschaft. Die Verödung der menschlichen Psyche entspricht genau der Verödung der Landschaft, der Natur, weil beide, Psyche und Natur, nur noch allein auf sich gestellte, isolierte Derivate geworden sind, deren einstmals organische Aufeinanderbezogenheit sich in ein feindliches Nebeneinander (von seiten des Menschen: der Ausbeutung, Verwüstung, Vergiftung, Mißhandlung, Ausrottung usw.) verwandelt hat. Die oft so sinnlos erscheinenden menschlichen Aggressionen, wie z.B. auch die Verwüstungsorgien jugendlicher Fußballfans, sind z. T. ebenfalls ursächlich auf diese verlorengegangene Einheit zurückzuführen.

Die enge Verwobenheit von Mensch und Natur in Leben und Wirklichkeitsauffassung des »Primitiven« darf uns aber nicht zu der Meinung verleiten, er sei nicht fähig, ursächliche Verhältnisse, Kausalzusammenhänge zwischen den einzelnen Realitäten seiner Welt herzustellen. Gerade weil das Dasein für ihn nicht zusammenhanglos ist, ist es auch nicht chaotisch.

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»Im Gegenteil, es bestehen ein mystisch realer Zusammenhang und eine Wechselwirkung zwischen allem, was es gibt. Auch der Primitive kann seine Beobachtungen machen und über Ursache und Wirkung Schlüsse ziehen. Aber da er es nicht vom physisch-chemischen Blickpunkt aus sieht, kann z.B. ein regelmäßiges zeitliches Zusammentreffen sich ihm als ein ursächlicher Zusammenhang darstellen. Sein <Kausalitätsgesetz> wirkt sozusagen in beide Richtungen; was für uns Wirkung ist, kann für ihn auch Ursache werden. Vor dem Hintergrund seiner Beobachtungen und Erfahrungen kann er ebenso streng >logisch< denken wie wir; aber seine Deutung der Ausgangspunkte und Zusammenhänge ist eine andere als die unsere. Wir scheiden zwischen >Technik< und >Magie<; aber das tut er nicht, denn er kennt andere Zusammenhänge als die physisch-chemischen (mechanischen); er weiß z. B., daß das >Seelische< und >Geistige< Realitäten sind. Wir werfen ihm vor, er denke und handele >magisch<; aber das ist für ihn ebenso >natürlich< und ebenso >technisch<, wie es die Technik und die >Naturgesetze< für uns sind. Seine anscheinend sinnlosen und >irrationalen< magischen Handlungen sind für ihn logische und rationale Konsequenzen seiner Auffassung von der Wirklichkeit und vom Wesen und Zusammenhang der Dinge.« 17)

Besonders »magisch« erscheint uns, daß der »Primitive« in den Erscheinungen der Natur wie in denen der Seele Mächte am Werk sieht. Alles im Dasein in ihm und um ihn herum sei von geheimnisvollen Kräften durchdrungen und bestimmt, die sich in den Dingen und durch sie äußern. Das Mana der Melanesier, das Orenda, Wakanda oder Manitu der Indianer, das Hamingja der Nordgermanen, das Hasina auf Madagaskar usw. meinen alle ziemlich gleichbedeutend eine Kraft, richtiger: viele Arten von Kräften und Fähigkeiten, die in allem, was existiert, stecken. Das ist nicht so abstrus, wie es auf den ersten Blick erscheint. Wir haben uns angewöhnt, über vieles hinwegzusehen. Sonst könnten auch wir erleben, wie Bedürfnisse, Triebe - eben Kräfte - in uns aufsteigen und wieder verschwinden, wie durch Reize aus der Außenwelt Impulse in uns entstehen, wie durch ethische Handlungen ein Zugewinn an geistiger Energie fühlbar wird. 

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Ebenso haben wir uns daran gewöhnt, in der Außenwelt nur physisch-chemische Kausalitäten am Werk zu sehen. Das ist jedoch gar nicht so unendlich weit entfernt von den (ursächlichen) »Kräften« der Naturvölker, nur daß diese solche Kräfte ganzheitlicher fassen, indem für sie auch das Geistige und Seelische Kausalitäten sind. Das Gesamt wirkender Einflüsse ist für sie viel umfassender. Die Natur ist für sie ein Gewebeteppich, ein Netz miteinander verwobener Kräfte ebenso wie die Seele auch, und ebenfalls sind noch einmal die Kräfte der Seele und der Natur vielfältig und innigst miteinander vernetzt. 

Heute, da sich der »Stoff«, die harte »Masse« der mechanistischen Physik in Energie, in Wellenbewegung und Kraftfeld aufgelöst hat, da die moderne Physik von elektromagnetischen Wirkungen, Gravitationsfeldern u.ä. spricht, kann uns eigentlich der Glaube der Naturvölker an die Natur als ein Gesamt wirkender Kräfte, an ihr »Fluidum« gar nicht mehr so fremdartig anmuten. Vielleicht sind auch die manchmal benutzten Redewendungen der Ökologen: »Die Natur wird kräftig zurückschlagen«; »Sie wird sich für die ihr angetanen Schädigungen rächen« u. ä. mehr als nur anthropomorphe Rhetorik, vielleicht sind sie ein leises Erahnen der Wirklichkeits­überzeugung des »Primitiven«, daß die Natur so eingerichtet, so strukturiert ist, daß alles auf alles - die Natur auf uns und wir auf sie - gleichermaßen einwirkt. Wenn er darüber hinaus die wirkende Wirklichkeit der Natur um sich herum in Analogie zu sich selbst sieht und überzeugt ist, daß sie nach denselben Gesetzen »funktioniert«, die für ihn selbst und seine Psyche gelten, so liegt er damit möglicherweise gar nicht so falsch. Die Subjekt-Objekt-Bedingtheit beim Erkennen der subatomaren Partikel und ihrer Verhältnisse in der Mikrophysik könnte in eine ähnliche Richtung weisen.

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Die enge Verwobenheit, der organisch-ganzheitliche Zusammenhang von Mensch und Natur bei den Naturvölkern ist Wesensbestandteil ihres Weltbildes, das für sie ebenso natürlich ist wie für uns das unsrige. Dasselbe gilt von den Wirkkräften, die ihre ganze Welt durchwalten, vom Mana, Orenda, Wakanda usw. Trotzdem ist dieses Weltbild nicht einfach neutral-indifferent, es ist zugleich immer mehr oder weniger religiös. Die wirkenden Wirklichkeiten sind bekannt, oder man hat sich an sie gewöhnt, was ja immer mit einem gewissen Bekanntheitsgrad einhergeht. Aber sie bleiben zugleich auch geheimnisvolle Kräfte, sie erstrecken sich in eine tiefere und weitere Dimension hinein. Oft sind sie aber auch ganz und gar rätselhaft. Es ist nicht nur so, daß die Naturvölker viele Zusammenhänge in der Natur noch nicht erforscht haben. 

Auch das in ihrem Sinn Erkannte, aber Mächtige, bleibt als Macht ein Geheimnis. Auch darüber können wir zunächst einmal überlegen lächeln. Aber wir vergessen dabei, daß wir uns durch die Selbstbeschränkung der modernen Naturwissenschaft auf die Erforschung der Ebene der immanenten, innerweltlichen Kausalitäten lediglich daran gewöhnt haben, die geheimnisvolle Frage nach dem »Warum« des Ganzen und nach den letzten Ursachen der immanenten Bewirkungskette auszuklammern. Wir werden im II. Teil dieses Buches noch einige Natur­wissenschaftler und Philosophen zu Wort kommen lassen, die diese Ausklammerung aufdecken. Auch wir können ja das Kausalgesetz als so und nicht anders funktionierende Wirkmacht nicht einfach erklären. Selbst ein so überzeugter Neodarwinist wie Bernhard Rensch bekennt:

»Das Kausalgesetz selbst können wir niemals >erklären<, ebensowenig wie die Tatsache, daß die Welt so beschaffen ist, daß sie eine Differenzierung kausaler Spezialgesetzlichkeiten gestattet, zu denen auf einer besonderen Stufe auch die biologischen Gesetzlichkeiten rechnen.«18)

Hier, im Erhabenheits- und Geheimnischarakter der ihm begegnenden Mächte und Kräfte ist also der Punkt, wo die organisch-ganzheitliche Natur sieht des sog. Primitiven in das Religiöse einmündet. Das heißt,

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»daß die Begegnung mit dem Mächtigen dadurch zur Religion wird, daß sie ein Verhältnis schafft, bei dem die >Frömmigkeit< das Ganze durchstrahlt. Die Frömmigkeit ist nicht nur eine gefühlsmäßige Begleiterscheinung; sie ist eine aktive seelische Gesamthaltung gegenüber etwas Erhabenem, das man als wirklich erlebt, von dem man abhängig ist und zu dem man in wechselseitigem Verhältnis steht. Der Ausdruck der alten Römer hierfür war pietas, Verpflichtung, Ehrfurcht und Liebe all den realen Umständen und Verhältnissen gegenüber, in die der Mensch gesetzt war.«19)

Aus all dem darf man nicht folgern, daß das Religiöse aus magisch empfundener Macht entsprungen sei.

»Numinose Macht ableiten wollen aus magischer Macht, heißt die Dinge auf den Kopf stellen, denn ehe der Magier sie sich aneignen kann und ehe er mit ihr manipulieren kann, ward sie längst in Pflanze und Tier, in Naturvorgang und Naturding, im Grauen des Totengebeins und auch unabhängig von dem allen muminos apperzipierU20)

Aber das Heilige ist immer zugleich

»mächtig, voller Macht. In der Tat tritt eben das Mächtige - man möchte sagen eo ipso - als >heilig< in das Bewußtsein. Das Mächtige ist fremdartig, andersartig, gefährlich und lebensbefördernd, furchterregend-abstoßend und zugleich anziehend, fern und nahe, geheimnisvoll. Indem es als solches erlebt wird, wird es auch als >heilig< erlebt und empfunden. Darum stehen die Begriffe >Mana< und >heilig< einander so nahe, daß dasselbe Wort beide Momente enthält... Die >Macht< und die >Mächte< haben überall in der Religionsgeschichte eine Tendenz, als >heilig< und >abgesondert< aufgefaßt zu werden, >umzäumt< mit allen möglichen Vorsichtsmaßregeln und >Tabus<.«21)

Sie sind »von sakraler Würde erfüllt«, sie werden »mit Scheu betrachtet«.22)

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Uns geht es hier um die numinose, pietätvolle, ehrfürchtige, usw., Haltung zur Natur als erhaben empfundener Macht bei den Naturvölkern. Die Haltung zu gesellschaftlicher Macht und die Anpassung an religiös sanktionierte gesellschaftliche Verhältnisse würden eine gesonderte Untersuchung notwendig machen. Schlüsse und Bewertungen bezüglich des Verhältnisses von Religion und (Natur-) Macht dürfen also nicht einfach auf den eben erwähnten gesellschaftlichen Machtbereich übertragen werden.

Nach Ausräumung dieses hier möglichen Mißverständnisses können wir dann aber ohne weiteres sagen, daß viele Naturvölker in jener Naturmacht, die das Leben schafft, die Fruchtbarkeit und Gesundheit fördert, etwas Numinoses, Heiliges, Religiöses sahen. Das persische spenta z.B. heißt zugleich »heilig«, aber auch »segenbringend«, »gut und nützlich«. Auch im Wort »heilig« selbst schwingt ja der Begriff des Heilen und Heilens mit.23) 

In der Tat tritt dem Angehörigen der Naturvölker die heilige Macht besonders oft in der Gestalt tierischen oder pflanzlichen Lebens entgegen. Was den Sammler-, Jäger-, Viehzüchterkulturen und später auch den ackerbauenden Naturvölkern

»Nahrung und damit Leben gab, bot ihnen zugleich das Bild des Heiligen. Es stand zu ihnen auch in anderer Beziehung als zum heutigen Menschen, da für den Primitiven offenbar nicht unsere moderne Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Individuum und Umwelt, Mensch und Nicht-Mensch gilt.«24) 

Die Naturvölker fühlen noch, daß »der Strom machtvoll eigentlichen Lebens durch Menschen und Tiere, durch die organische und anorganische Welt geht«, daß der Mensch mit der Welt und »ihrer immanenten Machtfülle verbunden«25) ist.

 

 

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