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5  Die Tötungsstruktur der organischen Systeme

  Neuffer-1992

 

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Ehrfurchtsvoll - in der Tat, wie der große Albert Schweitzer es uns ans Herz legt -, bisweilen auch etwas fassungslos stehen wir vor den »Wundern der Natur«. Die nicht endenwollende Vielfalt der organischen Lebens­formen, welche die Evolution hervorgebracht hat, ist schier unfaßbar. Die Raffinesse der Mechanismen, die Ausgeklügeltheit der Systeme, die zu Herzen gehende Schönheit von Pflanzen und Tieren übersteigen unser Begreifen bei weitem. Der Reichtum der Schöpfung scheint unergründlich zu sein.

Staunenswert ist auch die Fülle von Informationen, mit denen die Paläontologen und Biologen die Entwicklung der Arten inzwischen nachzeichnen können.

Aber wir wissen auch: Alle diese Wunderformen des Lebens stehen in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf miteinander. Sie sind programmiert, einander zu verdrängen und einander zu fressen. Das Strukturprinzip der Evolution, aus dem Vollen zu wirtschaften, wirft massenhaft immer neue Formen von Organismen in massenhaft aufeinanderfolgenden Generationen mit jeweils massenhaften Beständen an Nachwuchskeimen in die Kampfarena der Natur. Die mögen dann sehen, ob und wie sie durchkommen. Evolutionswirtschaftlich gesehen, ist das offenbar ein höchst erfolgreiches Verfahren.

Aus menschlicher Sicht sind zwei Einwände geltend zu machen. Zum einen kann uns der Gedanke nicht behagen, selbst nur Evolutions‐ und Freßmaterial ohne Eigenbedeutung darzustellen, Wegwerf‐Lebewesen wie alle anderen. Davon war oben schon die Rede.

Zum anderen will es uns nicht einleuchten, daß der überreichen Wunderwelt des organischen Lebens kein anderes Schicksal beschieden sein soll, als Einzelglieder im Evolutionsprozeß einerseits und Zwischenglieder in der Nahrungsmittelkette andererseits zu sein. Wir können es nicht in eins sehen, die elaborate Schönheit der Libelle als Proteinlieferant des lustigen Ochsenfrosches, der seinerseits dem eleganten Storch ein angenehmes Fressen bedeutet. Dieses unablässige Fressen und Gefressenwerden im Tierreich fordert als System unseren Widerspruch heraus.

Nun beteiligen wir uns natürlich selbst in der bedenkenlosesten Weise an diesem Verfahren. Das intelligente Raubtier Mensch hat sich früh als höchst erfolgreicher Jäger und später auch Landwirt etabliert. Inzwischen halten wir uns die Tiere, die wir verzehren wollen, in kleinen und großen Herden, in Ställen, auf Wiesen, in Unterwasserkäfigen. Wir züchten sie, ziehen sie groß, pflegen sie, schlachten, verpacken und tiefgefrieren sie, bis sie schließlich als Lebensmittel verbraucht werden.

Doch irgendwo im Lauf der Jahrtausende hat uns die Evolution einen Streich gespielt. Wir Menschen haben den Tieren und Pflanzen gegenüber Gefühle entwickelt: Bewunderung ihrer Kraft und Schönheit, Zuneigung, Liebe, Fürsorge. Der heilige Franz hat ihnen gepredigt. Viele Haustiere sind individuelle Lebenspartner von Menschen geworden, denen sie näherstehen als es andere Menschen tun.

Damit ist wieder einmal ein Zwiespalt in unser Leben gekommen, der uns zu schaffen macht. Auf der einen Seite sind wir auf Pflanzen und Tiere als Nahrung angewiesen und können uns daher bei ihrem Verzehr ganz im Einklang mit den Regeln der Natur fühlen. Auf der anderen Seite spüren wir eine kreatürliche Solidarität, die uns das Einverleiben eines Hasen als Verstoß empfinden läßt. Ist Christus so oft als »guter Hirte« dargestellt worden, weil er das Lamm vor Schaden bewahrte oder weil er seinen Jüngern den Osterbraten rettete?

Naturvölker haben den Ritus entwickelt, das erlegte Tier um Verzeihung für das nun einmal notwendige Verzehrtwerden zu bitten. Eine weitergehende Folgerung ziehen Vegetarier, die auf den Genuß von Fleisch ganz verzichten. Zwar besteht auch die pflanzliche Nahrung aus getöteten Organismen. Wir empfinden ihnen gegenüber die »Bruderschaft« jedoch deutlich als eine entferntere ‐ auch wenn wir dem dürstenden Strauch, der die Blätter hängen läßt, dem im Abgasdunst verkümmernden Baum helfen, so gut wir es können.

Wesentlich an diesen Überlegungen ist die Einsicht, daß die Evolution uns einen weiteren Lebenswiderspruch aufgezwungen hat: den zwischen dem unerbittlichen Gesetz des Fressens und unserer Solidarität mit allen anderen Organismen, welche die Evolution offenbar auch ansteuert.

Natürlich ist hier, wie in anderen Zusammenhängen auch, die größte Vorsicht geboten, wenn von einer Zielgerichtetheit der Evolution die Rede ist: Von ihren Absichten wissen wir gar nichts. Aber es ist legitim, vergangene Entwicklungsstränge der Evolution aufzudecken und spekulativ in die Zukunft hinein zu verlängern. Dabei stößt man auf diese Herausbildung menschlicher Zuwendung und Zuneigung zu aller Kreatur. Es wird ein Prozeß der emotionalen Annäherung erkennbar, der auf die Natur als Ganzes gerichtet ist, ein Sichdurchsetzen des Liebesgebots über die Grenzen der eigenen Art hinaus, für die meisten von uns vor den Kakerlaken einst­weilen noch haltmachend.

Der Blick in die Zukunft zeigt uns, daß alles irdische Leben der gleichen Todesbestimmtheit unterliegt.
Tröstlich ist das nicht.

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Martin Neuffer   Nein zum Leben   Ein Essay  1992