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Einleitung-Wingert-1988     Einleitung-North-1986 

 zur deutschen Ausgabe von Helga Wingert 1988  Schlichting im April 1988  

Helga Wingert, geb. Werner, 1935-2015, seit 1970 im Übersetzerverband

Helga Wingert-Uhde  1968-1994   https://d-nb.info/gnd/13687956X    Vielleicht Mutter und Tochter

7-8

Damit wir eine Tasse Kaffee oder Tee trinken können, vielleicht mit einem Löffel Zucker gesüßt, haben Frauen, Männer und Kinder in Kenia, Indien oder Brasilien für einen Hungerlohn gearbeitet. Einheimischen Großgrundbesitzern und westlichen Firmen bescheren die "Kolonialwaren" satten Gewinn.

Etwas Milch in den Kaffee? Die Kuh, von der sie stammt, hat mit großer Wahrscheinlichkeit nie eine Wiese gesehen, war - wie die Käfighenne, die das Frühstücksei gelegt hat - eine geschundene Kreatur, auf Massenproduktion ausgerichtet.

Damit in die anfälligen Hochleistungssorten des Weizens für Brötchen und Toastbrot regelmäßig frisches Genmaterial eingekreuzt werden kann, plündern Chemie- und Ölkonzerne die botanischen Reserven unserer Erde.

Ebenso wie in der Natur, wo schon ein scheinbar geringfügiger Eingriff eine Kettenreaktion von Ereignissen auslösen kann, sind auch Aktionen und Transaktionen von multinationalen Konzernen und Regierungen weltweit ineinander verzahnt. Nichts geschieht ohne Grund und Folgen. Die neugezüchteten Hybridsorten der „Grünen Revolution" zum Beispiel halfen den Konzernen Überschüsse an Düngemitteln und Pestiziden abzusetzen. Der Baumwoll- und Erdnußanbau in großem Maßstab aber fördert die Bodenerosion. Staudämme sind für westliche Firmen, die sie liefern, und Banken, die sie finanzieren, ein lukratives Geschäft.

 Den Menschen der Dritten Welt bringen sie in den meisten Fällen Hunger und Krankheit. Weil die Zigarettenindustrie der Reichen Welt den Tabakkonsum in der Dritten Welt ankurbelt, hungern zum Beispiel Kinder in Bangladesch. Die Fleischgier und die Bauwut der westlichen Welt verschlingen tropische Regenwälder, giftige Abgase aus Fabrikschloten und Autos vernichten unsere eigenen Bäume.

 Die Liste der Beispiele ist endlos lang, denn das Netz der Abhängigkeiten umspannt, feingewebt, unseren ganzen Globus. Für den Ausverkauf der Natur und der Dritten Welt ist weniger die Technik verantwortlich zu machen, als vielmehr die Art und Weise, wie sie eingesetzt wird.

 Den reichen Ländern geht es, wie jedem Händler, in erster Linie darum, Profit zu machen. Ihnen liegt nichts daran, die Entwicklungsländer zu Konkurrenten auf dem Weltmarkt heranwachsen zu lassen. Den westlichen Multis geht es um billige Produktion und günstige Einkäufe, um profitable Geschäfte. Dabei gilt die Devise: Ware ist Ware, die Aktionäre wollen Dividende kassieren. So gesehen ist auch das Blut, das unter anderem westdeutsche Pharmakonzerne den Armen dieser Welt abzapfen, nichts anderes als eine Ware.

 Die armen Länder träumen vom Reichtum der Industrienationen, sind nur allzugern bereit, mit ihnen ins Geschäft zu kommen, um Devisen, für die sie Luxuswaren kaufen wollen, einzunehmen. Sie sind in den meisten Fällen die Betrogenen. Viele Länder, die sich auf die Produktion von „cash crops", von „leichtverkäuflichen Landbauprodukten" für den Export, einließen, vernachlässigten den Anbau von Nahrungsmitteln für den eigenen Bedarf. Ist der Teufelskreis einmal in Gang gesetzt, kommt man schwer wieder heraus, denn die Schulden samt Zinsen für importierten „Fortschritt" müssen bezahlt werden. Also liefern sie Getreide oder Viehfutter für die Reiche Welt. Die Menschen im eigenen Lande müssen hungern.

 Wenn aber der Weizen aus Argentinien und das Zuckerrohr aus der Karibik billig sind, werden die Bauern in Amerika und Europa ihr Getreide und ihre Zuckerrüben nicht los. Damit sie konkurrenzfähig bleiben, subventionieren die Regierungen die Landwirtschaft. Gleichzeitig werden überall auf der Welt Ernten vernichtet, um die Preise stabil zu halten.

 Längst hat die Industrie die Dritte Welt als neuen Absatzmarkt entdeckt, nicht zuletzt auch für Waren, auf denen sie daheim und in Nachbarländern sitzenbleibt. Das gilt unter anderem für Pestizide und Medikamente, die in den Industriestaaten verboten sind. Nicht selten werden die Waren zu Wucherpreisen geliefert. Die Regierung von Sri Lanka zum Beispiel veranstaltet seit Mitte der 70er Jahre Ausschreibungen, bevor sie Medikamente kauft. Für das Phenobarbital der Schweizer Firma Sandoz etwa brauchte man plötzlich nur noch acht Prozent des früheren Preises zu bezahlen. 1975 sparte das Land allein bei vier wichtigen Präparaten 140.000 Dollar Devisen ein.

 Ob Gold, Tee, Bananen oder Bauxit für Aluminium - es steckt jeweils dasselbe Muster dahinter, und die Gewinner sind die multinationalen Konzerne. Die armen Länder der Dritten Welt, die oft bereitwillig ihre traditionelle Lebensweise, vor allem ihre Selbstversorgung, aufgeben, um den westlichen Vorbildern nachzueifern, stehen am Ende mit leeren Händen da.

 In sozialistischen Ländern ist die Situation nicht viel anders. Dort mußten Kleinbauern Kolchosen und Kollektiven weichen, die selten rentabel arbeiten, weil sich niemand zuständig und verantwortlich fühlt.

 Patentlösungen kann und will dieses Buch nicht geben. Es zeigt statt dessen an einer Reihe von Beispielen, daß die Situation nicht ausweglos ist. Projekte in der Reichen und in der Armen Welt beweisen, daß man Reichtum und Nahrungsmittel durchaus gleichmäßiger und gerechter verteilen kann.

 Dieses Buch war ursprünglich für einen englischen Leserkreis bestimmt. Aus diesem Grunde mußte der Text bearbeitet und ergänzt werden. Wo immer es möglich war, habe ich die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und im Raum der Europäischen Gemeinschaft herangezogen und die Zahlen aktualisiert. Kürzungen ließen sich nicht vermeiden, dafür kamen drei neue Kapitel über Saatgut, Blumen und Blut hinzu, drei „Produkte", mit denen jeder von uns täglich zu tun hat - auch wenn er es manchmal gar nicht bemerkt.   Schlichting im April 1988   (7-8)


Einleitung von Richard D. North

9-10

Ich möchte, daß dieses Buch dazu beiträgt, in den Menschen ein Gefühl dafür zu wecken, daß unsere Welt in ihrer phantastischen Vielfalt aus einem ungewöhnlichen Zusammenspiel von Querverbindungen und Abhängig­keiten besteht. Es könnte sehr gut den Untertitel tragen "Eine Ökologie des modernen Menschen".

Ökologie ist die Wissenschaft von den Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umwelt, Ökologie heißt zu Deutsch "Haushaltskunde". Weil in Brasilien auf ehemaligem Waldland Rinder gezüchtet werden, kann ich Fleisch essen. Dieses Buch zeigt auf, warum das so ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

Die Teepflücker von Bangladesch zum Beispiel sind uns Menschen im Westen sehr fern. Dennoch setzen ihre Hände uns den Tee vor, so gewiß, wie unsere Hand zum Wasserkessel greift, so gewiß, wie die Hand, die die Päckchen mit Tee in die Regale des hiesigen Supermarktes einsortiert hat. Ich möchte klarstellen, daß unser Genuß ungetrübter wäre, wenn das Produkt aus einer gerechteren Welt stammte. In unserer gegenwärtigen ungerechten Welt kaufen reiche Verbraucher die Erzeugnisse armer Menschen zu Billigpreisen oder schauen untätig zu, wie das Geld, das sie für die Waren bezahlen, in den Taschen von Mittelsmännern verschwindet, die es nicht verdient haben.

Ich bin nur wenigen Menschen begegnet, die ich als Monstren bezeichnen könnte. Die multinationalen Konzerne sind ein beliebtes Angriffsziel, sie sind gewiß keine Engel. Und doch wird ihr Handeln oftmals durch die Verbraucher bestimmt, die billige Produkte verlangen. Im großen und ganzen sind die „Multis" gegenüber der Meinung und dem Bewußtsein der westlichen Verbraucher aufgeschlossener als die vielen fernen Schmalspur-Unternehmer, die ihre eigenen Landsleute brutal ausbeuten.

Es hat lange gedauert, bis Hilfsorganisationen und Regierungen erkannten, daß Kleinbauern mit eigenem Land höchst produktiv sind und Unterstützung verdienen. Die erste Generation der „Post-Kolonialherren" befürwortete eine Produktion in großem Stil. Sie hatte für diese Art des dezentralisierten Kapitalismus wenig übrig.

Ein wesentlicher Faktor wird in diesem Buch nur am Rande erörtert: die horrende Schuldenlast vieler Länder der Dritten Welt. Ende 1986 beliefen sich die Schulden der Entwicklungsländer auf mehr als 830 Milliarden Dollar. Es wird immer fraglicher, ob die ärmsten dieser Länder, speziell die in Lateinamerika, überhaupt in der Lage sein werden, auch nur die Zinsen für ihre Anleihen zu zahlen.

In den turbulenten Zeiten nach der Ölpreiserhöhung Mitte der 70er Jahre, als die ölexportierenden Länder die Banken mit überschüssigem Kapital überschwemmten, schwatzte man den armen Ländern extravagante Darlehen auf, häufig für Superprojekte, die sich bestenfalls als nutzlos erwiesen. Die armen Länder haben inzwischen einen Schuldenberg angehäuft, der sich umgerechnet auf zweihundert Dollar für jeden Mann, jede Frau, jedes Kind auf der Welt beläuft. Viele von ihnen sind gezwungen, Produkte anzubauen, die die Reiche Welt ernähren. Nur so können sie Schulden abzahlen, die sie sich mit verhängnisvollen Landwirtschaftsprojekten aufgeladen haben, die die hungernden Einheimischen nicht satt machen konnten.

Die Jahre des Überflusses sind längst vorbei. Die armen Länder sind weniger denn je in der Lage, ihre Schulden zurückzuzahlen. Eine ganze Reihe von ihnen ließ sich „umschulden". Die Rückzahlungen wurden ausgesetzt oder verlängert oder können nun zu einem niedrigeren Zinssatz abgezahlt werden.

Die Auslands­schulden waren einer von vielen Faktoren, die armen Ländern eine drastische Verringerung des Pro-Kopf-Lebensstandards aufzwangen. Doch diese Angelegenheit ist ungeheuer verwickelt, und die nackte Statistik verschleiert die Fakten im gleichen Maße, wie sie sie enthüllt. Die Probleme sind groß. Viele arme Länder verwenden heute mehr als ein Drittel ihrer gesamten Exporteinnahmen, um die Schulden zu bezahlen.

Dieses Buch will keinen Überblick geben. Es versucht vielmehr, von Fall zu Fall Zusammenhänge und Abhängigkeiten aufzuzeigen. Der Leser wird vergebens auf ein apokalyptisches Szenario warten.

Es ist mühsam genug, den Überblick über das Gebirge von Informationen zu wahren, und ich will nicht so tun, als würde ich mir die Rolle des himmlischen Buchhalters anmaßen. Ich hatte ein Gebirge von Fakten zu bewältigen, und doch war es, verglichen mit der Informationsmenge, die notwendig wäre, um dieses Buch zur letzten Wahrheit zu machen, ein Maulwurfshügel.

Dieses Buch kündet nicht vom Jüngsten Gericht. Ich weiß nicht, ob "die Erde" in zwanzig oder hundert Jahren besser oder schlechter dran sein wird als heute. Falls es den meisten von uns besser gehen sollte, wird diese Tatsache das Elend derer, denen es schlecht geht, kaum lindern.

Ich glaube nicht, daß die Erdnußproduktion oder die Viehzucht auf fragilen Böden - obgleich sie große Schäden verursachen - das Ende der Menschheit herbeiführen. Ich verstehe durchaus den Drang des Menschen, mit Hilfe von Computern und wissenschaftlichen Forschungs­ergebnissen herauszubekommen, ob er diesen Planeten gut oder schlecht verwaltet.

Leider hat sein Hang zur Enzyklopädie, sein Verlangen, einen gültigen Überblick oder einen allgemeinen Trend darzulegen, dazu geführt, daß sich zwei sehr widersprüchliche Lager gegenüberstehen. Auf der einen Seite haben wir die Optimisten, die Zuversicht verkaufen, auf der anderen die Pessimisten, die das Nahen des Jüngsten Gerichts predigen. Beide besitzen sie kein Monopol auf die Wahrheit.

10

Richard North

 

 

 

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North-1986