Neuffer-1992
9-20
Vom Menschen wird erwartet, daß er zu seinem Leben "Ja!" sagt. Seine Familie, seine Freunde erwarten es, seine Lehrer, sein Pfarrer, seine Kollegen wie seine Vorgesetzten. Er erwartet es selbst.
Sicher, er ist vorher nicht gefragt worden, ob er dieses Leben, oder auch ein anderes, überhaupt haben will. Umso dringender erscheint es offenbar, daß er sich wenigstens nachträglich dazu bekennt. Sein Ja trägt ihm reichen Lohn durch die Vergewisserungen, die es mit sich bringt.
Auch wenn dem Menschen noch soviel Schwieriges, Beunruhigendes, ja Schreckliches zugemutet wird ‐ wenn es mit dem Leben insgesamt seine Richtigkeit hat, so mögen auch dessen unleugbaren Grausamkeiten und Leiden schließlich noch einen Sinn ergeben.
Vor allem aber zählt, wie glücklich die Lebenszustimmung den Menschen ins Einvernehmen mit seinen Mitmenschen setzt. Das verschafft ihm Anerkennung und Zustimmung, Bestätigung.
Eingebunden in die kollektive Solidarität der zum Leben Ja‐Sagenden, kann er sich geborgen fühlen.
Gewiß, offene Fragen und Zweifel bleiben und melden sich immer wieder. So ganz und gar wird davon keiner verschont. Aber das vergeht ‐ wenn auch nicht bei allen, so doch bei den meisten. Denn zum Leben einfach nein zu sagen, das bringt den Menschen nun doch in eine schlechte Lage. Er ist da mit solcher Meinung ziemlich allein, ein Unangepaßter, ein vielleicht nicht ganz Gesunder, einer, der nicht dazugehört, einer, »der's nicht packt«.
Kein Zweifel, das Ja zum Leben ist richtig und gut, ein Nein zum Leben ist falsch und verwerflich. In dieser vereinfachten Formel läßt sich das Grundbewußtsein der Menschen ‐ jedenfalls des abendländisch‐christlichen Kulturkreises ‐ wohl erfassen.
Die Lebenszustimmung ist gesellschaftlich nicht nur akzeptiert, sondern obligatorisch. Die Lebensverneinung markiert in unserer Gesellschaft eine fast extreme Außenseiterposition.
Das gilt gleichermaßen für die mehreren Bedeutungen, die der Begriff Leben für unsere Fragestellung annehmen kann:
die Schöpfung insgesamt, also die Welt als Ganzes in ihrer vorgefundenen Ordnung und Gesetzlichkeit;
die Menschheit als höchstentwickelte Art alles Lebendigen auf der Erde;
und vor allem natürlich das individuelle Leben des einzelnen Menschen in seiner Einzigartigkeit.
Ja zum Leben bedeutet also je nach dem Zusammenhang:
es ist besser, daß es die Welt gibt, als daß es sie nicht gäbe;
es ist besser, daß es die Menschheit gibt, als daß es sie nicht gäbe;
es ist in Bezug auf jeden einzelnen Menschen besser, daß es ihn gibt, als daß es ihn nicht gäbe.
Daß das Ja zum Leben so unbestritten dominiert, wie wir es tagtäglich überall und unter den mißlichsten Umständen feststellen können, beruht nun allerdings nicht nur auf gesellschaftlicher Konditionierung, sondern hat seine eigenen Gründe. Deren stärkster, fast unwiderstehlicher ist die Tatsache des Existierens als solche.
Das Ja zum Leben ist immer und in erster Linie ein Ja zu sich selbst. Was lebt, will leben ‐ weil es sonst nicht wäre. Das ist das Grundgesetz des kreatürlichen Daseins. Der Lebenstrieb beherrscht den Menschen wie jeden anderen Organismus ‐ so sehr er in diesem Fall durch das einzigartige reflexive Bewußtsein auch modifiziert werden mag.
Ja zum Leben ist die spontane Zustimmung des Existierenden zu seiner Existenz, der organischen Kreatur Mensch zu ihrem organischen Funktionieren, des Schreitenden zu seiner Bewegung, des Empfindenden zu seinem Fühlen, des Denkenden zu seiner Erkenntnis. Ja zum Leben bedeutet Lebenwollen, weil es besser ist zu sein, als nicht zu sein.
Diese Einheit von Sein und Leben ist so elementar, daß jedes Nein zum Leben als Nein zu sich selbst erfahren und damit fast unmöglich wird.
Wir lassen dabei auch nicht jene Fälle außer Betracht, in denen der Lebenswille durch ein Versagen der Kräfte erlischt. Die sich dabei vollziehende Abnahme von Leben kann zu einer Minderung der Lebensbejahung führen, die in der Umkehrung nur bestätigt, daß die Tatsache des ‐ vollen ‐ Lebens der stärkste Grund für seine Bejahung ist.
Leben aus der Fülle der Kraft heraus gebiert die Erfahrungen, die uns die eigene Existenz als so überaus kostbar erscheinen lassen: empfangene und gewährte Liebe und Freundschaft, Sexualität, Geborgenheit und Solidarität in der Gemeinschaft, Überwältigung durch Natur und Kunst, Stolz auf eigene Gestaltungskraft, Leistung und Anerkennung, Befriedigung über gewonnene Erkenntnis, über ausgeübte Gerechtigkeit, Genuß und Rausch, Erfüllung im Glauben.
Kein Einzelleben ‐ und sei es noch so reich ‐ umschließt alle solchen möglichen Glückserfahrungen. Aber auch im »ärmsten« Lebenslauf fehlen sie nicht gänzlich. Wer an ihnen Teil hat, und sei es nur in bescheidenem Maße, für den gibt es schon einen Grund für ein Ja zum Leben. Ob er ausreicht, ist eine andere Frage.
Schließlich sei in diesem Zusammenhang auch die Neugierde nicht vergessen. Zu sein kann nicht nur schöner sein als nicht zu sein. Auf jeden Fall ist es interessanter. Die Neugierde der Menschen ist weniger eine Eigenschaft als eine Besessenheit. Was sie über diese Welt, ihre Entstehung und Entwicklung, ihre Gesetzmäßigkeiten und ihre Möglichkeiten bisher herausgefunden haben, ist sicher so fragmentarisch wie es »humanoid präformiert« ist ‐ aber es ist stupende. Man weiß nicht, ob man mehr über die anscheinend abenteuerliche Unsinnigkeit der Weltveranstaltung oder über die sinnverwirrend‐elaborierte Vielfältigkeit und Komplexität ihrer Erscheinungsgebilde staunen soll.
Die Wissensbrocken, die wir uns mit Talent und List angeeignet haben, machen kräftig Hunger auf mehr. Vor allem, wo es mit der einzigen uns bisher bekannten Intelligenz‐Form unseres Kosmos, den Menschen, im Zuge der fortschreitenden Evolution noch hinaus soll, wüßten wir schon gern. In der Summe und in ihrer Qualität sind die Gründe für ein Ja zum Leben so immens stark, daß sie als schier unerschütterlich erscheinen. Für viele Menschen bedeutet dieses ihr Ja zudem noch viel mehr als solches elementar empfundene Grundeinverständnis. Sie sehen im Leben ein »Geschenk« des Schöpfers. Sie empfinden seine Annahme als eine Verpflichtung, da es dem direkten Willen Gottes entsprungen sei. Das Christentum vertritt diese Position mit Entschiedenheit. Aber auch nicht religiös gebundene Menschen neigen zu einer ähnlichen Empfindung: Da wir uns ja nicht selbst zum Leben entschieden haben, sondern es uns »gegeben« wurde, fühlen sie sich an die einem solchen elementaren Vorgang offenbar zugrundeliegende Ordnung gebunden.
In Albert Schweitzers »Ehrfurcht vor dem Leben« als ethischem Zentralbegriff hat sich das Ja zum Leben noch über das religiöse Gebot hinaus gleichsam verselbständigt und leuchtet seither Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen. Ein grundsätzliches Nein zum Leben erscheint in der Tat vielen Menschen ‐ soweit sie sich diese Frage überhaupt je stellen ‐ nicht nur als falsch, sondern als entweder unzulässig oder unmöglich. Die Kirchen lehren: Wo Gott Leben geschenkt hat, darf sein Geschöpf es nicht verwerfen. Wo Gott Leben will ‐ und Gott will das Leben jedes Menschen ‐, darf es nicht zurückgewiesen werden. Ohne den religiösen Bezug läßt sich argumentieren: Als Teil des Seienden ist dem Menschen die Entscheidung für ein Nichtsein verwehrt.
Wenn dies so oder so zuträfe, so wären wir schon am Ende aller Erwägungen über ein Ja oder Nein zum Leben angelangt. Tatsächlich kann davon keine Rede sein. Sogar das viel stärkere religiöse Argument ist alles andere als schlüssig. Selbst im Rahmen konventioneller Gottesvorstellungen ließe sich denken, daß der Schöpferwille Gottes die Wahlfreiheit seiner Geschöpfe einschließt, zum Leben ja oder nein zu sagen, und ihnen die Ablehnung, sei es der Schöpfung insgesamt, sei es der ihnen darin zugewiesenen Rolle, als mögliche legitime Position einräumt.
Denn immerhin ist der Mensch nicht nur mit Leben ausgestattet, sondern auch mit einer Reflexionsfähigkeit, die ihn ‐ im Rahmen seiner kategorialen Reichweite ‐ zu einem kritischen Urteil über das Leben befähigt. Der Mensch ist auch imstande, aus einem negativen Urteil über sein Leben die Konsequenz zu ziehen und sich zu töten oder sich der Weitergabe von Leben an Nachkommen zu enthalten.
Ist es dann von vornherein ausgemacht, daß das von Gott geschenkte Leben für ihn einen höheren Rang einnimmt als die ihm in gleicher Weise zugekommene Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, ob und wie er dieses Leben führt?
Könnte nicht auch ein allmächtiger und allgütiger Gott in seinen Schöpfungsplan die Möglichkeit aufgenommen haben, daß der nach seinem Bilde geschaffene, mit eigener Seele, eigener Urteilskraft, eigener Verantwortung und eigener Handlungsmöglichkeit versehene Mensch diese Schöpfung oder seine eigene Rolle in dieser Schöpfung ablehnt? Das täte der Majestät Gottes keinen Abbruch, machte aber Ernst mit der dem Menschen verliehenen Entscheidungsautonomie. An der sind die Kirchen herkömmlicherweise freilich sehr viel weniger interessiert als am Glaubensgehorsam. Alle ihre Bekundungen laufen denn auch auf die rituelle Wiederholung der offiziellen Lehrmeinung hinaus. Die 1989 erschienene Erklärung aller christlichen Kirchen in der Bundesrepublik »Gott ist ein Freund des Lebens« liest sich noch einmal als ein einziges Plädoyer für die Absolutheit des Lebensgebots. Gott ist Leben. Gott ist Schöpfer des Lebens. Gott ist Schützer des Lebens.
Allerdings wird, in dem Abschnitt über die »Mächte der Lebenszerstörung«, die Frage einer persönlichen Autonomie des Menschen einmal angesprochen. Anlaß ist der biblische Sündenfall. Dort sei der Mensch der Versuchung erlegen, sein zu wollen wie Gott und selbst zu bestimmen, was ihm und seiner Mitwelt förderlich ist. »Statt sich an Gott zu orientieren, der ihm sein Leben und eine Leben gewährleistende Welt gab, orientierte sich der Mensch an sich selbst und seinen eigensinnigen Vorstellungen, Bestimmungen, Interessen.«
Nur, woher kommen sie denn, die »eigensinnigen Vorstellungen« der Menschen? Irgendwo in Gottes Schöpfung müssen doch auch sie ihre Wurzel haben.
Nun ist es nicht so, daß das Ja zum Leben, speziell dem der Menschen, allein von den Kirchen mit einiger Rigorosität vertreten wird. Bei einem der angesehensten deutschen Philosophen unserer Zeit, Hans Jonas, liest es sich kaum anders. In seinem Werk »Das Prinzip Verantwortung« erklärt er unter dem hübschen Zwischentitel »Pflicht zum Dasein und Sosein einer Nachkommenschaft überhaupt«, daß wir eine Verpflichtung zum Dasein künftiger Menschen haben. Diese schließe die Pflicht zur Fortpflanzung ein. (Großzügig wird angemerkt, daß letztere »nicht notwendig« jedem einzelnen obliege.) Daß eine Menschheit sei, erklärt er zum Imperativ (Das Prinzip Verantwortung, S. 86).
Wer nun nach der Begründung für ein solches Gebot sucht, wird freilich kaum weniger dogmatisch abgefertigt, als das bei den Offenbarungsreligionen der Fall ist. Wir seien ‐ so heißt es ‐ mit diesem ersten Imperativ, daß eine Menschheit sei,
»nicht den künftigen Menschen verantwortlich, sondern der Idee des Menschen, die eine solche ist, daß sie die Anwesenheit ihrer Verkörperungen in der Welt fordert. Es ist, mit anderen Worten, eine ontologische Idee... die sagt, daß eine solche Anwesenheit sein soll« (a. a. O., S. 91).
Eine solche onto-theologische Feststellung kann man nicht mehr rational nachvollziehen, sondern nur glaubend annehmen ‐ oder eben auch nicht.
Daß etwas, das da ist, jedenfalls aus der Sicht seines Urhebers auch dasein soll, wird man zwar getrost unterstellen dürfen. Doch sind die Ziele oder Versuche, die der Schöpfer offenbar durch die Evolution dieses Kosmos verfolgt, keineswegs eo ipso identisch mit den Interessen der Geschöpfe, die dabei entstehen. Diese brauchen sich das vom Schöpfer statuierte Seinsollen keineswegs zu eigen zu machen und als für sich verbindlich anzuerkennen ‐ so wenig wie das Lamm schon deshalb mit seiner Existenz einverstanden zu sein braucht, weil die stringenten Verwertungsmotive des Hirten sein Dasein gewollt haben.
Dem Skeptiker fällt die Toleranz für ein Nein zum Leben naturgemäß leichter als dem Gläubigen. Die »Göttlichkeit« der Schöpfung im Sinne eines transzendenten Hervorbringungsaktes wird von ihm auch gar nicht bestritten. In der Tat drängt uns alles zu der Annahme, daß die Weltveranstaltung, deren Teil wir sind, einem Urheberwillen und einer Gestaltungskraft entsprungen ist, die unser Begreifen weit übersteigen. Man kann das Gott nennen.
Allerdings ist dieser Begriff im Verlauf der Menschheitsgeschichte und ihrer zahllosen religiösen Ausformungen so vielfältig konkret und personifiziert besetzt worden, daß sich seine Verwendung nicht empfiehlt. Es scheint sinnvoller zu sein, für den Urheber des Kosmos das neutralere, wenn auch immer noch sehr personal eingefärbte Wort Schöpfer zu verwenden.
Von ihm wissen wir nichts, außer was wir an seinen Schöpfungswirkungen zu erfassen in der Lage sind. Das ist jedenfalls die Position des Agnostikers, der von keiner geoffenbarten Wahrheit so beeindruckt ist, daß er sie sich glaubend zu eigen machen könnte. Er findet sich resignierend und bedauernd damit ab, daß die Evolution bei allen Wundern ihrer Hervorbringung keinen Informationstransfer vom Schöpfer zum Menschen ermöglicht hat, der über Rückschlüsse aus den uns einsichtigen Daseinsmodalitäten hinausginge. Die wichtigste, für unser ursachenorientiertes Denken eigentlich zwingende Folgerung ist eben nur die auf die Existenz einer transzendenten Ursache des kosmologischen Geschehens, die wir nicht näher erfassen können.
Keinesfalls stellen die eng gezogenen Erkenntnisgrenzen allerdings die autonome Beurteilungs‐ und Wertungslegitimation des Menschen in Frage. Zwar ist ihm nur allzu bewußt, wie begrenzt und bedingt sein Wissen ist und wie relativ und historisch sein Wertsystem. Seine Folgerungen stimmen immer nur unter Prämissen, die er nicht ändern kann. Aber mit dieser Handhabung seines zugegebenermaßen höchst unzulänglichen geistigen Instrumentariums darf er sich in voller Übereinstimmung mit der Schöpfungsintention fühlen ‐ wenn es die denn gibt. Wozu sonst sollte die Evolution solchen Aufwand mit der Entwicklung seines Urteilsvermögens getrieben haben als dazu, daß der Mensch es auch ohne Vorgabe irgendwelcher Grenzen oder Konditionen nutzt.
Hier ist eine Zwischenbemerkung notwendig.
In jeder Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Evolution stößt man immer wieder auf Sachverhalte, die sich am besten darstellen lassen, wenn man die Evolution als eine handelnde, Ursachen setzende Größe darstellt (»Die Evolution will...«, »Die Evolution bedient sich...«, »Die Evolution zielt darauf...« etc.). Das ist strenggenommen natürlich falsch. Die Evolution ist ein Prozeß, dessen Ursache und Antriebe wir nicht und dessen Mechanismen wir nur zum Teil kennen. Wenn man sich dessen bewußt ist, erleichtert die personifizierende Darstellungsform aber die Verständigung, ohne Verwirrung anzurichten. Auch die naturwissenschaftlichen Populärdarstellungen bedienen sich immer wieder dieser erlaubten Abkürzung. Wir kehren zu der Feststellung zurück, daß die Frage nach dem Ja oder Nein zum Leben sowohl unter religiösen wie unter agnostischen Prämissen zulässig ist.
Der Weg zur Beantwortung ist schwierig. Schwierig ist es schon, zur Fragestellung vorzudringen.
Natürlich stellt jeder sich irgendwann einmal Lebensfragen: nach Gott, nach dem Sinn des Lebens, nach der eigenen Aufgabe in der Welt, nach Selbstverwirklichung und erreichbarem Glück und ertragbarem Leid.
Aber die Kernfrage nach der Zustimmung zum Leben als solchem stellt sich seltener. Hätte man seiner eigenen Existenz unter den jetzt bekannten Bedingungen dieser Welt und der persönlichen Lebensumstände zugestimmt, wenn man vorher danach gefragt worden wäre? Oder hätte man dann nicht doch lieber darauf verzichtet, ins Leben gesetzt zu werden? Wer fragt schon so ‐ und wozu auch?
Auf das »Wozu« kommen wir später noch. Bleiben wir zunächst bei der Frage nach dem »Ob«. Hätte man zugestimmt?
Schwierig ist es zunächst schon, zur Unbefangenheit der Antwortsuche zu finden. Denn im Urteil der Gesellschaft sind ja nicht beide Antworten, das Ja und das Nein, gleichwertig. Nur ersteres wird von der großen Mehrheit unserer Zeitgenossen gebilligt. Mit einer Nein-Antwort zieht man die Gefahr heftiger gesellschaftlicher Mißbilligung, wo nicht Ächtung, auf sich, begibt sich in eine exzentrische Außenseiterposition, die nicht gerade den erfreulichsten Aufenthalt verheißt. Ob der einzelne sich das klarmacht oder nicht, jeder derartige Zustimmungs‐ oder Ablehnungsdruck beeinflußt den Prozeß der eigenen Antwortfindung und drängt in Richtung einer mehrheitskonformen Meinungsbildung.
Ein weiteres kommt hinzu. Menschen verstehen ihr eigenes Leben als eine Gestaltungsaufgabe, die ihnen mehr oder weniger gut gelingen, aber auch mißlingen kann. Da liegt es für den Fragenden selbst ebenso wie für den Außenstehenden nahe, hinter einem negativen Lebensurteil auch Versagen im persönlichen Lebensschicksal zu vermuten. Wer zum Leben nein sagt, der hat doch wohl versäumt, etwas daraus zu machen. Umgekehrt läßt ein kräftiges Ja zum Leben darauf schließen, daß da einer seine Lebensmöglichkeiten besonders erfolgreich ausgeschöpft habe. Wer gibt sich da schon gern eine Blöße, setzt sich auch nur dem Verdacht eines Versagens aus?
Emotional schiebt und zieht also vieles in Richtung auf eine lebensbejahende Antwort, deren stärkste und tiefste Wurzel natürlich in der bloßen Tatsache des nackten Existierens liegt.
Die lebendige Kreatur will leben. Das ist ihr Grundgesetz. Sie will unter fast jeder denkbaren Bedingung und Belastung leben. Es erfordert eine fast übermenschliche Anstrengung, das eigene Existieren wegzudenken, es auch nur hypothetisch zu verleugnen und dann kühl abwägend nach seiner Wünschbarkeit zu fragen.
Aber trotz solchen vielfältigen Schiebens und Ziehens zur positiven Lebensantwort hin ist die negative so selten auch wieder nicht, wie es den Anschein haben könnte. Sie hat von frühen Zeiten her ihre eigene Tradition. Herodot berichtet im 5. Jahrhundert v.Chr. über die Sitte der Thraker, die Neugeborenen mit Wehklagen zu begrüßen und ihnen alle in ihrem Leben nun bevorstehenden Leiden aufzuzählen. Auch wenn wir nicht sicher sein können, daß es diesen Brauch wirklich gab, so zeugt doch seine Überlieferung zumindest davon, wie vertraut ein solcher Gedanke den Menschen seit Jahrtausenden ist. Er mündet in neuerer Zeit etwa ein in die nüchterne Formulierung Schopenhauers:
»Als Zweck unseres Daseins ist nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären. Dies aber ist die wichtigste aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden muß; so sehr sie auch mit der heutigen europäischen Denkweise im Kontrast steht.«
Es ist auch nicht so, daß das Ja und das Nein zum Leben durch einen unüberbrückbaren Graben voneinander getrennt wären. Wir finden im Gegenteil häufiger, daß der einzelne Mensch je nach seinen Lebensumständen nacheinander die eine und dann die andere Position für richtig halten mag. Selbst ein so standhafter Ja‐Bekenner wie Hiob hatte seine schwache Stunde:
»Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt! Jener Tag soll finster sein, und Gott droben frage nicht nach ihm! ...die Nacht hoffe aufs Licht, doch es komme nicht, und sie sehe nicht die Wimpern der Morgenröte, weil sie nicht verschlossen hat den Leib meiner Mutter... Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam? Warum hat man mich auf den Schoß genommen? Warum bin ich an den Brüsten gesäugt?«
Wechsel in der subjektiven Einschätzung der Weltveranstaltung sind also natürlich, und jedes Ja ist so legitim wie jedes Nein. Dabei wird man einem flüchtigen, stimmungsgetragenen Tages‐Ja oder Tages‐Nein freilich weniger Gewicht beimessen als den verfestigten, schon bilanzierenden Grundeinstellungen, die sich im Verlauf des Menschenlebens stärker durchsetzen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte es vielleicht noch einmal mit besonderem Nachdruck gesagt werden: Auch ein Nein zum Leben bedeutet nicht, daß in fremdes Leben in irgendeiner Weise eingegriffen oder darüber nach Belieben verfügt werden dürfte. An der Abgrenzung der individuellen Rechtssphären, an dem unabdingbaren subjektiven Anspruch auf Leben und körperliche Unversehrtheit eines jeden ändert sich gar nichts, wenn man die Nichtexistenz von Menschen ihrem Dasein vorziehen möchte. Es gibt sie nun einmal. Und die von ihnen entwickelten Ideale der Gleichheit, Freiheit und Solidarität stellen das höchstrangige Orientierungssystem für ihr Zusammenleben dar, das wir uns denken können. Darin nimmt der Existenzanspruch jedes Individuums seinen unverändert dominierenden Platz ein.
Im Folgenden wird nun zunächst der Versuch unternommen, die Aspekte der Welt, die für ein Ja oder Nein von besonderem Gewicht sein könnten, vor Augen zu führen. Dabei spielt natürlich auch die aktuelle Situation auf der Erde mit ihren vielfach krisenhaften Einzelentwicklungen eine Rolle. Aber keineswegs geringere Bedeutung kommt den strukturellen Bedingungen menschlichen Lebens in diesem naturgesetzlich so verfaßt vorgefundenen Kosmos in dieser Phase der Evolution zu.
Anders: auch wenn es keine Atomsprengköpfe, keine Bevölkerungsexplosion, keine Klimakatastrophe, keine Umweltverseuchung gäbe, bliebe die Frage nach dem Ja oder Nein zum Leben natürlich im Kern unverändert bestehen. Die Existenzkrise der hypertroph anschwellenden Menschheit mag dem Nein aber zusätzliches Gewicht verschaffen.
Überlegungen über die möglichen Folgen eines Nein zum Leben schließen sich an. Sie münden in die insistierende Forderung, daß die Entscheidungsautonomie der Einzelperson auch dann uneingeschränkt respektiert werden sollte, wenn sie das Leben verwirft. Insoweit bedarf vor allem die gesellschaftliche Handhabung der Todesprobleme in wichtigen Punkten einer durchgreifenden Revision. Diesem Thema sind die letzten Abschnitte dieser Schrift gewidmet.
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goog insistieren bestehen, beharren, dringen
Martin Neuffer - 1992