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     2  Eine Pumpe, die plötzlich aussetzt   

  

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Jedes Schulkind weiß, daß das Herz die Gestalt eines stumpfen Kegels hat. Es besteht fast ganz aus einem Muskel, Myokard genannt, der einen zentralen Hohlraum umschließt. Dieser Hohlraum ist in vier Teile geteilt. Eine vertikal von vorn nach hinten laufende Scheidewand, das Septum, teilt das Herz in eine rechte und eine linke Hälfte; das Septum wird im rechten Winkel von einer weiteren Scheidewand geschnitten, die jede Herzhälfte nochmals in einen oberen und einen unteren Teil untergliedert.

Da die beiden vom Septum geteilten Hälften über eine gewisse Unabhängigkeit voneinander verfügen, werden sie oft das rechte und das linke Herz genannt. In der Mitte der Scheidewand zwischen unterem und oberem Teil einer Herzhälfte befindet sich eine Öffnung mit einem Ventil, durch das Blut aus dem oberen Hohlraum, dem Vorhof, in die untere Kammer, auch Herzkammer oder Ventrikel genannt, fließen kann. Beim gesunden Herzen sind die Ventile oder Segelklappen fest verschlossen, wenn die Herzkammer gefüllt ist. So kann das Blut nicht in den Vorhof zurückströmen. Die Vorhöfe empfangen in erster Linie Blut, während die Ventrikel pumpen. Daher ist die Wand der Vorhöfe nicht so muskelstark wie die der Ventrikel. 

   

Äußere Darstellung eines 
normalen erwachsenen Herzens 
mit den Kranzgefäßen

 

 

   

Schematischer Schnitt
durch ein normales Herz. 

Die Pfeile zeigen den Weg des Blutes.

 

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Wir haben also eigentlich zwei Herzen, die nebeneinander liegen und am Septum befestigt sind. Jede Hälfte hat einen empfangenden und einen pumpenden Teil. Allerdings haben die beiden Herzen recht unterschiedliche Aufgaben. Das rechte nimmt das sauerstoffarme Blut aus den Organen und Geweben auf und treibt es durch die Lungen, wo es erneut mit Sauerstoff aufgeladen wird; das linke Herz erhält das sauerstoffreiche Blut aus der Lunge und pumpt es in den übrigen Körper. Aufgrund dieser deutlich erkennbaren Aufgaben unterscheiden Ärzte schon seit Jahrhunderten den großen (Körper-)Kreislauf vom kleinen (Lungen-) Kreislauf.

Ein vollständiger Kreislauf beginnt mit den beiden Hohlvenen, die das sauerstoffarme Blut aus den oberen und unteren Körperregionen aufnehmen; mit Blick auf Fassungsvermögen, Ursprung und relative Lage der beiden Gefäße fanden griechische Ärzte schon vor über zweitausendfünfhundert Jahren prägnante Namen für diese Gefäße: Vena cava superior und Vena cava inferior, obere und untere Hohlvene. Beide Venen leeren ihr Blut in den rechten Vorhof, von wo es durch die Ventilmündung der dreiteiligen Segelklappe oder Trikuspidalklappe in die rechte Herzkammer strömt. Diese wiederum stößt ihre Füllung mit einem Druck von 35 mmHg in die Lungenarterie, die sich kurz darauf gabelt und in die beiden Lungenflügel führt.

In der Lunge findet ein Gasaustausch statt, das heißt, das Blut wird in den mikroskopisch kleinen Lungen­bläschen erneut mit Sauerstoff versorgt. Das nun wieder hellrote Blut beendet den kleinen Kreislauf, indem es über die Lungenvenen in den linken Vorhof fließt, weiter in die linke Herzkammer strömt und von dort bis in die entferntesten Zellen des großen Zehs gepumpt wird.

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Da ein ausreichendes Schlagvolumen erst bei einem Druck von annähernd 120 mmHg erreicht wird, hat die linke Herzkammer mit einem Muskelgewebe von bis zu 1,5 Zentimeter Dicke die stärkste Wand der Herzkammern. Mit jeder Kontraktion werden rund 70 Milliliter Blut ausgeworfen, das sind bei 100.000 Herzschlägen täglich rund 7000 Liter. Die Mechanik dieser Pumpe ist ein Wunderwerk der Natur.

Der komplizierte Ablauf bedarf einer besonderen Steuerung. Über mikroskopisch feine Fasern laufen Signale, die ihren Ursprung in einem winzigen, ellipsenförmigen Muskelzellgeflecht haben, das im rechten Vorhof im vorderen Umfang der Mündung der oberen Hohlvene liegt. An dieser Stelle beginnt das Blut seine Reise durch Herz und Lungen, deshalb könnte es keinen geeigneteren Ort für den Ursprung der Erregung geben. Das Sinusknoten genannte Zentrum ist der Schrittmacher für den Herzschlag. Ein Faserstrang leitet die Signale dieses Zentrums zu einem zwischen den Vorhöfen und Herzkammern gelegenen Relais, dem Atrioventrikularknoten. Von dort werden sie über das His-Bündel, das sich später auffächert, an die Muskeln der Herzkammern weitergegeben. Das His-Bündel ist nach seinem Entdecker benannt, dem Schweizer Anatom Wilhelm His, der den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn an der Universität Leipzig verbrachte.

Der Sinusknoten ist der eigentliche Generator des Herzens; zwar können afferente Nerven die Schlagfrequenz beeinflussen, aber allein die vom Sinusknoten ausgehenden elektrischen Impulse sorgen für die staunenswerte Regelmäßigkeit der Herzaktion. Der Anblick des schlagenden Herzens in seiner stolzen Unabhängigkeit hat die großen Geister der Antike tief beeindruckt.

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So mußten sie zu der Auffassung kommen, daß der Sitz der Seele nur in diesem scheinbar eigengesetzlich arbeitenden Organ liegen könne, das mit einer geradezu überirdischen Präzision arbeitete.

Das Blut passiert nur die Herzkammern und kann dem Herzmuskel von dort keine Nährstoffe zuführen. Mit rhythmischen Schlägen wird es von der Herzpumpe weiter durch den Körper getrieben. Zur Versorgung des schwerarbeitenden Herzmuskels mit Energie und Nährstoffen ist eine besondere Gruppe von Blutgefäßen zuständig, die wegen ihrer Lage und der Art und Weise, wie sie sich um das Herz schmiegen, Herzkranz- oder Koronargefäße genannt werden. Äste der Hauptkoronararterien führen bis zur Herzspitze hinab und versorgen über feine Verästelungen den rhythmisch schlagenden Herzmuskel mit sauerstoff­reichem Blut. 

In gesundem, elastischem Zustand versehen die Herzkranzgefäße ihren Dienst tadellos; sind sie jedoch krankhaft verengt, versagen sie gerade dann, wenn das Herz am meisten auf sie angewiesen ist. Wie wenig Verlaß in diesem Fall auf sie ist, zeigt die Tatsache, daß fast die Hälfte der Todesfälle in den Vereinigten Staaten auf kranke Herzgefäße zurückgehen. Die Gefäße, die nach dem Motto »heute so, morgen so« arbeiten, sind dem schwachen Geschlecht gegenüber allerdings rücksichtsvoller als gegenüber den Herren der Schöpfung. Infarkte sind bei Frauen nicht nur seltener, Frauen erleiden sie auch erst in höherem Alter. Frauen sind bei ihrem ersten Infarkt im Durchschnitt Mitte Sechzig, während Männer solche schweren Attacken bereits zehn Jahre früher bekommen.

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Obwohl die Koronararterien erst in diesem Alter so weit verkalkt sind, daß der Herzmuskel nicht mehr hinreichend mit Sauerstoff­­ versorgt wird, beginnt dieser Prozeß schon in jüngeren Jahren.

Aus einer oft zitierten Untersuchung von Soldaten, die im Koreakrieg gefallen sind, geht hervor, daß drei Viertel der jungen Toten bereits arterio­sklerotische Gefäßveränderungen aufwiesen.

In unterschiedlichem Maß können solche Veränderungen bei jedem erwachsenen Amerikaner diagnostiziert werden, denn der Prozeß beginnt in der Jugend und setzt sich mit zunehmendem Alter fort.

Das Material, das die Gefäße verstopft, sind gelblichweiße Partikel, Plaques genannt, die sich an der Innenwand festsetzen und die Lichtung immer mehr verengen. Plaques bestehen aus Zellen und Bindegewebe sowie im Kern aus Kalkteilchen und Lipiden, von Griechisch lipos, »Fett« oder »Öl«. Da ein großer Teil einer Plaque aus Lipiden besteht, verwendet man auch die Bezeichnung Atherom, von Griechisch athere, »Schleim« oder »Brei«, und oma, womit ein Wuchern oder eine Geschwulst gemeint ist. Da die Atheromatose bei weitem die häufigste Ursache für Arteriosklerose darstellt, wird sie gewöhnlich als Atherosklerose bezeichnet, als Verhärtung der Gefäße durch Atherome. 

Je weiter eine Atheromatose fortschreitet, desto mehr breitet sie sich aus, indem sie mit benachbarten Plaques zusammenwächst und gleichzeitig Kalzium aus dem Blutstrom aufnimmt. Daraus resultieren Ablagerungen entlang den Gefäßwänden, die immer enger und unelastischer werden. Man hat eine atherosklerotische Arterie mit einem alten, vielbenutzten Rohr verglichen, das durch Ablagerungen von Rost und Sedimenten langsam verstopft wird.

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Schon bevor Angina pectoris und Herzinfarkt als Folgen von verkalkten Herzkranzgefäßen erkannt wurden, hatten einige Ärzte Beobachtungen an den Herzen jener Kranken gemacht, die an eben diesem Prozeß starben. Derselbe Edward Jenner, der 1798 die erste Pockenschutzimpfung durchführte, war auch ein tüchtiger Pathologe. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, möglichst viele seiner Patienten nach ihrem Tod zu obduzieren. Damals war es üblich, daß die behandelnden Ärzte auch die Obduktion vornahmen. Die Befunde bestärkten ihn in seiner Vermutung, daß die Gefäßverengungen, die er beim Obduzieren an den Herzarterien seiner Patienten feststellte, in direkter Beziehung zu den Symptomen von Angina pectoris standen, die er zu Lebzeiten der Patienten beobachtet hatte. In einem Brief an einen Kollegen berichtet er, was ihm bei einer Obduktion aufgefallen war:

Mein Skalpell stieß auf etwas Hartes, in das sich Kerben schneiden ließen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich zur Decke emporsah, die alt und rissig war, da ich zuerst meinte, Gips sei von oben herunter­gefallen. Bei genauerer Untersuchung kam jedoch die wirkliche Ursache ans Licht: Die Herzkranz­gefäße waren ganz verknöchert.

Trotz Jenners Beobachtungen und der wachsenden Erkenntnis, daß verkalkte Kranzgefäße das Herz selbst schädigen, dauerte es bis 1878, ehe ein Arzt einen Myokardinfarkt korrekt diagnostizierte. Dr. Adam Hammer aus St. Louis, ein gebürtiger Deutscher, der nach der gescheiterten Revolution von 1848 als politisch Verfolgter nach Amerika ausgewandert war, schickte einer medizinischen Fachzeitschrift in Wien einen Artikel mit dem Titel <Ein Fall von thrombotischem Verschlusse einer der Kranzarterien des Herzens>.

* (d-2015:)  wikipedia  Edward_Jenner   *1749 in Ost-England bis 1823 ebenda

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Man hatte Hammer zum Fall eines vierunddreißigjährigen Mannes konsultiert, dessen Zustand sich nach einem Kollaps so dramatisch verschlechterte, daß der baldige Tod zu erwarten war. Zwar wußten die Ärzte damals schon, welche Folgen Mangeldurchblutung für den Herzmuskel hat, aber daß der Infarkt mit atherosklerotischen Vorgängen zusammenhing, hatte noch niemand erkannt. Wahrend Hammer hilflos zusehen mußte, wie der Patient starb, äußerte er gegenüber einem Kollegen die Vermutung, daß eine völlig verstopfte Herzarterie Ursache für das Absterben von Teilen des Herzmuskels gewesen sei. Hammer hielt eine Obduktion für notwendig, um seine neue Theorie beweisen zu können. Es war nicht leicht, die Einwilligung der trauernden Familie des Verstorbenen zu erhalten, doch der erfahrene Arzt Hammer überwand ihre Bedenken, indem er im richtigen Augenblick ein altbewährtes Mittel gegen sich sträubende Mitmenschen präsentierte: ein mit Banknoten gefülltes Kuvert. In seinem Artikel konstatiert er nüchtern: »Vor diesem mächtigen Mittel weichen auch die hartnäckigsten Skrupel, einschließlich der religiösen.«

Am Ende wurden Hammers Bemühungen belohnt. Ein gelbbraunes Myokard (die Färbung weist auf einen Infarkt hin) und eine völlig verstopfte Herzarterie bestätigten seine Vermutung.

In den folgenden Jahrzehnten wurde das Verhältnis zwischen koronarer Herzerkrankung und Infarkt Schritt für Schritt aufgeklärt. Mit der Erfindung des Elektrokardiogramms im Jahr 1903 bekamen die Ärzte ein Mittel an die Hand, mit dem die Signale des Erregungsleitungssystems des Herzens aufgezeichnet werden konnten. Bald waren sie in der Lage, Abweichungen von der normalen Herzstromkurve als Zeichen für Infarktgefahr infolge mangelhafter Durchblutung zu deuten. Weitere Diagnosetechniken kamen hinzu, darunter die Entdeckung, daß ein geschädigtes Myokard chemische Stoffe oder Enzyme absondert, deren Vorkommen im Blut ein Indiz für das Infarktgeschehen darstellt.

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Ein einzelner Infarkt schädigt meist den drei oder vier Quadratzentimeter großen Bezirk der Muskelwand, der vorher von der verstopften Koronararterie versorgt wurde. In über der Hälfte aller Fälle ist ein Verschluß des absteigenden Astes der linken Koronararterie (Ramus interventricularis anterior) die Infarktursache. Dieses Blutgefäß verläuft über die vordere Wand der linken Herzhälfte bis zu deren Spitze. Es fächert sich dabei in immer feinere Verästelungen auf und dringt in das Myokard ein. Bei rund der Hälfte aller Infarkte wird die vordere Wand der linken Herzkammer in Mitleidenschaft gezogen. Die Rückwand dieser Herzkammer wird von der rechten Koronararterie versorgt, bei der 30 bis 40 Prozent aller Verschlüsse auftreten. Die seitliche Wand wird von dem in der Herzfurche verlaufenden Ast der linken Herzarterie (Ramus circumflexus) versorgt. Dieses Gefäß ist für weitere 15 bis 20 Prozent verantwortlich. 

Die linke Herzkammer, die den größeren Teil der Pumpleistung des Herzens erbringt und das Blut durch den Körperkreislauf treibt, wird bei jedem Herzanfall beschädigt. Mit jeder Zigarette, jeder Messerspitze Butter, jeder Scheibe Braten und jeder geringfügigen Erhöhung des Blutdrucks verlieren die Herzarterien an Elastizität und können weniger rasch auf Veränderungen des Blutstroms reagieren.

Sobald eine Herzarterie vollständig verstopft ist, setzt die Sauerstoffzufuhr aus. Dauert der Sauerstoff­mangel zu lange, können sich die ischämischen Muskelzellen nicht mehr erholen, und auf den Schmerz der Angina pectoris folgt unweigerlich der Infarkt. Der betroffene Herzmuskelbezirk, der wegen fehlender Durchblutung schon jede Farbe verloren hat, stirbt ab.

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Ist der abgestorbene Bezirk nicht zu groß und ist es nicht zum Kammerflimmern oder einer anderen todbringenden Störung des Herzrhythmus gekommen, kann der nun dick angeschwollene Muskel weiterbestehen, bis er im Verlauf der allgemeinen Genesung vernarbt. Allerdings wirkt der vernarbte Bezirk nicht mehr beim Pumpen des übrigen Herzmuskels mit. Mit jedem Herzinfarkt, den ein Mensch übersteht, wird der vernarbte Bezirk seines Herzmuskels größer und entsprechend die Pumpleistung seines Herzens geringer.

Wenn die Atherosklerose fortschreitet, kann das Herz auch ohne akuten Herzanfall geschwächt werden. Gefäßverschlüsse in Verästelungen der Hauptarterien vollziehen sich ohne Symptome, schwächen aber dennoch die Kontraktionsfähigkeit des Herzens. Schließlich kann das Herz die geforderte Leistung nicht mehr erbringen. Dieser chronischen Herzinsuffizienz fallen rund 40 Prozent aller Patienten mit Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße zum Opfer.

Welche Gefahren für den einzelnen Herzkranken in welchem Stadium seiner Erkrankung bestehen, darüber entscheiden die jeweiligen auslösenden Faktoren und der Grad der Gewebszerstörung. So kann in einem Fall eine Anlage zur Thrombose oder spastischen Reaktion den Ausschlag geben, in einem anderen ist es der kranke Herzmuskel, dessen Erregungsleitung so gestört ist, daß schon geringfügige Reizung zu Kammerflimmern führt. Manchmal ist es das Erregungsleitungssystem selbst, das träge wird und die Impulse nicht mehr im richtigen Rhythmus weitergibt, so daß das Herz langsamer schlägt und am Ende stehenbleibt. Schließlich kann auch eine Herzkammer durch Narbenbildung so geschädigt sein, daß sie das Blut, das aus dem Vorhof einströmt, nicht mehr in hinreichendem Umfang in die Körper- oder Lungenarterie pumpen kann. 

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Zählt man die 20 Prozent der Herzkranken, die wie McCarty gleich beim ersten Anfall sterben, zu den Opfern hinzu, die erst nach wochen- oder jahrelanger Erkrankung ihrem Leiden erliegen, dann haben insgesamt 50 bis 60 Prozent aller plötzlichen Todesfälle koronare Herzerkrankung als Ursache. Die übrigen sterben nach langem Siechtum an einer der Spielarten der chronisch gewordenen dekompensierten Herzinsuffizienz. Obwohl (oder vielleicht gerade weil) die Sterblichkeit bei Herzanfällen in den letzten zwanzig, dreißig Jahren um 25 Prozent gesunken ist, hat der Anteil der Todesfälle bei dekompensierter Herz­insuffizienz um ein Drittel zugenommen.

Chronisch gewordene Herzinsuffizienz ist eine direkte Folge der verminderten Leistungsfähigkeit des infarktgeschädigten Herzmuskels. Die Kammer­muskulatur treibt nicht mehr genügend Blut in den kleinen und großen Kreislauf. Das bereits in der Kammer befindliche Blut fließt teilweise in die Venen zurück und bewirkt einen Staudruck in den Lungen und den anderen Organen. Als Folge dieser Stauung wird wiederum ein Teil des Blutwassers durch die durchlässigen Wände der Kapillargefäße gepreßt und verursacht Gewebsschwellungen oder Ödeme. Organe wie die Leber oder die Nieren können dann nicht mehr ihre volle Leistung erbringen, ein Zustand, der noch dadurch verschlimmert wird, daß die geschwächte linke Herzkammer nicht genügend sauerstoffreiches Blut in den Körperkreislauf pumpt und damit die geschwollenen Organe nur unzureichend mit Sauerstoff versorgt. Der Kreislauf wird allgemein langsamer, gleichzeitig verringert sich der Blutstrom in und aus den Geweben.

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Der Rückstau des nicht vollständig ausgetriebenen Bluts bläht die Herzkammern auf, die dann gedehnt bleiben. Der Kammer­muskel schwillt an, ohne allerdings damit seine Schwäche kompensieren zu können. Das Herz wirkt insgesamt größer und imposanter, doch der Schein trügt, dahinter steht keine wirkliche Kraft. Das Herz erhöht die Schlagfrequenz, um mehr Blut auszutreiben, aber daraus wird bald ein Teufelskreis: Es muß immer schneller schlagen, um überhaupt mithalten zu können. Die Mehrleistung des gedehnten, schneller schlagenden Herzens erfordert mehr Sauerstoff, als die verengten Herzkranzgefäße heranführen können. In der Folge kann der angeschlagene Herzmuskel noch weiter geschädigt werden, oder es kommen neue Rhythmusstörungen hinzu. Manche sind tödlich, so zum Beispiel das Kammerflimmern, dem fast die Hälfte aller Patienten mit Herzinsuffizienz erliegen. So sehr sich das kranke Herz auch aufplustert, es führt einen aussichtslosen Kampf. Je mehr es die eigene Schwäche zu kompensieren sucht, desto schlimmer wird der Schaden. Ein Kardiologe formulierte einmal: »Herzinsuffizienz erzeugt weitere Herzinsuffizienz.« Wer ein solches Herz besitzt, hat schon mit dem Sterben begonnen. 

Der Kranke gerät bei der kleinsten Anstrengung außer Atem, da weder das Herz noch die Lunge die geforderte Mehrleistung erbringen kann. In«nanchen Fällen ist es für den Betroffenen unmöglich, längere Zeit zu liegen; er braucht die aufrechte Haltung, damit die in der Lunge aufgestaute Flüssigkeit wieder abfließen kann. Ich hatte viele Patienten, die nur schlafen konnten, wenn ihnen mehrere Kissen unter Kopf und Schultern gestopft wurden, und selbst dann bekamen sie nachts noch Anfälle von beängstigender Atemnot. Patienten mit Herzinsuffizienz sind ständig müde und lustlos, eine Folge ihrer Atembeschwerden und der mangelnden Nährstoffversorgung der Zellen.

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Der erhöhte Druck, der von den Hohlvenen auf die Körpervenen ausgeübt wird, führt zu Wasser­ansamm­lungen in den Füßen und Knöcheln. Sind die Kranken bettlägerig, sammelt sich Blutwasser in Gesäß und Oberschenkeln. Heute ist dieser Anblick zwar selten geworden, aber während meines Medizinstudiums war es nicht ungewöhnlich, einen Patienten mit geschwollenem Bauch und geschwollenen Beinen aufrecht im Bett sitzen zu sehen, der geradezu konvulsivisch die Schultern hob und senkte und mit offenem Mund nach Atem rang, so als kämpfe er mit jedem Atemzug um sein Leben. Der weitgeöffnete Mund dieser Kämpfer auf verlorenem Posten zeigte eine blaue Färbung von Zunge und Lippen, die charakteristisch für desoxygenisiertes Gewebe ist. Der Mund war trocken wie Pergament, während der Patient an den Wasseransammlungen im übrigen Körper förmlich ertrank. Damals konnten die Ärzte kaum etwas für solche Patienten tun, die sie aus angstgeweiteten Augen anstarrten und die zugleich ihr eigenes schreckliches Keuchen hören mußten. Einem Herzkranken im Endstadium konnten nur Beruhigungsmittel verabreicht werden, mit dem sicheren Wissen, daß ihn jede Linderung der Qual dem Tod ein Stück näher brachte. 

Obwohl selten geworden, spielen sich auch heute noch ähnliche Szenen ab. Unlängst schrieb mir ein Professor der Kardiologie: »Viele Patienten mit dekompensierter Herzinsuffizienz im Endstadium müssen ihre letzten Stunden oder sogar Tage in Qualen verbringen, während die Ärzte nur hilflos zusehen und allenfalls Morphium verabreichen können. Das ist kein leichter Tod.«

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Nicht allein das Herz, auch die weitreichenden Schäden, die durch wäßrige, anämische Gewebe entstehen, führen auf vielerlei Wegen zum Tod. Am Ende gehen die befallenen Organe selbst unter. Wenn die Nieren oder die Leber nicht mehr funktionieren, endet auch das Leben. Manche Herzkranke sterben schließlich an Nierenversagen oder Urämie, andere an Leberschaden, der häufig als Gelbsucht in Erscheinung tritt. 

Das Herz stürzt nicht nur sich selbst in Überaktivität, es narrt auch andere Organe. Die Nieren wären durchaus in der Lage, mehr Salz und Wasser als gewöhnlich aus dem Blut zu filtern, um die Belastung des Herzens zu verringern, aber die dekompensierte Herzinsuffizienz verleitet sie geradewegs zur gegenteiligen Reaktion. Sie registrieren, daß ihnen weniger Blut als gewöhnlich zugeführt wird, und kompensieren diesen Mangel, indem sie Hormone ausschütten, die die bereits herausgefilterte Wasser- und Salzfracht wieder aufsaugen und in den Blutkreislauf zurückgeben. Folglich steigt das Flüssigkeitsvolumen im gesamten Körper weiter an, was die Schwierigkeiten des überlasteten Herzens noch erhöht. Das insuffiziente Herz ist Ursache für die Dysfunktion der Nieren; die Organe, die ihm einen Teil der Arbeit abnehmen könnten, bürden ihm neue Lasten auf. 

Eine nasse Lunge und ein träger Kreislauf sind ideale Voraussetzungen für Bakterienherde und fortschreit­ende Entzündungen, daher sterben viele Herzpatienten an Lungenentzündung. Auch ohne Bakterien kann eine nasse Lunge zum Tod führen. Eine dramatische Verschlechterung ihres ödematösen Zustande, genannt akutes Lungenödem, ist eine häufige Todesursache bei Patienten mit chronischem Herzleiden. 

Auslöser kann ein neuer Infarkt oder eine vorübergehende Mehrbelastung sein, verursacht durch eine ungewohnte Anstrengung, eine unerwartete Aufregung oder auch nur eine zu stark gesalzene Speise (ich kenne den Fall eines Patienten, dem der Genuß einer Pastete zum Verhängnis wurde).

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Die überschüssige Blutflüssigkeit staut sich erst auf und überschwemmt dann die Lunge. Der Kranke wird sofort von Atemnot geplagt, er atmet keuchend, bis der mangelnde Sauerstoffgehalt des Blutes entweder sofort zum Hirntod führt oder Kammerflimmern oder eine andere nicht mehr therapierbare Herzrhythmusstörung auslöst. Überall auf der Welt sterben Menschen an diesen indirekten Folgen ihres Herzleidens. 

Wie das Endstadium einer solchen Herzkrankheit aussieht, zeigt beispielhaft die Fallgeschichte eines Mannes, bei dessen Tod ich zugegen war. Horace Giddens könnte in der Kategorie der chronisch Herzkranken ein »Jedermann« genannt werden. Die Einzelheiten seiner Krankheit geben ein anschauliches Bild für den unaufhaltsamen Niedergang jedes Patienten mit koronarer Herzerkrankung.

Der fünfundvierzigjährige Giddens war ein erfolgreicher Bankier in einer Kleinstadt im Süden der Vereinigten Staaten. Dort kreuzten sich unsere Wege Ende der achtziger Jahre. Er war gerade von einem längeren Aufenthalt im Johns Hopkins Hospital in Baltimore nach Hause zurückgekehrt. Sein Hausarzt, der mit seinem Latein am Ende war, hatte ihn nach Baltimore geschickt, in der Hoffnung, die dortigen Spezialisten würden ein Mittel gegen die immer heftiger werdenden Anfälle von Angina pectoris und die sich stetig verschlimmernde Herzinsuffizienz finden. Die gängigen Therapien hatten bei ihm keinen Erfolg gezeigt, aber vielleicht konnte man das Fortschreiten der Krankheit wenigstens verlangsamen.

Giddens, dessen Ehe sich zu einer privaten Hölle ausgewachsen hatte, war also nach Baltimore aufgebrochen, um Erleichterung für sein Herz zu finden und den Streitereien mit seiner Frau zu entgehen.

Doch es war schon zu spät.

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Sein Leiden hatte ein Stadium erreicht, in dem ihm mit ärztlicher Kunst nicht mehr zu helfen war. Die Spezialisten des Johns Hopkins Hospital mußten ihm nach umfangreichen Untersuchungen und Tests schonend mitteilen, daß sie ihm nur noch schmerzlindernde Medikamente verordnen konnten. Für Horace Giddens gab es keine Gefäßchirurgie, keine Bypassoperation und keine Herztransplantation.

Ich war nur aus einem gesellschaftlichen Anlaß zugegen, als Giddens an jenem Abend mit der Gewißheit aus Baltimore zurückkam, daß er bald sterben würde. Obwohl seiner wenig mitfühlenden Frau bekannt sein mußte, daß er auf dem Heimweg war, tat sie so, als wisse sie den genauen Zeitpunkt seiner Ankunft nicht. Als er schließlich zur Tür hereinkam, saß ich still auf meinem Stuhl und hörte schweigend dem Gespräch der Familie zu. Auch für einen unbeteiligten Beobachter war es eine Pein, ihn zu sehen. Gestützt auf das treue Hausmädchen, schlurfte ein großer, ausgemergelter Mann mühsam nach Atem ringend ins Wohnzimmer. Der Fotografie nach zu urteilen, die auf dem Klavier stand, war er einmal ein athletischer, gutaussehender Mann gewesen, doch jetzt sprach aus seinem aschgrauen Gesicht nur noch Müdigkeit. Er bewegte sich steifbeinig, wie unter größter Anstrengung, und unsicher, als könne er das Gleichgewicht nicht halten. Man mußte ihm in einen Lehnsessel helfen.

Ich kannte Giddens Krankengeschichte, die neben Anfällen von Angina pectoris auch mehrere vollaus­gebildete Myokardinfarkte aufwies. Während ich beobachtete, wie der Kranke bei jedem schmerzhaften Atemzug mit den Schultern bebte, versuchte ich mir gleichzeitig vorzustellen, wie wohl sein Herz aussehen mochte und welche Elemente zur jetzigen Insuffizienz geführt hatten.

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Nach vierzig Jahren Praxis ist es mir zur Gewohnheit geworden, im Stillen solche Diagnosen anzustellen, wenn ich mich aus einem gesellschaftlichen Anlaß in Gegenwart eines Kranken befinde. Das ist für mich eine Übung, ein Selbsttest und in gewisser Weise auch eine Form des Mitleidens. Ich tue es regelmäßig, ohne daß ich noch darüber nachdenke, und ich bin sicher, daß es den meisten meiner Kollegen ähnlich geht. 

Was ich hinter Horace Giddens Brustbein zu erkennen glaubte, war ein vergrößertes, gedehntes Herz, das nicht mehr imstande war, einigermaßen kraftvoll zu schlagen. Eine große weißliche Narbe zog sich über die Muskelwand, und weitere kleinere Bezirke waren ebenfalls verödet. In kurzen Abständen erfolgten unregelmäßige Kontraktionen des Herzmuskels, die von verschiedenen Stellen der linken Herzkammer ausgingen und einen normalen Schlagrhythmus verhinderten. Es schien so, als ob verschiedene Teile der Herzkammern aus dem Automatismus, der gewöhnlich die Herzaktion steuert, ausbrechen wollten, während der Sinusknoten vergeblich seine schwindende Autorität wiederherzustellen versuchte. 

Dieser Vorgang war mir wohlbekannt: 

Wegen Mangeldurchblutung gelangten die regulären Impulse des Sinusknotens nicht mehr zu den Herzkammern. Ohne die gewohnten Steuerungsbefehle begannen die Kammern ihrerseits, von beliebigen Stellen des Myokards aus eine Schlagfrequenz aufzubauen. Eine geringfügig erhöhte Belastung oder mangelnde Sauerstoffversorgung führt zu einem Zustand, den französische Kardiologen so treffend als »Kammernanarchie« bezeichnen. Spontane, uneffektive Kontraktionen durchlaufen das Myokard und stürzen das Herz in einen unkontrollierten Zustand, der zu ventrikulärer Tachykardie und Kammerflimmern führt. Aus Giddens unsicheren Bewegungen konnte ich unschwer entnehmen, daß er dem Endstadium der Krankheit sehr nahe war.

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Die Vena cava und die Lungenvenen waren gedehnt und gespannt, denn das Blut staute sich wegen der unzureichenden Herztätigkeit auf. Die Lungenflügel ähnelten graublauen, durchtränkten Schwämmen. In ihrem öde-matösen Zustand konnten sie sich kaum heben und senken, wie sie es früher getan haben, als sie noch zarte, rosige Blasebälge waren. Die blutstarrende Lunge, die ich vor meinem geistigen Auge sah, erinnerte mich an die Obduktion eines Mannes, der sich erhängt hatte. Sein fahlrotes Gesicht war aufgedunsen gewesen, die plethorischen Züge hatten kaum noch Menschenähnlichkeit gehabt.

Giddens hatte ein honoriges Leben geführt und mit der Langmut des Philosophen eine boshafte Gattin ertragen, die ihn quälte, wo sie nur konnte. Für ihn zählten nur seine siebzehnjährige Tochter, die ihn verehrte, und die Erfüllung seiner beruflichen Pflichten. Als Bankier hatte er sich das Vertrauen der Mitbürger erworben, die seine Rechtschaffenheit und sein Geschick im Umgang mit ihren Spareinlagen schätzten. Doch jetzt war er nach Hause gekommen, um zu sterben.

Beim Anblick von Giddens' Nasenflügeln, die bei jedem mühsamen Atemzug bebten, fiel mir unwillkürlich auf, daß seine Nasenspitze und ebenso seine Lippen sich leicht bläulich verfärbt hatten. Die wasserdurch­tränkte Lunge ließ keine ausreichende Sauerstoffversorgung mehr zu. Der mühsame, schlurfende Gang war die Folge angeschwollener Knöchel und Füße, die über den Rand seiner Schuhe quollen, so sehr hatte das Blutwasser das Gewebe aufgetrieben. Im durchtränkten Körper des Kranken gab es kein Organ mehr, daß nicht ödematös gewesen wäre.

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Die unzureichende Pumpleistung des Herzens erklärte nur zum Teil, warum Giddens so mühsam ging. Er mußte sich bei jedem Schritt bewußt sein, daß auch nur die geringste Anstrengung jederzeit einen der gefürchteten Anfälle von Angina pectoris auslösen konnte. Die haarfeinen Gefäße der verkalkten Herzkranz­arterien drosselten die Blutzufuhr auf ein Mindestmaß. 

Als Giddens im Lehnsessel saß, sprach er kurz mit seiner Familie, ohne von mir Notiz zu nehmen. An Leib und Seele erschöpft, erhob er sich dann wieder und stieg mühsam die Treppe hinauf; er hielt mehrmals inne und sprach ein paar Worte zu seiner Frau, bis er schließlich das Schlafzimmer erreichte. Was er tat, erinnerte mich an ein Verhalten, das sich viele Herzkranke zu eigen machen, um das fortgeschrittene Stadium ihres Leidens zu kaschieren. Ein Patient, der bei einer alltäglichen Besorgung von einem Anfall von Angina pectoris überrascht wird, hält inne und schaut sich scheinbar interessiert eine Schaufenster­auslage an, bis der Schmerz nachläßt. Der Medizinprofessor, ein gebürtiger Berliner, der mir gegenüber zum erstenmal dieses Verhalten beschrieb, mit dem der Patient den Schein wahrt (und manchmal sein Leben rettet), nannte es sehr plastisch »Schaufenster schauen«. Auch Giddens verfiel auf diese Taktik und verschaffte sich damit kleine Atempausen, die ihm auf dem Weg ins Bett einen schlimmeren Anfall ersparten.

An einem regnerischen Nachmittag nur zwei Wochen später starb Horace Giddens. Wieder war ich zugegen, und wieder konnte ich nichts für ihn tun. Ich mußte dasitzen und zusehen, wie seine Frau ihm mit Worten zusetzte, bis er sich plötzlich mit der Hand an die Kehle fuhr, als wolle er die Bahn zeigen, die seine Herzschmerzen nahmen.

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Er wurde noch blasser als gewöhnlich, rang nach Atem und suchte zitternd nach dem Fläschchen mit der Nitroglyzerinlösung, das auf einem niedrigen Tisch vor seinem Rollstuhl stand. Zwar erreichte er es noch mit den Fingern, doch zitterte er zu sehr. Er warf es um, das Glas zerbrach, und die kostbare Lösung, die ihm das Leben hätte retten können, indem sie die Herzarterien ein wenig erweiterte, floß auf dem Fußboden aus. Der Angstschweiß brach ihm aus, er flehte seine Frau an, das Hausmädchen zu rufen, das wußte, wo er das Ersatzfläschchen aufbewahrte. Doch sie rührte sich nicht. Von Panik ergriffen, wollte er um Hilfe rufen, aber aus seiner Kehle kam nur ein heiseres Flüstern, das für niemanden außerhalb des Raumes zu hören war. Sein Gesichtsausdruck war herzzerreißend, als er merkte, daß alle Mühe umsonst war.

Ich fühlte in mir den Drang, Giddens zu Hilfe zu eilen, aber irgend etwas hielt mich zurück. Ich rührte mich nicht und die anderen auch nicht. Verzweifelt riß er sich vom Rollstuhl los und stürzte auf die Treppe zu, nahm auch die ersten Stufen wie ein Läufer, der die letzten Reserven mobilisiert, um das Ziel zu erreichen. Auf der vierten Stufe stolperte er, rang nach Atem, griff nach dem Geländer und schleppte sich mit äußerster Anstrengung bis zum Treppenabsatz. Wie gelähmt schaute ich die Treppe hinauf zu ihm und sah, wie seine Beine unter ihm wegsackten. Wir alle hörten den dumpfen Aufprall des nach vorn kippenden Körpers. Noch steckte ein Funken Leben in ihm. Mit der kühlen Berechnung einer Mörderin wies seine Frau zwei Hausangestellte an, ihn in sein Zimmer zu tragen. Erst dann wurde der Hausarzt der Familie benachrichtigt. Innerhalb weniger Minuten und noch vor Eintreffen des Arztes war der schwergeprüfte Giddens tot. 

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Ich vermute, daß Horace Giddens an Kammerflimmern gestorben ist, aber es kann auch ein akutes Lungenödem oder ein kardiogener Schock gewesen sein. Bei letzterem ist die linke Herzkammer zu schwach, um den für das Überleben nötigen Blutdruck aufrechtzuerhalten. Bei koronarer Herzerkrankung im Endstadium muß in den meisten Fällen mit einem dieser drei todbringenden Vorgänge gerechnet werden. Sie können im Schlaf auftreten und so rasch ablaufen, daß nur ein paar Minuten bis zum Eintritt des Todes vergehen. Ist ein Arzt zugegen, können die schlimmsten Schmerzen mit Morphium oder anderen Narkotika gelindert werden. Dank moderner High-Tech-Medizin kann das Eintreten dieser Vorgänge auf Jahre hinausgezögert werden. Dennoch hat jeder Sieg über koronare Herzkrankheiten immer nur aufschiebende Wirkung, da die Atherosklerose weiter fortschreitet. Auch in Zukunft werden jährlich über eine halbe Million Amerikaner an diesem Leiden sterben, weil die Ordnung der Natur es verlangt. Es mag paradox klingen, aber der natürliche Tod ist der einzige Weg, wie die Gattung Mensch ihr Fortleben sichern kann. 

Der Leser hat vielleicht inzwischen gemerkt, weshalb ich dem armen Horace Giddens nicht zu Hilfe eilen konnte, als er vor meinen Augen starb. Ich erlebte seine Tragödie als Zuschauer in der siebten Reihe eines Theaters, in einer Neuinszenierung von Lillian Hellmans Stück The Little Foxes. Hellmans klinisch akkuraten Bericht über eine fiktive Person, die um die Jahrhundertwende an einer ischämischen Herzerkrankung stirbt, hätte auch ein Kardiologe nicht besser schreiben können. Ganze Sätze meiner Beschreibung habe ich aus Frau Hellmans Bühnenanweisungen übernommen. Der Herzspezialist, der Giddens im Johns Hopkins Hospital untersuchte, hatte sein Vorbild zweifellos in demselben William Osler, dessen Lehrmeinung weiter oben zitiert wurde.

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Die Autorin vermittelt ein genaues Bild der Art und Weise, wie auch heute noch viele Opfer koronarer Herzerkrankungen sterben. Denn mag die moderne Medizin in ihrem Kampf gegen Herzleiden auch große Fortschritte gemacht und den atherosklerotischen Prozeß verlangsamt und Schmerzen gelindert haben, die letzte Phase im Überlebenskampf eines kranken Herzens sieht auch an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert oft noch genauso aus wie die ergreifende Szene, die Horace Giddens vor hundert Jahren zu durchleiden hatte. 

Zwar sterben immer noch viele Herzkranke wie James McCarty gleich bei der ersten Attacke, aber der Krankheitsverlauf der meisten Patienten folgt dem Muster Horace Giddens', bei dem nach dem ersten Infarkt oder eindeutigen Symptomen für Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße eine schonende Lebensweise vorerst Rückfälle verhindert. Zu seiner Zeit bedeutete das, ein Leben ohne körperliche und psychische Anstrengungen führen zu müssen. Gegen Angina pectoris wurde Nitroglyzerinlösung verschrieben, außerdem ein schwaches Beruhigungsmittel zur Dämpfung der Angstgefühle. Vielleicht war ein gewisser therapeutischer Nihilismus unter den damaligen Universitätsärzten der Grund dafür, weshalb keine Digitalispräparate empfohlen wurden, die die Kontraktionsfähigkeit der Herzkammern erhöht hätten. Digitalis hätte den Muskelkrampf, der Giddens schließlich zum Verhängnis wurde, nicht verhindert, aber es wäre ein wirksames Mittel gegen die chronische Stauungsherzinsuffizienz gewesen, die ihm in seinen letzten Monaten so sehr zu schaffen machte. 

Heute ist vieles anders. Die Palette der Möglichkeiten zur Behandlung koronarer Herzerkrankungen gibt ein Bild der Errungenschaften moderner Medizin und reicht von Vorschlägen zu einer herzschonenden Lebensweise bis zu Herztransplantationen.

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Durchblutungsstörungen treten auf vielerlei Weise auf, und der Herzmuskel braucht Hilfe gegen jede dieser Spielarten. Die Kunst des Kardiologen besteht darin, die für den Kranken geeignete Hilfe zu finden. Dazu muß man sich zuerst über die Natur der Krankheit Klarheit verschaffen und dann über die einzelnen Schritte der auszuwählenden Therapie. Ein Kardiologe wird also damit beginnen, den Zustand des Herzens und der Herzkranzgefäße festzustellen, muß aber zugleich die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß bei einer drohenden Verschlechterung sofort geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen. Hierzu sind eine Reihe von Tests entwickelt worden, deren Bezeichnungen den Patienten und ihren Familien und Freunden mittlerweile vertraut sind: Thallium-Belastungstest, Herzbinnenraumszintigraphie, Angiogramm des Herzens, Ultraschallechokardiographie und Überwachung mit einem Holter-Monitor, einem Gerät zur fortlaufenden EKG-Registrierung, um nur einige zu nennen.

Selbst mit den objektiven Daten, die solche Tests liefern, kann der Arzt seinem Patienten noch keinen wirklich hilfreichen Rat geben, solange er nicht dessen Lebensumstände und Persönlichkeit kennt. Es genügt nicht, das Schlagvolumen zu bestimmen, also die Menge Blut, die mit jeder Kontraktion in die Arterie ausgeworfen wird, oder die Gefäßlichtung zu messen, die in den verengten Herzkranzarterien noch vorhanden ist. Gleiches gilt für die Herzmuskelkontraktionen, die Leistungskraft des Herzens, die Reizempfindlichkeit des Erregungsleitungssystems und die anderen Krankheitsfaktoren, die allesamt in Labors und Röntgenabteilungen minutiös bestimmt werden können. Der Kardiologe muß eine genaue Vorstellung von den Belastungen haben, die das Leben seines Patienten prägen, und er muß abschätzen können, inwieweit sie abbaubar sind. 

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Familiäre Verhältnisse, Eß- und Rauchgewohnheiten, der Wille, dem ärztlichen Rat Folge zu leisten, Pläne und Hoffnungen für die Zukunft, Pflege und Betreuung in einem verläßlichen Netz von Familienangehörigen und Freunden, Persönlichkeitstypus und Bereitschaft zu notwendigen Verhaltensänderungen, all das sind Faktoren, die bei der Therapiewahl und der Einschätzung der Langzeitprognose berücksichtigt werden müssen. 

Eine besondere Befähigung des Kardiologen liegt darin, das Vertrauen seines Patienten zu erwerben und ihn genau kennenzulernen. Jeder Arzt muß sich über dieses Grundmerkmal der ärztlichen Kunst im klaren sein: daß Untersuchungen und Medikamentengabe von begrenztem Nutzen sind, wenn das Gespräch mit dem Patienten fehlt. Nach Untersuchung und Gespräch folgt die Behandlung. Ziel soll es sein, den Streß, dem das Herz ausgesetzt ist, so weit wie möglich abzubauen, langfristig seine Leistungsreserven zu aktivieren und die in der Untersuchungsphase entdeckten spezifischen Anomalien zu beseitigen. Alle Therapien zielen darauf ab, den Fortgang der Atherosklerose zu hemmen, wenn auch kein Zweifel darüber besteht, daß dieser Prozeß nicht gestoppt werden kann. Weiterhin herrscht Einigkeit darüber, daß das Herz durchaus keine simple Pumpe ist, sondern ein sensitives Organ, das auf äußere Einflüsse reagiert, das sich anpassen und in begrenztem Umfang auch regenerieren kann. 

William Heberden hat 1772, ohne es zu wissen, ein mustergültiges Beispiel dafür gegeben, wie ein Übungs­programm die Fähigkeit des Herzens anregen kann, im Augenblick erhöhter Anforderung mit gesteigerter Leistung zu antworten.

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Im Zusammenhang mit Patienten, die an Angina pectoris litten, schrieb er: »Unter ihnen ist einer, der es sich selbst zur Aufgabe gemacht hat, täglich eine halbe Stunde lang Holz zu sägen, und der als so gut wie geheilt gelten darf.« Auch wenn heutzutage die Handsäge durch den Heimtrainer ersetzt wird, bleibt das Prinzip doch das gleiche.

Schon heute kann der Kardiologe aus einer großen Palette von Herzmedikamenten wählen, mit denen Durch­blutungs­störungen des Herzmuskels und der Kranzgefäße wirksam bekämpft werden können, und in Zukunft wird es gewiß noch mehr geben. Es gibt sogar Medikamente, die, in den ersten Stunden eines Koronarverschlusses angewandt, das neue Blutgerinnsel wieder auflösen.

Andere Medikamente senken die Reizbarkeit des Herzmuskels, verhindern Krämpfe, erweitern die Herzkranzarterien, stärken den Herzschlag, verlangsamen Schlagfrequenzen, bauen überhöhten Wasser- und Salzgehalt bei dekompensierter Herzinsuffizienz ab, wirken anti-thrombotisch, senken den Cholesterinspiegel und den Blutdruck, dämpfen Angstgefühle usw. Alle diese Mittel bergen allerdings das Risiko unerwünschter oder sogar gefährlicher Nebenwirkungen, für deren Behandlung selbstverständlich wieder andere Medikamente zur Verfügung stehen.

Kardiologen wandeln heute auf dem schmalen Grat zwischen zwei Gefahren: einerseits den Patienten so sehr zu entwässern, daß er zu schwach wird, um ein normales Leben zu führen, und andererseits ihm zuviel Flüssigkeit im Gewebe zu belassen, so daß er Gefahr läuft, Opfer einer ernsten Herzinsuffizienz zu werden.

In keinem anderen Bereich der Medizin haben die Hexenkünste der Elektronik soviel Furore gemacht wie in der Behandlung von Herzleiden. Das Hauptanwendungsgebiet ist zwar die Diagnose, aber auch die Therapie hat vom Wissen der Physiker und Ingenieure profitiert, die auf diesem Spezialgebiet arbeiten.

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Mittlerweile gibt es Herzschrittmacher, die die Arbeit des Sinusknotens verrichten; sie gewährleisten eine regelmäßige Schlagfolge. Mit Defibrillatoren können flimmernde Herzkammern wieder zur Arbeit im Takt gezwungen werden; Defibrillatoren haben außerdem den Vorteil, implantierbar zu sein, so daß sie auf Rhythmusstörungen sofort reagieren können.

Kardiologen haben in Zusammenarbeit mit Chirurgen Operationsverfahren entwickelt, bei denen Umleitungen um Verschlüsse in Herzkranzarterien gelegt und verengte Gefäße mittels Ballonkatheter wieder geweitet werden, so daß die Blutzufuhr gewährleistet ist. Solche Verfahren werden als Blutumleitung mit Hilfe eines Bypass-Transplantats bzw. als Angioplastie bezeichnet. Und wenn alle anderen Therapie­möglich­keiten erschöpft sind, kann einem Patienten, der die entsprechenden Kriterien erfüllt, ein gesundes Spenderherz eingepflanzt werden. 

Die genannten Verfahren haben, sofern der Kandidat sorgfältig ausgewählt ist, hohe Erfolgsraten. Dessen ungeachtet schreitet die Atherosklerose nach jedem Eingriff weiter fort und bedroht das Leben des Patienten. Geweitete Arterien verstopfen oft wieder, implantierte Gefäße entwickeln Atherome, und Durchblutungsstörungen in den Herzkranzgefäßen bedrohen erneut den Herzmuskel. So sehr diese Prozesse auch verzögert werden, am Ende erliegen Patienten mit koronarer Herzerkrankung ihnen doch.

Manche sterben plötzlich und unerwartet in einer Phase der Therapie, in der sie auf dem Weg der Genesung schienen, andere erliegen den allmählichen Auswirkungen der dekompensierten Herzinsuffizienz. Die chronische Spielart dieses Leidens zeigt dank moderner Behandlungsmethoden nicht mehr so oft die dramatischen Symptome von einst, dennoch bleibt sie ein todbringender Prozeß, dem viele Patienten mit Durchblutungs­störungen der Herzkranzgefäße zum Opfer fallen.

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Ist das Herz erst einmal so schwach, daß sich eine chronische Insuffizienz einstellt, sind die Aussichten auf Heilung gering. Annähernd die Hälfte der Erkrankten stirbt innerhalb von fünf Jahren. Zwar ist die Sterblichkeit bei Herzanfällen in den vergangenen zwanzig Jahren um 35 Prozent gesunken, aber dafür sind die Zahlen bei Herzinsuffizienz dramatisch gestiegen und werden in Zukunft weiter steigen. Immer mehr Menschen sterben wie Horace Giddens und immer weniger wie James McCarty.

Hierfür gibt es mehrere Gründe. Der auffälligste ist wohl, daß nicht nur die Ärzte, sondern auch die Einrichtungen des öffentlichen Gesundheits­wesens heutzutage effizienter mit Notfällen wie einem Myokardinfarkt umgehen können. Rasche Erste Hilfe durch gut ausgebildete Sanitäter und schneller Transport in die Notaufnahme eines Krankenhauses haben die Versorgung des Infarktkranken in den entscheidenden ersten Stunden erheblich verbessert. 

Auch die Intensivpflege im Krankenhaus hat für Fortschritte gesorgt. Doch ein anderer Faktor ist zumindest genauso wichtig. Der Fortschritt in der allgemeinen Gesundheitspflege ist die Ursache dafür, daß immer mehr Menschen ein hohes Alter erreichen. Mit zunehmendem Alter läßt aber oft die Pumpleistung des Herzens nach, und folglich breitet sich unter der wachsenden Zahl der Alten auch Herzinsuffizienz immer mehr aus. Bei Personen unter fünfundfünfzig Jahren geht die Herzinsuffizienz zurück, der absolute Anstieg geht allein auf die über Fünfundsechzig­jährigen zurück. Bei über zwei Millionen Amerikanern ist das Herz so insuffizient, daß die Betroffenen ihre Aktivitäten einschränken und Einbußen an Lebensqualität hinnehmen müssen. 

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Überschreitet die Insuffizienz ein gewisses kritisches Maß, liegt die Sterblichkeit bei 50 Prozent binnen zwei Jahren. Jährlich sterben immer noch 35.000 Menschen an diesem Leiden. Das sind zwar erheblich weniger als die 515.000 Menschen, die einen Herzanfall erleiden, aber absolut gesehen bleibt es eine große Zahl. 

All diejenigen, deren Herz nicht nach Kammerflimmern oder plötzlichem Stillstand seinen Dienst versagt, sterben schließlich aus den oben angegebenen Ursachen. Die Atmung reicht nicht mehr aus, um das Blut mit genügend Sauerstoff zu versorgen, die Nieren oder die Leber können nicht länger schädliche Stoffe ausscheiden, Bakterien schleichen sich in den Körper ein, oder der Blutdruck ist nicht mehr hoch genug, um alle lebenswichtigen Organtätigkeiten, vor allem aber die Gehirnfunktion, aufrechtzuerhalten. Letzteres wird kardiogener Schock genannt. Neben dem akuten Lungenödem ist der kardiogene Schock der häufigste Grund für die Einlieferung in die Notaufnahme oder die Verlegung auf die Intensivstation. Die Kranken und ihre medizinischen Verbündeten bleiben im Kampf gegen diese Krankheiten meist Sieger, zumindest vorübergehend. 

Ich habe schon oft Notfallteams bei ihrem hektischen Kampf um Menschenleben beobachtet. In der Vergangenheit habe ich selbst als Helfer diesen Kampf mitgefochten, daher kenne ich die paradoxe Mischung, die menschliches Leid und die grimmige Entschlossenheit des Rettungsteams eingehen. Es ist der gleiche Geist, der die Ärzte und ihre Helfer zu leidenschaftlichen Kämpfern zusammenschmiedet. Die hektische Betriebsamkeit des Teams ist bezeichnend für das ganze Unternehmen, das aber oft von Erfolg gekrönt ist. 

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So hektisch die Rettungsmaßnahmen auch aussehen mögen, immer folgen sie demselben Grundmuster. Der Patient, der infolge mangelnder Gehirndurchblutung fast immer bewußtlos ist, wird von einem Team in Empfang genommen, das ihn aus der Zone akuter Lebensgefahr holen soll, indem das Kammer­flimmern beendet oder das akute Lungenödem behoben wird oder beides. Der Patient erhält einen Beatmungstubus, durch den Sauerstoff in die Lunge gepreßt wird, wo er sich rasch ausbreitet. Flimmert das Herz, legt man dem Patienten große Metallelektroden an die Brust und jagt ihm einen Stromstoß von 200 Joule durch das Herz, um das rasende Kammerflimmern zu stoppen und den Herzmuskel wieder zu taktmäßigem Schlagen zu zwingen, was auch häufig gelingt.

Wenn kein regelmäßiger Schlagtakt zustande kommt, beginnt ein Mitglied des Teams mit der äußeren Herzmassage. Dazu drückt er im Bereich des unteren Brustbeindrittels auf den Brustkorb und wiederholt dies etwa fünfzig- bis siebzigmal in der Minute. Das Herz wird zwischen Brustbein und Wirbelsäule zusammengedrückt und Blut strömt in den Kreislauf. Beim Loslassen entsteht im Brustkorb ein Unterdruck, der das Herz erneut füllt. So können das Gehirn und andere lebenswichtige Organe mit Blut versorgt werden. Bei erfolgreicher äußerer Herzmassage ist ein Puls sogar am Hals und in der Leistengegend spürbar. Anders als man vielleicht denken könnte, zeigt die äußere Herzmassage bei unversehrtem Brustkorb weit bessere Resultate als die direkte Herzmassage, die das einzige bekannte Verfahren war, als ich vor vierzig Jahren meine dramatische Begegnung mit James McCarty hatte.

Schlägt das Herz wieder regelmäßig, werden intravenöse Zugänge zur Infusion von Herzmedikamenten angelegt und zentrale Venenkatheter in die Hauptvenen eingeführt.

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Die über Infusionen verabreichten Medikamente dienen verschiedenen Zwecken: Sie steuern den Herzrhythmus, vermindern die Reizbarkeit des Myokards, kräftigen die Herzkontraktion und bauen die Flüssigkeit in der Lunge ab, damit sie über die Nieren ausgeschieden werden kann. Jede Wiederbelebung ist anders. Zwar ist das Ablaufmuster stets das gleiche, aber die einzelnen Phasen, die Reaktion auf Massage und Medikamente und nicht zuletzt die Fähigkeit eines jeden Herzens, wieder einen normalen Schlagrhythmus aufzubauen, sind immer ganz verschieden. Eine weitere Konstante, ob nun darüber gesprochen wird oder nicht, besteht darin, daß Ärzte, Krankenschwestern und Helfer nicht nur gegen den Tod, sondern auch gegen die eigene Unsicherheit kämpfen. In den meisten Fällen von Wiederbelebung kann diese Unsicherheit auf zwei Hauptfragen reduziert werden: Tun wir das Richtige? Sollen wir überhaupt etwas tun? 

Nur zu oft nützt keine der Maßnahmen. Selbst wenn auf beide Hauptfragen mit einem entschiedenen Ja zu antworten ist, kann das Kammerflimmern nicht mehr korrigierbar sein, das Myokard auf Medikamente nicht mehr ansprechen, das immer müder werdende Herz nicht mehr pumpen, und dann sind alle Rettungsversuche vergebens. Wenn das Gehirn länger als die kritischen zwei bis vier Minuten von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten bleibt, ist der Schaden irreversibel. 

Tatsächlich überleben nur wenige einen Herzstillstand; dies gilt besonders für die, die bereits ernsthaft krank sind und im Krankenhaus von ihm ereilt werden. Nur 15 Prozent der Krankenhauspatienten unter der Altersgrenze von siebzig Jahren und fast keiner der über Siebzigjährigen darf hoffen, mit dem Leben davonzukommen, auch wenn das Wiederbelebungsteam mit seinen Bemühungen Erfolg hat.

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Bei einem Herzstillstand außerhalb des Krankenhauses überleben nur 20 bis 30 Prozent der Betroffenen, und es sind fast ausschließlich diejenigen, die rasch auf die Herzmassage ansprechen. Wenn bis zur Ankunft in der Notaufnahme keine positive Reaktion auf die Wiederbelebungs­maßnahmen erfolgt ist, sinken die Chancen für das Überleben des Patienten auf Null. Die große Mehrheit der Patienten, die auf die Herzmassage ansprechen, leiden wie Irv Lipsiner an Kammerflimmern.

Auch das Scheitern folgt einem bestimmten Ablaufschema. Die bisher angestrengt arbeitenden jungen Männer und Frauen müssen erkennen, daß die Pupillen des Patienten nicht mehr auf Lichteinfall reagieren, sich weiten und schließlich zu großen schwarzen Kreisen erstarren. Widerwillig stellt das Team seine Bemühungen ein. Wo gerade noch hektisch um ein Menschenleben gerungen wurde, breitet sich nun dumpfe Niedergeschlagenheit aus.

Der Patient stirbt allein unter Fremden. 

Zwar will jeder im Team nur das Beste für den Patienten, jeder zeigt Mitgefühl und tut alles, um das Leben des Patienten zu retten, aber dennoch bleiben es Fremde. Von Würde kann hier keine Rede sein. Wenn die Samariter der Reanimationsmedizin ihre Arbeit aufgeben müssen, gleicht die Notaufnahme einer Walstatt nach verlorener Schlacht, ähnlich wie McCartys Krankenzimmer nach seinem Tod an jenem Frühlingsabend vor über vierzig Jahren: In der Mitte liegt ein lebloser Körper, für den sich keiner mehr interessiert, obwohl noch vor wenigen Augenblicken darum gekämpft wurde, den Menschen zu retten, dessen Geist diesen Körper bewohnte.

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Der Tod in der Notaufnahme ist der Endpunkt einer Kette biologischer Ereignisse. Ob nun die Erbanlagen oder falsche Lebensgewohnheiten den Ausschlag gegeben haben oder wie in den meisten Fällen eine Verbindung beider Faktoren, die Herzkranzgefäße des Patienten waren jedenfalls nicht mehr imstande, genügend Blut zur Sauerstoffversorgung des Herzmuskels heranzuführen; der Herzschlag wurde langsamer, das Gehirn blieb zu lange ohne Sauerstoff, und der Tod wurde unausweichlich. 

Annähernd 350.000 Amerikaner erleiden jedes Jahr einen Herzstillstand, der für die meisten tödlich endet. Knapp ein Drittel dieser dramatischen Szenen spielen sich im Krankenhaus ab. Oft gibt es keine Vorzeichen, die auf das unmittelbar bevorstehende Ende deuten. Egal wie oft sich ein Herz in der Vergangenheit in ischämischem Zustand befunden hat, sein plötzlicher Stillstand kann ganz unerwartet kommen. Bei 20 Prozent der Patienten kann das Ereignis wie bei Irv Lipsiner sogar ohne jede Schmerzen eintreten. 

Die geheimnisvolle Aura eines solchen Todes ist das Werk der Lebenden, denn der menschliche Geist fordert einen solchen Tribut. So triumphiert das Leben über die unschönen Ereignisse, die den meisten Menschen nicht erspart bleiben, wenn sie sterben oder ihr Leben sich dem Ende nähert. Das Sterben ist kein Vorrecht des Herzens. Vielmehr ist es ein Prozeß, an dem alle Gewebe des Körpers teilhaben, ein jedes in seiner Art und in der ihm eigenen Geschwindigkeit. 

Das treffende Wort ist hier tatsächlich »Prozeß«, nicht »Ereignis« oder »Augenblick« oder ein anderer Ausdruck, der einen Zeitpunkt bezeichnet, an dem der Geist den Körper verläßt. Frühere Generationen haben den Stillstand des allmählich langsamer schlagenden Herzens als markantes Zeichen für das Lebensende genommen, ihnen schien die plötzliche Stille nach dem letzten Herzschlag wie ein stummes Signal für den Eintritt des Todes. Ein solcher Augenblick konnte in den Chroniken festgehalten werden, er war der Schlußpunkt nach dem letzten Wort. 

Heutzutage bestimmt der Gesetzgeber mit angemessener Vagheit den Tod als das Aufhören der Gehirnfunktion. Mag das Herz auch noch zucken und das Knochenmark weiterhin neue Zellen produzieren, so kann doch kein Mensch den Tod seines Gehirns überleben. Das Gehirn stirbt allmählich, wie Irv Lipsiner es erlebt hat. Auch alle anderen Zellen sterben langsam ab, auch die gerade erst im Knochenmark entstandenen. 

Der schrittweise Untergang von Organen und Gewebe in den Stunden vor und nach der offiziellen Todesbescheinigung stellt den eigentlichen biologischen Prozeß des Sterbens dar. Was dabei geschieht, bleibt einer späteren Erörterung vorbehalten, zunächst soll beschrieben werden, wie es sich mit dem langen Vorstadium des Sterbens, dem hohen Alter, verhält. 

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 Nuland 1993