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  6  Mord und Seelenfrieden  

 

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»Der Mensch ist ein Luftatmer«. Hier ist - lapidar wie in allen anderen vielzitierten Aussprüchen des Hippokrates - vom Geheimnis des menschlichen Lebens die Rede. Daß Mensch und Tier von der Atemluft abhängen, war in steinzeitlichen Kulturen schon lange vor dem Erscheinen von Medizinmännern oder Schamanen bekannt. Und selbst die moderne Molekular­forschung mit ihren High-Tech-Methoden kommt auf diese banale Erkenntnis immer wieder zurück: Der Mensch braucht zum Leben Luft.    wikipedia  Hippokrates_von_Kos  *-460

Im späten 18. Jahrhundert wurde entdeckt, daß das lebenserhaltende Elixier nicht die Luft selbst, sondern der Sauerstoff in ihr war. Das Bild vom Menschen als Luftatmer erhielt schärfere Konturen: Ohne Sauerstoff sterben die Zellen ab, und mit ihnen stirbt der Gesamtorganismus. Der Sauerstoff, so konnte schon bald nachgewiesen werden, ist die Ursache dafür, daß das dunkelrote Blut auf dem Weg durch die Lunge eine hellere Färbung annimmt. Und umgekehrt ist die Abgabe von Sauerstoff an die Zellen im entfernten Gewebe des Körpers dafür verantwortlich, daß das Blut mit einem dunkleren Rot zu den Lungen zurückfließt.

Seither haben sich Tausende von Forschern über Generationen hinweg mit diesem zentralen Mechanismus des Lebens befaßt und ihre Ergebnisse in fast allen geschriebenen Sprachen der Welt niedergelegt. Der Sauerstoff steht im Mittelpunkt des Interesses bei all jenen, die sich mit den Lebensprozessen im Organismus befassen.

Auch die modernen Humanbiologen werden immer wieder mit der einfachen, jedermann einleuchtenden Tatsache konfrontiert, daß der Mensch als Luftatmer ohne Sauerstoff nicht auskommt. Um die Bedeutung dieser Erkenntnis zu illustrieren, könnte man beliebig aus der Flut von Veröffentlichungen zitieren, die in den letzten zweihundert Jahren zum Thema erschienen sind. Ich berufe mich statt dessen lieber auf eine wichtige Quelle aus heutiger Zeit: auf eine Ausgabe des <Bulletin of the American College of Surgeons>, eine Fachzeitschrift der Chirurgie, mit dem Titel <What's New in Surgery — 1992>. 

Die Erkenntnis taucht dort nicht als althergebrachte Einsicht, sondern als eine auf molekularer Ebene experimentell nachgewiesene Gewißheit auf. Noch aufschluß­reicher ist die Tatsache, daß diese Aussagen in einem technischen Artikel über allerneueste Trends der Intensiv­behandlung gemacht wird: Es geht um die jüngsten Errungenschaften der Medizin, mit denen das flackernde Lebenslicht Todkranker am Erlöschen gehindert werden soll.

Das wichtigste Ziel der neuen Methoden der Intensivbehandlung besteht darin, die Versorgung gefährdeter Körperzellen mit lebens­notwendigem Sauerstoff aufrecht­zuerhalten. Eine solche Maßnahme hätte bei unseren steinzeitlichen Vorfahren sicher Zustimmung gefunden. Der verstorbene Milton Helpern, in dessen Sektionssäle die Körper von Patienten kamen, die die Ausein­andersetzung mit einer tödlichen Krankheit verloren hatten, mußte sich immer wieder mit der Frage nach der letztlichen Todesursache befassen, und seine Antwort war immer die gleiche: Mangel an Sauerstoff.

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Der Sauerstoff gelangt aus der eingeatmeten Luft auf einem bemerkenswert direkten Weg an seinen Bestimmungsort, die aeroben Körperzellen. Sobald die Sauerstoffmoleküle durch die Membranen der Lungenbläschen ins Geflecht der umgebenden kapillaren Blutgefäße gewandert sind, verbinden sie sich locker mit dem Farbstoff der roten Blutkörperchen, dem Hämoglobin, zu Oxyhämoglobin. In dieser Verbindung wird der Sauerstoff durch die linke Herzkammer und die Aorta in die verschiedenen Gefäße des arteriellen Blutkreislaufs gepumpt. Von dort aus geht die Reise weiter durch feinste Blutgefäße zum Zielort, den Zellen des Körpergewebes.

Bei der Ankunft trennt sich der Sauerstoff wieder vom Hämoglobin, verläßt die roten Blutkörperchen und dringt mit anderen lebensnotwendigen Substanzen in die Gewebszellen ein. Dagegen bindet sich Kohlendioxid aus den Zellen an das Hämoglobin an und wird durch den Blutkreislauf in die Lungen befördert. Neben Kohlendioxid schafft das Blut auch andere Abfallprodukte der Zelle fort, die in den so überaus vielseitigen Organen der Reinigung, in Leber, Nieren und Lunge, abgebaut oder ausgeschieden werden.

Wie jedes Transportsystem ist auch der Mechanismus, der die Zellen mit lebenswichtigem Sauerstoff beliefert und von Abfällen befreit, von einem reibungslosen Verkehrsfluß abhängig, in diesem Fall von einer funktion­ierenden Blutzirkulation. Wenn der Blutkreislauf nicht mehr in der Lage ist, die Bedürfnisse des Körpergewebes zu erfüllen, kommt es zum sogenannten Schock.

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Ein Schock kann durch viele Faktoren hervorgerufen werden, aber in den meisten Fällen wird er durch ein unzulängliches Schlag­volumen des Herzens (wie zum Beispiel beim Herzinfarkt) oder durch eine stark verminderte Blutmenge (wie beim Blutverlust) verursacht. Man spricht in diesem Zusammenhang vom kardiogenen beziehungsweise hypovolämischen Schock. Ein Schock kann ferner durch eine Septikämie ausgelöst werden, bei der der gesamte Blutkreislauf von Krankheitserregern überschwemmt wird. Wie später noch zu erläutern ist, hat ein solcher septischer Schock verheerende Auswirkungen auf die Funktion der Zelle; eine andere schwerwiegende Folge ist eine Umverteilung der Blutmenge im Körper, wobei Blutansammlungen in ausgedehnten Gefäßsystemen wie dem des Darmtraktes dem übrigen Kreislauf Blut entziehen. Unabhängig von der jeweiligen Ursache haben alle Schocks das gleiche Ergebnis: Die Zellen werden nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt und drohen abzusterben.

Ob und wie viele Zellen absterben und ob schließlich auch die Lebensfunktionen des Gesamtorganismus zusammenbrechen, hängt von der Dauer des Schocks ab. Hält er lange genug an, ist er stets tödlich. »Lange genug« ist natürlich relativ. Welcher Zeitraum zum Tod führt, hängt auch vom Grad ab, in dem die Blutzirkulation beeinträchtigt ist. Kommt sie wie beim Herzstillstand völlig zum Erliegen, tritt der Tod binnen Minuten ein. Sinkt die Versorgungsleistung des Kreislaufs auf ein Niveau ab, das nur wenig unterhalb dessen liegt, was zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen benötigt wird, zieht sich das Sterben über einen längeren Zeitraum hin; die verschiedenen Gewebsarten sterben, je nach benötigter Sauerstoffmenge, nacheinander ab. Der Tod kommt gewissermaßen in Raten.

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Das Gehirn, das auf eine kontinuierliche Versorgung mit Sauerstoff und Traubenzucker besonders stark angewiesen ist, stirbt zuerst. Da die Lebensfähigkeit dieses Organs aus juristischer Sicht letztlich das Kriterium dafür ist, ob eine Person noch lebt, steht bei einer Unterversorgung des Gehirns das Leben gewissermaßen auf der Kippe. Eine gestörte Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff spielt auch bei vielen Formen des gewaltsamen Todes eine Rolle.

Obwohl in juristischer Hinsicht die Lebensfähigkeit des Gehirns darüber entscheidet, ob eine Person tot ist oder noch lebt, hat die althergebrachte Methode, mit der Klinikärzte den Tod feststellen, nach wie vor ihren Sinn. Als klinischen Tod bezeichnet man eine kurze Periode nach dem dauerhaften Aussetzen des Herzens. In dieser Zeit zirkuliert in den Adern kein Blut mehr, die Atmung steht still, und für eine Tätigkeit des Gehirns sind keine Anzeichen wahrnehmbar. Trotzdem ist in dieser Situation die Rettung eines Menschen noch möglich. Wenn wie beim Herzstillstand oder bei massivem Blutverlust die Versorgung der Körperzellen zusammengebrochen ist, leben sie noch eine Zeitlang weiter.

Herzmassage und künstliche Beatmung oder cardiopulmonale Reanimation (CPR), wie es in der Fachsprache heißt, vielleicht verbunden mit einer raschen Bluttransfusion, können eine klinisch tote Person ins Leben zurückholen. Für diese Maßnahmen stehen allerdings nicht mehr als ungefähr vier Minuten zur Verfügung. Im Fernsehen wird manchmal gezeigt, wie sich Lebensretter in diesen dramatischen Augenblicken zu verhalten haben. Obwohl Wiederbelebungsversuche gewöhnlich ergebnislos bleiben, gelingen sie unter günstigen Umständen immerhin so oft, daß sie durchaus ihren Sinn haben. Bei Krebspatienten im Endstadium oder alten Menschen mit fortgeschrittener Arteriosklerose oder Demenz haben sie natürlich wenig Sinn. Aber Menschen mit gesunden Organen können den klinischen Tod durchaus überleben.

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Oft geht dem klinischen Tod eine sogenannte Agonalphase voraus, die zumeist nur sehr kurz dauert. Mit dem Adjektiv »agonal« beschreiben Kliniker die sichtbaren Vorgänge in einem Organismus, in dem die Lebensvorgänge zum Erliegen kommen. Das Wort kommt wie das verwandte »Agonie« vom griechischen agon, »Kampf«. Vom »Todeskampf« spricht man, auch wenn der Sterbende längst das Bewußtsein verloren hat und lediglich die Übersäuerung des Blutes für letzte Zuckungen der Muskeln sorgt. Eine Agonie mit sämtlichen Begleiterscheinungen kann bei jeder Art des Sterbens auftreten, ob der Tod plötzlich eintritt oder wie beim Krebs am Ende einer langsamen, aber stetigen Verschlechterung der körperlichen Gesamtverfassung.

Solche Todeskämpfe sind wie ein gewaltiges Aufbäumen der Kreatur, die sich mit aller Kraft gegen den nahenden Tod zur Wehr setzt. Selbst nach der monatelangen Vorbereitungszeit einer schweren Krankheit zeigt der Körper gleichsam seinen Unwillen, sich vom Leben zu trennen. Die letzten Augenblicke sind gekennzeichnet durch Atemstillstand oder eine kurze Reihe keuchender Atemstöße; in seltenen Fällen kommt es zu weiteren Erscheinungen wie dem krampfartigen Anspannen der Kehlkopfmuskeln, das bei meinem Patienten James McCarty zu jenem schrecklichen bellenden Laut geführt hatte. Manchmal heben sich Brustkorb und Schultern ein- oder zweimal, oder der Körper zuckt noch einmal zusammen. Auf die Agonie folgt der klinische und dann der endgültige Tod. 

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Die äußere Erscheinung eines Menschen, bei dem der Tod eingetreten ist, kann mit der eines Bewußtlosen nicht verwechselt werden. Schon eine Minute nach dem letzten Flimmern des Herzens zeigt sich auf dem Gesicht die typische grauweiße Totenblässe. Die Züge erscheinen seltsamerweise auch denjenigen leichenhaft, die noch nie einen Verstorbenen gesehen haben. Man sieht einer Leiche an, daß der lebendige Geist, den die Griechen pneuma nannten, sie auf immer verlassen hat. Aus dem Körper ist alle Lebenskraft gewichen, und so tritt er seine letzte Reise an. Der Prozeß der Auflösung setzt ein. Schon nach Stunden scheint er nur noch zur Hälfte er selbst. Mancher Tote bläst noch einmal Atemluft durch die Lippen. Er haucht buchstäblich seine Seele aus.

Der klinische Tod ist ein besonderer Zustand. Innerhalb von Sekunden muß entschieden werden, ob bei einem Menschen, dessen Herz zu schlagen aufgehört oder der viel Blut verloren hat, Reanimationsversuche sinnvoll sind. Im Zweifelsfall geben die Augen Auskunft. In geöffnetem Zustand sind sie zunächst glasig, der Blick geht ins Leere. Ohne Wiederbelebung verlieren sie innerhalb von vier oder fünf Minuten ihren Glanz und werden stumpf; die Pupillen erweitern sich und bleiben starr. Bald überzieht sie ein dünner trüber Schleier, der den Blick in die Tiefen der Seele versperrt. Die prallen Augäpfel erschlaffen ein wenig.

Daß durch den Körper kein Blut mehr fließt, zeigt sich am fehlenden Puls: Legt man den Finger beispielsweise an die Schlagader am Hals oder in der Leistengegend, nimmt man kein Pochen mehr wahr. Zudem ist die Muskulatur, sofern nicht verkrampft, völlig erschlafft und erinnert von der Konsistenz an das Fleisch beim Metzger. Die Haut hat ihre Spannkraft und ihren natürlichen Schimmer verloren. Nach einer gewissen Zeit des Herzstillstandes ist das Leben endgültig erloschen. Daran ändern dann auch Reanimations­versuche nichts mehr. 

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Um offiziell für tot zu gelten, müssen bei einem Menschen unwiderlegbare Beweise dafür vorliegen, daß sein Gehirn die Funktion für immer eingestellt hat. Auf den Intensiv- und Unfallstationen der Kranken­häuser gelten für diesen Hirntod ganz bestimmte Kriterien: der Verlust aller Reflexe, das Fehlen jeglicher Reaktion auf starke äußere Reize und die Abwesenheit jeder elektrischen Aktivität, die durch ein flaches Elektroenzephalogramm über mehrere Stunden hinweg angezeigt wird. Sind diese Voraussetzungen (bei einem Kopfverletzten oder einem Patienten mit heftigem Schlaganfall zum Beispiel) erfüllt, dürfen lebenserhaltende Apparaturen abgeschaltet werden. Das Herz, sofern es überhaupt noch schlägt, setzt daraufhin sofort aus, der Blutkreislauf stoppt.

Ohne Blutzirkulation schreitet der Zelltod weiter voran. Das zentrale Nervensystem stirbt zuerst, das Binde- und Sehnengewebe zuletzt ab. Zuweilen kann man noch Stunden nach Eintritt des klinischen Todes die Muskeln mit elektrischen Reizen zur Kontraktion bringen. Einige anaerobe, also ohne Sauerstoff ablaufende Prozesse bleiben noch Stunden nach dem klinischen Tod in Gang: So kann die Leber weiterhin Alkohol in seine Bausteine aufspalten. Daß Haare, Finger- und Fußnägel eines Toten noch eine gewisse Zeit weiterwachsen, ist ein weitverbreiteter Irrtum.

Bei den meisten Todesarten wird der Hirntod durch Herzstillstand verursacht. Wird das Gehirn bei einem Unfall oder bei Gewalteinwirkung mit tödlichen Folgen nicht in Mitleidenschaft gezogen, wird der Herzstill­stand zumeist aufgrund des großen Blutverlustes in kurzer Zeit hervorgerufen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Verbluten.

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Unfall- oder Gewaltopfer verbluten, wenn ein größeres Gefäß durchtrennt oder blutführende Organe wie Milz, Leber oder Lunge verletzt worden sind; manchmal ist auch das Herz betroffen. 

Der rasche Verlust von der Hälfte bis zu zwei Dritteln der Blutmenge des Körpers führt gewöhnlich zum Herzstillstand. Da beim Menschen die gesamte Blutmenge etwa 8 Prozent des Körpergewichtes ausmacht, genügt bei einem Mann mit einem Körper­gewicht von 85 Kilogramm ein Blutverlust von 4 Litern und bei einer Frau von 65 Kilogramm von 3 Litern, um den klinischen Tod herbeizuführen. Wird ein Blutgefäß von der Größe der Aorta durchtrennt, spielt sich dieser Vorgang in weniger als einer Minute ab. Bei einem unentdeckten Riß in der Milz oder Leber kann er Stunden oder Tage dauern. 

Schon mit dem Verlust des ersten Liters beginnt der Blutdruck abzusinken. Der Pulsschlag beschleunigt sich, um das verringerte Schlagvolumen auszugleichen. Mit fortschreitendem Ausbluten kann der Blutverlust durch keinen inneren Regelmechanismus mehr ausgeglichen werden: Der Druck und die Menge des Blutes im Gehirn lassen so stark nach, daß der Blutende das Bewußtsein verliert und ins Koma fällt. Als erstes versagt die Funktion der Hirnrinde. Die »niederen« Teile des zentralen Nervensystems wie Stammhirn und Rückenmark halten ein wenig länger durch, so daß die Atmung, wenn auch unregelmäßig, noch eine Zeitlang aufrechterhalten bleibt. Schließlich setzt das Herz aus, zuweilen nach vorhergehendem Kammerflimmern. Die Agonie beginnt, das Leben erlischt.

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Der ganze verhängnisvolle Zusammenhang von Verbluten, Herzstillstand, Agonie, klinischem und schließlich endgültigem Tod bildet den medizinischen Hintergrund einer Tragödie, die sich vor einigen Jahren in einer Kleinstadt in Connecticut unweit von meinem Krankenhaus ereignet hat: Ein Wahnsinniger tötete mitten im Gedränge eines Straßenbasars ein kleines Mädchen von neun Jahren. Als er über sein Opfer herfiel, ergriffen die Passanten in panischer Angst die Flucht. Der Mörder hatte sein Opfer, ein lebhaftes und hübsches Kind, nie zuvor gesehen.

Katie Mason kam aus der Nachbarstadt und besuchte den Basar mit ihrer Mutter Joan und ihrer sechsjährigen Schwester Christine. Auch Joans Freundin Susan Ricci war mit ihren beiden Kindern Laura und Timmy mitgekommen, die ungefähr so alt waren wie die Kinder der Masons. Katie und Laura, die beide seit dem dritten Lebensjahr ins Ballett gingen, waren unzertrennliche Freundinnen.

Als sie sich durch das Gedränge an einem Stand vor dem Kaufhaus Woolworth schoben, zog die kleine Christine ihre Mutter Joan an der Hand, um sie auf die Reitponys auf der anderen Straßenseite aufmerksam zu machen. Sie bettelte so lange, bis Joan Katie und die anderen stehenließ und mit Christine zu den Ponys ging. Kaum war sie auf der anderen Straßenseite, hörte sie hinter sich Lärm und den spitzen Schrei eines Kindes. Noch immer mit Christine an der Hand drehte sie sich um. Sie sah Menschen in alle Richtungen wegrennen; sie flohen vor einem großen, heruntergekommen aussehenden Mann, der mit ausgestrecktem Arm wütend auf ein kleines Mädchen vor ihm auf dem Boden einhieb. Trotz des Schreckens begriff Joan sofort: Das Kind, das vor dem Mann auf der Seite lag, war ihre Tochter Katie. Dann sah sie auch den blutbeschmierten Gegenstand in der Hand des Mannes, ein fünfzehn Zentimeter langes Jagdmesser.

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Immer wieder hieb der Wahnsinnige auf Karies Gesicht und Nacken ein. Inzwischen war er mit seinem Opfer allein. Er kauerte sich neben sie, setzte sich dann auf den Boden und stieß immer und immer wieder zu, bis das Pflaster vom Blut des Kindes gerötet war. Joan beobachtete die Szene aus ungefähr sechs Metern Abstand. Sie war vor Entsetzen wie gelähmt. Die Luft um sie herum, so erinnerte sie sich später, sei ihr wie eine undurchdringliche Masse erschienen. Ihr Körper habe sich warm und empfindungslos angefühlt, und ein unwirkliches Gefühl habe von ihr Besitz ergriffen. 

Nichts regte sich in der Umgebung, während der Wahnsinnige in seiner Raserei immer wieder auf sein regloses Opfer am Boden einstach. Die Beobachter hinter der sicheren Glasscheibe von Woolworth und in anderen Verstecken wurden Zeugen eines blutigen Schauspiels, das sich auf einer menschenleeren Straße abspielte. 

Obwohl die Schreckensszene Joan endlos lange erschien, erwachte sie schon nach einigen Sekunden wieder aus ihrer Betäubung. Sie sah plötzlich zwei Männer auftauchen, die sich schreiend auf den Mörder stürzten und ihn niederzuringen versuchten. Der Mann ließ sich jedoch nicht beirren und stach weiter wild entschlossen auf Katie ein. Einer der Männer trat ihm mit dem Stiefel ins Gesicht; obwohl sein Kopf zur Seite schlug, schien er keine Notiz davon zu nehmen. Erst als ein Polizist auftauchte und den Arm mit dem Messer packte, gelang es, den Mörder zu überwältigen. Zu dritt zwangen die Männer den um sich schlagenden Wahnsinnigen auf den Boden und zerrten ihn schließlich fort. 

Joan lief zu ihrer Tochter und nahm sie in die Arme. Vorsichtig drehte sie sie auf den Rücken, sah in das blutüberströmte kleine Gesicht, flüsterte immer wieder ihren Namen und begann sie wie ein Neugeborenes in ihrem Schoß zu wiegen. Kopf und Nacken des Kindes waren voller Blut, das Kleidchen war durchtränkt, aber die Augen waren unverletzt.

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Sie sah mich an und blickte durch mich hindurch, und ich spürte ein warmes Gefühl in mir. Ihr Kopf war zurückgefallen. Ich hob sie ein wenig hoch und hatte den Eindruck, daß sie noch immer atmete. Ich flüsterte ein paarmal ihren Namen und sagte, ich hätte sie so lieb. Dann wollte ich sie in Sicherheit bringen, weg von diesem Mann, obwohl es zu spät war. Ich hob sie auf und trug sie ein kleines Stück. Dann fiel mir ein, daß ich gar nicht wußte, wohin ich sie bringen sollte. 

Ich kniete nieder und legte sie sanft auf den Boden. Da hob sich ihre Brust, und sie begann Blut zu erbrechen. Immer wieder erbrach sie, sie erbrach so viel Blut, ich hätte gar nicht geglaubt, daß ein Kind so viel Blut in sich hat. Ich wußte, daß sie verblutete. Ich schrie um Hilfe, konnte aber nichts tun. Sie erbrach immer mehr Blut. 

Als ich am Anfang zu ihr ging, sah ich in ihren Augen etwas aufscheinen. Es war fast so, als hätte sie mich erkannt. Als ich sie dann aber auf den Boden legte, hatten ihre Augen einen anderen Blick. Und als sie dann Blut erbrach, waren sie ganz glasig. Am Anfang hatte sie noch lebendig ausgesehen, aber dann nicht mehr. In ihren Augen war kein schmerzerfüllter Blick, sie sah vielmehr überrascht aus. Und dieser Gesichtsausdruck blieb der gleiche, als sie glasige Augen bekam. Irgendwann tauchte eine Frau auf, es war wohl eine Krankenschwester. Sie versuchte Katie wiederzubeleben. Ich sagte nichts, wunderte mich aber. Katie war nicht mehr in ihrem Körper. Sie war hinter mir oder schwebte über mir. In ihrem Körper war kein Leben mehr, und es kehrte auch nicht mehr zurück. Ihr Körper war nur noch eine Hülle. 

Jetzt war alles anders als am Anfang, als ich zu ihr gerannt war: Ich wußte, meine Tochter war tot. Ich spürte, sie war nicht mehr in ihrem Körper, sie war irgendwo anders. Der Rettungswagen kam, sie hoben Katie aus der Blutlache und versuchten sie mit einem Gerät künstlich zu beatmen. Katies Augen waren immer noch weit geöffnet und ganz glasig. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck völliger Überraschung, als begreife sie nicht, was um sie herum vor sich ging. Es war eine Mischung aus Hilflosigkeit, Verwirrtheit und Überraschung, aber sicher kein entsetzter Blick. Damals war ich erleichtert, ich klammerte mich an jeden Strohhalm ... 

Noch Monate später quälte mich immer wieder die Frage, ob sie sehr gelitten hatte. Ich mußte es wissen. Ich hatte all das erbrochene Blut gesehen, das aus ihrem Körper kam. Ihre Brust und ihr Gesicht waren mit Schnitt- und Stichwunden übersät gewesen. Sie muß beim Versuch, sich loszureißen, den Kopf hin und her geworfen haben. Später erfuhr ich, daß er wie aus dem Nichts aufgetaucht war und Laura beiseite gestoßen hatte. Er packte Katie an den Haaren und riß sie zu Boden. Laura, nicht Katie hatte geschrien. Ich mußte wissen, was Katie durchgemacht, was sie gespürt hatte ...

Wissen Sie, wie sie ausgesehen hat? Ich glaube, richtig gelöst. Nachdem ich gesehen hatte, wie er auf sie einstach, war ich fast beruhigt, als ich ihren gelösten Blick sah. Sie hat offenbar nichts gespürt, ihr Gesicht drückte keine Schmerzen aus. Ich dachte, sie sei vielleicht in einer Art Schockzustand.

Sie sah überrascht, aber nicht erschreckt aus: Für mich war es schrecklicher als für sie. Auch meine Freundin Susan hat ihren Blick gesehen. Sie meinte, Katie habe irgendwie resigniert ausgesehen, aber als ich ihr sagte, daß der Blick für mich friedvoll gewesen sei, stimmte sie voll und ganz zu.

Wir haben einmal ein Porträt von Katie machen lassen: Darauf hat sie den gleichen Blick. Die Augen sind weit geöffnet, schauen aber nicht entsetzt. Sie wirkt unschuldig, unschuldig und gelöst. Als ihre Mutter empfand ich es in dieser grauenhaften Situation mit all dem Blut geradezu beruhigend, in ihre Augen zu blicken. An einem gewissen Punkt spürte ich: Sie hatte ihren Körper verlassen und sah von oben auf sich selbst herunter. 

Obwohl sie bewußtlos war, spürte ich, daß sie irgendwie wußte, daß ich da war, daß ihre Mutter bei ihr war, als sie starb. Ich hatte sie zur Welt gebracht, und ich war bei ihr, als sie ging — trotz der schrecklichen Angst war ich bei ihr.

 

Der Rettungswagen brachte Katie ins nächste Krankenhaus. Bei der Einlieferung einige Minuten später war kein Puls mehr spürbar, und der Hirntod war eingetreten. Trotzdem und obwohl sie wußten, daß es sinnlos war, versuchten die Ärzte in der Notaufnahme verzweifelt mit allen Mitteln, das Kind ins Leben zurückzuholen. Erschüttert gaben sie schließlich auf. Mit Tränen in den Augen teilte ein Arzt Joan mit, was sie ohnehin schon wußte.

Katie Masons Mörder war ein neununddreißigjähriger Geistesgestörter namens Peter Carlquist. Carlquist hatte bereits zwei Jahre zuvor einen Mann, der mit ihm ein Zimmer bewohnte, mit einem Messer verletzt, weil der Mann angeblich eine Flüssigkeit in den Heizkörper geschüttet hatte, die giftige Dämpfe verströmte.

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Wegen Unzurechnungs­fähigkeit war er freigesprochen worden. Er hatte schon mehrere solche Angriffe getätigt, unter anderem auf seine Schwester und auf Klassenkameraden an der High-School. Einem Psychiater hatte er mit sechs Jahren erzählt, der Teufel sei aus dem Boden gefahren und in seinen Körper geschlüpft. Wahrscheinlich hatte er recht.

Nach dem Angriff auf seinen Mitbewohner wurde Carlquist in eine Heilanstalt am Rand der Stadt eingewiesen, in der Katie Mason an jenem verhängnisvollen Julitag den Straßenbasar besuchte. Kurze Zeit vor dem Angriff auf Katie war ein Gutachten erstellt worden, wonach sich sein Geisteszustand wesentlich gebessert hatte. Carlquist wurde in eine offene Einrichtung mit mehrstündigem Ausgang täglich verlegt. Am Morgen der Wahnsinnstat nahm Carlquist den Bus ins Zentrum und ging in eine Eisenwarenhandlung. Er kaufte sich ein Jagdmesser und ging zum Straßenbasar weiter. Vor dem Kaufhaus Woolworth sah er in der Menge die beiden hübschen kleinen Mädchen im gleichen Kleid. In seinem gestörten Gehirn liegt verborgen, warum er die dunkelhaarige Katie und nicht die blonde Laura als Opfer auserkor. Er stürzte sich auf sie, riß sie zu Boden und begann im Wahn auf sie einzustechen. 

Katie Mason starb an einer akuten Blutung, die zu einem hypovolämischen Schock führte. Obwohl sie am Oberkörper von zahlreichen Stichen getroffen worden war, hatte sie das meiste Blut durch eine durch­trennte Halsschlagader verloren. Das Blut hatte sich durch einen Schnitt in der Speiseröhre in den Magen ergossen, was zu ihrem starken Erbrechen führte. Der Körper von verblutenden Menschen ist einer bestimmten Abfolge von Ereignissen ausgesetzt.

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Die Betroffenen beginnen zunächst zu hyperventilieren, also hechelnd zu atmen, wodurch das Blut stärker mit Sauerstoff gesättigt wird. Mit dieser Reaktion versucht der Körper, die verminderte Sauerstoff­zufuhr auszugleichen, die durch die verringerte Blutmenge entsteht. Aus dem gleichen Grund beschleunigt sich der Puls. Bei größerem Blutverlust fällt der Druck in den Gefäßen rapide ab, so daß auch das Herz über die Koronararterien schlechter mit Blut versorgt wird. In dieser Situation würde ein Elektrokardiogramm eine Ischämie des Herzmuskels anzeigen. Eine Unterversorgung des Herzmuskels mit Sauerstoff führt zu einem nachlassenden Pulsschlag. 

Fallen Blutdruck und Herzfrequenz unter einen kritischen Wert, kommt es zu einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff und Traubenzucker. Bewußtlosigkeit und Hirntod sind die Folge. Das langsamer schlagende ischämische Herz setzt — gewöhnlich ohne vorheriges Kammerflimmern — schließlich ganz aus. Blutzirkulation und Atmung kommen zum Erliegen. Der klinische Tod wird von typischen Erscheinungen der Agonie begleitet. Wurde ein Gefäß von der Größe einer Kopfschlagader durchtrennt, spielen sich diese Vorgänge innerhalb weniger Minuten ab.

Katie Mason starb auf diese Weise. Die beschriebenen Abläufe erklären freilich nicht das Phänomen, das ihre Mutter erlebte und das sich mit den Schilderungen zahlreicher ähnlich schrecklicher Ereignisse deckt. Wie kann ein Mädchen, über das ein Wahnsinniger mit einem Messer herfällt, sterben, ohne daß ihr der Schrecken ins Gesicht geschrieben steht? Warum wirkt es völlig gelöst und eher überrascht als entsetzt? Das Kind hat doch eine Zeitlang bei vollem Bewußtsein miterlebt, wie der Rasende immer wieder mit dem Messer auf ihren Oberkörper und ihr Gesicht einstach.

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Warum hat das Mädchen dennoch offenbar weder Panik noch Furcht empfunden? Über das Phänomen, das Joan Mason beschrieben hat, staunen die Menschen schon seit Jahrhunderten. Es gab Soldaten, die trotz schwerster Verwundungen ohne Schmerzen und Angst und nur von Kampfbegeisterung beseelt bis zum Ende der Schlacht weiterkämpften. Erst dann brachen sie zusammen oder starben sogar. Bei solchen Erscheinungen ist sehr viel mehr im Spiel als der vielbeschworene Adrenalinstoß, der Reserven für den Kampf oder die Flucht mobilisiert. 

In seinem Essay »Das Üben« vertritt Michel de Montaigne die Ansicht, man könne die Angst vor dem Sterben lindern, indem man sich das ganze Leben über immer wieder die verschiedenen Todesarten vor Augen hält:

Und doch, glaube ich, können wir uns irgendwie mit dem Tod vertraut machen und ihn sozusagen probieren. Wir können ihn zwar nicht ganz und vollständig erfahren, aber doch so weit, daß diese Erfahrung nicht nutzlos ist, weil sie uns Kraft und Halt gibt: wenn wir auch nicht wirklich hinkommen können, so können wir doch in die Nähe gelangen; wir können Erkundungsfahrten unternehmen; und wenn wir auch nicht bis zum Geheimnis des Todes vordringen, so ist es uns doch möglich, die Wege, die dahin führen, zu sehen und uns mit ihnen schon vertraut zu machen.

 

Montaigne berichtet von einem persönlichen Erlebnis, als er von einem Reiter aus dem Sattel gestoßen wurde. Der Reiter »jagte ... in vollem Lauf gerade auf den Weg zu, auf dem ich geritten kam«. Montaigne trug Prellungen davon und blutete stark, und er glaubte zunächst, er sei von einem Schuß aus einer Arkebuse getroffen worden.

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Zu seiner eigenen Überraschung blieb er jedoch ganz gelassen:  

»[Zu Hause] antwortete ich nicht nur auf einige der Fragen, die an mich gerichtet wurden, sondern ich soll sogar daran gedacht haben, den Befehl zu geben, daß meine Frau ein Pferd bekommen sollte, weil ich sah, daß sie auf dem unebenen schlechten Weg nicht recht vorankam.«

Das Gefühl, das Montaigne in dieser Situation empfand, beschreibt er als eine Art Seelenfrieden. Er lehnte es sogar ab, Schmerzmittel einzunehmen, weil er zunächst glaubte, er habe einen tödlichen Kopfschuß. »Das wäre zweifellos ein sehr glücklicher Tod gewesen«, schreibt er, »denn durch die Schwächung meiner Denkkraft war ich davor bewahrt, die Situation irgendwie zu erfassen, und durch die körperliche Schwäche, irgend etwas davon zu fühlen: Ich versank so wohlig, so sanft und leicht, daß ich kaum je einen Zustand gekannt habe, der so schwerelos wie dieser gewesen wäre.« 

Nach einigen Stunden kam er wieder richtig zu sich: »[Dann] fielen meine Schmerzen plötzlich wieder über mich her; waren doch meine Glieder durch den Sturz alle gestaucht und zerkratzt. Zwei oder drei Nächte nachher fühlte ich mich so elend, daß ich noch einmal zu sterben glaubte; aber diesmal schien der Tod lebendiger.« 

Was dem schwerverletzten Montaigne auch immer in einen betäubungsähnlichen Zustand versetzt hat, nach einiger Zeit war es jedenfalls verschwunden, und einige Stunden nach dem Unfall quälten ihn heftige Schmerzen. Vorbei war es mit dem Seelenfrieden, dem Dämmer und der Erwartung, einen leichten Tod zu sterben. Die Wirklichkeit der Schmerzen und der Angst war zurückgekehrt.

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Erfahrungen wie die von Montaigne sind nicht selten, und manchmal werden sie als mystische oder übernatürliche Begebenheiten dargestellt. Ein Chirurg, der mit Schwerkranken und mit Opfern von Unfällen und Gewaltverbrechen zu tun hat, kennt solche Reaktionen aus einem ganz anderen Zusammenhang. Bei diesen Patienten verschwinden nach der Injektion eines Opiates oder anderen starken Schmerzmittels in der richtigen Dosierung auch Todesängste, und trotz schlimmster Verwundungen stellt sich ein Gefühl unbeteiligter Ruhe ein. Ich selbst habe schon miterlebt, wie Patienten auf die Verabreichung eines dem Morphium ähnlichen Betäubungsmittels fast euphorisch reagierten. 

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, daß der Körper solche morphiumähnlichen Substanzen auch selbst produzieren und sie im notwendigen Augenblick einsetzen kann. Die Ausschüttung eines solchen körpereigenen Betäubungsmittels müßte dann nur durch einen äußeren Reiz ausgelöst werden. Solche körpereigenen Opiate, sogenannte Endorphine, gibt es tatsächlich. Ihren Namen haben sie kurz nach ihrer Entdeckung vor ungefähr zwanzig Jahren aus einer Zusammenziehung der Worte »endogene Morphine« erhalten. 

Das Wort »endogen«, das es seit mindestens hundert Jahren im medizinischen Fachvokabular gibt, ist aus den griechischen Bestandteilen endon für »inner« oder »innen« und gennao für »hervorbringen« entstanden. »Endogen« sind also Wirkstoffe oder Umstände, die im Inneren des Organismus entstehen. Morphin, der Hauptbestandteil des Morphiums, ist dagegen von Morpheus abgeleitet, dem griechischen Gott des Schlafs und der Träume.

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Verschiedene Teile des Gehirns, etwa der Hypothalamus, die graue Substanz um den Aquädukt und die Hypophyse, sind in der Lage, als Reaktion auf Streß Endorphine auszuschütten. Die Moleküle der Endorphine binden sich wie andere Opiate mit dem adrenokortikotropen Hormon (ACTH), das die Nebenniere aktiviert, an Rezeptoren an den Oberflächen bestimmter Nervenzellen an und unterdrücken dadurch die Schmerzempfindung. Endorphine spielen aber offenbar nicht nur bei der Schmerzunter­drückung, sondern auch bei den veränderten Bewußtseinszuständen, die durch äußeren Streß ausgelöst werden können, eine bedeutende Rolle. Wie sich herausgestellt hat, wirken sie mit adrenalinähnlichen Hormonen zusammen. 

Ohne eine Verletzung oder eine starke körperliche oder seelische Belastung entfalten Endorphine offenbar keine schmerzlindernde oder angstlösende Wirkung. Sie bedürfen, um aktiviert zu werden, eines gewissen physischen oder psychischen Traumas. Wie stark und welcher Art ein solches Trauma sein muß, ist bislang noch ungeklärt.

Eine Ausschüttung von Endorphinen könnte beispielsweise schon durch die Reizung einer Hautpartie mit einer Akupunkturnadel ausgelöst werden. Ich habe über mehrere Jahre hinweg verschiedene medizinische Fakultäten in China besucht, und dabei ist mir auf eindrucksvolle Weise immer wieder demonstriert worden, daß die Akupunktur auch bei größeren chirurgischen Eingriffen eine Alternative zur normalen Narkose sein kann. 

1990 habe ich Professor Cao Xiaoding besucht, einen Neurobiologen, der eine interdisziplinäre Koordinier­ungs­stelle für Akupunktur-Anästhesie und Analgesie-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Shanghai leitet. Der Einrichtung, der dreißig Fakultätsmitglieder angehören, sind sechs Laboratorien mit den Forsch­ungsrichtungen Neuropharmakologie, Neurophysiologie, Neuromorphologie, Neurobiochemie, klinische Psychologie und Computerwissenschaft angeschlossen.

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Professor Caos Forschungsteam hat eine gewaltige Menge an experimentellen und klinischen Belegen dafür zusammengetragen, daß die unleugbare Wirkung der Akupunktur bei manchen Anwendungen auf der Ausschüttung von Endorphinen beruht, bewirkt durch vibrierende oder sich drehende Nadeln. In Shanghai und mehreren westlichen Laboratorien hat man diesen Zusammenhang inzwischen mehrfach nachgewiesen, wobei allerdings noch nicht geklärt werden konnte, über welche Nervenbahnen das Signal zur Freisetzung des Opiats das Gehirn erreicht. Vielleicht handelt es sich um einen ähnlichen Mechanismus wie bei der Aktivierung der bekannten Streßreaktionen.

Wie man seit den späten siebziger Jahren weiß, treten Endorphine bei Schocks infolge eines größeren Blut­verluste oder einer Septikämie in Erscheinung. Ihre Rolle bei körperlichen Traumata ist in der chirurgischen Fachliteratur bestens dokumentiert. Ein neuerer Bericht der University of Pittsburgh belegt, daß für Kinder das gleiche gilt wie für Erwachsene: Bei Patienten mit schweren Verletzungen werden deutlich größere Mengen an Endorphinen wirksam als bei solchen mit leichten Traumata. Erhöhte Endorphinwerte lassen sich schon bei Kindern mit Schürfwunden feststellen. 

Wir werden nie wissen, welche Menge an Endorphinen bei der kleinen Katie Mason wirksam wurde, und meine Vermutung, daß es sehr viel war, werden einige kritische Kollegen sicher als Spekulation abtun. Trotzdem bin ich überzeugt, daß die Natur im Fall Katies einmal mehr mit der entsprechenden Dosis eines Wirkstoffs aufgewartet hat, um dem sterbenden Kind unnötiges Leiden zu ersparen.

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Die Ausschüttung von Endorphinen ist offenbar eine angeborene physiologische Reizreaktion, mit der sich Säuger und vielleicht auch andere höhere Lebewesen vor lebensbedrohenden Gefahren schützen, in die sie durch Angstverhalten oder Schmerzreaktionen geraten könnten. Diese Überlebensstrategie dürfte sich in einem frühen Stadium der evolutionären Entwicklung des Menschen herausgebildet haben, als lebensgefährliche Situationen noch der Alltag waren. Die Unterdrückung von Panikreaktionen hat gewiß viele Leben gerettet.

Von Endorphinen beschützt wurde offenbar auch Joan Mason. Ohne das seltsame Wärmegefühl und das Gefühl, von einer undurchdringlichen Aura umgeben zu sein, so sagte sie mir, wäre sie sicher vor Angst gestorben. In prähistorischer Zeit hatten Menschen, deren Herz und Kreislaufsystem in der Schrecksekunde beim Angriff eines Raubtieres nicht versagten, die besseren Überlebenschancen, und diesen Selektionsvorteil gaben sie an ihre Nachkommen weiter. 

Obwohl es nur wenig Ansätze gibt, das oben beschriebene Phänomen systematisch zu erforschen, sind Berichte über ungewöhnliche seelische Reaktionen in lebensgefährlichen Situationen häufig, sei es die philosophische Schilderung eines Montaigne, die Geschichte eines Soldaten oder die Erzählung eines Bergsteigers, der eine ungewohnte innere Ruhe verspürte, als er in den sicheren Tod zu stürzen glaubte. Mancher Leser wird selbst eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Es gibt natürlich auch Situationen, in denen Endorphine versagen. Dann zeigt der Tod sein schreckliches Gesicht. 

Da bei der Wirkung von Endorphinen körperliche, also biochemische, und seelische Vorgänge ineinander­greifen, liegt es nahe, auch die Erfahrungen eines Mannes anzuführen, dem am körperlichen und seelischen Heil der Menschen gleichermaßen gelegen war.

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Daß der große britische Forschungsreisende David Livingstone als Missionar und Mediziner nach Afrika kam, wird heute vielfach vergessen. Livingstone entging auf seinen Reisen durch den schwarzen Kontinent mehrmals knapp dem Tod. Das folgende Beispiel verdeutlicht besonders eindrucksvoll, wie Körper und Geist in Lebensgefahr zusammenwirken können. 

Im Februar 1844 brach ein Löwe in das Gebiet des Stammes ein, den der damals dreißigjährige Livingstone als Missionar und Arzt betreute. Das Tier wurde von einem Mitglied des Stammes verletzt und griff Livingstone an. Es packte ihn am linken Oberarm, hob ihn hoch und schüttelte ihn heftig. Livingstone erlebte bei vollem Bewußtsein, wie das Raubtier die Zähne in sein Fleisch schlug und ihm den Oberarmknochen zermalmte. Später blutete er stark aus elf klaffenden Bißwunden. Einer seiner Begleiter, ein älterer Schulmeister namens Mebalwe, ergriff geistesgegenwärtig eine Büchse und feuerte beide Läufe ab. Der Löwe wurde zwar nicht getroffen, ließ seine Beute aber erschreckt fallen und lief davon. Kurze Zeit später verendete er an den Schußverletzungen, die man ihm vor seinem Angriff auf Livingstone beigebracht hatte.

Livingstone hatte anschließend viel Zeit, um über seine wunderbare Rettung nachzudenken: Er brauchte über zwei Monate, um sich vom Blutverlust, dem komplizierten Bruch und den stark eiternden Wunden zu erholen. Vor allem wunderte er sich, daß er in der Situation, als ihn der Löwe zu zerreißen drohte, völlig gelassen geblieben war. Er beschrieb das Abenteuer und das unsagbar friedvolle Gefühl angesichts der größten Gefahr später in dem 1857 erschienenen autobiographischen Werk Missionsreisen und Forschungen in Südafrika.

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Er brüllte dicht an meinem Ohr entsetzlich und schüttelte mich dann, wie ein Dachshund eine Ratte schüttelt. Diese Erschütterung verursachte eine Betäubung, etwa wie diejenige, welche eine Maus fühlen muß, nachdem sie zum ersten Male von einer Katze geschüttelt worden ist. Sie versetzte mich in einen träumerischen Zustand, worin ich keine Empfindung von Schrecken und kein Gefühl von Schmerz verspürte, obschon ich mir vollkommen dessen bewußt war, was um mich herum vorging. 

Dieser Zustand glich demjenigen, den Patienten unter dem Einfluß einer nur teilweisen Narkose durch Chloroform beschreiben, welche die ganze Operation sehen, aber das Messer nicht fühlen. Diese eigentümliche Lage war nicht das Ergebnis eines geistigen Vorgangs. Das Schütteln hob die Furcht auf und ließ keine Regung von Entsetzen beim Anblick des Tieres aufkommen. Es mögen wohl alle Tiere diesen eigentümlichen Zustand empfinden, welche von den großen Fleischfressern getötet werden; und ist dies der Fall, so erkennen wir darin eine gnädige Vorkehrung unseres allgütigen Schöpfers zur Verminderung der Todesqual.

 

Zur damaligen Zeit, als die medizinische Laborforschung noch in den Kinderschuhen steckte, hätten die meisten Menschen wohl Livingstones metaphysischer Erklärung seiner erstaunlichen Gelassenheit im Angesicht des Todes zugestimmt. Man hätte ein Prophet oder zumindest ein Skeptiker sein müssen, um zu ahnen, daß für diese seelischen Vorgänge physiologische Abläufe verantwortlich sind, denn die Mikroskopie und die chemische Analyse steckten ja noch in den Anfängen.

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Daß ein Bewußtseinszustand, wie ihn Livingstone beschrieben hat, durch biochemische Wirkstoffe als Streßreaktion ausgelöst wird, dürfte damals selbst für Ärzte fast unvorstellbar gewesen sein.

Ich selbst hatte ein ähnliches Erlebnis wie Livingstone. Ich bin von Natur aus nicht ängstlich, aber in zwei Situationen befällt mich eine geradezu krankhaft irrationale Angst: beim Blick aus schwindelerregender Höhe nach unten und in Gewässern, in denen ich nicht stehen kann. Beim bloßen Gedanken an eine dieser beiden Situationen krampft sich in mir alles zusammen. Nicht, daß ich in tiefem Wasser einfach nur vorsichtig oder ängstlich wäre: Ich gerate in Panik und kann mich dagegen nicht zur Wehr setzen. Mehr als einmal hat mich in einem Swimmingpool selbst in Anwesenheit kräftiger junger Männer, die mich alle mühelos hätten retten können, eine entsetzliche Angst vor dem Ertrinken befallen. Es genügte schon, wenn ich plötzlich merkte, daß ich mich einige Zentimeter zu weit hinausgewagt und den Boden unter den Füßen verloren hatte. 

Nach einem offiziellen Bankett der Human Medical University bei Changsha, einer Stadt im südlichen Zentralchina, machte ich mich mit einem amerikanischen und einem halben Dutzend chinesischer Kollegen auf den Rückweg zu meiner Unterkunft. Ich war nüchtern, denn ich hatte nur zu Beginn des zweistündigen Essens eine Flasche Tsingtao-Bier getrunken. Ich passierte mit meinen Begleitern einen gewundenen Steg, der eine kurze Strecke über einen glitzernden, scheinbar seichten Weiher führte. Ich hatte schwere Kleider an und trug über der Schulter eine halb gefüllte Umhängetasche. Da ich zwei Jahre zuvor in derselben Unterkunft gewohnt hatte, war ich mit der Umgebung vertraut, ich hatte aber nicht damit gerechnet, daß ich den schmalen Steg bei fast völliger Dunkelheit in einer bewölkten Nacht passieren mußte.

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Als ich mich mitten auf dem Steg nach einem meiner Gastgeber umwandte, trat ich mit dem rechten Fuß ins Leere. Ich tauchte sofort in dem schwarzen, undurchsichtigen Wasser unter. Als mir blitzartig klar wurde, daß ich in aufrechter Haltung immer tiefer sank, empfand ich neben Überraschung einen Anflug von Spott über mich selbst, als hätte ich ein lächerliches Kunststück vorführen wollen und es verpatzt. Zugleich ärgerte ich mich, weil ich das Gefühl hatte, das Mißgeschick könne den erfolgreichen Abschluß meiner Mission in Hunan vereiteln. Aber am erstaunlichsten war, daß ich überhaupt keine Angst hatte und keinen Augenblick fürchtete, ich könnte ertrinken. 

Ich muß schließlich auf dem Grund angekommen sein und mich wie ein geübter Schwimmer abgestoßen haben; jedenfalls stieg ich in die Höhe und tauchte kurze Zeit später mit dem Kopf wieder auf. Oben streckten mir meine aufgeregt rufenden Begleiter die Hände entgegen. Mit ihrer Hilfe kletterte ich über die scharfkantigen Steine am Rand des Teichs aus dem Wasser. Die Tasche hing noch immer über meinen Schultern. Ich hatte lediglich meine Brille und — was in China eine große Rolle spielt — ein wenig das mianzi, das Gesicht, verloren. Betreten blieb ich einen Augenblick auf dem Weg stehen. Ich fühlte mich elend und begann zu frieren. 

Der Tauchgang im Weiher konnte nicht mehr als einige Sekunden gedauert haben. Daß dabei Endorphine wirksam geworden waren, ist natürlich eine weitere Vermutung, die sich nicht nachprüfen läßt. Aber mein persönliches Erlebnis zeigt einmal mehr, daß es lebensbedrohende Situationen gibt, in denen der Mensch, statt die Selbstbeherrschung zu verlieren, ruhig und gelassen bleibt und sich instinktiv richtig verhält.

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Der psychische Schock hatte bei mir offenbar eine Streßreaktion ausgelöst, die mich davor bewahrte, in Panik zu geraten. Statt kopflos mit den Armen zu rudern und unter Wasser nach Luft zu schnappen, tat ich genau das Richtige: Ich vermied ruckartige Bewegungen, durch die ich mir an scharfkantigen Steinen den Kopf hätte verletzen können, wartete, bis ich am Grund des Weihers angekommen war, stieß mich dann ab und tauchte wieder auf.

Meine Erfahrung war natürlich nicht so intensiv wie die von Montaigne oder Livingstone, und ich will sie auf keinen Fall mit der Tragödie der kleinen Katie Mason vergleichen. Aber trotz des großen Unterschiedes zeigen all diese Reaktionen auf eine akut lebensbedrohende Situation das gleiche: Ruhe statt Panik, Resignation statt Kampf ums Überleben. Warum das so ist, darüber ist schon viel nachgedacht worden. Menschen der verschiedensten Geisteshaltung haben eine Antwort versucht und vom Spiritualismus bis hin zur wissenschaftlichen Erklärung alles bemüht. Fest steht bisher nur, daß Menschen und wohl auch viele Tiere in einer Lage, in der sie plötzlich dem Tod ins Auge sehen, oft von Angst befreit und vor bestimmten kontraproduktiven Reaktionen bewahrt werden, die Todesqualen steigern oder Gefahren verschärfen könnten.

An dieser Stelle begebe ich mich notgedrungen auf unsicheres Terrain. In letzter Zeit wurde oft über Sterbeerlebnisse diskutiert. Kein vernünftiger Beobachter kann die vielen Berichte glaubhafter Zeugen ignorieren, die gewissermaßen ins Jenseits geblickt haben und dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen sind. Forscher, die solche Erlebnisse auf wissenschaftlicher Basis zu erklären versuchen, machen psychische, biochemische oder andere Ursachen dafür verantwortlich. Andere suchen eine Erklärung in der Religion oder Parapsychologie.

210/211


Wiederum andere halten Sterbeerlebnisse für die realen Erfahrungen von Menschen, die das Leben tatsächlich verlassen und in die Sphäre des Jenseits, in den Himmel, eingetreten sind.

Der Psychologe Kenneth Ring hat hundertzwei Überlebende von lebensgefährlichen Verletzungen oder Krankheiten befragt. Die Erfahrungen von neunundvierzig der Befragten erfüllten seine Kriterien für ein Sterbeerlebnis oder eine Vorform, die Erfahrungen der anderen dreiundfünfzig erfüllten sie nicht. Die weitaus meisten Befragten waren plötzlich krank geworden, etwa aufgrund eines Herzinfarkts oder einer Blutung. Ring ermittelte bei denen, die ein Sterbeerlebnis gehabt hatten, einige durchgehend gleiche Elemente: ein Gefühl des inneren Friedens und Wohlbehagens, die Empfindung einer Trennung des Geistes vom Körper, Eintritt in die Dunkelheit, Anblick von Licht, Eintritt in dieses Licht. Andere, weniger charakteristische Erscheinungen waren eine Rückschau auf das vergangene Leben, eine überirdische Erscheinung, eine Begegnung mit nahestehenden Verstorbenen und der Entschluß zur Rückkehr. Einige der Befragten Rings waren klinisch tot gewesen, die meisten anderen hatten in Lebensgefahr geschwebt. 

Ich weiß über dieses sogenannte Lazarussyndrom nicht mehr als die meisten anderen Menschen, die sich mit ihm befaßt haben. Dennoch bin ich der Meinung, daß man die beobachteten Fakten vorsichtiger behandeln sollte, als dies zuweilen geschieht. Ich meine hier vor allem unkritische Beobachter, die aus jedem Sterbeerlebnis ein Jenseitserlebnis machen. Dagegen halte ich den Versuch für hilfreich, aus dem Sterbeerlebnis biologische Schlüsse zu ziehen. Inwiefern könnte es der Erhaltung eines Individuums und einer Art dienen? 

Ich bin der Meinung, daß sich das Sterbeerlebnis im Lauf von Jahrmillionen der evolutionären Entwicklung herausgebildet hat und daß ihm eine arterhaltende Funktion zukommt.  

Dem Wesen nach gleicht es sehr wahrscheinlich dem Phänomen, das auf den vorangegangenen Seiten beschrieben worden ist. Auch wenn das Sterben in einigen Fällen länger dauert oder relativ »streßfrei« verläuft, wird man, so glaube ich, eines Tages nachweisen können, daß Sterbeerlebnisse ebenfalls durch die Wirkung von Endorphinen oder durch ähnliche biochemische Wirkstoffe ausgelöst werden.

Vielleicht spielen auch andere Ursachen mit hinein, zum Beispiel der psychologische Schutzmechanismus der sogenannten Entpersönlichung, durch Schock ausgelöste halluzinatorische Erlebnisse oder einfach eine Unter­versorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Die Ausschüttung biochemischer Wirkstoffe könnte die Folge oder die Ursache von einem oder mehreren dieser Mechanismen sein. Bei siechen Schwerstkranken könnten natürlich auch andere Faktoren mitspielen wie die verabreichten Schmerzmittel oder eine krankheitsbedingte Ansammlung von Giftstoffen im Körper. 

Religiöse Menschen werden diese biochemischen Erklärungen für ein rätselhaftes und scheinbar mystisches Phänomen vielleicht ablehnen. Wie andere vor mir kann ich nur darauf hinweisen, daß sich eine religiöse und eine wissenschaftliche Sichtweise dieser Vorgänge im menschlichen Körper durchaus nicht widersprechen müssen. Warum sollte der Schöpfer seine unergründlichen Pläne nicht auf biochemischem Wege verwirklichen? Als Skeptiker bin ich der Überzeugung, daß wir alles hinterfragen, aber auch alles für möglich halten sollten. Skeptiker sind gerne Agnostiker, aber einige wollen gern überzeugt werden.

Wenn ich mich als Rationalist gegen parapsychologische Annahmen wehre, so habe ich gegen die Vorstellung von einem höheren Wesen nichts einzuwenden. Nichts wäre mir lieber als der Beweis dafür, daß es einen Schöpfer und ein Weiterleben nach dem Tod gibt. In Sterbeerlebnissen vermag ich einen solchen Beweis allerdings nicht zu erkennen. Ich zweifle nicht daran, daß es Sterbeerlebnisse gibt und daß Menschen in Todesgefahr manchmal geradezu Übernatürliches widerfährt. Ich glaube indes nicht, daß dies bei Menschen, die dem Tod nicht plötzlich gegenüberstehen, sehr häufig ist. 

Wenn also von Trost, Seelenfrieden oder heiterer Gelassenheit während der letzten Tage eines Sterbenden die Rede ist, muß vor Übertreibungen gewarnt werden.
Wer falsche Erwartungen weckt, dient den Menschen wenig.

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Nuland 1993