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  7  Unfälle, Selbstmord und Sterbehilfe  

 wikipedia  William_Osler  1849-1919     wikipedia  Lewis_Thomas  1913-1993

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William Osler hat 1904 in Harvard eine berühmte und oft zitierte Vorlesung gehalten, die <Ingersoll-Vorlesung> über die Unsterblichkeit des Menschen. Darin spricht er von einer Fallsammlung, die sich in seinem Besitz befinde und die die Sterbeumstände von annähernd fünfhundert Menschen dokumentiere, »mit besonderer Rücksicht auf die Todesart und die Empfindungen der Sterbenden«. 

Osler behauptet, die Betroffenen hätten nur in neunzig Fällen Zeichen von Schmerz oder Leid gezeigt. »Die meisten«, so fährt er fort, »ließen überhaupt keine Regungen erkennen; wie die Geburt war für sie der Tod nur Schlaf und Vergessen ... Sterbende scheinen ihren Gedanken nachzuhängen, sind unbeteiligt oder bewußtlos.« Der Arzt Lewis Thomas geht sogar noch weiter: »Einen Todeskampf habe ich nur einmal beobachtet, bei einem Patienten mit Tollwut.« Zum Zeitpunkt ihrer Äußerungen genossen Osler und Thomas (letzterer immer noch) als Mediziner höchstes Ansehen. 

Mich machen solche Behauptungen ratlos. Ich habe zu oft erlebt, wie Menschen qualvoll starben und wie ihre Angehörigen bei der Sterbebegleitung unter ihrer Hilflosigkeit litten, als daß ich meine klinischen Beobachtungen für eine Mißdeutung der Wirklichkeit halten könnte.

Die letzten Wochen und Tage der Mehrzahl meiner Patienten — das kann ich bezeugen — waren von Höllenqualen geprägt. Vielleicht ist der Grund für Thomas' grundverschiedene Sicht, daß er die längste Zeit seiner beruflichen Laufbahn als Forscher in Laboratorien gearbeitet hat. Vielleicht geht Oslers Deutung der fünfhundert Fallgeschichten auf das Konto seines wohlbekannten Optimismus; er glaubte, die Welt sei viel besser, als wir gemeinhin annehmen, und wollte seine rosige Weltanschauung als eine Art universaler Lehrer überall verkünden. 

Was die beiden so humanen Vertreter der Schulmedizin auch zu ihren Anschauungen bewogen haben mag, mir drängt sich auf, was wir sagen, wenn wir an unseren Hausgöttern zweifeln: Bei allem Respekt, aber ich bin anderer Meinung.

Allerdings bin ich nicht in allen Punkten anderer Meinung. Und womöglich standen Osler und Thomas selbst nicht ganz hinter ihren idealisierten Vorstellungen, wollten das aber nicht zugeben. Wahrscheinlich sind beide von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wenn sie beschreiben, was sie als agoniefreien Zustand ansehen, dann lassen sie bewußt die Ereignisse beiseite, die den letzten Tagen oder Stunden vorausgehen.

Patienten, die mit Medikamenten ruhiggestellt werden oder bereits ins Koma gefallen sind — manchen ist das nach langem und heftigem Kampf vergönnt —, können in der tatsächlichen Sterbestunde, wenn das Herz schließlich stillsteht, oft friedvoll aus dem Leben scheiden. Auf diese Weise bleibt ihnen ein qualvolles Ende erspart. Viele andere leiden jedoch physisch und seelisch bis fast zuletzt oder auch bis zuletzt. 

Eine gewisse Scham sorgt dafür, daß der Gedanke an ein elendes Ende verdrängt wird. Wenn aber von der irrigen Vorstellung eines friedvollen und würdigen Sterbens ausgegangen wird, müssen sich viele in ihrer letzten Stunde fragen, was sie oder die Ärzte falsch gemacht haben.

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Für Osler selbst sollte die letzte Stunde friedvoll sein. Allerdings war sie um den Preis schweren Leidens erkauft, dem sogar sein stets fröhliches Naturell nicht gewachsen war. Sein Krankenlager zog sich zwei Monate hin, angefangen mit einer Erkältung, die sich in eine Grippe und dann in eine Lungen­entzündung weiterentwickelte. 

Zwar ertrug er tapfer das hohe Fieber und die qualvollen Hustenanfälle, doch gelang es ihm nicht immer, seine Frau und die besorgten Freunde von seinem ungebrochenen Optimismus zu überzeugen. Auf der Höhe seiner Krankheit schrieb er seinem früheren Sekretär: 

»Ich habe eine schreckliche Zeit hinter mir seit sechs Wochen bettlägerig. Eine paroxysmale Bronchitis, wie sie in keinem Lehrbuch beschrieben ist! Fast keine physischen Symptome; hartnäckiger Husten, der sich zu schweren Anfällen wie bei Keuchhusten steigert... Neulich gegen elf Uhr nachts eine akute Pleuritis. Stechender Schmerz, der in alle Richtungen ausstrahlt. Husten und schwergehender Atem, aber zwölf Stunden später dann ein Anfall, der alle pleuralen Verwachsungen zerriß und auch den Schmerz wegblies ... Bronchitistherapie schlägt nicht an. Meine Ärzte haben nichts unversucht gelassen, doch das einzige, was gegen den Husten gewirkt hat, waren Opiumtropfen und Morphiumspritzen.«

Am Ende war selbst Oslers Optimismus gebrochen. Zweimal war er unter Vollnarkose operiert worden, um Eiteransammlungen zu entfernen, und jedesmal hatte sich sein Zustand nur kurzzeitig gebessert. Elend wie er war, wünschte er sich den Tod herbei. Dabei hatte er fünfzehn Jahre vorher geschrieben, Sterbende schienen ihm »unbeteiligt oder bewußtlos«. Der tapfere Osler mußte sich seine Qualen eingestehen und sehnte sich nach dem Ende: »Die ganze Sache zieht sich ungebührlich in die Länge. Im einundsiebzigsten Jahr ist der Hafen nicht mehr fern.« 

Zwei Wochen später starb Osler. Er hatte die siebzig Jahre erreicht, von denen der Psalmist spricht. Seine Lungenentzündung war nicht die »akute, kurze, meist schmerzlose Krankheit« gewesen, die er einst beschrieben hatte, und gewiß hatte sie sich auch nicht als der »Freund des Greisenalters« erwiesen, denn ohne Zweifel hätte er noch viele Jahre in rüstiger Verfassung vor sich gehabt, wäre er nicht an ihr erkrankt.

Er starb also ganz anders, als er erwartet hatte, und diese Erfahrung müssen die meisten Menschen machen. 

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Im großen und ganzen ist das Sterben mühsam. 

Mögen auch viele »unbeteiligt oder bewußtlos« in komatösen Zustand verfallen; mögen einige Glückliche tatsächlich einen friedvollen und sogar bewußten Abschied am Ende einer schweren Krankheit erleben; mögen einige tausend jedes Jahr unerwartet nach einem Augenblick des Unwohlseins sterben; mögen die Opfer eines tödlichen Unfalls manchmal die gnädige Erlösung von schrecklichen Schmerzen finden; selbst wenn alle diese Einschränkungen gemacht werden, gilt immer noch, daß nicht einmal jeder Fünfte unter solch glücklichen Umständen stirbt.

Und selbst diejenigen, die in beispiellosem Frieden von uns gehen, haben oft Tage und Wochen seelischer und körperlicher Qualen hinter sich. 

Nur zu oft haben Patienten und Angehörige unerfüllbare Erwartungen, was das Sterben noch schwieriger macht. 

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Denn die Beteiligten sind enttäuscht über die Leistung der Ärzte, die aber nicht mehr tun können oder umgekehrt alles noch verschlimmern, weil sie weiter um das Leben des Patienten kämpfen, obwohl das Scheitern schon lange unausweichlich geworden ist; denn in der Annahme, daß die große Mehrheit der Patienten friedvoll sterben, werden gegen Ende des Lebens noch Therapien versucht, die dem Sterbenden weitere Leiden aufbürden, statt ihn von seinem Übel zu befreien. Hierunter fallen chirurgische Eingriffe von fragwürdigem Nutzen und hohem Risiko, Chemotherapien mit schweren Nebenwirkungen und ungewissem Ausgang und Intensivpflege über den Zeitpunkt sinnvoller Erhaltung hinaus. 

Besser ist es, über das Sterben aufzuklären und die Option zu wählen, die das Schlimmste verhütet. Was nicht verhindert werden kann, kann aller Erfahrung nach zumindest gemildert werden.

Wie sehr ein Mensch auch davon überzeugt sein mag, daß er vor dem Sterben keine Angst hat, er wird dem Endstadium seiner Krankheit doch mit Beklemmung entgegensehen. Wer dann realistisch einschätzen kann, was ihn erwartet, ist gegen unbegründete Ängste und den erschreckenden Gedanken gewappnet, man habe Entscheidendes nicht richtig gemacht. Jede Krankheit entwickelt sich in einem bestimmten Rahmen und hat einen charakteristischen Verlauf. Kennen wir unsere Krankheit in groben Zügen und wissen wir, wie sie ihr zerstörerisches Werk bis zum Ende fortsetzt, können wir selbst abschätzen, ob der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um den Arzt um schmerzstillende Mittel oder um Hilfe für ein baldiges Ende der Reise zu bitten.

Für den gewaltsamen Tod gibt es indessen kaum oder gar keine Vorbereitung, und vielleicht ist das auch gar nicht wünschens­wert. Dem Tod durch Gewalt fallen vor allem junge Menschen zum Opfer. Wider besseres Wissen hört die Jugend nicht auf den Rat, der vor den entsprechenden tödlichen Gefahren warnt. Auch durch Statistiken läßt sie sich nicht beeindrucken. 

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Verletzungen, die auf äußere Gewalteinwirkung zurückgehen, sind in den Vereinigten Staaten bei Personen unter 44 Jahren die häufigste Todes­ursache. Rund 150.000 Amerikaner fallen ihnen jährlich zum Opfer, weitere 400.000 tragen lebenslange Behinderungen davon. Bei 60 Prozent der Opfer tritt der Tod innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach der Verletzung ein. 

Es wird niemanden wundern, daß Verkehrsunfälle die häufigste Ursache für Verletzungen darstellen. Pkw-Insassen tragen fast 35% aller schweren Verletzungen davon, Motorradfahrer weitere 7%. Wenigstens steht hinter den Verletzungen im Verkehr in den allermeisten Fällen keine Absicht. Anders ist es mit Schußverletzungen, die 10 Prozent aller schweren Verletzungen ausmachen, und Stichwunden (ebenfalls fast 10 Prozent). Auf Unfälle von Fußgängern kommen 7 bis 8 Prozent, weitere 17 Prozent auf Stürze, deren Opfer vor allem kleine Kinder und Hochbetagte sind. Die restlichen 15 Prozent der schweren Verletzungen haben ganz verschiedene Ursachen wie Unfälle am Arbeitsplatz, Fahrradunfälle und Verletzungen durch Selbstmordversuche.

 

An einem Sommertag des Jahres 1899 stieg in New York der achtundsechzigjährige Immobilien­makler Henry Bliss am späten Nachmittag aus einer Straßenbahn und wurde von einem vorüberfahrenden Automobil erfaßt. Dies brachte Mister Bliss den zweifelhaften Ruhm ein, der erste Verkehrstote der Vereinigten Staaten zu sein. Seitdem sind fast drei Millionen Menschen bei Autounfällen ums Leben gekommen, und in den meisten Fällen war Alkohol im Spiel. Der Anteil solcher Unfälle liegt in unserem Land bei 50 Prozent; ein Drittel der Toten wurde Opfer der Trunkenheit anderer Verkehrs­teilnehmer.

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An anderer Stelle wurde bereits dargelegt, daß der Tod des Individuums der Kunstgriff ist, mit dem die Natur den Fortbestand der Gattung garantiert. Es versteht sich von selbst, daß wir ihr dabei nicht zu helfen brauchen. Die natürlichen Mechanismen im Innern der Zellen besorgen das Geschäft des Todes, daher ist es unnötig und geradezu kontraproduktiv, wenn wir Menschen uns in großer Zahl gegenseitig töten oder selbst Hand an uns legen. Opfer tödlicher Verletzungen, zumal in der jungen Generation, stören das Gleichgewicht von Beständigkeit und Wandel innerhalb der Gattung. Ein früher Tod ist stets ein tragischer Verlust für die Hinterbliebenen, aber auch für die ganze menschliche Gattung. 

Um so bedenklicher ist es, daß die medizinische Forschung in unserer Gesellschaft so wenig Interesse an der Vorbeugung und Therapie von Verletzungen zeigt. Erst in jüngster Zeit ist in den Vereinigten Staaten das Bewußtsein gewachsen, daß die zunehmende Gewalttätigkeit eines der Hauptprobleme der staatlichen Gesundheitsfürsorge in unserem Land darstellt. Die Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache: In den Vereinigten Staaten kommen siebenmal mehr Menschen durch Schußwaffen ums Leben als in Großbritannien; die Zahl der Selbstmorde unter Kindern und Heranwachsenden — sicherlich die betrüblichste Seite der wachsenden Gewalttätigkeit — hat sich in den vergangenen dreißig Jahren verdoppelt, und dieser Anstieg geht fast ausschließlich auf den Gebrauch von Schußwaffen zurück. Selbstmord ist die dritthäufigste Todesursache bei Jugendlichen.

Einige Beobachter weisen darauf hin, daß die Selbstmordrate eigentlich viel zu niedrig angesetzt ist, denn, so behaupten sie nicht ohne Grund, die offiziellen Zahlen berücksichtigen nicht diejenigen verdeckten Formen der Selbstzerstörung, die manche als »Selbstmord auf Raten« bezeichnen: Drogen- und Alkohol­konsum, aggressiver Fahrstil, risikoreiche Sexualpraktiken, Mitgliedschaft in Straßen­banden und andere Verhaltensweisen, mit denen Jugendliche die gesellschaftlichen Normen herausfordern.

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Solche Verhaltensweisen bringen nicht nur Verluste an Menschenleben, sie schmälern auch die Lebensqualität allgemein. Wir werden der Fähigkeiten und der Tatkraft der jugendlichen Opfer beraubt, die auch keinen Beitrag zur Gesellschaft mehr leisten können. Dies gilt um so mehr, als die unerfüllten Leben dieser Jugendlichen der Gesellschaft schon lange, ehe sie ihr gewaltsames Ende finden, verlorengehen. Die Verluste sind gar nicht zu überschätzen, sie gehen an die Substanz der Gesellschaft.

Bei Patienten, die nach einem Unfall oder an den Folgen von Gewaltanwendung sterben, unterscheidet man zwischen sofortigem, baldigem und spätem Tod. Ein »sofortiger Tod« erfolgt binnen Minuten nach der Verletzung. Mehr als die Hälfte aller Unfallopfer sterben auf diese Weise, und fast immer handelt es sich um Verletzungen des Gehirns, der Wirbelsäule, des Herzens oder einer Hauptschlagader. Physiologisch betrachtet liegt entweder eine massive Schädigung des Gehirns oder ein Entblutungsschock vor.

»Baldiger Tod« nennt man einen Tod einige Stunden nach dem Trauma. Gewöhnlich sind die Ursachen Verletzungen des Kopfes, der Lungen oder des Bauchraumes mit Blutungen in diesen Körperteilen. Schädeltraumen und Blutverlust, oft in Verbindung mit mangelhafter Atmung, führen bald zum Tod. Unabhängig von der zeitlichen Entwicklung sind ein Drittel aller gewaltsamen Tode auf Hirnschäden und ein weiteres Drittel auf Blutverlust zurückzuführen.

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Anders als beim »sofortigen Tod«, bei dem keine medizinische Hilfe möglich ist, können viele Patienten, denen ein »baldiger Tod« droht, dank Sofortmaßnahmen noch gerettet werden. Ein rascher Transport ins Krankenhaus, gut ausgebildete Rettungsteams und gut ausgestattete Notaufnahmen entscheiden über Leben und Tod. Schätzungen zufolge sterben jährlich rund 25.000 Amerikaner, weil eine solche medizinische Infrastruktur nicht überall im Land vorhanden ist. 

Wie sehr es auf schnelle medizinische Hilfe ankommt, lehrt ein Vergleich der letzten vier Kriege, an denen die Vereinigten Staaten teilgenommen haben. Bei jedem neuen Krieg verfügte man über mehr medizinisches Wissen und ein besseres Sanitätswesen, dank dessen die Opfer rascher vom Kriegsschauplatz evakuiert werden konnten. Das Resultat war jedesmal ein signifikanter Rückgang der Zahl der Toten. Die Bezeichnung »später Tod« trifft auf solche Fälle zu, bei denen Patienten ihren Verletzungen erst Tage oder Wochen nach dem Unfall oder der Gewalteinwirkung erliegen. 

Annähernd 80 Prozent dieser Sterbefälle gehen auf später auftretende Komplikationen wie Infektionen und Lungen-, Nieren- und Leberversagen zurück. Die Patienten überleben zwar den schweren Blutverlust oder die Kopfverletzung, aber sie haben oft auch Verletzungen an anderen Organen erlitten wie eine Perforation der Eingeweide, einen Riß der Milz oder der Leber oder eine Stauchung der Lunge. Nicht selten sind chirurgische Eingriffe nötig, um Blutungen zu stillen, einer Bauchfellentzündung vorzubeugen und verletzte Organe wiederherzustellen oder ganz zu entfernen.

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Bei vielen Patienten setzt nach solchen Eingriffen nicht die Genesung ein, sondern sie bekommen hohes Fieber, der Anteil weißer Blutkörperchen steigt, und das zirkulierende Blut hat die Tendenz, sich in ungeeigneten Körperregionen wie den Gefäßen der Eingeweide zu sammeln, wodurch es dem übrigen Kreislauf verlorengeht. Alle diese pathologischen Entwicklungen sind Anzeichen einer allgemeinen Infektion oder Blutvergiftung, der mit Antibiotika und anderen Medikamenten kaum noch beizukommen ist.

Wenn die Ursache der Blutvergiftung ein Abszeß oder eine nach dem chirurgischen Eingriff aufgetretene Entzündung ist, kann eine Drainage gelegt werden, die gewöhnlich den Schaden behebt und den Patienten genesen läßt. In vielen Fällen ist jedoch kein festumschriebener Abszeß auszumachen, daher entwickeln sich die Symptome weiter. Am Ende der ersten Woche nach der Operation stellen sich dann Atembeschwerden ein, die auf ein Lungenödem oder pneumonieverwandte Prozesse zurückzuführen sind und die die Anreicherung des Blutes mit Sauerstoff verringern.

Bei einer Blutvergiftung gehört die Lunge zu den Organen, die zuerst angegriffen werden, gefolgt von Leber und Nieren. Das ganze Syndrom stellt einen entzündlichen Prozeß dar, der auf das Vorhandensein von Fremdkörpern im Blut antwortet. Bei diesen Eindringlingen, die giftige Substanzen im Blut bilden, kann es sich um Bakterien, Viren, Pilze oder sogar mikroskopisch kleine Teilchen von totem Gewebe handeln. Die Fremdkörper, sofern sie identifiziert werden können, kommen oft aus dem Harnapparat, aber auch aus den Atmungsorganen und dem Magen-Darm-Trakt. Oft sind chirurgische Wunden die Infektionsherde. Als Reaktion auf die zirkulierenden Giftstoffe sondern die Lunge und andere Organe bestimmte chemische Substanzen ab, die Blutgefäße, Organe und sogar Zellen einschließlich der Bestandteile des Blutes selbst schädigen.

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Die Gewebszellen können dem Hämoglobin nicht mehr genügend Sauerstoff entnehmen, und das zu einem Zeitpunkt, da ihnen infolge der verringerten Zirkulation sowieso weniger Hämoglobin zugeführt wird. Das ganze Geschehen ähnelt so sehr dem Bild des kardiogenen Schocks, daß es als septischer Schock bezeichnet wird. Wenn die Therapie bei einem septischen Schock nicht anschlägt, versagen eines nach dem anderen die lebenswichtigen Organe. 

Nicht nur Opfer von Gewalt oder Unfällen können einen septischen Schock erleiden. Das Phänomen tritt auch bei anderen Krankheiten auf, in deren Verlauf das Immunsystem des Patienten geschwächt wird. Stellt sich bei Diabetes, Krebs, Pankreatitis, Zirrhose oder großflächigen Verbrennungen zusätzlich noch ein septischer Schock ein, dann steigt die Sterblichkeit auf 40 bis 60 Prozent. Mit jährlich 100.000 bis 200.000 Toten ist diese Form des Schocks in den Intensivstationen der Vereinigten Staaten die häufigste Todesursache. 

Verliert die Lunge teilweise ihre Fähigkeit, Blut mit Sauerstoff anzureichern, und zirkuliert das Blut langsamer, weil das Myokard geschwächt ist und sich Staus in den Gefäßen der Eingeweide bilden, dann zeigen gleich mehrere Organe die Auswirkungen mangelhafter Sauerstoffversorgung. Die Hirnfunktion läßt nach. Die Leber produziert nicht mehr genügend Stoffe, die der Körper braucht, und zerstört nicht mehr die Stoffe, die der Körper nicht braucht. Mit dem Leberversagen geht eine Schwächung des Immunsystems einher, d.h. es werden weniger körpereigene Abwehrstoffe gebildet. Weil gleichzeitig weniger Blut in die Nieren fließt, können diese nicht in ausreichendem Maße Schadstoffe aus dem Körper filtrieren. Die Folge ist Urämie, das Aufstauen von Schadstoffen im Blut.

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Doch damit nicht genug. Zellen, die den Magen und die Eingeweide auskleiden, leiden unter den Giftstoffen; es kommt zu Entzündungen und Blutungen. Für viele Patienten, die anfangs an Verletzungen oder »eher natürlichen« Krankheiten leiden, bedeutet der septische Schock den Anfang vom Ende. Das Versagen gleich mehrerer Organe ist die gewöhnliche Folge der Blutvergiftung. Die charakteristischen Symptome des Syndroms scheinen allesamt eine Folge der Giftstoffe zu sein, die verschiedene Organsysteme befallen. Wie der einzelne letztlich stirbt, hängt davon ab, wie viele Organe diesem Ansturm nicht widerstehen können. Sind drei Organe befallen, steigt die Sterblichkeit auf beinahe 100 Prozent. 

Der gesamte Prozeß dauert gewöhnlich zwischen zwei und drei Wochen, manchmal auch länger. Einer meiner Patienten, dessen Blutvergiftung von einer Pankreatitis herrührte, quälte sich monatelang dahin. Die Beteiligten — Chirurg, hinzugezogene Konsiliarärzte, Anästhesisten, medizinische Assistenten, Kranken­schwestern und technisches Personal — schöpften alle Therapie- und Pflegemöglichkeiten aus, die unsere Universitätsklinik überhaupt bieten konnte. Doch was sie auch unternahmen, um den Befall gleich mehrerer Organe zu verhindern, es war alles vergebens.

Was Patienten durchleiden, die an einem septischen Schock sterben, ist kaum zu beschreiben. Die todbringenden Ereignisse folgen auch hier einem vorgegebenen Muster. Wenn nicht bereits eindeutige Symptome wie Fieber, beschleunigter Puls und Atemnot auftreten, gibt ein Test Hinweise auf mangelnden Sauerstoffgehalt des Blutes. Zur Beatmung wird dem Patienten ein Tubus eingeführt, aber zumeist bessert sich sein Zustand dadurch nicht wesentlich. Das Bewußtsein des Patienten beginnt sich einzutrüben, sofern er nicht schon durch Medikamente sediert ist.

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Mit Computertomographie, Ultraschalluntersuchungen, Blutanalysen und Abstrichen versuchen Ärzte und Helfer Licht in das Krankheitsgeschehen zu bringen und womöglich einen therapierbaren Infektionsherd zu finden, doch häufig ist alles Suchen vergebens. Stationsarzt und Spezialisten, die ihr Konsilium im engen Arztzimmer halten, diskutieren immer länger über mögliche Therapieformen. Allmählich befällt alle Beteiligten das Gefühl der Ratlosigkeit. Der Patient wird zwischen Intensivstation und Röntgenabteilung hin- und hergefahren, immer neue Untersuchungen werden angestellt, um vielleicht doch einen Eiterherd oder eine versteckte Entzündung ausfindig zu machen.

Bei jedem Umlagern vom Bett auf die fahrbare Liege muß auf die zahlreichen Schläuche und Schnüre geachtet werden, mit denen der Patient an diverse Apparate angeschlossen ist. Die Pläne und die Stimmung der Familie und des medizinischen Teams ändern sich mit jedem neuen Laborbericht, aber nur die positiven Resultate teilt man dem ängstlichen Patienten im Krankenbett mit, sofern er überhaupt noch ansprechbar ist. Antibiotika werden verabreicht, neue Kombinationen ausprobiert und wieder abgesetzt, in der Hoffnung, daß sich Keime in der Blutbahn zeigen, für die es eine Therapie gibt. Nur bei 50 Prozent der Patienten mit mehrfachem Organversagen sind Bakterien in Blutkulturen nachweisbar.

Störungen in der Zusammensetzung des Blutes treten auf, das Blut gerinnt nicht mehr, es kann zu spontanen Blutungen kommen. Bei Leberversagen stellt sich manchmal Gelbsucht ein, und auch die Nieren zeigen eine zunehmende Schwäche. In diesem Fall wird, sofern Hoffnung auf eine Wende besteht, eine Dialyse versucht, um Zeit zu gewinnen. Spätestens jetzt, wenn nicht schon vorher, fragt sich der verängstigte Patient, ob das, was für ihn überhaupt noch getan werden kann, all das rechtfertigt, was ihm bisher zugemutet worden ist. Ohne daß er es weiß, beginnen auch die Ärzte sich diese Frage zu stellen.

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Und dennoch machen alle weiter, weil die Schlacht noch nicht verloren ist. Unterdessen ist aber unmerklich etwas geschehen — trotz aller guten Vorsätze lösen sich Ärzte und Mitglieder des Pflegeteams langsam von dem Menschen, um dessen Leben sie weiterhin kämpfen. Der Patient büßt jeden Tag ein Stück seiner Persönlichkeit ein. Er wird zu einem komplizierten Fall für die Intensivpflege und zu einer Herausforderung für tüchtige und ehrgeizige Klinikärzte. Für die Krankenschwestern und die wenigen Ärzte, die ihn vor seinem septischen Schock gekannt haben, bleibt immer etwas von dem Menschen, der er früher einmal war. Nicht so für den hinzugezogenen Spezialisten, der die verbliebene Lebenskraft des Patienten auf ihre molekulare Beschaffenheit untersucht. Für ihn ist der Patient nur ein Fall, allerdings ein interessanter.

Der <interessante Fall> muß hören, wie ihn Ärzte, die dreißig Jahre jünger als er sind, beim Vornamen nennen. Immerhin ist das besser, als nur mit einer Nummer oder einem Krankheitsnamen bezeichnet zu werden. Ist dem Sterbenden etwas Glück beschieden, erleidet er das Drama, bei dem er ungewollt die Hauptrolle spielt, nicht mehr mit Bewußtsein. Erst haben seine Reflexe nachgelassen, dann war er immer weniger ansprechbar und schließlich ist er ins Koma gefallen. Dieser Prozeß kann spontan einsetzen, wenn mehrere Organe versagen, oder er kann durch Medikamente beschleunigt werden. 

Währenddessen lernen die Angehörigen nach Sorge und Verzweiflung nunmehr die Hoffnungslosigkeit kennen.

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Aber nicht nur die Familie, auch die Krankenschwestern und Ärzte, die von Anfang an dabei waren, verlieren allmählich den Mut, und ihr Kampf wird zum Rückzugsgefecht. Sie stellen die ganze Behandlung in Frage, in deren Verlauf Spezialisten immer neue Therapieformen vorschlagen, ausprobieren und wieder absetzen mit dem Ziel, doch noch den entscheidenden diagnostischen Hinweis zu finden. Das Gefühl beschleicht sie, daß sie einen Mitmenschen quälen, nur damit jede noch so winzige Chance auf Heilung genutzt wird. Selbstkritische Ärzte gestehen sich auch ein, daß ein Teil ihrer Motivation darin besteht, ein schwieriges diagnostisches Problem zu lösen und in letzter Minute wider Erwarten doch den Sieg zu erringen.

Mancher aus dem Pflegeteam fühlt sich den Angehörigen näher als dem Patienten, so als ob sich ihre Sympathie in den langen Wochen am Krankenbett auf die Mitleidenden übertragen hätte. Besonders gegen Ende wird der Trost, den der Sterbende nicht mehr wahrnehmen kann, nun den Angehörigen gespendet, die schon mit dem Trauern begonnen haben. Auf Intensivstationen gibt es selten Gelegenheit zu letzten Worten. Eine Krankenschwester, die einen Trauernden in den Arm nimmt, oder ein Arzt, der ein mitfühlendes Wort findet: andere Formen des Trostes gibt es nicht mehr. Schließlich halten selbst diejenigen, die bis zum Schluß gekämpft haben, ein Ende der Leiden für die Erlösung. Ich habe altgediente Krankenschwestern weinen sehen, wenn ein Intensivpflegepatient schließlich starb. Gestandene Chirurgen wandten das Gesicht ab, damit jüngere Kollegen ihre Tränen nicht sahen. Mehr als einmal hat auch mir die Stimme versagt, als ich die unvermeidlichen Worte sprechen sollte.

Personen, die in Heilberufen tätig sind, bleiben nicht ungerührt, wenn ein Patient durch Krankheit oder nicht vorsätzliche äußere Gewalt frühzeitig aus dem Leben scheidet.

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Anders verhält es sich, wenn Menschen absichtlich ihr Leben zerstören. Allerdings ist das vorherrschende Gefühl auch dann nicht Teilnahmslosigkeit oder Gleichmut. In einem Buch über das Sterben sorgt schon das Wort Selbstmord für Unwohlsein. Wir gehen auf Distanz zu diesem Thema, wie auch der Selbstmörder sich von der übrigen Welt distanziert, wenn er den Selbstmord plant. Einsam und fremd, wie er sich fühlt, wird er vom Grab angezogen, weil er glaubt, dies sei der einzige Platz auf Erden, den es für ihn noch gibt. Die Hinterbliebenen stehen fassungslos vor einer solchen Tat. 

Wenn ich meine Haltung gegenüber dem Selbstmord zusammenfassen soll, fällt mir dazu stets die Antwort ein, die meine älteste Tochter dazu einmal spontan gefunden hat. Meine Frau und ich waren hundertsechzig Kilometer gefahren, um meine Tochter an ihrem Studienort zu besuchen, denn wir wollten ihr die schreckliche Nachricht vom Selbstmord einer ihrer besten Freundinnen selbst mitteilen. So schonend wie möglich und ohne Einzelheiten sagte ich ihr in zwei, drei kurzen Sätzen, was ihre Freundin getan hatte. Zuerst sah sie uns ungläubig an, während ihr schon Tränen über die geröteten Wangen liefen. Dann brach es plötzlich in einem Anfall von Wut und Verzweiflung aus ihr hervor: »Diese Idiotin! Warum hat sie das bloß getan?« 

Und das ist der springende Punkt. Wie konnte sie nur so etwas ihren Freunden und ihrer Familie und allen Menschen antun, die sie brauchten? Wie konnte eine intelligente junge Frau eine solche Tat begehen und sich damit allen entziehen? In einer geordneten Welt gibt es keinen Platz für Verzweiflungstaten, so etwas sollte nie geschehen. Warum hatte die junge Frau, die von vielen geliebt wurde, ohne die anderen zu fragen plötzlich Ernst gemacht und sich das Leben genommen?

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Wer sie kannte, weiß auf solche Fragen keine Antwort. Für die Ärzte und Helfer, die als erste die Leiche sehen, kommt etwas anderes hinzu. Wenn Männer und Frauen, deren Lebensaufgabe es ist, gegen Krankheit und Tod zu kämpfen, mit der Leiche eines Selbstmörders konfrontiert werden, hindert sie ein schwer faßbares Gefühl, für diese Tat Verständnis oder Mitgefühl zu entwickeln. Ob verstört oder wütend über die Sinnlosigkeit der Tat, sie scheinen nicht traurig, wenn sie vor der Leiche stehen. Nach meiner Erfahrung gibt es nur wenige Ausnahmen von dieser Regel. Entsetzen und sogar Bedauern sind möglich, aber selten echte Trauer, wie bei einem ungewollten Lebensende.

Sich das Leben zu nehmen ist fast immer das Falscheste, was man tun kann. In zwei Fällen mag das allerdings nicht zutreffen: zum einen bei unerträglichem Siechtum im hohen Alter, zum anderen bei irreversiblen Organzerstörungen durch eine todbringende Krankheit. Auf die Substantive kommt es im letzten Satz nicht an, entscheidend sind die Adjektive, denn sie bezeichnen den Kern des Problems: »unerträglich«, »irreversibel«, »todbringend«.

Der römische Philosoph Seneca hat im Laufe seines langen Lebens viel über das Alter nachgedacht:

Ich möchte das hohe Alter nicht preisgeben, wenn es mein besseres Selbst unbeschadet läßt. Doch wenn es meinen Geist zerrüttet, wenn es alle meine Fähigkeiten und Kräfte allmählich zerstört und mir vom Leben nur noch der Atem bleibt, dann werde ich das baufällige Gebäude meines Leibes verlassen. 

Ich will der Krankheit nicht durch den Tod entfliehen, solange noch Aussicht auf Heilung besteht und mein Geist keinen Schaden leidet. Ich lege nicht wegen Schmerzen Hand an mich, denn wer so stirbt, stirbt als Besiegter. Wenn ich aber weiß, daß ich leiden muß ohne Hoffnung auf Besserung, dann will ich aus dem Leben scheiden, nicht aus Furcht vor den Schmerzen, sondern weil sie mir alles nehmen, was mir das Leben lebenswert macht.

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Aus diesen Worten spricht soviel Einsicht, daß sich wohl kaum jemand der Meinung verschließen dürfte, daß der Selbstmord zu den Optionen gehört, die sich Hochbetagte für ausweglose Situationen offenhalten sollten, sofern ihnen nicht Glaubens­überzeugungen eine solche Wahl verbieten. Die stoische Philosophie, wie sie Seneca vertritt, mag der Grund dafür sein, weshalb hochbetagte Männer fünfmal häufiger den Freitod wählen als die Bevölkerung im landesweiten Durchschnitt. Haben sie nicht den »rationalen Suizid« begangen, der in den Fachzeitschriften für Ethik und mittlerweile auch in den Tageszeitungen so vehement verteidigt wird? 

Nein. Seneca übersieht etwas, das auch so gut wie alle modernen Kommentare zum Problem des Freitods übersehen: Sehr viele alte Menschen, die sich selbst töten, handeln so, weil sie an einer durchaus heilbaren Depression leiden. Mit der angemessenen Therapie und Medikation könnten die meisten vom Druck der Verzweiflung, der auf ihnen lastet, befreit werden. Dann würden sie erkennen, daß das Haus, in dem sie leben, noch nicht so baufällig und die Hoffnung auf Besserung nicht so abwegig ist, wie sie angenommen hatten. Ich habe oft erlebt, wie ein suizidaler alter Mensch aus der Depression wieder herausfand und neuen Lebensmut schöpfte.

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Wenn solche Menschen lernen, die Welt nicht mehr nur in düsteren Farben zu sehen, erscheint ihnen ihre Einsamkeit nicht mehr so schrecklich und ihre Schmerzen erträglicher, weil das Leben wieder interessant geworden ist und weil sie merken, daß sie von Menschen gebraucht werden.

Das soll nicht heißen, daß es nicht Situationen gibt, in denen Senecas Worte ihre Gültigkeit haben. Dann aber müssen die Argumente des Römers mit anderen diskutiert und auf ihr Für und Wider untersucht werden. Die Entscheidung für ein vorzeitiges Lebensende muß die uns wichtigen Menschen ebenso überzeugen wie uns selbst. 

Erst wenn dieses Kriterium erfüllt ist, sollte der Tod als letzter Ausweg ins Auge gefaßt werden. Der Freitod des Physikers Percy Bridgman kommt diesen hohen Anforderungen sehr nahe. Bridgman war Professor in Harvard und erhielt 1946 den Physik-Nobelpreis.

Mit neunundsiebzig Jahren war seine Krebserkrankung weit fortgeschritten. Dennoch arbeitete er weiter, bis er dazu nicht mehr imstande war. In seinem Sommerhaus in Randolph im Bundesstaat New Hampshire stellte er noch das Register für die siebenbändige Ausgabe seiner gesammelten wissenschaftlichen Schriften zusammen und schickte es an seinen Verlag. 

Dann, es war am 20. August 1961, erschoß er sich. Mit seinem kurzen Abschiedsbrief löste er eine Kontroverse aus, die bis heute die Diskussion um eine medizinische Ethik beschäftigt: »Es ist nicht anständig, wenn die Gesellschaft einen Menschen zwingt, sich so etwas anzutun. Wahrscheinlich ist heute der letzte Tag, an dem ich es mir selbst antun kann.«

Bei seinem Tod schien Bridgman sich vollkommen im klaren darüber zu sein, daß er die rechte Wahl getroffen hatte. Bis zum letzten Tag zwang er sich zur Arbeit und ordnete seine Papiere, dann führte er sein Vorhaben aus.

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Zwar weiß ich nicht, ob er großen Wert auf den Rat anderer gelegt hat, aber sein Entschluß war für seine Freunde und Kollegen kein Geheimnis; es liegen Hinweise vor, wonach er seinen Freitod zumindest einigen angekündigt hat. Seine Krankheit war so weit fortgeschritten, daß er zweifelte, ob er noch länger die Kraft haben würde, seinen festen Vorsatz in die Tat umzusetzen. In seinem Abschiedsbrief bedauert Bridgman, den letzten Schritt ganz allein tun zu müssen. Ein Kollege berichtet von einem Gespräch mit ihm, in dem er sagte: »Ich möchte die Lage, in der ich mich befinde, dazu nutzen, einen allgemeinen Grundsatz aufzustellen. Wenn das Leben unausweichlich seinem Ende zustrebt, wie es mir jetzt scheint, hat der einzelne das Recht, seinen Arzt darum zu bitten, es für ihn zu beenden.« 

Wenn es einen Satz gibt, der die Auseinandersetzung, in der wir uns gegenwärtig befinden, bündig zusammenfaßt, dann ist es dieser.

 

Keine zeitgenössische Erörterung des Selbstmords kann, sofern sie von einem Arzt stammt, die Frage ausklammern, ob ein Arzt Patienten Sterbehilfe leisten darf oder nicht. Das entscheidende Wort ist »Patienten« — nicht einfach Menschen, sondern Patienten, vor allem die Patienten des Arztes, der die Möglichkeit der Sterbehilfe erwägt. Der ärztliche Stand sollte nicht einen neuen Spezialisten kreieren, den Sterbehelfer, an den von Gewissensbissen geplagte Onkologen, Chirurgen und andere Fachärzte alle die Patienten überweisen, die aus dem Leben scheiden wollen. Zu befürworten ist eine offene Diskussion um die Rolle des Arztes bei der Sterbehilfe, sofern sie eine Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, die seit den Tagen Äskulaps mehr oder weniger stillschweigend existiert hat.

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Der Selbstmord, vor allem in der gegenwärtig so heftig diskutierten Form der Tötung auf Verlangen, ist erst spät salonfähig geworden. Jahrhunderte­lang hat man allen, die Hand an sich legten, bestenfalls Verrat an sich selbst vorgeworfen, schlimmstenfalls traf sie das Verdikt, eine Todsünde begangen zu haben. Beide Haltungen sprechen aus den Worten Immanuel Kants, der gesagt hatte, der Selbstmord sei nicht verwerflich, weil Gott ihn verbiete, sondern Gott verbiete ihn, weil er verwerflich sei.

Heute sehen wir den Selbstmord mit anderen Augen, nicht zuletzt weil selbsternannte Ratgeber, die über die Grenzen des menschlichen Leidens Bescheid zu wissen vorgeben, uns beeinflussen und vielleicht auch zu einer neuen Sicht ermuntern. Wir lesen in Zeitungen und Magazinen, daß Selbstmörder unter gewissen Umständen mit einer Publizität bedacht werden, wie sie sonst nur die Helden des New Age erfahren; einige von ihnen sind solche Helden geworden. Publicitysüchtige Hausierer des Todes, die ihnen beim Selbstmord helfen, lassen sich wie Popstars in Talk-Shows herumreichen und plaudern über ihre »Philosophie«. Dabei stellen sie ihre Uneigennützigkeit heraus, auch wenn die Strafverfolgungs­behörden bereits Anklage gegen sie erhoben haben. 

 

Im Jahr 1988 erschien im <Journal of the American Medical Association> der Bericht eines jungen, noch in der Ausbildung befindlichen Gynäkologen, der eine krebskranke zweiundzwanzigjährige Frau in den frühen Morgenstunden umbrachte — anders kann man es nicht nennen —, weil er ihre Bitte um Erlösung als Verlangen nach dem Tod deutete, den nur er geben zu können vermeinte. Dazu injizierte er ihr intravenös Morphium in einer mindestens doppelt so großen Dosis wie üblich und wartete dann, bis ihre Atmung unregelmäßig wurde und schließlich ganz aussetzte.

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Daß der selbsternannte Erlöser sein Opfer vorher nie gesehen hatte, schreckte ihn weder von der Tat noch von ihrer Publikation ab, ja er sparte auch nicht mit Einzelheiten über den von ihm gewährten Gnadentod, so überzeugt war er von der Richtigkeit seines Tuns. Hippokrates hätte sich im Grabe umgedreht, und seine heutigen Nachfahren legten lauten Protest ein.

Während amerikanische Ärzte das Verhalten des jungen Gynäkologen einhellig verurteilten, reagierten sie drei Jahre später auf einen anders gearteten Fall ganz unterschiedlich. Dr. Timothy Quill, ein Internist aus Rochester im Bundesstaat New York, schilderte im <New England Journal of Medicine> den Fall einer Patientin, die er nur bei ihrem Vornamen Diane nannte und die die Mutter eines Sohns im College-Alter war. Quill hatte bei der Selbsttötung der Patientin mitgeholfen, indem er ihr die von ihr verlangten Barbiturate verschrieb. Diane war schon seit langem seine Patientin. Dreieinhalb Jahre zuvor hatte er bei ihr eine besonders schwere Form der Leukämie diagnostiziert; seitdem war die Krankheit so weit fortgeschritten, daß »Knochenschmerzen, allgemeine Körperschwäche und Fieber ihr Leben beherrschten«.

Diane stimmte einer Chemotherapie nicht zu, da wenig Aussicht bestand, daß die tödliche Krebserkrankung damit gestoppt werden könnte. Sie hatte schon früher gegenüber Quill und verschiedenen Spezialisten deutlich gemacht, daß sie die Verheerungen der aggressiven Therapie und den Verlust der Kontrolle über ihren Körper mehr fürchte als den Tod. Quill nahm sich Dianes Fall mit viel Geduld und Mitgefühl an, und nach eingehender Konsultation unter Kollegen akzeptierte er schließlich ihren Entschluß und die Gründe, die sie ihm gegenüber vorbrachte. 

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Die Art und Weise, wie in ihm langsam die Überzeugung wuchs, daß er seiner Patientin helfen und auf ihr Verlangen den Tod herbeiführen müsse, ist beispielhaft für das tiefe Vertrauen, das zwischen einem Arzt und einem sterbenskranken Patienten entstehen kann. Dieses Vertrauen bestätigt sich auch und gerade dann, wenn der Patient nach Abwägen aller Gründe und nach Beratung mit anderen beschließt, daß der vorzeitige Tod für ihn die richtige Form des Abgangs aus der Welt ist.

Für alle, die sich aus weltanschaulichen Gründen die Option des Freitods vorbehalten, darf Quills Haltung zum heiklen Problem des Einverständnisses, die er 1993 in einem klugen, klar geschriebenen Buch dargelegt hat, als vorbildlich gelten. Hier könnte eine medizinische Ethik einen festen Bezugspunkt finden. Ärzte wie der junge Gynäkologe und Erfinder von Selbsttötungsmaschinen können von Diane und Quill viel lernen.

Quill und der junge Gynäkologe verkörpern die diametral entgegengesetzten Haltungen, zwischen denen sich die Diskussion um die Rolle des Arztes bei der Sterbehilfe bewegt. In gewisser Weise bezeichnen sie das Ideal und die gefürchtete Entgleisung. Hitzige Debatten sind geführt worden — und ich hoffe, daß sie auch in Zukunft weitergehen —, wie sich der ärztliche Stand zu dem Problem stellen soll. Hierzu gibt es eine Vielzahl differenzierter Ansichten.

In den Niederlanden wurden nach allgemeinem Konsens Richtlinien für die Praxis der Sterbehilfe formuliert, dank denen umfassend aufgeklärte Patienten zu genau definierten Bedingungen vom Leben zum Tod gebracht werden können. Üblicherweise versetzt dazu der Arzt den Kranken mit Barbituraten in Tiefschlaf und verabreicht dann eine muskellähmende Droge, die zum Atemstillstand führt. 

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Die holländische Reformierte Kirche vertritt in der Frage der Sterbehilfe eine Haltung, die den Tod auf Verlangen nicht grundsätzlich ablehnt, wenn die Krankheit das Weiterleben unerträglich erscheinen läßt. In ihrer Schrift Euthanasie en Pastoraat (Sterbehilfe und Seelsorge) zeigen die Kirchenvertreter schon in ihrer Wortwahl, daß sie einen Unterschied sehen zwischen dem gewöhnlichen Selbstmord, niederländisch zelfmoord, und dem Tod auf Verlangen zu den Bedingungen der Sterbehilfe, dem zelfdoding.

Obwohl die Sterbehilfe in den Niederlanden im Grunde nach wie vor ungesetzlich ist, werden die ausführenden Ärzte nicht verfolgt, sofern sie sich an die Richtlinien halten. Danach mußte der Patient wiederholt und ohne äußeren Zwang sein Verlangen artikulieren, den seelischen und körperlichen Qualen, die ihm eine unheilbare Krankheit verursacht, ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Weiterhin müssen alle therapeutischen Alternativen ausgeschöpft sein oder auf Ablehnung beim Patienten stoßen. Die Zahl der unheilbar Kranken, die in den Niederlanden Sterbehilfe verlangen, liegt bei jährlich rund 2300, das sind bei einer Bevölkerung von 14,5 Millionen ungefähr 1% aller Todesfälle. Die Sterbehilfe erfolgt meist bei dem Patienten zu Hause. Interessanterweise werden die weitaus meisten Bitten um Gewährung von Sterbehilfe von den Ärzten abschlägig beschieden, weil sie den Richtlinien nicht genügen. 

Ein auf Vertrauen gegründetes Arzt-Patient-Verhältnis ist bei jeder Form der Sterbehilfe entscheidend. In den Niederlanden sind die Hausärzte die Stützen der Gesundheitspflege. Wenn ein Schwerstkranker Sterbehilfe verlangt, wendet er sich nicht an einen Spezialisten oder einen Thanatologen. Vielmehr kennen sich Arzt und Patient meist schon seit Jahren, wie es auch bei Dr. Quill und Diane der Fall war. Selbst dann sind Beratung und Begutachtung durch einen anderen Arzt obligatorisch.

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Das langjährige vertrauensvolle Verhältnis zwischen Quill und seiner Patientin war ausschlaggebend für die im Juli 1991 getroffene Entscheidung eines Gerichts in Rochester, gegen den Arzt keine Anklage zu erheben. 

 

Die Diskussion verschiedener Standpunkte zur Sterbehilfe in den Vereinigten Staaten und überhaupt allen demokratischen Staaten ist nicht deshalb wichtig, weil ein allgemeiner Konsens gefunden werden soll, sondern weil ein solcher Konsens umgekehrt gar nicht zu erwarten ist. Wer das Spektrum der in diesen Diskussionen auftretenden Meinungen für sich prüft, wird erst die vielen Nuancen erkennen, die ihm beim eigenen Durchdenken der Problematik vielleicht entgangen wären. Anders als die Diskussionen, die öffentlich geführt werden müssen, werden die jeweiligen Entscheidungen aber stets in der persönlichen Sphäre des eigenen Gewissens gefällt werden müssen. Und das ist auch gut so. 

In dieser Situation ist nun in den Vereinigten Staaten eine Organisation mit dem Namen <Hemlock Society> auf den Plan getreten. Mein Buch ist nicht das geeignete Forum, um die höchst zweifelhaften Methoden anzuprangern, mit denen diese gutmeinende Selbsthilfegruppe die Selbstmordentscheidungen von Menschen, deren Urteilsvermögen eingeschränkt war, publizistisch glorifizierte. Auch möchte ich nicht meine Verachtung für die Art und Weise in den Vordergrund stellen, wie der Gründer der <Hemlock Society>, Derek Humphry, das Rampenlicht der Medien gesucht hat, als er seine unselige Anleitung zum Selbstmord unter dem Titel <Final Exit> (Letzter Ausweg) auf den Buchmarkt brachte. 

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Allerdings sollte niemand ein abschließendes Urteil über <Final Exit> fällen, ohne sich folgende statistische Tatsache zu vergegen­wärtigen: Eine im Jahr 1991 von den staatlichen <Centers for Disease Control> durchgeführte Studie belegt, daß 27% von insgesamt 11.631 Schülern der High-School im voran­gegangenen Jahr »ernsthaft erwogen« hatten, sich das Leben zu nehmen, und daß jeder Zwölfte tatsächlich einen Versuch unternahm.

Jährlich versuchen mehr als eine halbe Million Amerikaner, sich selbst zu töten. Hinzu kommt eine nicht abschätzbare Zahl von Suizidalen, von deren Versuchen die Öffentlichkeit nichts erfährt. 

Im Juni 1992 warnten zwei Psychiater vom <Yale Child Study Center> in einem Brief an das <Journal of the American Medical Association>: 

»<Final Exit> hat mit seinen reißerisch aufgemachten Fällen, seinen ausführlichen Anleitungen und seinem prononcierten Plädoyer für den Selbstmord auf Jugendliche einen schädlichen Einfluß. Gerade Heranwachsende, unter denen die Rate der versuchten und erfolg­reichen Selbsttötungen sehr hoch ist, sprechen auf Vorbilder und Ideologien an, die den Selbstmord verherrlichen oder enttabuisieren.« 

Depressive Erkrankungen, die periodische Niedergeschlagenheit von chronisch Kranken und die Todes­faszination, die in Teilen unserer Gesellschaft herrscht, stellen keine hinreichende Rechtfertigung dar, Menschen anzuleiten, wie sie sich selbst am besten umbringen können, ihnen Hilfe zu gewähren oder die Tat selbst zu glorifizieren. Menschen, deren Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist, können zu keiner ausgewogenen Entscheidung über die Beendigung ihres Lebens gelangen. Über diesen Punkt herrscht Einhelligkeit selbst unter Ethikern, die entschieden jenes Konzept verteidigen, von dem seit neuestem unter dem Begriff »rationaler Suizid« die Rede ist. 

Dr. Quill hat mit Recht betont, daß Derek Humphrys Selbstmordfibel in keiner Weise »eine Antwort auf die tiefe ethische und persönliche Problematik zu geben vermag, die mit den Begriffen Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung verbunden ist«.

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Wie bei allen Fragen, die das menschliche Leben betreffen, gibt es keine für alle Menschen gültige Antwort, aber es sollte eine für alle verbindliche Haltung der Toleranz und der kritischen Überprüfung möglich sein. Vermutlich ist es illusorisch, sich eine allgemeine Methode der Entscheidungs­findung zu erhoffen, die in der Aussage verbindlicher wäre als die bereits erwähnten Richtlinien. Solange keine bessere gefunden ist, darf Quills Methode, die Verständnis und Mitgefühl für den Patienten zeigt, sich für Diskussion, Konsultation und Nachprüfung Zeit läßt und schließlich zu begründeten Annahmen kommt, als vorbildlich gelten. 

Auch wenn man Humphrys geistige Haltung ablehnt, die Anleitungen, die er in seinem Buch gibt, sind verläßlich. Die mittlerweile wohlbekannte Methode, eine Dosis Schlaftabletten einzunehmen und dann den Kopf in einen luftdichten Plastikbeutel zu stecken, der unten fest zuzubinden ist, führt zuverlässig zum Ziel, wie Humphry beschreibt, wenn auch nicht nach dem physiologischen Mechanismus, den er zur Erklärung anführt. 

Weil der Plastikbeutel so eng ist, wird der Sauerstoff rasch aufgebraucht, noch bevor das wieder eingeatmete Kohlendioxid zur Wirkung kommt. Die Hirnfunktion setzt aus, doch zum eigentlichen Tod führt der niedrige Sauerstoffspiegel des Blutes, der den Herzschlag umgehend verlangsamt, bis das Herz ganz stehenbleibt und der Kreislauf zusammenbricht. Symptome für akutes Herzversagen können auftreten, da die Kammerkontraktionen abnehmen, aber das spielt keine Rolle, denn der Tod tritt so oder so ein. Obwohl eigentlich Konvulsionen oder Brechreiz zu erwarten wären, ist dies offensichtlich selten, wenn überhaupt der Fall.

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Dr. Wayne Carver, medizinischer Leichenbeschauer im Bundesstaat Connecticut, hat genügend solche Suizidfälle gesehen, um mir bestätigen zu können, daß die Gesichter der Opfer weder blau verfärbt noch aufgedunsen sind. Sie sehen eigentlich ganz normal aus, nur sind die Menschen eben tot. 

Dreißigtausend Amerikaner nehmen sich jährlich das Leben, und die meisten davon sind junge Erwachsene. Die Zahl umfaßt natürlich nur jene Personen, deren Tod mit einiger Sicherheit auf selbstzerstörerisches Verhalten zurückzuführen ist. Da am Selbstmord immer noch der Ruch des Frevels haftet, vertuschen die Familie und der Suizident selbst oft die Umstände des Ablebens. Hinterbliebene bitten manchmal einen mitfühlenden Arzt, eine andere Ursache auf den Totenschein zu schreiben. 

Wie bereits oben angedeutet, nehmen sich vor allem ältere Männer das Leben. Sie neigen zu Depressionen und brechen häufig unter der doppelten Belastung von Krankheit und Einsamkeit zusammen. 

 

Die große Mehrheit der Suizidenten greift immer noch auf die hergebrachten Methoden zurück: Stich- und Feuerwaffen, Strangulation mit dem Strick, Gas, Schlaftabletten oder eine Kombination dieser Möglichkeiten. Nicht selten bleibt ein schlecht geplanter Selbstmordversuch ohne Erfolg, besonders wenn die betreffende Person ihn in einem Zustand der Erregung begeht. In ihrer Verzweiflung versuchen solche Menschen nacheinander alle möglichen Methoden, bis sie den ersehnten Tod finden. Wird ihre Leiche dann entdeckt, weist sie Schnitt- und Schußverletzungen auf, während die tödliche Wirkung oft erst durch Gift oder Strangulation erreicht wurde. 

Als Seneca sich zuletzt selbst das Leben nahm, tat er dies nicht aus freier Wahl, sondern auf Befehl des Kaisers Nero. Man hätte meinen können, seine langjährigen Betrachtungen über den Freitod hätten aus ihm auch einen Experten in dessen Ausführung gemacht, doch das war nicht der Fall.

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Seneca war ein berühmter Philosoph und Rhetor, aber er besaß nur wenig Kenntnisse über den menschlichen Körper. Entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, stach er einen Dolch in die Pulsadern seiner Arme. Doch das Blut kam ihm nicht rasch genug, deshalb trennte er sich auch die Venen an Beinen und Knien auf. Als auch das nicht genügte, nahm er Gift, wieder ohne Erfolg. Schließlich, so berichtet Tacitus, »ward er in ein Schwitzbad gebracht und, vom Dampf erstickt, ohne alle Leichenfeierlichkeit verbrannt«. 

 

Barbiturate, ein modernes Mittel zur Selbsttötung, wirken auf verschiedene Weise. Das Koma, das sie bei dem Opfer herbeiführen, ist so tief, daß die Atemwege blockiert werden können, wenn der Kopf sich in eine entsprechende Position neigt und die Zufuhr von Atemluft unterbrochen wird. Der Suizident erstickt auf diese Weise, bisweilen aber auch an Erbrochenem. Eine sehr hohe Dosis Barbiturate verursacht eine Erschlaffung der Muskeln in den Arterien. Die Gefäße dehnen sich übermäßig, und Blut geht für den Kreislauf verloren, weil es sich in bestimmten Körperregionen sammelt. In hohen Dosen unterbinden die Drogen auch die Kontraktionsfähigkeit des Herzens, was zum Herzstillstand führt. 

Neben Barbituraten gibt es weitere todbringende Drogen: Heroin verursacht, wie einige andere intravenös injizierte Narkotika, akute Lungenödeme, obwohl der Mechanismus, der zu diesem tödlichen Zustand führt, noch nicht geklärt ist. Zyankali blockiert das Eisen der Atmungsfermente; Arsen schädigt mehrere Organe, aber tödlich wirkt es letztlich dadurch, daß es zu Herzrhythmusstörungen führt, die von Koma und Krämpfen begleitet sein können.

Wenn ein Suizident das Ende eines Schlauches an den Auspuff eines Autos anschließt und am anderen Ende die Abgase einatmet, macht er sich die Affinität zunutze, die Hämoglobin für Kohlenmonoxid besitzt.

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Der eisenhaltige Blutstoff verbindet sich um den Faktor 200 bis 300 eher mit dem giftigen Kohlenmonoxid als mit dem lebensspendenden Sauerstoff. Der Suizident stirbt an mangelnder Sauerstoffversorgung des Gehirns und des Herzens. Das kohlenmonoxidhaltige Hämoglobin gibt dem Blut eine deutlich hellere Farbe und läßt es paradoxerweise lebendiger aussehen als im gesunden Zustand. Daraus resultiert auch die kirschrote Färbung, die die Haut und die Schleimhäute der Opfer von Kohlenmonoxidvergiftungen aufweisen. Da die typische blaue Verfärbung fehlt, die ansonsten beim Erstickungstod charakteristisch ist, kann man beim Anblick der rosigen Wangen eines Opfers für einen Augenblick glauben, sein Körper sei bei bester Gesundheit, während er in Wirklichkeit tot ist.

Strangulation führt zum gleichen Resultat, doch ist die Methode ungleich rücksichtsloser. Das Gewicht des fallenden Körpers sorgt für genügend Energie, um die Schlinge fest zu schließen und die Atemwege abzuschnüren. Der Verschluß kann dadurch zustande kommen, daß die Luftröhre zerquetscht oder daß die Zungenwurzel nach oben verschoben wird. Die zusammengezogene Schlinge blockiert die Drosselvene und hindert das desoxygenierte Blut am Abfließen, das sich dann in Gesicht und Kopf staut. Ein in grotesker Pose erstarrter Erhängter, die geschwollene Zunge herausgestreckt und manchmal blutig gebissen, das bläulich-fahle Gesicht aufgedunsen, die Augen weit hervorgetreten, ist ein alptraumartiger Anblick, den nur ein vollkommen abgebrühter Mensch ohne Schaudern erträgt. Beim Erhängen als Vollzug der Todesstrafe bemüht sich der Henker, ein Ersticken des Delinquenten zu vermeiden, was ihm freilich nicht immer gelingt.

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Liegt der Knoten der Schlinge korrekt neben dem Unterkieferbogen, bricht der freie Fall aus anderthalb bis zwei Meter Höhe dem Deliquenten in der Regel das Genick. Wird das Rückenmark durchtrennt, bedeutet das Schock und sofortige Atemlähmung. Der Tod tritt wenn nicht auf der Stelle, so doch rasch ein, obwohl das Herz noch einige Minuten weiterschlagen kann. 

Beim Erhängen in suizidaler Absicht führt die gleiche Ereigniskette zum Tod wie bei allen anderen Fällen von mechanischem Ersticken, sei es absichtlich oder nicht. Ein Beispiel für den Erstickungstod von Menschen ohne Selbstmordabsichten ist der sogenannte Bolus-Tod. Verstopft plötzlich ein großer Speisebrocken die Luftröhre eines Essenden, der noch dazu betrunken ist, kann dieser nicht mehr atmen und reagiert mit Panik. Erregt und hyperkapnisch, wie der Unglückliche ist, versucht er vergeblich, sich Erleichterung zu verschaffen und greift sich an Brust und Kehle, als habe er einen Herzanfall. Er stürzt zur Toilette und hofft, den Speisebrocken dort erbrechen zu können, denn selbst im Augenblick des Sterbens ist es ihm zu peinlich, dies vor den Augen seiner Tischgenossen zu tun, die entgeistert und unschlüssig sitzen bleiben. Passiert ihm das Mißgeschick, wenn er allein zu Hause ist, hat er ebenfalls keine große Überlebenschance. Passiert es ihm in der Öffentlichkeit und befindet sich unter den Anwesenden jemand, der den Heimlich-Handgriff beherrscht, kann er gerettet werden. 

Kann der Speisebrocken nicht entfernt werden, ist der Erstickungstod unabwendbar. Der Puls beschleunigt sich, und Blutdruck und Kohlendioxidgehalt des Blutes steigen, bis der Zustand der Hyperkapnie erreicht ist. Infolge des akuten Sauerstoffmangels verfärbt sich das Opfer bläulich, außerdem zeigt es alle Anzeichen höchster Angst.

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In seiner Not versucht es verzweifelt, Luft durch die blockierten Atemwege einzusaugen, festigt damit aber die Lage des Fremdkörpers nur noch mehr. Wie beim Erhängen tritt Bewußtlosigkeit ein, manchmal kommen dazu Krämpfe, die das desoxygenierte und hyperkapnische Gehirn auslöst. Nach kurzer Zeit werden die Versuche, Luft einzuatmen, schwächer. Der Herzschlag wird unregelmäßig und setzt am Ende ganz aus.

Ertrinken ist eigentlich eine Form der Atemlosigkeit, bei der Mund und Nasenlöcher durch Wasser verschlossen sind. Wird der Ertrinkungstod gesucht, wehrt sich das Opfer nicht gegen das Einatmen von Wasser; handelt es sich hingegen wie in den meisten Fällen um einen Unfall, versucht es den Atem solange wie möglich anzuhalten, bis es aus Erschöpfung aufgibt. Dann füllen sich die Atemwege bis hinunter in die Lunge mit Wasser. Ringt das Opfer nahe der Wasseroberfläche um Luft, kann mit dem Wasser noch genügend Luft eingeatmet werden, um eine Schaumbarriere zu bilden. Schaum und Wasser in den Atemwegen können Brechreiz auslösen. Das verschlimmert die Lage freilich noch, denn Magensäure steigt in den Mund auf, von wo sie wiederum in die Luftröhre gelangen kann.

Beim Ertrinken in Süßwasser gelangt das Wasser über die Lunge in den Kreislauf, verwässert das Blut und zerstört das empfindliche Gleichgewicht der physikalischen und chemischen Elemente des Blutes. Rote Blutkörperchen gehen zugrunde, worauf große Mengen an Kalium in den Kreislauf gelangen. Das Kalium wirkt wie Herzgift und verursacht Kammerflimmern. 

Beim Ertrinken in Salzwasser verläuft der Prozeß umgekehrt. Dem Kreislauf wird Wasser entzogen, das sich in den feinen Bläschen der Lunge sammelt und dort den gleichen Zustand verursacht wie bei einem Lungenödem. Derselbe ödematöse Zustand kann auch beim Ertrinken in einem Swimmingpool auftreten, da Chlor das Lungengewebe reizt.

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Versucht sich der Ertrinkende über Wasser zu halten, stellt sich ein Überlebensreflex ein, der das Wasser­einatmen anfangs verzögert, dann aber fördert. Gelangt der erste Schwall in die Luftröhre, verkrampft sich der Kehlkopf reflexartig und verschließt sich, um einen weiteren Zufluß zu verhindern. Doch nach zwei oder drei Minuten löst der schwindende Sauerstoffgehalt des Blutes den Krampf, und das Wasser kann ungehemmt eindringen. In dieser Phase des sogenannten letzten Atemholens gelangen so große Mengen Wasser in den Körper, daß das Volumen beim Ertrinken in Süßwasser bis zu 50 Prozent der gesamten Blutmenge ausmachen kann. 

Ein lebloser menschlicher Körper ist schwerer als Wasser, und der Kopf ist der schwerste Teil. Infolgedessen sinkt ein Ertrunkener mit dem Kopf zuerst zum Grund des Gewässers und verharrt dort in dieser Position. Hat sich durch Fäulnisprozesse so viel Gas in den Geweben gebildet, daß die Leiche Auftrieb bekommt, steigt sie wieder an die Oberfläche. Dieser Vorgang kann je nach Wasserbeschaffenheit und -temperatur zwischen einigen Tagen und mehreren Wochen dauern. Der Unglückliche, der eine solche Wasserleiche entdeckt, vermag sich nur mit Mühe vorzustellen, daß das faulige Etwas einmal einen menschlichen Geist beherbergt und wie die übrige Menschheit lebensspendende Luft eingeatmet hat. 

Durch Ertrinken kommen in den Vereinigten Staaten jährlich fast fünftausend Menschen ums Leben. Läßt man die Fälle von Selbstmord und Mord oder Totschlag einmal beiseite, weiß die Mehrheit der Opfer zumindest von der Gefahr, denn gewöhnlich ereignen sich die Unglücksfälle in der Nähe von tiefem Wasser.

Anders verhält es sich mit den rund eintausend Amerikanern, die jährlich an einem tödlichen Stromschlag sterben. Selbst wenn sie an Hochspannungsgeräten arbeiten, rechnen sie in der jeweiligen Situation so gut wie nie mit einem nahen Tod. Bei weitem die häufigste Todesursache beim Elektroschock ist Kammer­flimmern, wenn das Herz plötzlich einen starken Stromstoß erhält. Kammerflimmern oder Herzstillstand kann auch eintreten, wenn das Herzzentrum im Gehirn von hoher elektrischer Spannung getroffen wird. Ist das Atemzentrum in Mitleidenschaft gezogen, folgt auf den Atemstillstand der Tod. Obwohl die meisten Opfer von tödlichen Stromschlägen Männer sind, die an Hochspannungsleitungen arbeiten, fordern Unfälle mit elektrischem Strom im Haushalt auch viele Tote unter Frauen und Kindern.

 

Auf solch verschiedene Weise sterben die Opfer von Unfällen, Tötungsdelikten und Selbsttötungen, und jedesmal ist es Sauerstoff­mangel, der sie vom Leben zum Tod bringt. Die Aufzählung der Ursachen und physiologischen Vorgänge ist dabei keineswegs vollständig, denn der gewaltsame Tod kann noch auf viele andere Arten zuschlagen. 

Meine knappe Erörterung so unterschiedlicher Themen wie Gleichmut und Würde bei Kranken im Endstadium, Erlebnisse von Menschen, die bereits klinisch tot waren, oder Beihilfe zur Selbsttötung hat die Probleme nur anreißen können. Diese Probleme verdienten allerdings die Aufmerksamkeit, ja die prüfende Betrachtung nicht nur der Philosophen und Wissenschaftler, sondern aller Menschen guten Willens. 

Wenn es um Tod und Sterben geht, liegen klinische Sachverhalte und ethische Fragen immer so nah beieinander, daß wir das eine nicht ohne das andere betrachten können. 

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Nuland 1993