106. Das Ende der DDR — Das Ende der DDR-Opposition
1. Westdeutsche Politik und Öffentlichkeit
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1.1 Parteien und Regierung
Die westdeutsche Politik wurde von den Revolutionsereignissen völlig überrascht. Es wirkte sich aus, daß die Opposition bis 1989 nicht verstanden und nicht eingeordnet werden konnte. Als sich die Opposition im September formierte, waren es zunächst die langjährigen Unterstützer, die bereit waren, Kontakte aufzunehmen. Am 18. September warteten in Pankow Misselwitz, Neubert, Pflugbeil, Poppe, Gutzeit und andere auf Duve und Weisskirchen von der SPD, die an der Grenze aber zurückgewiesen wurden. Am 29. September sollte es zu einem Treffen zwischen Oppositionellen der verschiedenen Gruppen mit Vertretern der AL aus Westberlin bei Poppes kommen, wobei nur zwei Personen die Einreise gelang, während die anderen an der Grenze zurückgewiesen wurden. Außerdem versuchte das MfS, den Zutritt zur Wohnung abzusperren. Es war offensichtlich, daß die SED gerade diese Kontakte behindern wollte. Doch wirkliche Sorgen über eine Beeinflussung oder gar politische Unterstützung aus dem Westen mußte sie sich nicht machen.
Die westdeutschen Sozialdemokraten brauchten lange, um die Wendeereignisse zu akzeptieren. Edelbert Richter berichtete am 23. August in Dresden bei den Vorplanungen des DA über Gespräche mit SPD-Politikern, u.a. Karsten Voigt, der von der Gründung einer Oppositionspartei abgeraten hätte.
Die SPD hielt ihre Kontakte zur SED, als diese schon weitgehend in die politische Defensive geraten war. Die Bremer SPD-Landesvorsitzende Ilse Janz beklagte sich bei dem Rostocker SED-Chef Ernst Timm noch am 30. Oktober, daß die SED ihre Zusagen nicht einhielte, Vertreter zum Parteienbesuch nach Bremen zu schicken. Darauf schrieb SED-Genosse Siegfried Unverricht aus Rostock am 10. November an die »Genossin Ilse«, daß die »jüngsten Veränderungen in unserem Land« eine Verschiebung nötig machten. Timm hatte inzwischen sein Amt verloren und Unverricht mußte am Tage seines Schreibens zurücktreten.
Am 24. November kam ein neuer Brief aus Rostock, der den Bremern von der »sehr komplizierten Situation« der SED berichtete. Der Schreiber, der in der verwaisten SED-Bezirksleitung als »fast der Einzige aus dem Kreis Eurer Rostocker Gesprächpartner« den Posten hielt (UVA 1995 Anlage 11, 12), versprach, den inzwischen telefonisch aus Bremen übermittelten Wunsch zum Parteienbesuch im Dezember aufzugreifen, wenn es eine neue Parteileitung gäbe. Die Bremer Sozialdemokraten hatten offenbar nicht nur die Revolution gegen die SED in Rostock übersehen, sondern wußten auch nicht, daß es dort inzwischen eine freie SDP gab. Manche Sozialdemokraten betrieben in Fortsetzung ihrer Entspannungspolitik weiterhin die Unterstützung der Krenz-SED und distanzierten sich noch von der ostdeutschen SDP, als diese nach ihrer Gründung von der europäischen Sozialistischen Internationale bereits anerkannt worden war.
Erst Ende November ging die westdeutsche SPD zur Partnerschaft mit der SDP über, traf politische Absprachen und leistete aktiv Hilfe. Damit hatten sich die Sozialdemokraten durchgesetzt, die der DDR-Bevölkerung ihre Freiheitsrevolution und auch ihren Willen zur Einheit nicht absprechen wollten. Jürgen Schmude signalisierte schon auf der Septembersynode des BEK eine Abkehr von Sozialismus. Horst Ehmke und der damalige Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel waren ebenfalls seit September immer deutlicher von der SED abgerückt und erhielten am 16. September eine Ausladung zu einem Volkskammerbesuch. Eine überragende Rolle spielte Willy Brandt, der die ostdeutsche Schwesterpartei unterstützte, die deutsche Wiedervereinigung befürwortete und dafür von den DDR-Bürgern gefeiert wurde. Er konnte allerdings den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber der Sozialdemokratie nicht wettmachen. Für die DDR-SDP, die von Anfang an die ganze Last der Revolution mitgetragen hatte, war diese Erfahrung enttäuschend.
In der CDU wurde die DDR-Revolution von Anfang an begrüßt. Die Politik Kohls hatte Anfang November dazu beigetragen, daß die Opposition zugelassen werden mußte. Nach der Maueröffnung war die Bundesregierung zwar bereit, kurzfristige Hilfsmaßnahmen zugunsten der DDR-Bevölkerung einzuleiten, wollte aber im Gegensatz zu SPD-Vorstellungen die DDR nicht mehr ohne Systemwechsel stabilisieren. Finanzminister Theo Waigel sprach sich zwar für erhebliche Finanzleistungen aus, erklärte aber auch eindeutig: »Wir wären von allen guten Geistern verlassen, wenn über den Umweg der Deutschlandpolitik sozialistische Vorstellungen eingebracht würden.« (Deutsche Bundesbank 1989,2) Die Sanierung der DDR-Wirtschaft konnte, so stand es politisch schon seit November fest, nur über die Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen und eine Öffnung für privates Kapital geschehen.
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Allerdings hatte es die CDU zunächst schwer, Partner im Osten zu finden, da die gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Opposition nicht in ihre politischen Raster paßten. Aufsehen erregte ein Besuch von Norbert Blüm bei Rainer Eppel-mann Anfang Oktober, der die SED erboste. Die CDU hatte sich frühzeitig auf den DA als Partner festgelegt, und Kanzleramtsminister Seiters bezog den DA schon im November bei Verhandlungen mit der SED-Regierung ein. Der DA unterstützte den »Zehn-Punkte-Plan« Kohls und beteiligte sich auch nicht, als verschiedene Oppositionsgruppen am 10. Dezember eine Demonstration gegen Kohl anläßlich seines Besuchs in Ostberlin organisierten. Im Dezember wurde praktisch zeitgleich mit der Einberufung des Runden Tisches der Wahlkampf eröffnet. Die CDU hat schließlich die Ost-CDU nach langem Zögern anerkannt und damit eine Fülle von Problemen auf sich nehmen müssen. Der Vorgang führte zu einer weiteren Differenzierung im DA, weil sich nur ein Teil seiner Mitglieder zu einer Allianz mit der Ost-CDU und der neuen konservativen DSU bereiterklärte.
1.2 Westdeutsche Gesellschaft
Die Revolution in der DDR wurde in ihrem Verlauf von den westdeutschen Medien wesentlich gefördert. Sie stellten in den Monaten September und Oktober für die ersten Demonstrationen die unverzichtbare Öffentlichkeit her. Hier bewährte sich, daß zwischen Oppositionellen und westdeutschen Journalisten in den letzten Jahren intensive Beziehungen gewachsen waren. In der illegalen Phase der oppositionellen Aktivitäten des Herbstes konnten daher viele Absprachen getroffen werden, die den Oppositionellen auch einen gewissen Schutz boten. In den Medien wurden die Bilder von der Öffnung der ungarischen Grenze und den großen Demonstrationen übertragen, sie lösten eine große Sympathiewelle bei den Westdeutschen aus. Über Monate gab es auch im Westen eine Revolutionseuphorie. Unabhängig von politischen Kontakten kamen der DDR-Opposition spontan private Hilfen zugute.
In den Wendemonaten, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Selbstbefreiung der DDR-Bevölkerung, wurden in Westdeutschland jene Geister geweckt, die aus der DDR nun ein Musterland jenseits des Kapitalismus und des Sozialismus machen wollten. Die Briefkästen der oppositionellen Führungsleute quollen von Konzepten, Ratschlägen und Entwürfen für die Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft über. Darunter befanden sich zahlreiche seriöse Überlegungen, aber auch viele unrealistische ideologisch bestimmte Pläne.
2. Von der Revolution zum Wahlkampf
Ein Großteil der Forderungen der ehemaligen DDR-Opposition war im Spätherbst 1989 und im Frühjahr 1990 erfüllt. Teils waren diese Konzessionen der SED abgetrotzt, teils hatte sie diese von sich aus gewährt, um handlungsfähig zu werden. Der jahrelange Kampf um einen Zivildienst war erfolgreich, die Veröffentlichung von Umweltdaten begann und eine Entideologisierung des öffentlichen Lebens setzte ein, die Pluralisierung der Öffentlichkeit nahm rasch Gestalt an, soziale Gruppen konnten ihre eigenen Vereine und Verbände gründen, neue Parteien wie die DSU traten auf, die Entmachtung der SED und des MfS war irreversibel geworden und schließlich standen freie Wahlen an. Die Revolution von Volk und Opposition war erfolgreich.
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Aber diese Revolution, die wie ein Sturzbach über die Akteure aller Seiten hereingebrochen war, produzierte auch ihre Mythen und Symbole, noch bevor sie zu Ende war. Dabei spielten die in der DDR so knappen Bananen plötzlich eine politische Rolle. Sie wurden zum absurden Symbol des unverkrafteten raschen Wandels. Während DDR-Bürger im Fernsehen zu sehen waren, die ihre Bananenbündel dankbar und glücklich auf westdeutschen Marktplätzen entgegennahmen, wurde ein ideologischer Bananenkrieg in Reden, auf Plakaten und in den Medien geführt. Die Bananen dienten zur Disqualifizierung des angeblich bestochenen Volkes durch überhebliche ehemals privilegierte Intellektuelle und frustrierte Moralisten. Die gefeierte politische Kultur der Revolution ging im zivilen Alltag unter. Ende Dezember sollte der Weg in die Normalität der schnöden Interessenkämpfe auf den Demonstrationen noch einmal aufgehalten werden. In verschiedenen Städten, vor allem in Leipzig, wurde die letzte Montagsdemonstration zu einer großen schweigenden Kerzenmeditation.
Ab 1990 begann der revolutionäre Mythos zu verblassen. »Das Volk«, das sich selbst befreit hatte, wollte gemeinsam mit den Westdeutschen wieder als »ein Volk« leben. Danach gab es nur noch Wähler. Die totale Diktatur hatte die totalen Gegenbilder heraufbeschworen, doch die entstehende Demokratie säkularisierte auch diese. Auch der Mythos vom Runden Tisch, an den Westdeutsche oft mehr glaubten als die Ostdeutschen, verlor ab Februar 1990 immer mehr seinen Nimbus. Seine Vertreter waren in der »Regierung der nationalen Verantwortung« zusammengebunden, doch immer unklarer wurde die Frage, welche Nation überhaupt gemeint war. Der eifrigste wissenschaftliche Beobachter des RT, Uwe Thaysen, fragte bald: »Wo blieb das Volk?« (Thaysen 1990, 177). Die Wähler interessierten sich kaum noch für die Übertragungen der Sitzungen des RT. Die Entmythologisie-rung des RTwar aber von ihm selbst ausgegangen. Er war in seinen letzten Wochen zur Plattform für den Wahlkampf geworden, und an seine Beschlüsse hielt sich kaum noch jemand. Die Demokratisierung hatte ihn überholt. Seine historische Bedeutung als das wichtigste und letzte Instrument der ehemaligen DDR-Opposition, den Demokratisierungsprozeß zu institutionalisieren, wird er dennoch behalten.
3. Chronos und Kairos
Die DDR-Opposition durchlief seit Dezember 1989 eine Metamorphose, die fließend von ihrer Neuformierung im September in eine sie aufhebende, letzte Politisierungsphase überging, in der sich zahlreiche Oppositionelle in das Parteienspektrum einfügten.
Keine der am 18. März 1990 in die Volkskammer und schließlich am 2. Dezember 1990 in den Bundestag gewählten Parteien konnte beanspruchen, allein die Nachfolge der DDR-Opposition angetreten zu haben. Einige langjährige Oppositionelle blieben unabhängig, um dezidiert bürgerrechtliche Anliegen zu vertreten oder sich der Aufarbeitung der Vergangenheit zu widmen. Aber auch sie stehen nicht als Gruppe von Bürgerrechtlern in direkter Kontinuität zur Opposition der achtziger Jahre. Die DDR-Opposition als eine einheitliche Größe ist lediglich eine Projektion ihrer politischen Gegner oder auch von Revolutionsromantikern.
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Wohl gibt es eine biographische Kontinuität, in der das Jahr 1989 einen wesentlichen Einschnitt darstellt. In den Biographien wirken Orientierungen und Haltungen weiter, die allerdings durch die Erfahrung von 1989 zu ganz und gar verschiedenen politischen Handlungen führen können. Der jeweilige politische und geistige Standort in der DDR sagt noch nicht viel über die politische Rollenfindung im vereinten Deutschland. Schon die Entscheidungen in der Wende waren oft überraschend. Niemand hätte z.B. prognostizieren können, daß der pazifistische Protestant Eppelmann als Minister für Verteidigung und Abrüstung in die erste frei gewählte, CDU-geführte DDR-Regierung eintreten würde.
Der Sturz der totalitären kommunistischen Herrschaft in der DDR stand in Verbindung mit dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus und hatte deswegen auch außenpolitische Komponenten. In der DDR aber war es eine Bewegung aus der Untertanengesellschaft heraus, unabhängig von den politischen Kräften in der Bundesrepublik und des ganzen Westens, die auf den westlichen Zivilisationstyp zulief. Maßgeblich beteiligt waren auch — das ist das eigentliche Paradox dieser Revolution — die intellektuellen und protestantischen Kritiker dieser Zivilisation. Sie gaben einer narkotisierten Gesellschaft Worte und Bilder, die oft weit über das Machbare hinausgingen. Ob Basisdemokrat oder Menschenrechtler, ob sozialethisch orientierter Protestant oder leidenschaftlicher Ökologe — sie waren weniger in ihren Programmen als vielmehr in ihrer Zivilcourage der Gesellschaft auf diesem Wege weit voraus.
Die politischen Themen der Opposition blieben in der Spannung von pragmatisch angestrebter Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der oft religiös artikulierten Hoffnung auf letzte Gerechtigkeit. Ohne diese Transzendierung läßt sich weder die jahrzehntelange Opposition verstehen noch der Herbst 1989 erklären. Die Verwirklichung von Recht und Freiheit blieb fast zwangsläufig hinter dem zurück, was oppositionelle Politik bewegt hat. Oppositionelle strebten nach der einen und geeinten freien und gerechten Welt und kamen im vereinten Deutschland an. Das führte bei vielen zu Enttäuschungen. Konrad Weiß schrieb im Sommer 1990: »Ich habe meine Heimat verloren: dieses graue, enge, häßliche Land. Dieses schöne Land (...) In diesem Land bin ich aufgewachsen, es war das Land meiner ersten Liebe, das Land meiner Träume, das Land meines Zorns. (...) Doch nun stürmt ein rauhes, grelles, hemdsärmliges Vaterland auf uns ein.« (Weib 1990, 27)
Doch die vielfach geäußerte Trauer um die DDR war die Trauer um das Ende einer Zeit der Bewährung und der Selbstbehauptung, die im Herbst 1989 ihren Kulminationspunkt hatte.
Der berühmte Satz von Michail Gorbatschow »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« galt dem SED-Staat, dessen Zeit zu Ende ging. Etwas Neues brach sich Bahn. »Demokratie - jetzt oder nie!« skandierte das Volk. »Die Zeit ist reif« hieß es im Gründungsaufruf des Neuen Forums. Die Bürgerbewegung Demokratie jetzt wählte sich den Schmetterling als Symbol, der seine Pracht in einem nur kurzen Leben entfaltet. Der Parteiname Demokratischer Aufbruch forderte zur Frage heraus, wohin die Akteure aufbrechen wollten. Und selbst noch der Name Bündnis 90, das sich als Wahlgemeinschaft verschiedener Gruppierungen im Januar 1990 zusammenfand, klang, als sollte die Zeit festgehalten werden.
Die Phase des Umbruchs war auch für die Opposition zu kurz. Sie hatte nicht die Muße, um zu sich selbst zu finden. In wenigen Monaten mußte sie von den Strategien einer systemimmanenten Opposition zu einem den demokratischen Verhältnissen entsprechenden Politikverständnis finden und war damit überfordert. Alle revolutionären Institutionen hatten ihre Zeit, um schnell wieder zu vergehen.
Die Sechs von Leipzig, deren einzelne Mitglieder noch eine Weile ein hohes moralisches Gewicht hatten, wurden politisch bald bedeutungslos. Die Gruppe der Zwanzig in Dresden zerfiel, und ihre Mitglieder ordneten sich in das Parteienspektrum ein. Der Runde Tisch sollte sich selbst überholen.
Alle weitgesteckten Ziele, mit denen die Opposition im September und Oktober 1989 angetreten war, die über die Entmachtung der SED und die Einrichtung der demokratischen Ordnung hinausgingen, erwiesen sich als idealistischer Überschuß.
Als auf dem Parteitag des DA im Dezember die Flügel- und Richtungskämpfe allem Idealismus ein Ende bereiteten, sagte Edelbert Richter in einer Verhandlungspause zu mir: »Wir haben die Tradition unterschätzt!«, womit er bereits die westdeutsche Parteientradition meinte, in die sich einzuordnen nun unausweichlich geworden war.
So geschah es dann auch. Die DDR-Opposition hatte ihren Kairos. Aber Chronos ging über sie hinweg. Doch hat diese inhomogene politische Bewegung ihre Spuren hinterlassen. Sie hat die geistige Freiheit gegen den Verfügungsanspruch des Totalitarismus verteidigt. Das bleibt ihr Beitrag zur deutschen politischen Kultur.
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