Neuffer-1992
119-122
Der Begriff Euthanasie bedeutete einmal Hilfe zu einem guten Tod. qwant Euthanasie
Er ist schrecklich mißbraucht und in sein Gegenteil verkehrt worden durch die Maßnahmen der NS‐Regierung zur Tötung Geisteskranker und Mißgebildeter. Aus der Hilfe zum Guten wurde das Verhelfen zum schlimmen Tod. Seitdem denken wir zuerst an diese Mordaktion, wenn von Euthanasie die Rede ist.
Es wird wahrscheinlich auch durch sorgfältigen Sprachumgang kaum möglich sein, dem Wort seine alte Bedeutung zurückzugewinnen. Wir kommen aber insofern nicht in Verlegenheit, als uns mit Sterbebegleitung und Sterbehilfe zwei gute Begriffe zur Verfügung stehen.
Die Sterbebegleitung, die Anwesenheit und Zuwendung während der Sterbephase, ist eine Aufgabe von großer menschlicher Bedeutung. Für einen guten Tod kann sie den Ausschlag geben. Es wäre zu wünschen, daß diese Form der praktizierten Solidarität zur Selbstverständlichkeit wird.
Die ethischen Probleme liegen bei der Sterbehilfe, die dem unheilbar Kranken zuteil wird. Es hat sich die Übung herausgebildet, von passiver oder aktiver Sterbehilfe zu sprechen, je nachdem, ob es sich »nur« um die Einstellung einer lebensverlängernden Behandlung oder um einen lebensbeendenden Eingriff handelt.
Die passive Sterbehilfe gilt medizin-ethisch weithin als akzeptabel. Aufgabe des Arztes, so lautet die Begründung, sei es, das Leben zu verlängern, aber nicht das Sterben hinzuziehen. Allerdings gehört das Sterben eben doch noch zum Leben, und eine Verkürzung des Sterbens ist ohne eine Verkürzung des Lebens nicht zu haben. Aber diese Lebensverkürzung wird deshalb nicht als problematisch angesehen, weil sie nicht aus einem tötenden Eingriff folgt, sondern sich als natürlicher Ablauf des Sterbeprozesses darstellt ‐ der eben eigentlich gar nicht verkürzt wird, sondern nur therapeutisch unbeeinflußt abläuft.
Im Zusammenhang unseres Autonomie‐Plädoyers erscheint es nicht notwendig, auf die vielfältigen medizinethischen Probleme umfassender einzugehen.
Es soll aber zum wiederholten Male auf die moralische Verpflichtung des medizinischen Personals hingewiesen werden, sowohl den Willen des Patienten, der sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen hat, zu respektieren, als auch dem zur Selbsttötung entschlossenen Patienten die dazu erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Der Gesetzgeber sollte aus dieser moralischen Verpflichtung so bald wie möglich eine rechtliche machen. Aus dem Bereich der aktiven Sterbehilfe wurde der Fall der Tötung auf Verlangen schon im vorausgegangenen Abschnitt über die Selbsttötung angesprochen. Es mag begründete Bedenken gegen eine allgemeine Straffreiheit für Tötungshandlungen dieser Art geben. Aber mindestens da, wo dies der einzige Weg ist, auf dem ein körperlich hilfloser Kranker einen wohlerwogenen und voll verantwortlich gefaßten Entschluß zur Selbsttötung realisieren kann, muß er zulässig sein. Zwar kann niemand, sei es Arzt, Pfleger oder Angehöriger verpflichtet werden, einem solchen Wunsch zu entsprechen. Wenn die Bereitschaft dazu aber gegeben ist, dann geht das Selbsttötungsrecht des Patienten allgemeinen Bedenken vor.
Wirklich problematisch und weithin unzulässig ist die aktive Sterbehilfe in allen Fällen, in denen sie unabhängig vom Willen des Patienten durchgeführt werden soll. Die Tötungsaktion der NS‐Regierung in den Jahren 1939 bis 1941, der mehr als 10.000 mißgebildete Kinder und erwachsene Geisteskranke zum Opfer fielen, wurde eingangs schon erwähnt. Nun waren das allerdings in keinem Sinne Fälle, die unter Begriffe wie Euthanasie und Sterbehilfe zu fassen sind. Es handelte sich gar nicht um Sterbende, deren Sterben beschleunigt wurde, sondern um Kranke mit nicht terminierter Lebenserwartung. Der Vorgang kann nur schlicht als Massenmord aus volks‐ und rassehygienischen Gründen, begangen in wahnblinder Überheblichkeit, gekennzeichnet werden. Die Täter rechtfertigten ihr Verhalten vor sich selbst damit, daß das Leben der Opfer »nicht lebenswert« sei.
Ebenso wie Euthanasie ist der Begriff des nicht »lebenswerten Lebens« damit für uns in Deutschland in einen historischen Zusammenhang eingepaßt und verändert worden, der seiner weiteren Verwendung fast zwingend entgegensteht. Aber den Sachverhalt eines lebensunwerten Lebens gibt es natürlich trotzdem - einfach als negatives Wertungsergebnis eines Menschen für seine eigenen Lebensumstände. Zu dem Ergebnis lebensunwert kann und darf der allein kommen, der dieses Leben lebt. Die Bedingungen mögen elend sein wie nur immer und den Betrachter aufrichtig selbstlos an »Erlösung« denken lassen ‐ der Kranke kann grundsätzlich nur selbst entscheiden. Tut er es, dann allerdings muß ihm ermöglicht werden, dieses Leben zu beenden.
Doch gibt es natürlich Fälle, in denen der Träger eines behinderten Lebens die Wertentscheidung gar nicht selbst treffen kann. Neugeborene mit schwersten Mißbildungen und Schäden gehören dazu. Ihre kurze Überlebensspanne könnte durch operative Maßnahmen und künstliche Ernährung erweitert werden, ohne daß damit irgendeine Chance auf Lebensgewinn verbunden wäre. Eltern und Ärzte sind sich in diesen Fällen in der Regel darin einig, daß es das Beste ist, das Kind gleich sterben zu lassen. Der übliche Weg ist offenbar die Nichtbehandlung des Neugeborenen als - rechtlich zulässige - passive Sterbehilfe. Solche Einordnung ist allerdings fragwürdig, wenn nicht nur die operative Behandlung, sondern auch die Ernährung des Kindes unterbleibt. Man läßt es in vielen Fällen einfach verhungern und verdursten, »dehydrieren«. Das mit anzusehen muß ziemlich schrecklich sein. In der angelsächsischen Ethik‐Diskussion ist deshalb die Frage aufgeworfen worden, ob es in diesen Fällen nicht erlaubt oder sogar geboten sei, das Neugeborene direkt zu töten.
Ein Kind austrocknen zu lassen wird manchem schon eher als aktive denn als passive Tötungshandlung erscheinen. Wenn das so ist, dann verlöre auch die Rechtfertigung dieser recht grausam anmutenden Methode, daß nämlich der Arzt nie die Grenze zur Tötungshandlung überschreiten dürfte, ihre Grundlage.
Es sei noch einmal Hans Jonas zitiert, der seine Bedenken in der kürzlich aufgeflammten Debatte so formuliert hat.
»Was da an Konsequenzen drinsteckt für die menschliche Einstellung zum Akt des Tötens als eines routinemäßig zu Gebote stehenden Weges, gewisse Notlagen zu beenden, was sich da auf tut für eine - um es mal ganz scharf zu sagen - progressive und kumulative Gewöhnung an den Gedanken und die Praxis des Tötens, das ist unabsehbar. Da steht so viel auf dem Spiel, daß das Leiden des Säuglings dagegen nicht aufkommt... Die Zumutung eines über eine Woche oder länger sich hinziehenden Todes ist immer noch besser, als mit der Praxis zu beginnen, neugeborene Kinder einfach umzubringen.«
Ja gewiß, man kann es nachempfinden. Aber ist zwischen den beiden Wegen denn wirklich ein qualitativer Unterschied? Wir stehen sicher noch nicht am Ende der Debatte. Sie wird auch darüber geführt werden müssen, ob im Kontext einer Neuordnung und gesetzlichen Regelung der Sterbeprobleme nicht auch die aktive Sterbehilfe für genau umgrenzte Fallgruppen zugelassen werden sollte.
Die derzeitige Handhabung vermag weder intellektuell noch unter humanitären Gesichtspunkten zu befriedigen.
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Martin Neuffer - 1992