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104  Oktoberrevolution   

 

 

  1. Gewalt in Dresden   

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Anfang Oktober war die Atmosphäre derart gespannt, daß jederzeit mit einer gewalttätigen Eskalation gerech­net werden mußte, obwohl gerade in den Friedensgebeten und von Oppositionellen zur Gewalt­losigkeit aufge­rufen wurde. Bereits im September hatten die Verhaftungen in Leipzig eine Solidarisierungs­welle ausgelöst, und in Berlin wurde ab dem 2. Oktober eine dauerhafte Mahnwache für die Leipziger Inhaftierten und verhaftete Oppositionelle aus Berlin und Potsdam in der Gethsemanekirche eingerichtet, wo jeden Tag Informations­andachten stattfanden. 

Eine Fastenaktion, wie sie auch in Leipzig-Gohlis in der Versöhnungs­gemeinde seit dem 1. Oktober stattfand, verstand sich als »konkretes Angebot zum gewaltfreien Widerstand« (Mahnwache 1989). Die Mahnwachengruppe mit ihrer Sprecherin Angela Kunze suchte bewußt die Öffentlichkeit, sie erstellte Kurzinformationen, die in der Stadt an Haltestellen und vor Geschäften verteilt wurden; so entwickelte sich die Gethsemanekirche in diesen Tagen zum Kommunikationszentrum der Opposition.

Aber auch immer mehr Menschen, die sich bislang politischer Aktivitäten enthalten hatten, strömten in die Kirche, brachten Informationen und leisteten materielle Unterstützung für die Mahnwache. Jeden Abend war die Kirche gefüllt. Am 4. Oktober veröffentlichte die Berliner Initiativgruppe des NF einen Aufruf, in dem es hieß: »Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung! Laßt Euch nicht provozieren!« (Neues Forum 1989), da befürchtet wurde, daß die SED nur noch den Anlaß suchte, um eingreifen zu können.

Die Situation verschärfte sich schlagartig, als das Politbüro am 3. Oktober die Grenzen zur CSSR schließen ließ. In Dresden gab es umgehend heftige Proteste, unter den Demonstranten waren auch Personen, die an den Grenzen zurückgeschickt worden waren. In Eisenach und Ruhla flammten Streiks auf. An den beiden folgenden Tagen kam es in Dresden zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als die Züge mit Botschaftsflüchtlingen, die aus Prag in die Bundesrepublik ausreisen konnten, Dresden erreichten. 

Um den Dresdener Hauptbahnhof lieferten sich 10.000 Demonstranten mit den Sicherheitskräften schwere Straßenkämpfe, und es entwickelten sich Revolutions­szenarien mit Pflastersteinen, brennenden Autos und brutalen Polizeieinsätzen. Am 6. und 7. Oktober spielten bei den Demonstrationen die Antragsteller kaum noch eine Rolle. Die Demonstranten verzichteten bald auf eine gewalttätige Gegenwehr, ihr Protest bekam mit Kerzen und Liedern einen friedlichen Charakter. Trotzdem schlug die Polizei noch zu.

Die SED rüstete ideologisch und militärisch auf, um den Aufstand niederzuschlagen. Kampfgruppen­einheiten wurden durch das Land gefahren, und die Gerüchte über die Vorbereitung der Kampfgruppen und der Polizei zum Einsatz gegen Demonstranten rissen nicht ab. Nun wurde dem Volk der DDR im Namen der »Arbeiterklasse« massiv gedroht. Am 6. Oktober stellte die SED allen Oppositionellen das letzte, berühmt gewordene Ultimatum. 

In der Leipziger Volkszeitung erklärte der Kampfgruppen­kommandeur Günter Lutz im Namen der Hundertschaft »Hans Geiffert«, »Bürger christlichen Glaubens« sollten »ihre Andacht und Gebete« in der Nikolaikirche »verrichten«. Gegen die »gewissenlosen Elemente«, die kirchliche Veranstaltungen mißbrauchten, müßten aber die »Werte und Errungenschaften des Sozialismus« geschützt werden: »Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!«. (Lutz 1989)

 

  2.  »Tag der Republik« — 40 Jahre DDR   

 

Honecker wollte den 7. Oktober, den 40. Jahrestag der DDR, mit einer groß inszenierten Zurschaustellung der Erfolge des SED-Staates und seiner Stabilität feiern lassen. Die Lageberichte, die dem Politbüro auf den Tisch kamen, spiegelten jedoch die sich immer weiter zuspitzende Krisensituation wider. Die SED wußte, daß die Opposition und das Volk nicht mehr stillhalten würden, sie wollte einen Aufstand notfalls mit Gewalt niederschlagen. Honeckers Befehle zielten darauf, die Mittel so zu wählen, daß der Schein gewahrt blieb. 


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Um so makabrer erschienen die inszenierten Volksfeste zum DDR-Jubiläum, ein Fackelzug der FDJ am 6. Oktober und die Militärparade am 7. Oktober in Berlin. Auch in vielen anderen Städten gelang es der SED an diesem Tag noch, die alte Fassade des Volksjubels aufzubauen.

 

Niemand außer den Verantwortlichen in den Komandozentralen wußte, wie weit die SED-Führung gehen würde. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Leipzig und in Dresden ließen Schlimmes befürchten. Trotz dieser Ängste kam es in mehreren Städten am 7. Oktober zu großen Demonstrationen. In Leipzig gab es erstmals eine Demonstration ohne vorhergehendes Friedensgebet, die gewaltsam niedergeknüppelt wurde. Eine der größten Demonstrationen fand in Plauen im Vogtland statt.  

In Magdeburg, Karl-Marx-Stadt, Potsdam und auch in der thüringischen Kleinstadt Arnstadt wurden Demonstrationen von den Sicherheitsorganen gewaltsam aufgelöst und zahlreiche Beteiligte verhaftet. Im Berliner Stadtzentrum entwickelte sich eine große Demonstration auf dem Alexanderplatz, deren Initialzündung Proteste gegen die Wahlfälschungen waren. Gleichzeitig entstand vor dem Palast der Republik, wo der offizielle Festakt zum 40. Jahrestag stattfand, ein weiterer Demonstrationskern. Hier ertönten die legendären Rufe »Gorbi, Gorbi, hilf uns!« 

Über die westlichen Medien wurde Gorbatschows legendärer Satz: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!« verbreitet. Dies geriet der SED-Führung zur besonderen Niederlage, da der gerade noch einmal beschworene Bruderbund als Machtgarantie offensichtlich gelockert war. Manche der hohen Staatsgäste wie der rumänische Staatschef Ceaucescu mußten in der Nacht mit ihren Staatskarossen komplizierte Wege fahren, da die Protokollstrecken von Demonstranten verstopft waren. Die Demonstranten zogen zur Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg, obwohl die Sicherheitskräfte auf mögliche Demonstrationen vorbereitet waren, gelang es ihnen nicht, deren Entfaltung zu verhindern. Auch am 8. Oktober kam es wieder vorwiegend um die Gethsemanekirche zu größeren Demonstrationen. An beiden Tagen gingen die Sicherheitsorgane mit massiver Gewaltanwendung gegen die friedlichen Demonstranten vor. Mehr als 1000 Menschen wurden festgenommen. 

In den Zuführungspunkten kam es zu regelrechten Gewaltexzessen und Folterungen von Jugendlichen, Frauen und Männern. Unter den Mißhandelten befanden sich auch Unbeteiligte, die von der Polizei willkürlich aufgegriffen oder aus den Wohnungen geholt worden waren. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte sollte abschrecken, zugleich entlud sich in der Gewalt auch die Spannung der seit Tagen übernächtigten Polizisten, die zur Niederschlagung einer Konterrevolution aufgeputscht worden waren. Das Regime war durch die Demonstrationen besonders empfindlich getroffen, da nun auch in Berlin die Fiktion der Verbundenheit von Volk und Partei zerbrochen war. Die Ereignisse wurden in den DDR-Medien als vereinzelte Aktionen von Störern bezeichnet. Da unter den Mißhandelten aber auch prominente Berliner waren, wurde dadurch nur ein Mobilisierungseffekt des Protestpotentials ausgelöst.

Die im Stadtjugendpfarramt angesiedelte Kontakttelefongruppe, Mitglieder der Mahnwache und der Gethsemane­gemeinde, sammelte schon in der Nacht des 7. Oktober die ersten Mitteilungen über die Übergriffe und registrierte Namen von Verhafteten. Hunderte kamen in die Kirche, um etwas vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In den nächsten Tagen wurden erste Gedächtnisprotokolle in Flugschriften veröffentlicht. Schon die ersten Zeugenberichte lösten Erschütterung aus. Die Kontakttelefongruppe mit Marianne Birthler und Werner Fischer begann nun, systematisch die Gedächtnisprotokolle zu sammeln und bereiteten ihre Veröffentlichung vor.


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Die staatlichen Feierlichkeiten am 7. Oktober wurden zum Fiasko. Erstmals hatten sich zahlreiche, bislang loyale Kirchenleute verweigert. Und selbst in kleinen Orten brachen die Rituale zusammen. In Markgrafpieske bei Fürstenwalde sprach der Sozialethiker der ThSA Matthias Schubert auf Einladung des erschrockenen Bürgermeisters zu den Menschen: »Dieser Jahrestag bietet (...) wenig Anlaß zum Feiern, wohl aber sehr viel Anlaß zum Nachdenken, zum Umdenken, zum Umgestalten.« (Schubert, 1989)

 

   3. Die Entscheidung in Leipzig und die Folgen   

 

Am Abend des 8. Oktober trat in Dresden nach fünf Tagen harter Auseinandersetzungen eine erste Entspannung ein. Noch am Vormittag hatte es Prügelszenen und Verhaftungen gegeben, später waren einige tausend Demonstranten in der Prager Straße von den Sicherheitsorganen eingekesselt worden. Im Kessel befanden sich die Kapläne Frank Richter und Andreas Leuschner, denen es gelang, Kontakte zu den Befehlsträgern aufzunehmen und Gespräche zu führen. 

Aus den auf der Straße Sitzenden wurden 20 Bürger ausgewählt, die unter Beifall der Menge beauftragt wurden, am nächsten Tag mit den Staatsorganen u.a. über Reisefreiheit, Pressefreiheit, Zulassung des Neuen Forums, freie Wahlen sowie die Freilassung der Gefangenen zu verhandeln. Die Gespräche sollten in der Kreuzkirche stattfinden. Superintendent Ziemer wurde zum wichtigsten Vermittler des in Dresden mit der Gruppe der Zwanzig eingeleiteten Dialogs, er wurde damals in der Stadt als der »Engel von Dresden« bezeichnet. Dieser erste Erfolg kirchlicher Vermittlung, der zu einem Dialogangebot der SED führte, sprach sich zwar rasch im Lande herum, doch noch war nicht absehbar, ob dies nur eine regionale Lösung war, da es in anderen Städten noch immer zu gewalttätigen Übergriffen kam.

So erreichte die atmosphärische Spannung in der DDR am 9. Oktober ihren Höhepunkt. Die Entschlossen­heit der SED zuzuschlagen war offensichtlich — und bei den Initiatoren der Opposition in Berlin liefen aus dem ganzen Land Meldungen über eine bevorstehende militärische Auseinandersetzung zusammen. Am Nachmittag des 8. Oktober strahlte der Deutschlandfunk ein Interview mit einem Aufruf von Christa Wolf aus, zu dem sie den Journalisten Rein in Westberlin aufgesucht hatte. Sie wollte vermitteln, zur Gewaltlosigkeit und Geduld mahnen, forderte den Dialog und einen Runden Tisch, und vor allem wollte sie der SED-Spitze ausreden, »sie müßten Angst haben« (Rein 1989). Die Aufmerksamkeit richtete sich besonders auf Leipzig, wo am Abend das Friedensgebet stattfinden würde.

In Leipzig hatte die SED in großer Zahl Polizei, NVA, MfS und Kampfgruppen zusammengezogen, die Bürger wurden aufgefordert, die Innenstadt zu meiden, Gerüchte über bereitgestellte Krankenhausbetten und Blutkonserven gingen um. Tagsüber waren intensive Verhandlungen zwischen den Staatsorganen und Bischof Hempel geführt worden, in denen die staatliche Seite verlangte, daß der Bischof auf die Teilnehmer der Friedensgebete Einfluß nehmen sollte, auf eine Demonstration zu verzichten. Hempel, von dem die Gesprächsinitiative ausgegangen war, machte darauf aufmerksam, daß die Bewegung auf der Straße sich schon verselbständigt hätte und die Friedensgebete ohnehin zur Beruhigung beitrügen.


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Die Friedensgebete fanden am 9. Oktober in vier Leipziger Kirchen statt. Wieder hatte die SED Hunderte zuverlässige Genossen in die Kirchen geschickt, so daß viele Demonstrationsbereite keinen Platz mehr fanden und sich die SED-Genossen die Appelle anhören mußten, auf Demonstrationen an diesem Tag zu verzichten. Der Einfluß Hempels war allerdings minimal, da sich schon während der Friedensgebete die Demonstrationen entfalteten. Wichtig war, daß er einen gewaltlosen Dialog ankündigen konnte, der beide Seiten verpflichtete.

Etwa 70.000 Menschen aus Leipzig und vielen anderen Städten waren gekommen und formierten sich zu einem Marsch über den Leipziger Innenstadtring. Die Demonstranten rechneten damit, daß geschossen werden könnte, doch erstmals war der Veränderungswille größer als die Angst. Die anspruchsvollen Losungen »Wir sind das Volk!« und »Keine Gewalt!« mahnten, die Voraussetzungen für eine friedliche Auseinandersetzung zu schaffen. In dieser gespannten Situation der Konfrontation von Demonstranten und Sicherheitsorganen wurde ein Verfahren für den gewaltlosen Ablauf gefunden, wie es sich schon im September angebahnt hatte. 

Die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel hatten mit dem Dirigenten Kurt Masur, dem Theologen Peter Zimmermann und dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange am Nachmittag eine Erklärung verfaßt, die schon in den Friedensgebeten und ab 18 Uhr über Lautsprecher in der Stadt verbreitet wurde. Die »gemeinsame Sorge« hätte sie »zusammengeführt«, um eine »Lösung« zu suchen, da alle den »freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land« brauchten. Die Autoren versprachen, sich »dafür einzusetzen, daß dieser Dialog« auch »mit unserer Regierung geführt wird.« 

Um des friedlichen Dialoges willen riefen die Sechs von Leipzig, wie die Gruppe später genannt wurde, die Bürger zur »Besonnenheit« (Bohse 1989, 82) auf. Dieser Aufruf brachte noch während der Demonstration Entspannung. Er zielte zwar auf die Friedfertigkeit der Demonstranten und rannte damit offene Tore ein, bot aber zugleich der SED-Seite Gewaltlosigkeit als Verfahren an. Die staatliche Seite gestand ihrerseits den friedlichen Dialog zu, dessen politischer Charakter durch die Einbeziehung der Parteiebene gesichert erschien. Die Sechs von Leipzig repräsentierten gleichsam auch die sich gegenüberstehenden Seiten. So kam es nicht zum Einsatz der bewaffneten Kräfte, die sich für viele sichtbar zurückzogen.

Die Nachricht, daß die Demonstration in Leipzig friedlich verlaufen war, löste in der gesamten DDR eine kaum zu beschreibende Freude aus. So jubelte die Menge in der Gethsemanekirche in Berlin noch am selben Abend über die Nachricht. Dennoch handelte es sich zunächst um eine Leipziger Lösung. Dort berichteten sogar die SED-Zeitungen erleichtert, wenn sie auch den friedlichen Verlauf mit der Besonnenheit der Sicherheitskräfte erklärten. In den nächsten Tagen kam es in anderen Orten noch zu Gewaltanwendungen, und Drohungen blieben an der Tagesordnung. Am folgenden Tag verbreitete die Berliner Zeitung die absurde Behauptung über die Berliner Demonstranten, daß »Keine Gewalt-Schreihälse nach Pflastersteinen gegriffen« hätten und drohte: »Wir werden niemandem gestatten, an den Grundpfeilern unseres Staates zu rütteln.« (Berliner Zeitung vom 10. Oktober 1989) 


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Diese Legende, die von anderen Zeitungen kolportiert wurde, glaubte ohnehin niemand mehr, aber das Drohpotential war noch ernst zu nehmen. In Halle und anderen Städten waren noch prügelnde Kampfgruppen im Einsatz. Da es äußerst wichtig war, sofort eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, tauchten im ganzen Land spontan Gegendarstellungen auf. In Berlin gab die Kirchgemeinde Fennpfuhl ein Flugblatt heraus, in dem sie gegen solche Falschmeldungen protestierte, eine Untersuchungskommission und die Stellungnahme des Ministers für Staatssicherheit forderte.

 

Am 11. Oktober kam erste Bewegung in das Politbüro. Es veröffentlichte eine Erklärung, die nun erstmals die Flucht von DDR-Bürgern bedauerte, aber zugleich die Schuld vollkommen dem »Imperialismus der BRD« zuwies. Außerdem drohte die Erklärung massiv der Opposition und ihren »konterrevolutionären Attacken« sowie den Demonstranten, die »verantwortungslos Ruhe und Ordnung« störten. Aber es fand sich auch der Satz: »Wir stellen uns der Diskussion.« (Politbüro 1989,1). Solche Äußerungen konnten die Opposition nicht mehr einschüchtern, sie zeigten die Uneinsichtigkeit der Parteiführung, aber auch deren defensive Position. Auch die SED-Ankündigung, fast alle inhaftierten Demonstranten zu entlassen, brachte keine Entlastung. Sprunghaft stieg die Zahl der Demonstrationen und der Protestierenden. Am 16. Oktober war die Leipziger Demonstration mit 150.000 Menschen noch machtvoller. Diesmal war Krenz vorher nach Leipzig gereist und hatte angeordnet, daß keine Gewalt angewendet werden sollte. Damit war die SED erstmals in ein friedliches Verfahren zur Konfliktbewältigung gezwungen worden.

Am 18. Oktober erfolgte der Rücktritt Honeckers. Mit der Nominierung von Krenz als Nachfolger wollte das Politbüro wieder handlungsfähig werden. Doch Opposition und Demonstranten sahen die ersten Ergebnisse des Aufbegehrens. Der lange geforderte Dialog konnte beginnen, auch wenn alle entschlossen waren, ihn nicht mehr unter den Bedingungen der SED zu führen. Es hatte die Stunde der Opposition geschlagen. Überall war sie federführend an der Gestaltung der Friedensgebete und der Entfaltung der Demonstrationen beteiligt oder hatte diesen eine Stimme verliehen. Meinungsfreiheit war faktisch durchgesetzt und die SED zum Dialog gezwungen. Noch war freilich offen, wie sich dieser Dialog gestalten würde.

 

   4. Politischer Aufbruch im Lande  

 

4.1 Friedensgebete und Demonstrationen

Auch in der DDR-Provinz hatte der Aufbruch bereits Ende September begonnen. Zunächst waren es noch kleinere Versammlungen, die oft in Verbindung mit den Friedensgebeten die ersten Aufrufe der neuen Bewegungen multiplizierten. In dieser Zeit gab es fast noch keine Strukturen der neuen Gruppen im Lande. Alle Akteure waren vorwiegend damit beschäftigt, die Friedensgebete und Demonstrationen zu organisieren. Anfang Oktober folgten den Friedensgebeten die ersten großen Demonstrationen, deren Träger fast durchweg oppositionelle Gruppen und vielerorts beherzte kirchliche Mitarbeiter waren. Die beharrliche Arbeit der kirchlichen Gruppen in den achtziger Jahren trug nun ihre Früchte. Zahllose Erklärungen, die Veränderungen forderten und zur Gewaltlosigkeit aufriefen, gingen aus den Friedengebeten hervor, obwohl in zahlreichen Orten dennoch Gewalt angewendet wurde.


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Da staatliche Drohungen an der Tagesordnung waren und immer wieder Demonstrationsverbote ausgesprochen wurden, kam es für die Organisatoren überall darauf an, den freigesetzten Zorn des Volkes zu kanalisieren und den Sicherheitskräften keinen Anlaß zum Eingreifen zu geben. Die wichtigste Losung wurde überall der Ruf »Keine Gewalt!«.

Typisch für diese Vorgänge war die Entfaltung der Revolution in Merseburg. Im September fanden erste Versammlungen statt, auf denen der Aufruf des NF besprochen wurde. Der Pfarrer Lothar König und die Junge Gemeinde veranstalteten gleichzeitig Gottesdienste. Am 2. Oktober wurde König aus einer Versammlung heraus von Sicherheitskräften abgeführt und vernommen. Am folgenden Montag wurden die Gottesdienste in Friedensgebete umbenannt. Danach wurden die etwa 80 Teilnehmer von der Polizei namentlich erfaßt. Am 13. Oktober wurden Kampfgruppen in Merseburg mobilisiert, da aber einige Merseburger den Befehl verweigerten, wurden andere Einheiten herangeführt. Am 16. Oktober kam eine erste Entwarnung, und die Kampfgruppen zogen ab. Es folgten Verhandlungen und Dialoge mit den Staatsorganen und schließlich größere Demonstrationen. König und die Jugendgruppe wurden auf kirchlichen Beschluß noch am 26. Oktober von der Vorbereitung des Friedensgebets ausgeschlossen. Die Gruppe entwickelte sich in der Folgezeit zum wichtigsten Träger der Wende.

In der Kleinstadt Eberswalde wurde der kirchliche Gesprächskreis Junger Erwachsener um den Diakon Martin Appel, der jahrelang die Friedensdekade organisierte hatte, im Oktober 1989 zum Kern der Friedensgebete in der Stadtkirche. Daraus entwickelte sich die Trägergruppe des NF und der SDP. Ab Ende Oktober organisierte diese die ersten Demonstrationen auf dem Marktplatz. In anderen Städten, wie in Weimar, war es seit Anfang Oktober zu großen Veranstaltungen in den Kirchen gekommen, die von Tausenden besucht wurden. In Weimar fand die erste große Demonstration erst am 24. Oktober statt. Einige Frauen, die der kirchlichen Opposition nahestanden, hatten am Tag vorher kurzerhand die Demonstration telefonisch angekündigt, und die Botschaft nahm ihren Lauf. Die Demonstration wurde spontan von Vertretern des NF ausgestaltet und von Teilen der Bevölkerung auch ganz praktisch z. B. mit Lautsprecheranlagen unterstützt.

In der zweiten Hälfte des Oktobers, als mit dem friedlichen Verlauf in Leipzig der Bann gebrochen war, schwoll die Welle der Demonstrationen weiter an, die der Revolution dann bis Dezember immer neuen Schwung gab. Die Demonstranten unterstützten seit Oktober fast durchweg die Oppositionsgruppen, wendeten sich gegen die lokalen Behörden, Bürgermeister, Parteichefs und gegen das MfS. Neben Reise- und Meinungsfreiheit wurden vor allem freie Wahlen gefordert. Wichtigste Zielscheibe der Demonstranten wurde Krenz. Aber es gab auch kleinere Städte, die die Revolution geradezu verschliefen, weil es zu keiner Initialzündung kam oder kirchliche IM wochenlang die Abhaltung von Friedensgebeten verhinderten. 


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4.2  Initiativen und Arbeitsgruppen

Schon seit Ende September wurden die Behörden im ganzen Land auf allen Ebenen mit offenen Briefen zur Lage, unzähligen Eingaben zu Einzelproblemen, Resolutionen zur Fluchtwelle, Solidaritätsadressen zugunsten der oppositionellen Bewegungen und Aufforderungen zum Dialog überschüttet, die zumeist gleichzeitig als Flugblätter dienten. Sie gingen überwiegend von langjährigen Oppositionellen, kritischen Kirchenleuten und zunehmend von bisher ruhig gebliebenen Bürgern aus. Bis in den November hinein waren solche Resolutionen inhaltlich an der Reform der DDR bzw. der »Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft« (Kranz 1989) orientiert, wie es in einem Weimarer Text hieß. Zu dessen Erstunterzeichnern gehörte der aktive Oppositionelle und ehemalige Bautzenhäftling Erich Kranz, dem am Sozialismus nichts lag.

Seit Mitte September hatten sich die ersten größeren Arbeitsgruppen des NF gebildet, die zu inhaltlichen Themen arbeiteten. Oft fanden sie allerdings zu keiner konsistenten Organisationsform. Eine intensive inhaltliche Arbeit ging von den zahllosen neuen Gruppen und Initiativen aus, von denen sich manche durch eine Umstrukturierung älterer Oppositionsgruppen formiert hatten. Viele dieser Gruppen wurden in ihren Städten zu Trägern der Revolution. Häufig gaben sie sich auch neue Namen wie in Mühlhausen die Gruppen Veränderung jetzt und Initiativgruppe Gesundheitswesen. In Erfurt gründete sich aus einer schon länger arbeitenden kirchlichen Frauengruppe am 2. Oktober die Bürgerinitiative Frauen für Veränderung, die sich auch auf Weimar ausdehnte. Diese Gruppe erarbeitete ein Grundsatzpapier, in dem neben bürgerrechtlichen, ökologischen und bildungspolitischen Forderungen besonders frauenrechtliche Fragen angeschnitten wurden. In allen diesen Gruppen wurden die vielgepriesenen Errungenschaften der DDR einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen, lange aufgestaute, regionale und örtliche Probleme wie der Verfall der Bausubstanz sowie gesundheitspolitische oder ökologische Notstände thematisiert.

 

4.3  Organisation der oppositionellen Bewegungen  

4.3.1 Arbeitsbedingungen

Die politische Arbeit der Opposition lag bis in den November hinein fast vollständig auf den Schultern der Oppositionellen der letzten Jahre, die auch bei vollständiger Mobilisierung nur einige tausend Menschen zählten. Seit September hatte sich eine größere Anzahl von bisher weniger in Erscheinung getretenen Kirchenleuten, Künstlern, Personen aus dem medizinischen Bereich, Handwerkern und einige aus anderen Milieus der Opposition angeschlossen. Das NF konnte auf Grund seiner programmatischen Offenheit die größten Mobilisierungseffekte erzielen. Unter den Neuen befanden sich außerdem manche IM, wie sich später herausstellte.

In der »werktätigen Intelligenz«, wie die Akademiker in der DDR bezeichnet wurden, gab es allerdings nur ein geringes Oppositionspotential. Die wenigen Unangepaßten hatten sich allerdings frühzeitig engagiert. Als der Klub der jungen Intelligenz am 10. Oktober im Berliner Planetarium erstmals eine große Veranstaltung durchführte, auf der sich Oppositionelle vorstellten, erklärte sich nur einer mit einem kirchlichen Hintergrund zur Mitarbeit bereit. Für die anderen war die Angelegenheit zwar interessant, aber zugleich auch noch zu unsicher. Erst Ende Oktober konnte die Opposition ihren personellen Bestand aus diesem Bereich etwas aufbessern, und erst im Dezember bekamen die neuen Kräfte ohne Oppositionserfahrung das personelle Übergewicht.


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So kam es, daß sich die meisten Akteure in der Opposition quer durch alle Gruppen bis in den November hinein kannten oder gar befreundet waren. Außerdem war es oft dem Zufall geschuldet, in welcher der Oppositionsgruppen sie engagiert waren. Die Oppositionellen mußten eine enorme Organisationsarbeit leisten, ohne über nenneswerte Kommunikationsmittel, Geld und Papiervorräte verfügen zu können. Sie mußten Friedensgebete und Demonstrationen vorbereiten und durchführen, interne Konferenzen, Verbindungen zu Journalisten, später zu westlichen Politikern und ausländischen Botschaften knüpfen sowie Besuchergruppen und Revolutionstouristen aus aller Welt betreuen. Von September bis Dezember reisten die Initiatoren und Führungsleute unter schwierigsten Bedingungen durchs ganze Land, stellten ihre Gruppen vor, versuchten Aufbauhilfe zu leisten, stritten sich mit Kirchenoberen, die Hilfe verweigerten, und hielten Reden. Die Krise der SED verlief schneller als der Aufbau der Opposition.

Die große Öffentlichkeit, die die Oppositionsgruppen im Westen hatten, täuschte über ihre tatsächliche Lage. Sie verfügten über keine eigene Medien und waren noch monatelang auf Veröffentlichungen in der Art des alten Samisdat angewiesen. Neben der Weiterführung älterer Samisdat-Zeitschriften entstanden kleinere regionale Blätter der Gruppen. Die SED kontrollierte jedoch noch vollständig die Medien, die nur feindlich, selektiv und tendenziös berichteten. Dem NF gelang es erst Mitte November, eine kleine Zeitung herauszugeben, die auch noch auf informellen Wegen verteilt werden mußte.

Die Opposition war bis in die Inhalte ihrer Politik von einem Überforderungs-Syndrom gezeichnet, stand unter einem selbst auferlegten Erfolgszwang und mußte gleichzeitig noch mit gesellschaftlichen Widerständen fertig werden. Bis zum Sturz Honeckers waren zudem die offenen Repressionen und Behinderungen spürbar. Die ständigen unverhüllten Beschattungen, Verfolgungen mit MfS-Fahrzeugen, unaufhörlichen direkten Behinderungen oder der Telefonterror ließen Mitte Oktober deutlich nach. Damit war aber nur eine teilweise Entlastung erreicht. Die SED mobilisierte ihr Drohpotential, wo sie es noch konnte. Spürbar war dies noch in vielen kleineren Orten, Betrieben und Einrichtungen. Auch das MfS war noch aktiv. Am 23. Oktober endeckten während eines Gesprächs mit dem SED-Ortsvorsitzenden in Schöneiche Mitglieder des NF eine Abhöranlage, die sie dann ausschalteten.

Im SED-Argumentationsmaterial von Mitte Oktober hieß es: »Die Autoren dieses >Neuen Forums< betreiben das Geschäft der Feinde des Sozialismus (...) Noch unverhohlener in ihrer antisozialistischen und konterrevolutionären Programmatik und ihrem verfassungsfeindlichen Handeln« seien der DA und die SDP, die an den sozialistischen Eigentumsformen und dem Machtmonopol der SED rüttelten. »Wer ihnen Sympathie bekundet, muß wissen, worauf er sich einläßt.« Die westlichen Politiker würden den Konterrevolutionären »jede materielle und finanzielle Unterstützung« gewähren, was zum Bedauern vieler Oppositioneller tatsächlich nicht der Fall war. Während »Irregeführte« wieder gewonnen werden sollten, müsse sich die SED von allen, die »unter welcher Fahne auch immer für die Verbesserung des Sozialismus plädieren«, abgrenzen. Und die SED machte sich Mut: »Wo ein Genosse ist, kämpft die Partei.« (Informationen 1989)


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4.3.2 Neues Forum (NF)

Im Oktober strömten dem NF Tausende neue Mitglieder im ganzen Lande zu. Dies wurde durch Unterschriften dokumentiert, die in Berlin gesammelt wurden. Vielerorts bestimmten die Gruppen des NF in den Städten die Demonstrationen und Friedensgebete. Die oft großen Gruppen im Lande waren zumeist nur informell organisiert. Der Druck zur Strukturbildung ergab sich aber schon aus den Kommunikationsbedürfnissen und dem Bemühen, legal auftreten zu können. Am 13. Oktober fand in Berlin die erste landesweite Regionalgruppenvertreterkonferenz statt. Als wäre keine Wende im Gang, versprach Stolpe den Staatsorganen, die kirchlichen Räume dafür zu sperren. Trotz dieser Behinderung in der Sophiengemeinde konnte das Treffen in den Räumen der Kirche von Unten durchgeführt werden.

Während des Oktobers gab das NF eine Fülle von Erklärungen heraus, die jeweils auf aktuelle Ereignisse reagierten oder diese kritisch kommentierten. In der Berliner Initiatorengruppe kamen noch einmal die alten basisdemokratischen Orientierungen zum Ausdruck, die sich angesichts der massenweise entstehenden Gruppen des NF im Lande zu bestätigen schienen. Am 23. Oktober gab das NF das Papier »Ansätze zur Basisdemokratie« heraus, das aber mehr eine Anleitung zur Konsensfindung und zum Verfahren der Meinungsbildung in Gruppen darstellte als eine politische Orientierung. 

Abgesehen von den allen gemeinsamen Zielen im Kampf gegen die SED und das MfS gab es schon im Oktober inhaltliche Auseinandersetzungen. Zu schweren Irritationen kam es bei den Anhängern des NF und bei den anderen Oppositionsgruppen, als einige Vertreter der Berliner Initiatoren des NF Ende Oktober öffentlich erklärten, daß die Infragestellung der Führungsrolle der SED illusorisch oder überhaupt nicht angebracht wäre. Dies verschärfte erstmals den inneren Differenzierungsprozeß im NF. Zeitweise gab es für die anderen Oppositionsgruppen deswegen auch keine Ansprechpartner im NF. Gemildert wurden diese Aussagen, weil entschlossene Oppositionelle wie Lietz und Tschiche in der DDR-Provinz eine andere Politik betrieben. Noch im Oktober setzte auch eine Wanderung von Engagierten aus dem NF in andere Oppositionsgruppen ein, weil sie dort verbindlichere Strukturen suchten. Am 8. November wurde das NF offiziell zugelassen, womit die SED jedoch lediglich der Entwicklung Rechnung trug. Das NF setzte sich sofort für die Zulassung der anderen oppositionellen Organisationen ein.

 

4.3.3 Demokratischer Aufbruch (DA)

Der DA mußte während des Oktobers noch mit provisorischen Strukturen auskommen. In zahlreichen Orten hatten sich spontan Gruppen gebildet, die auf der Grundlage der ersten Papiere arbeiteten oder sich selbst mit programmatischen Entwürfen halfen. Am 21. Oktober wurde in Berlin ein »Flugblatt für die Demokratie« herausgegeben. Fast alle Papiere des DA hielten im Oktober noch am demokratischen Sozialismus fest, wenn sie auch den Aufbau demokratischer, pluralistischer und rechtsstaatlicher Strukturen forderten. Die Sozialismusvorstellung war von sozialethischen Elementen geprägt. Dem DA gelang es erst mit einem landesweiten Treffen am 29. Oktober im evangelischen Königin-Elisabeth-Krankenhaus in Berlin, die bisherigen informellen Strukturen durch eine ordentliche Kommunikations- und Leitungsstruktur zu ersetzen, die in dem überarbeiteten Statut vorgegeben wurde.


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Es zeigte sich, daß inzwischen viele arbeitsfähige Gruppen im Lande entstanden waren. Das Treffen galt seitdem als der eigentliche Gründungsakt des DA. Von über 100 Vertretern wurde auf Antrag der Jenaer Delegierten beschlossen, daß sich der DA bis zum Mai 1990 als Partei gründen sollte. Damit war der Weg zu einem entschiedenen, pragmatischen Politikverständnis frei, zugleich kündigten sich die kommenden Differenzierungskämpfe an.

Zum Vorsitzenden wurde Wolfgang Schnur gewählt und in den Vorstand Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert, Günter Nooke, Rudi Pahnke, Edelbert Richter, Fred Ebeling, Britta Kögler, Herbert Wirzewski und Christiane Ziller berufen. Der Vorstand wurde verpflichtet, Beauftragte und Arbeitsgruppen für verschiedene Politikfelder zu benennen bzw. einzurichten. Auf dem Treffen wurden mehrere Papiere verabschiedet. Die »Vorläufige Grundsatzerklärung« war eine redaktionelle Überarbeitung der Erklärung vom 1. Oktober. Sie stellte einen Kompromiß zwischen den noch eindeutig am demokratischen Sozialismus orientierten und den liberalen Tendenzen dar und enthielt deutlich die politische Konflikttheorie Richters.

Eine »Resolution« forderte die sofortige »Überarbeitung der Verfassung«, eine Diskussion über die »Grundwerte und Ziele« eines demokratischen Sozialismus, die »strikte Trennung von Legislative, Exekutive und Gerichtsbarkeit«, die »Reduzierung und Kontrolle des Sicherheitsapparates« und die »Offenlegung aller politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Daten« (DA 1989). Außerdem wurde ein »Brief an die Jugend« sowie nach einem Entwurf von Margot Friedrich ein »Brief an die Kinder« verabschiedet. Noch in der Nacht des Gründungstreffens berichtete der neue Vorsitzende seinen Führungsoffizieren beim MfS über Verlauf und Ergebnisse. Anfang November nahm der Vorstand seine Arbeit auf. Im Lande setzte sich rasch der Formierungsprozeß fort, und der DA nahm intensiv an allen Koordinierungsgesprächen der Opposition teil.

 

4.3.4 Demokratie jetzt (Dj)

Die Bürgerbewegung Dj wurde im Oktober zwar nicht zur Massenbewegung wie das NF, konnte sich aber auf zahlreiche Gruppen im Lande stützen, die sich auf der Basis des Gründungsdokumentes selbst organisiert hatten. Die hohe Konsistenz und Autorität der Berliner Initiativgruppe blieb lange unbestritten. Ähnlich wie bei der IFM zeigte sich Dj gerade deswegen in einer Phase handlungsfähig, als alle Oppositionsgruppen noch viel improvisieren mußten und spielte in der Kontaktgruppe der verschiedenen neuen Organisationen eine wichtige Rolle. 

Die große moralische Autorität der Initiatoren stand in einem Spannungsverhältnis zu dem Anspruch, eine Bürgerbewegung zu sein. Eine der wichtigsten Initiativen war der Vorschlag eines Volksentscheides zum Führungsanspruch der SED, der am 27. Oktober in der Gethsemanekirche öffentlich vorgetragen und verbreitet wurde. Zwar hatten auch alle anderen Oppositionsgruppen von Anfang an den Führungsanspruch der SED direkt oder indirekt in Frage gestellt und entsprechende Erklärungen abgegeben, doch verlieh Dj diesem Anliegen mit der Forderung nach einem Plebiszit eine neue politische Qualität.


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Im Zuge des Machtverfalls der SED veränderte sich auch die politische Sprache von Dj. Hatte die Gruppe noch im September-Aufruf vom eigentlichen demokratischen Sozialismus gegenüber dem Staatssozialismus gesprochen, verstärkte sich fortschreitend die sozialethische Komponente dieser Sozialismusauffassung. Im Aufruf zum Volksentscheid hieß es noch, daß der Sozialismus ohne Führungsanspruch der SED »mit lebendiger Demokratie erst richtig« (Demokratie jetzt 1989, I) anfangen würde. 

Anfang Oktober gab Dj das Papier »Was können wir tun?« heraus, das Ende September entstanden war. Darin wurde erneut und dezidiert der Führungs- und Machtanspruch der SED zurückgewiesen, ohne auf den Sozialismus Bezug zu nehmen. Gefordert wurden mehr Freiheit im wirtschaftlichen Bereich, freie Wahlen, eine unabhängige Justiz, Freizügigkeit und Entideologisierung. Daneben aber wurden nun Hinweise für den »Wandel unseres Lebensstiles« gegeben, weil es um ein »freundliches Land« ginge. In diesem Papier wurden die politischen und die ethischen Aspekte der Veränderung vollkommen verwischt. Ab November tauchte die Chiffre Sozialismus bei Dj überhaupt nicht mehr auf. Diese sozialethische und zivilisationskritische Orientierung, wie sie auch im DA und anderen Oppositionsgruppen verbreitet war, hatte bei Dj auch eine besondere ästhetische Komponente. Dj wählte sich einen Schmetterling als Zeichen der Vielfalt und Friedfertigkeit zum Symbol: »Denn unser Land gleicht einer Raupe, die sich eingesperrt hat und zu einem unansehnlichen Kokon geworden ist. (...) Doch es kann aus ihm auch ein freier und freundlicher Schmetterling geboren werden.« (Demokratie jetzt 1989, II)

 

4.3.5  Sozialdemokratische Partei (SDP)

Durch die klaren Strukturvorgaben, die bei der formellen Gründung am 7. Oktober festgelegt worden waren, kam es zu einer raschen Entwicklung der Sozialdemokraten. Bereits eine Woche später konnte der Vorstand Kontaktadressen in allen DDR-Bezirken benennen. Mancherorts entstanden auch spontan sozialdemokratische Gruppen, die erst später Anschluß an die Gesamtpartei finden konnten. In dieser Zeit beschäftigte sich die SDP auch schon mit der Frage der Mitgliedschaft ehemaliger SED-Mitglieder, die sehr unterschiedlich beantwortet wurde. 

Einige Gruppen, die von langjährigen Oppositionellen bestimmt waren, wiesen SED-Leute zurück. Sie befürchteten eine Unterwanderung. Andere Gruppen vertraten die Ansicht, mit der Aufnahme gerade die SED zu schwächen. Im November erging von der Basisgruppe 3 im Prenzlauer Berg ein »Aufruf an alle ehemaligen und alle Noch-SED-Mitglieder«. Die SED versuche jetzt, »ihre Herrschaft zu retten«, sie wäre »von Kopf bis Fuß vom Geist des Stalinismus, der Willkür und der Intoleranz verdorben. Der Stalinismus stand an der Wiege dieser Partei und hat die Sozialdemokraten der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone in ihre Reihen gezwungen. (...) Genossen und Kollegen! Die SDP ist auch und gerade für Euch die demokratische Alternative!« (Gabler 1989) 

Mit der Aufnahme von SED-Mitgliedern veränderte sich mancherorts schon seit Anfang November der Charakter der jungen SDP, der nun immer mehr Menschen zuströmten, weil diese Partei erfolgversprechend erschien. Während für viele allein schon die Tatsache ihrer Existenz als Herausforderung der SED galt, brachten andere eine sozialistische Orientierung ein. Dieser Gegensatz personalisierte sich in der Spannung zwischen Ibrahim Böhme und Theologen der Initiativgruppe wie Markus Meckel und Martin Gutzeit.


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4.3.6 Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM)

Nachdem der Selbstorganisationsprozeß der IFM in verschiedenen Städten in Gang gekommen war, fand am 28. Oktober das erste landesweite Treffen mit Vertretern aus 17 Orten der DDR in Berlin statt, auf dem ausdrücklich erklärt wurde, daß sich die IFM nicht als »Massenbewegung« verstünde, sondern in den kleinen Gruppen eine »hohe Verbindlichkeit« anstrebe. Als Struktur der IFM wurden Regionalgruppen und 20 themenbezogene Projektgruppen festgelegt. Inhaltlich konnte die IFM immer noch an ihre Selbstverständniserklärung vom März 1989 (vgl. 93.1.2.1) anknüpfen. Neben Gruppen, die sich mit der Menschenrechtssituation beschäftigten, wurde als eines der wichtigsten Vorhaben die Gründung einer Gruppe zur Wahlrechtsreform und zur Ausarbeitung eines Wahlprogramms verabredet. Diese Gruppe sollte eng mit den anderen Oppositionsbewegungen zusammenarbeiten. Als Sprecher wurden die Berliner Werner Fischer und Gerd Poppe sowie der Leipziger Thomas Rudolph gewählt. Die IFM gab eine Liste von Ansprechadressen heraus, unter denen sich zahlreiche prominente Oppositionelle befanden.

 

4.3.7  Grüne Partei in der DDR (GP)

Die Gründung einer grünen Partei verschleppte sich im Oktober weiter. Der Versuch, die grünen Anliegen in der Grünen Liste im NF politisch anzusiedeln, erwies sich angesichts der unklaren Organisationsstrukturen des NF als wenig erfolgversprechend. Im Oktober war es zu verschiedenen Kontaktgesprächen zwischen kirchlichen und staatlichen Umweltgruppen gekommen, um die Möglichkeiten einer Parteigründung zu erörtern. Bei diesen Gesprächen mit der Interessengemeinschaft Stadtökologie der Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) im Kulturbund konnte zunächst keine Einigung mit den Initiatoren aus den kirchlichen Gruppen erzielt werden. 

Zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der IG kam es bei einem Treffen am 25. Oktober, weil die Vertreter der Arche, die das Projekt besonders beförderten, nur ein Zusammengehen auf der Grundlage einer Einzelmitgliedschaft anerkennen wollten und weder die landesweiten Strukturen der oppositionellen Umweltbewegung noch die Strukturen des Kulturbundes übernehmen wollten. Erst am 5. November gab die »Gründungsinitiative für eine Grüne Partei in der DDR« während eines Treffens von Ökologiegruppen in der Berliner Bekenntnisgemeinde einen Gründungsaufruf heraus. Die Initiatoren stellten sich »auf die Seite aller Kräfte, die sich für Demokratie und Freiheit« einsetzen und wollte selbst »ökologisch, feministisch und gewaltfrei« (Hamel 1989) sein. Am 24. November wurde im Rahmen des sechsten Berliner Ökologieseminars wieder in der Bekenntnisgemeinde die Grüne Partei in der DDR gegründet. Eine erste Delegiertenversammlung sollte Anfang 1990 stattfinden, doch die Entwicklung zwang zu einer wesentlich schnelleren Formierung der Partei.

Der Gründungsprozeß war von zahlreichen Widerständen begleitet. Noch im November 1989 sprach sich Gensichen vom KFHW gegen eine grüne Partei aus, da die grünen Anliegen in allen anderen Parteien vertreten sein sollten. In Übereinstimmung mit einzelnen Umweltgruppen verfolgte Gensichen damit noch das traditionelle politische Konzept der älteren DDR-Opposition, das sich an der Durchsetzung ökologischer Anliegen in der Gesellschaft und der Entwicklung des ökologischen Bewußtseins orientierte (vgl. 94.1.1). 


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Er befürchtete auch, daß das ökologische Thema von politischen Konflikten überlagert werden könnte. Entsprechend hat er auch um die Jahreswende zu 1990 die Installierung eines »Grünen Runden Tisches« angeregt. Auch der DA versuchte Anfang November die Gründung der GP zu verhindern, weil er die ökologisch Interessierten an sich zu binden hoffte und die neue Parteigründung auch tatsächlich zum Verlust vieler Mitglieder führte, die sich der GP anschlössen. Vor allem aber haben sich GNU-Vertreter gegen die Parteigründung gesperrt. Die staatlich zugelassenen Gruppen des Kulturbundes hatten seit einem Treffen am 8. Oktober in Potsdam langsam begonnen, sich von der staatlichen Vormundschaft zu lösen. Dennoch überwogen vor allem unter den GNU-Funktionären, darunter viele SED-Genossen, starke Vorbehalte gegen eine Parteigründung, und auch in den SED-Medien wurde die GNU deutlich bevorzugt. Auf dem Ökologieseminar am 24. November wurde dann eine doppelte Lösung vereinbart. Zeitgleich mit der Parteigründung entstand als Aktionsbündnis die Bewegung Grüne Liga, die große Teile der GNU-Gruppen integrierte und häufig in Konkurrenz zur Grünen Partei auftrat.

Die GP war anfangs von den erfahrenen Vertretern der Arche, wie Carlo Jordan, und anderer kirchlicher Gruppen geprägt, zu denen dann weitere Initiativen und Einzelpersonen hinzukamen. Auch Vera Wollenberger schloß sich auf Anfrage von Jordan der Partei an. Die inhaltlichen Aussagen des Gründungsaufrufes vom 24. November entsprachen den Traditionen, die vor allem in der Arche ausgebildet waren. Die Partei erteilte dem »stalinistisch geprägten Umgang mit Menschen, Wirtschaft und Umwelt« eine »radikale Absage«. Sofortmaßnahmen in den ökologischen Katastrophengebieten der DDR sollten ergriffen, eine konsequente Abrüstung betrieben, die patriarchalischen Strukturen reformiert und das Bildungswesen ökologisch orientiert werden. Ein Hinweis auf den Sozialismus fehlte. 

Die Forderung, daß »die gegenwärtige Erneuerungsbewegung« nicht unter »dem Druck unvernünftigen, kurzsichtigen, materiellen Nachholbedarfs eine Gesellschaft der Ellenbogenfreiheit, der Verschwendung und Wegwerfmentalität entstehen« lassen dürfe, setzte den ethisch orientierten Politikansatz der Umweltbewegung fort. Der Demokratisierungsprozeß sollte »für eine grüne Wende« (Jordan 1995,477) genutzt werden. Die GP nahm bei allen Schwierigkeiten des Strukturaufbaus einen langsamen Aufschwung, hatte aber darunter zu leiden, daß ökologische Themen in den turbulenten Wendemonaten zurückstanden. Mit der Parteigründung wurde nicht nur die parlamentarische Vertretung grüner Interessen ermöglicht, sondern auch ein wichtiger Schritt in Richtung der Übernahme des westdeutschen Parteienspektrums unternommen.

 

4.4  Die Zusammenarbeit innerhalb der Opposition  

Die zahlreichen informellen Kontakte der Berliner Initiativgruppen vom September wurden im Oktober nach einer Anregung von Stephan Bickhardt von Dj durch die Installierung einer Kontaktgruppe wesentlich verbessert. Nach einer schwierigen Anlaufzeit, in der sich das NF nur ungenügend einbrachte, wurde die Berliner Kontaktgruppe zum wichtigsten politischen Instrument der Revolution (vgl. 105.6) und nach einer gemeinsamen Erklärung der Opposition vom 3. November in Berlin darüber hinaus zum Träger der Vorbereitung des Runden Tisches. 


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Im ganzen Land arbeiteten die verschiedensten Gruppen zumeist noch intensiv zusammen, da sie die ihnen zahlreich zuwachsenden Aufgaben anders nicht hätten bewältigen können. Aus der Zusammenarbeit erwuchs eine Vielzahl von politischen Initiativen. So gaben am 4. November in Dresden die Gruppe der Zwanzig, der DA, Dj, die Initiative zur Demokratischen Erneuerung, das NF, die SDP, der Ökologische Friedensarbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke sowie ökumenische Friedenskreise eine Resolution heraus, die u. a. den »sofortigen Rücktritt der Regierung« (Glo-sinski 1989) forderte.

Die hohe Dichte solcher Initiativen im ganzen Land signalisierte den revolutionären Elan. Der inhaltliche Zusammenhang verschiedenster Strömungen innerhalb der Oppositionsgruppen blieb während des gesamten Oktobers erhalten. Der DA, der sich auch noch als ökologische Interessenvertretung verstand, arbeitete durch die Vermittlung von Matthias Voigt z. B. noch mit traditionellen Umweltgruppen zusammen. Am 7. November gab er mit der Umwelt-Bibliothek, dem Netzwerk Arche und der Müllgruppe BRD-DDR eine Protesterklärung gegen die anhaltenden Giftmüllimporte aus dem Westen in die DDR heraus.

 

  5. Abwehr der SED-Dialogpolitik   

 

5.1 Durchbruch in Berlin

Die Bewegung, von der die SED seit Oktober 19989 erfaßt wurde, spiegelte sich auch in ihren politischen Strategien nach dem Honecker-Sturz wider. Wie das Dialogangebot des Politbürobeschlusses vom 11. Oktober gemeint war, zeigte sich rasch an den SED-Medien. Das Volk sollte mit einer Mischung aus halbherzigen Eingeständnissen, vorgetäuschtem Veränderungswillen und immer neuen Versprechungen befriedet werden. Damit wurde vor allem das Ziel verfolgt, die Menschen im Zuge einer inszenierten großen Aussprache von der Straße in die Kirchen und Säle zurückzudrängen. Gleichzeitig sollte die Revolution in eine Kurskorrektur, als »Wende« der SED-Politik deklariert, umgemünzt werden. 

Aber der Dialog, der von Opposition und Demonstranten erzwungen worden war, verlief anders als die SED geplant hatte. Weder die Versuche über kirchliche Vertreter, die Menschen von den Straßen fernzuhalten, noch die großzügige Bereitstellung von Sälen und Rathäusern konnten den Elan der Menschen bremsen. Zu den Mitteln der SED gehörte auch, daß sie den friedlichen Verlauf der großen Demonstrationen, vor allem in Leipzig, sich oder Krenz als Verdienst anrechnen lassen wollte. Fast tragikomisch war eine Flugblattaktion in Leipzig am 16. Oktober, mit der einige Professoren der Universität die 120 000 Demonstranten bedachten: »Nicht demonstrieren! Dialog, Besonnenheit, aufeinander zugehen - das ist der Weg!« (Olthoff 1989) Nachdem Krenz am 18. Oktober zum Nachfolger Honeckers als Parteichef bestellt worden war, erneuerte er sofort das Dialogangebot, ließ aber auch keinen Zweifel daran, daß an der Machtfrage nicht gerüttelt werden dürfe.

Für die Opposition war es besonders wichtig, daß der Dialog mit der SED öffentlich geführt wurde. Nach den Demonstrationen am 7. und 8. Oktober hatte der Staat über offizielle und MfS-Kontakte in Berlin den Versuch unternommen, die Kirche für eine Beruhigung, vor allem für eine Einstellung der Demonstrationen zu gewinnen.


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So hatte der Oberbürgermeister Erhard Krack ein Bürgergespräch angeboten, an dem Oppositionelle teilnehmen sollten, allerdings nur als Privatpersonen. Vermittler sollte Generalsuperintendent Krusche sein, der Vertreter der Oppositionsgruppen zu sich einlud, um sie für das Gespräch zu gewinnen. Bei diesen Verhandlungen am 16. und 23. Oktober erklärten die Oppositionellen, daß sie nur dann mit dem Oberbürgermeister verhandeln würden, wenn sie als Vertreter ihrer Organisationen anerkannt, die Inhaftierten freigelassen sowie eine Untersuchung der Exzesse und eine Bestrafung der Schuldigen vorgenommen würden. So konnte das Gespräch nicht stattfinden, und die Opposition hatte die Neutralisierungstaktik zurückgewiesen. Krack mußte sich mit einigen Kirchenleuten begnügen, während die Opposition ihre Aktivitäten zur Demontage von Krenz fortsetzte.

Die Massenversammlungen im ganzen Land, bei denen sich die Politprominenz und hohe staatliche Funktionäre den Bürgern stellten, schlugen in vielen Orten in Rücktrittsforderungen um oder gaben Oppositionellen Gelegenheit, ihre Forderungen vorzutragen. Zu den großen Reinfällen zählte das Berliner Sonntagsgespräch am 29. Oktober mit Günter Schabowski, zu dem 20 000 Menschen gekommen waren. Zwar hatte die SED ihre Claqueure bestellt, die pfiffen, als der Name Biermann fiel und das Streikrecht gefordert wurde. Auch beschwor der SED-treue Theologieprofessor Heinrich Fink die antifaschistische Einheit. Aber im stundenlangen Hin und Her gerieten die Genossen schließlich unter den heftigsten Druck. In einer der zahllosen Erklärungen hieß es Ende Oktober in Zeitz: »Das Wort >Dialog< ist in aller Munde und schon zur bloßen Floskel geworden. Wir warnen vor Überbewertung dieser Versuche, dem gesellschaftlichen Druck auszuweichen« (DA Zeitz 1989). Aus Protest wurde zu einem Schweigemarsch aufgerufen. Zu diesem Zeitpunkt löste die SED mit ihrer vermeintlichen Dialogbereitschaft vor allem Skepsis aus und stieß nicht selten auf Hohn und Spott, wenn sie die Bürger zum vertrauensvollen Gespräch aufforderte.

 

5.2  Untersuchungskommission in Berlin

Die komplizierte Genese, die schließlich am 7. November zur Bildung einer Untersuchungskommission zu den Gewaltexzessen der Sicherheitskräfte am 7. und 8. Oktober in Berlin führen sollte, spiegelt die eigenartige politische Konstellation in der DDR wider, in der sich die vier wichtigsten Träger der politischen Bewegung, die SED, die Kirche, die Opposition und die künstlerische Elite befanden. Unmittelbar nach den Ereignissen begann das Stadtjugendpfarramt mit der Dokumentation einzelner Zeugenberichte. Dazu war auch ein Kontakttelefon eingerichtet worden, das über Inhaftierte, Verschollene und Mißhandelte Informationen sammelte. Zahlreiche Menschen erzählten die ungeheuerlichen Übergriffe, die nach ihrer Zuführung zu ihrer Einschüchterung in den Polizei- und MfS-Stützpunkten vorgekommen waren. Die ersten Berichte lösten eine schwere Erschütterung aus. Vertreter des DA forderten am 15. Oktober in einem offenen Brief an den Oberbürgermeister Krack die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission, an der neben Juristen Vertreter der Opposition teilnehmen sollten. Andere Oppositionsgruppen schlossen sich dem Aufruf an. 


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Bis zum 22. Oktober hatte das Landesjugendpfarramt zahlreiche Fälle erfaßt und diese Zeugnisse vervielfältigt. Die Dokumentation sollte auf einer Pressekonferenz am 23. Oktober in einer Berliner Gemeinde übergeben werden, kurz zuvor war die Wachablösung an der SED-Parteispitze erfolgt. Da Krenz als Wahlfälscher diskreditiert war, seine Berufung als politisches Signal halbherziger Reformen galt und er als Sicherheitsbeauftragter des Politbüros besonders für die Brutalitäten verantwortlich gemacht wurde, setzte die SED alles daran, seine Demontage zu verhindern. Schabowski versuchte, über Stolpe die geplante Pressekonferenz zu verhindern, da die SED schon nicht mehr wagte, ein offenes Verbot auszusprechen. Stolpe lud daraufhin Vertreter der Opposition und des Stadtjugendpfarramts ein und verlangte erst diplomatisch, dann energisch die Verschiebung der Pressekonferenz um 48 Stunden und schließlich um 36 Stunden. Die Absicht war eindeutig und wurde von den Oppositionellen abgelehnt, da sie sich dieses politische Mittel gegen Krenz nicht aus der Hand nehmen lassen wollten, sie hatten damit zum zweiten Mal die Dialogpolitik der SED zurückgewiesen. Zur Pressekonferenz erschienen erstmalig auch DDR-Medien und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft. Die Materialien wurden der Öffentlichkeit übergeben. Für die Opposition war das ein wichtiger Erfolg, da sie ihre Eigenständigkeit öffentlich dokumentieren konnte und einer Kanalisierung der Revolution durch Krenz entgegentrat.

Vor den SED-Abgeordneten der Volkskammer beklagte sich Schabowski am folgenden Tag kurz vor der Wahl von Krenz zum Vorsitzenden des Staatsrates, daß es Stolpe nicht gelungen sei, die Pressekonferenz zu verhindern. Er schlug vor, die Untersuchung solle minimiert und formalisiert werden. Die Rede hatte ein Techniker heimlich mitgeschnitten und Oppositionellen zugeleitet. Sie wurde in den nächsten Tagen immer wieder in der Gethsemanekirche vorgespielt. Der Druck zur Einrichtung einer Untersuchungskommission ließ nicht nach. Anfang November bildeten Oppositionelle und Künstler, u. a. Daniela Dahn, Jürgen Rennert und Christa Wolf, eine unabhängige Kommission. Etwa zeitgleich setzte auch Oberbürgermeister Krack eine Kommission ein. Nach Verhandlungen arbeiteten die Kommissionen seit dem 7. November zusammen, wobei Birthler, Fischer und Schilling die Kommission verließen, weil in ihr für die Übergriffe Verantwortliche mitarbeiteten. Die Kommission kam nur zu bescheidenen Ergebnissen, da sie von den Behörden mehr behindert als gefördert wurde.

 

5.3  »Oktoberdialog« das Beispiel Schwerin  

Geradezu beispielhaft für die Rolle der Opposition und ihr Verhältnis zu den demonstrierenden Menschen in der Oktoberrevolution gegen die SED-Herrschaft verlief die erste große Demonstration am 23. Oktober in Schwerin. Als das NF mit Martin Klähn, einem der Erstunterzeichner des NF, Martin Proksch und Heiko Lietz für den 23. Oktober nach dem Friedensgebet im Dom zu einer Demonstration aufgerufen hatte, beschloß die Schweriner SED-Bezirksleitung mit ihrem Chef Heinz Ziegner eine Gegendemonstration auf dem gleichen Platz zur gleichen Stunde, die mit Krenz in Berlin abgesprochen war. Die SED wollte nachweisen, daß es Regionen in der DDR gab, die sich nicht am Aufbegehren beteiligten. Für die inszenierte Zustimmungsdemonstration wurden zuverlässige Genossen als Claqueure herbeigeholt, ein Lautsprecherwagen der NVA spielte zusätzlich Beifall ein. 


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Da aber nach alter SED-Methode nichts dem Zufall überlassen werden sollte, wurden an Funktionäre Waffen ausgegeben, Zuführungs- und Internierungs­punkte bereitgestellt und Kampfgruppen mobilisiert. Die SED plakatierte die Demonstration als Dialogveranstaltung, verweigerte aber den Schweriner Initiatoren des NF das Rederecht und drohte ihnen bei einem Vorgespräch offen. Erst wenige Stunden vor der Demonstration beschloß die NF-Gruppe die Kundgebung zu verlassen, wenn die SED-Redner allein sprechen würden, was binnen kürzester Zeit über Telefon und Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet wurde.

Als Ziegner im gewohnten SED-Stil die Menschen »als mündige und reife Staatsbürger« aufforderte, »Vernunft an den Tag zu legen« und »fair zu sein gegenüber unserem Staat« und auch »klar« sagte, daß die SED »kein Ohr und keine Zeit« hätte für »Ratschläge, die darauf zielen, den Sozialismus zu beseitigen« (Landesbeauftragter 1994, 45), marschierte die NF-Gruppe vom Platz. Ihr schlössen sich viele mit ihren Plakaten an, sogar ein Teil der präparierten SED-Leute. Schließlich verließen 40.000 Menschen den Platz zu einem Demonstrationszug durch die Stadt. Die Sicherheitsorgane wagten angesichts dieser Massen nicht, den Zug aufzuhalten. Zurück blieb mit einigen Getreuen die blamierte SED-Spitze, die sich verzog und die Lautsprecher abstellen ließ, als der Demonstrationszug den Platz wieder erreichte.

Lietz sprach zu den Menschen, hatte allerdings nur einen selbstgebastelten Sprechtrichter und konnte sich nicht auf dem ganzen Platz verständlich machen. Als sich nach der Kundgebung über 1.000 Menschen anschickten, gegen ein Gebäude der SED vorzugehen, gelang es Lietz durch intensives Einreden, eine gewaltsame Auseinandersetzung zu verhindern. Im Anschluß an die Demonstration strömten die Menschen in die geöffneten Kirchen. Im Dom war ein Mikrofon aufgestellt, über das viele Menschen erstmals über das Erlebte und ihre Anliegen öffentlich sprachen. Sammelpunkte waren auch Kindergärten, in denen Eltern Nachrichten hinterlassen hatten, wo ihre Kinder abzugeben seien, wenn sie von der Demonstration nicht zurückkommen würden. Die Oppositionellen in Schwerin diktierten der SED das gewaltfreie politische Verfahren der Auseinandersetzung und brachten ihr damit eine schwere Niederlage bei.

 

   6. Die politische Rolle der Kirchen   

 

So unverzichtbar der kirchliche Öffentlichkeitsraum für die Opposition geworden war, so sehr verlief auch in den Monaten bis Dezember die offizielle Kirchenpolitik oft in den alten Mustern. Nachdem die SED im September heftige Angriffe gegen die Kirchen gerichtet hatte, weil diese für eine Änderung der Politik eingeteten waren, versuchte sie im Oktober, die Kirchen zu instrumentalisieren, um über sie eine Beruhigung der Situation zu erreichen. Die Kirchen sollten die in ihrem Raum operierenden Oppositionsgruppen neutralisieren helfen und zur Eindämmung der öffentlichen Proteste beitragen. Im Einzelfall ist dies auch versucht worden, wenngleich alle Aufforderungen, von Demonstrationen Abstand zu nehmen, wirkungslos blieben. Kennzeichnend für die kirchliche Politik war einerseits, daß sich einzelne Vertreter, wie die Bischöfe Leich und Stier, vorbehaltlos für das Recht der Opposition zur politischen Artikulation einsetzten, während andere die Existenz dieser Gruppen allenfalls als Symptom ungelöster Probleme bezeichnen wollten. 


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Kirchliche Vertreter und Gremien haben immer wieder auch Forderungen an die SED herangetragen, die die Öffnung des politischen Systems, die Reisefreiheit der Bürger oder die Gewaltexzesse betrafen. Die SED versuchte im Herbst zunehmend, diese Forderungen aufzunehmen, um zugleich mit Zugeständnissen an die Kirchen deren Beitrag zur Deeskalation der Revolution einzufordern. Einige kirchliche Vertreter wurden diesen Erwartungen gerecht und haben nach dem Machtwechsel zu Krenz die Wende als prinzipiell vollzogen betrachten wollen.

Das wohl eindrücklichste Beispiel für die Kirchenpolitik dieser Phase war das Treffen zwischen Krenz und weiteren hohen Staatsfunktionären mit den Bischöfen Leich und Demke sowie mit Stolpe und Ziegler vom BEK am 19. Oktober im Jagdschloß Hubertusstock. Das Gespräch war ursprünglich mit Honecker terminiert worden und fand nun einen Tag nach seinem erzwungenen Rücktritt mit dessen Nachfolger Krenz statt. Am Nachmittag kam eine Pressemitteilung heraus, die zusammen mit Bildern der Begegnung am nächsten Tag in großer Aufmachung im Neuen Deutschland veröffentlicht wurde. Die Meldung reduzierte das Gespräch auf die Gratulation zur Wahl von Krenz, auf die Übereinstimmung, daß die DDR »zu bewahren« sei, das beiderseitige Einverständnis, »Veränderungen in unserer Gesellschaft zu fördern« sowie den beginnenden Dialog »nicht durch unbedachte Handlungen« zu stören. Durch einen Ausbau der »sozialistischen Demokratie« und »Gestaltung der Medienpolitik« sei »das Vertrauen der Bürger in die Politik des Staates zu entwickeln.« (Sekretariat 1989)

Die Signalwirkung des Gesprächs in die Öffentlichkeit war eindeutig. Die Kirche hatte sich auf Krenz eingestellt und verhalf dem neuen Mann zu einer Stabilisierung, die er nötig brauchte - eine Haltung, die die Opposition schwer verärgerte. Neubert schrieb von einer »patriarchalischen Versuchung« zur »Demokratisierung von oben«. Die »ehrlichen Sorgen« der »fürsorglichen Väter« wären nur »Legitimitätsbeschaffer für sie selbst, wenn andere Legitimität sonst nicht zu beschaffen ist.« (Neubert 1989) Erst später sollte offenbar werden, daß hinter den Kulissen besonders Leich, im Gegensatz zu den anderen Gesprächspartnern, deutliche Worte der Kritik gefunden hatte. Krenz vertrat seine alten Positionen, rechtfertigte die Pekinger Bluttat vom Sommer und wies den Vorwurf des Wahlschwindels zurück. Stolpe meinte, es »nutze niemanden, in der Vergangenheit herumzukramen« und bei einer neuen Wahl müsse dazu das Wahlgesetz »nicht geändert werden.« (Neubert 1993,61)

Der einsetzende Entfremdungsprozeß zwischen Opposition und Kirche hatte seine Wurzeln in jahrelangen ungelösten Konflikten und der bis in die Wende gegebenen Abhängigkeit der Opposition von der Kirche. So wie die Kirchen zu dem Phänomen ihrer eigenen kritischen Gruppen und Theologen in den siebziger und achtziger Jahren weder ein strukturelles noch ein geistiges Verhältnis gefunden hatten, so mißlang dies auch im Herbst 1989.


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  7. Politische Kultur der Revolution   

 

Die politische Kultur der Revolution war von den spezifischen kirchlich geprägten Arbeitsformen der Opposition in den achtziger Jahren bestimmt. In den Friedensgebeten und anderen Veranstaltungen wurden die Formen der Friedensbewegung unmittelbar weitergeführt. Vielerorts war der Einfluß des »Konziliaren Prozesses« bis in die veröffentlichten Texte zu spüren. Eine der letzten Aktionen, die für diese religiöse Kultur des Widerstandes charakteristisch war, stellte die Menschenkette dar, die am 3. Dezember durch die DDR gebildet wurde und sich gegen die Stagnation der Reformen wandte.

Solche Protesthandlungen wirkten nachhaltig auf die Menschen, da sie das Aufbegehren und die Solidarisierung gegen die SED psychisch stützten. Sie halfen bei der Überwindung der Angst, die wesentlicher Bestandteil der Herrschaftssicherung der SED war. Noch am 24. Oktober erbat ein Soldat in einer Inschrift an der Gebetswand in der Leipziger Thomaskirche das Gebet anderer, weil »auch wir Soldaten keine Gewalt wollten und wollen. Weil auch wir Angst haben.« (Alisch 1990, 139) 

Die Friedensgebete, die oft andere Namen hatten, wie »Gebete um Erneuerung« in Wittenberg oder »Andacht-konkret« in Zeitz, wurden auch von Nicht-Christen akzeptiert, die in ihnen verwendeten Symbole der Gewaltlosigkeit wurden als Ausdruck der inneren Befreiung und der Ermutigung verstanden. Die Fasten-Aktionen, Mahnwachen, das religiöse Liedgut und verschiedenen Fürbittenformen vermittelten die politischen Anliegen. Die Menschen fanden in den Friedensgebeten oft vor ihrer politischen Sprache zu ihrem eigenen Denken und Wollen zurück, immer wieder wurde dies auch — oft in sehr bewegten Worten — öffentlich ausgedrückt. So bekannte am 4. Oktober während des Friedensgebetes in Nordhausen ein Angehöriger der Kampfgruppen, daß er zur Niederschlagung des Aufstandes geschult worden war, sich aber nun von der Kampfgruppe trennen wolle.

Formen und Inhalte der Friedensgebete wurden noch wochenlang mit auf die Straße genommen. Die Menschen trugen Kerzen, sangen Choräle oder die Lieder der Friedensbewegung wie »We shall overcome«. Die Entdeckung der Untertanen, daß sie Bürger waren, die Überwindung der Angst brauchte den vorausgehenden Mut einzelner. Der Pfarrer und Mitorganisator des NF in Mecklenburg, Wilhelm Wossidlo, berichtete nach der ersten Demonstration in Schwerin: »Mut ist nicht das Gegenteil von Angst. Sondern, Mut ist, das Nötige zu tun, auch wenn einem die Beine zittern.« (Landesbeauftragter 1994,47) 

In diesem Sinne waren die Oppositionellen die Mutigen, wenn dies auch in politologischen Kategorien nicht faßbar ist. Auch für sie waren die Demonstrationen emotional überwältigend. Sie erinnerten, daß jahrelang schon der kleinste Demonstrationsversuch verhindert oder, wenn er zustande kam, mit Gewalt aufgelöst wurde. Pfarrer Kranz zitierte im Friedensgebet in Leipzig am 6. November 1989 Dietrich Bonhoeffer mit dessen Frage: »Wer bin ich?« und fragte selbst: »Lebe ich von meiner Eigeninterpretation, oder wird mein Leben bestimmt von ständigen Fremdinterpretationen? Ist es mein Wille, der mich beherrscht, oder werde ich beherrscht von der Willensbildung anderer?« (Hanisch 1990,114)

Die religiösen Formen verschwanden allmählich, als die Konfrontation in ein hinreichendes demokratisches Regelwerk übergeleitet werden konnte. Der Funktionsverlust dieser Formen wurde von Kirchenleuten und von Oppositionellen manchmal zu spät bemerkt. Sie hielten sich mit der Konservierung der Revolutionsformen auf, da diese ihren religiösen, kulturellen und alternativen Herkunftsmilieus entsprachen. Zudem mußte die Opposition noch lange die Kirchenräume nutzen. In Berlin beschwerten sich Bürger im Dezember, daß sie bei Veranstaltungen von Dj immer noch singen müßten.


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Neben dem Religiösen hatte die politische Kultur des Herbstes Elemente, die sich aus der Legitimations­strategie herleiteten, wozu vor allem der tausendfache Ruf »Wir sind das Volk!« gehörte. In der ersten Phase sangen die Demonstranten häufig die »Internationale«; sie drückten damit einen legitimatorischen Anspruch aus, wie sie mangels anderer Formen die erlernte Revolutionssemantik beliehen. Wie wirksam dies war, zeigte die Polemik der SED: »Wir sprechen diesen Elementen das Recht ab, für ihre Zwecke Lieder und Losungen der Arbeiterklasse zu nutzen.« (Lutz 1989)

Die Solidarität im Kampf gegen die SED führte zu einem gewissen Gemeinschaftsgefühl, das auch gestaltet werden wollte. Selbst die konsequenten Dresdner Oppositionellen forderten am 4. November, »mutig einzutreten für Freundlichkeit und Offenheit im Umgang miteinander (...) Beginnen wir miteinander und füreinander, eine neue politische Kultur in unserem Lande als mündige und freie Bürger zu gestalten!« (Glosinski 1989) Als nach den ersten Wochen die Angst vor Rückschlägen einigermaßen gebannt war, breiteten sich auf den Demonstrationen und ihren Plakaten und Sprechchören oft eine gelöste Volksfeststimmung, Humor und Witz aus. Überaus wach reagierten die Menschen über Monate auf jede Bewegung der SED und quittierten deren Versuche, wieder Tritt zu fassen, mit vorauseilendem Widerstand. Etwas abgehoben von der Straße waren die Beiträge der Intellektuellen, die der Direktheit des Volkes kritisch gegenüberstanden.

Das Fluidum der älteren Oppositionstradition war in den Wohnungen und Gesprächsrunden der Oppositionellen bis Oktober spürbar, verschwand danach jedoch rasch. Ab und zu gewann diese Tradition Öffentlichkeit, so lud etwa Bärbel Bohley Ende Oktober Wolf Biermann zum Besuch der DDR ein. Das Neue Deutschland ließ am 27. Oktober empörte Bürger zu Wort kommen, die fragten: »Welches Recht hat Frau Bohley, so etwas in die DDR einzuladen?« 

Biermann dichtete noch am gleichen Tag: »Ihr müßt euch nicht, ihr verdorbenen Greise/ nun plötzlich Asche streuen aufs Haupt/ Bloß lernt es ertragen, wenn wir noch leise/ an eurer Wende zweifeln. Es glaubt/ kein Aas, wenn ihr schöne Worte drechselt/ wir geben euch einen Rat: der Worte sind genug gewechselt/ was zählt, ist nur eure gute Tat.« (Bohley 1989) 

Biermann trat später auf Demonstrationen auf und sein Wort vom »verwüsteten FDJ-Gesicht« Krenz' machte die Runde. Viele andere ausgebürgerte und vertriebene Künstler kamen zurück. Bettina Wegner sang in Berlin, ehemalige DDR-Oppositionelle wie Templin und Wollenberger beteiligten sich alsbald an der Arbeit der Opposition. Andere, wie Klier, Fuchs, Rochau, Auerbach oder Jahn, stellten Öffentlichkeit her oder suchten soziale Betätigungsfelder.

 

  8. »SED-Reformer« und Unruhe in der SED   

 

In der zweiten Oktoberwoche fanden mehrere Berliner Initiatoren in ihren Briefkästen ein löseitiges Manuskript einer Arbeitsgruppe der Humboldt-Universität »Philosophische Fragen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus« mit dem Titel »Zur gegenwärtigen Lage der DDR und Konsequenzen für die Gestaltung der Politik der SED«. Damit schienen sich Vermutungen und Gerüchte zu bestätigen, daß in der SED Reformer arbeiteten, die an die marxistische Dissidenz der siebziger Jahre anknüpfen würden. 


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Diese Gerüchte nährten sich aus der Vorstellung, daß die Konzentration intellektueller Potentiale in der SED zur Formulierung von politischen Abweichungen führen müsse. Doch das Angebot der aufgetauchten Reformer war insgesamt enttäuschend. Zwar enthielt das Papier eine schonungslose Bestandsaufnahme der politischen, ökonomischen und geistig-ideologischen Lage der DDR, war aber ein strategisch-taktisches Programm zur Machtsicherung der SED. 

Die Analyse der Wirtschaft stellte fest, daß »die intensiv erweiterte Reproduktion« nicht mehr gesichert werden könne und die Krise lediglich durch »Aufzehren der ökonomischen und materiellen Substanz hinausgeschoben« worden sei. Die Produktivität und Effektivität der DDR-Wirtschaft würde immer weiter hinter den westlichen Industrieländern zurückbleiben, der Energie- und Materialverbrauch sei zu hoch, Hauptzweige der Volkswirtschaft würden niedergehen, die Finanzwirtschaft hätte sich von der Realität gelöst, die Infrastruktur sei vernachlässigt worden und die Kaufkraft verfiele. Die Verschlechterung der ökologischen Situation wirke sich inzwischen auf »Gesundheit, Lebenserwartung und Lebensqualität« aus. Die Sozialpolitik hätte die Wirtschaft überfordert und ginge zugleich an den wirklichen Bedürfnissen vorbei. Das politische System hätte durch »die Verstaatlichung aller gesellschaftlichen Prozesse« ein »parasitäres Verhältnis zum Staat kultiviert«, und durch die mangelnde Mitbestimmung besäße es »keine politische Legitimation mehr«. Die »Erfolgspropaganda« produziere »politische Entfremdung«.

All dies hatte die Opposition bereits seit Jahren moniert. Als Ausweg aus der Krise empfahlen die SED-Reformer eine »öffentliche Diskussion mit dem Ziel einer konsequenten, offenen und zugleich bedachtsamen, abgewogenen und ruhigen Neubestimmung der Gesellschaftsstrategie. (...) Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Erneuerung des Sozialismus« sei »eine funktionsfähige Partei« mit lernfähigen, demokratischen »Formen der Auseinandersetzung und Strategiebildung«. Sie solle eine »Große Aussprache« über den aufgestauten Unmut einleiten, die die »Kritik der Vergangenheit durch eine nüchterne Einschätzung des Möglichen und Unmöglichen« auf Zukunftsfragen konzentriere. Die Öffentlichkeit müsse erweitert, Wissenschaft solle freigesetzt, die Ökologie solle ein »Integrationsfeld« für Lernprozesse unter »sozialistischer Führung« und das politische Leben demokratisiert und rechtlich gesichert werden.

Der abgrundtiefe Unterschied zwischen der Sozialimus-Semantik der Opposition und dem Erneuerungs­bestreben der SED-Reformer bestand in der Frage der Machterhaltung der Partei. Sie wollten die Dynamik der Veränderung zugunsten der SED kanalisieren und waren dafür bereit, ein breites Spektrum gesellschaftlicher Kräfte zu integrieren, um einen neuen »Konsens« zwischen Volk und SED zu erreichen. Dabei wurden hemmungslos zahlreiche zentrale Forderungen der Opposition übernommen, ohne für diese selbst irgendeine politische Funktion vorzusehen. Es sollten zwar verschieden Formen der politischen Artikulation genutzt werden, aber kurzfristig sei »zu verhindern, daß diese Artikulation die Form von neuen politischen Parteien mit Anspruch auf die Macht annimmt. Die Funktion der sog. >op-positionellen< Gruppen ist auf das Gebiet der öffentlichen Diskussion einzuschränken, damit organisiertes Handeln gegen den Sozialismus ausgeschlossen wird«. Dies sei mit rechtlichen Mitteln »legal festzulegen«. Um Entwicklungen wie in »Polen und Ungarn« und den »Einfluß der BRD« zu verhindern, sollten Wahlen »mit klarer Terminisierung [!] verschoben und die Bildung von oppositionellen politischen Organisationen mit unmittelbarem Anspruch auf Machtbeteiligung verhindert werden« (Forschungsprojekt 1989).


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Dieses Konzept konnte für die Opposition keine Grundlage einer Zusammenarbeit mit der SED werden. Es zeigte sich zudem, daß die Reformer unter dem Druck der Verhältnisse Schritt um Schritt weitere Zugeständnisse an die Opposition machen wollten. Sie verknüpften aber ihre neue Sozialismuskonzeption mit dem Machterhalt der Partei, später mit dem Fortbestehen einer sozialistischen DDR. Die Autoren, u. a. Michael Brie, Dieter Segert und Rainer Land, hatten sich teilweise auch beim MfS abgesichert und waren, im Gegensatz zur Opposition, keine Risiken eingegangen.

Im Oktober wurden auch andere SED-Gesellschaftswissenschaftler von der Reformwelle erfaßt. Das Parteiaktiv der Akademie der Wissenschaften mit Dieter Klein verbreitete am 31. Oktober einen »Standpunkt«, in dem u. a. gefordert wurde, daß sich die Partei »an die Spitze der von den Massen ausgehenden Reformbewegung stellen« müsse, »statt wie bisher nur dem Druck der Massen nachzugeben«. Dies sollte durch eine neue »handlungsfähige« Parteiführung, »öffentliche Rechenschaftslegung, (...) innerparteiliche Demokratie, (...) rechtsstaatliche Formen, (...) Demokratisierung der gesamten Gesellschaft« (Parteiaktiv 1989), Untersuchungen der Wahlen vom Mai und der Übergriffe im Oktober, größere Handlungsspielräume der Wissenschaften erreicht werden. Sowohl die Reformergruppe als auch andere nachklappende SED-Gesellschaftswissenschaftler suchten seit Ende Oktober Kontakte zu Oppositionsgruppen.

Anfang November erging an Rainer Eppelmann eine Einladung von Otto Reinhold für ein Gespräch zwischen DA-Vertretern und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, das am 16. November auch zustande kam. Solche Gespräche erbrachten letztlich keine Ergebnisse, da die SED-Vertreter die Dynamik der Revolution auf dem jeweils erreichten und erkämpften Stand einzufrieren suchten. Der SED-Chefideologe Reinhold hatte bereits im September erklärt, daß die Existenzberechtigung der DDR an ihren sozialistischen Charakter gebunden sei. Die SED-Reformer beschworen im Oktober noch einmal die Idee, daß die DDR »der andere deutsche Staat« sei, der um der »Begrenzung der Expansionsfähigkeit des Imperialismus der BRD« und der »Verhinderung der Herausbildung einer erneuten regionalen Übermacht >Deutschland<« willen dazu herausfordere, »einen anderen deutschen Weg« zu gehen. 

Im ideologischen Höhenflug dieser Sendung gingen sie davon aus, daß eine »von den Massen selbst erkämpfte Identität« eines »sozialistischen deutschen Weges« dazu beitrüge, »in der BRD und Westeuropa insgesamt demokratische Entwicklungswege dauerhaft durchzusetzen« (Forschungsprojekt 1989). Mit solchen Argumenten versuchte die SED noch einmal an Konzepte anzuknüpfen, die sie in den ersten Nachkriegsjahren zur Rechtfertigung ihrer Politik entwickelt hatte.

Die Unruhe in der SED hatte jedoch bereits im Oktober deutlich zugenommen. Einzelne SED-Mitglieder hatten überall an Demonstrationen teilgenommen, es war zu Befehlsverweigerungen und Austritten bei den Kampfgruppen gekommen, und immer mehr Stimmen in der SED forderten Krenz zu wirklichen Reformen auf. Trotzdem gab es im Oktober noch verhältnismäßig wenig Austritte. Die unpolitischen Karrieristen warteten ab, und die politisch Denkenden setzten im Glauben an die Partei auf deren Reformfähigkeit.

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Unveröffentlichte Quellen:

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