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    8.  Ein Fall von Aids 

   

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»Nennen Sie mich Ismael.« Die junge Ärztin lächelte bei der Erinnerung an diesen Satz, in dem für sie soviel Ironie mitschwang. Aber ihr Blick war wehmütig und ging an mir vorbei in das Kranken­zimmer, in dem der Vater einer jungen Familie im Sterben lag.

»Es ist kaum fünf Monate her, aber mir scheint es ein ganzes Leben, wirklich. Als ich an jenem Tag in die Klinik kam, saß er im Arztzimmer und wartete auf den großen Wunderdoktor, von dem er sich Hilfe versprach. Der Wunderdoktor war ich. <Guten Morgen, Mister Garcia>, sagte ich mit einem Lächeln und betont locker, wie man das wohl von einer neuen Assistenzärztin erwartet. Und er sprang auf, der kleine Latino mit dem großen gewinnenden Lächeln, und sagte: <Nennen Sie mich Ismael.> Denken Sie nur! Moby Dick hat er wahrscheinlich nie gelesen. Der Ismael aus Melvilles Roman kam mit dem Leben davon, während meiner nie eine Chance hatte. In ein paar Tagen ist er tot, aber ich werde ihn mein Lebtag nicht vergessen.« 

Sie hielt inne. Nur mit Mühe sprach sie schließlich weiter, und ihre Worte klangen gebrochen. »Er war mein erster Patient mit dieser scheußlichen Krankheit.« 

Seit jenem Sommernachmittag, an dem Ismael Garcia vom Stuhl aufsprang und meiner Kollegin Dr. Mary Defoe zur Begrüßung die Hand hinstreckte, hatte er eine Krise nach der anderen erlebt. Beide, Patient und Ärztin, waren unter diesen Prüfungen andere Menschen geworden. Obwohl Mary im Laufe ihrer klinischen Ausbildung viele Aidspatienten gesehen hatte, wurde ihr das ganze Ausmaß der persönlichen Katastrophe für den Kranken erst wirklich bewußt, als sie als frischpromovierte Ärztin in der Verantwortung für ihren Patienten stand. 

Die ganze Zeit über, von jenem sonnigen Julinachmittag ihrer ersten Begegnung in der Aidsklinik bis zu dem kalten grauen Novembermorgen, an dem sie Ismael Garcias' Tod feststellen sollte, war sie die Ärztin seines Vertrauens. Ob er stationär oder ambulant behandelt wurde, stets war sie seine Ansprech­partnerin. Von Zeit zu Zeit kümmerten sich andere Assistenzärzte um ihn, wenn Mary auf einer anderen Abteilung Dienst tat, aber immer fanden sie sich wieder und gingen den Weg gemeinsam bis zum bitteren Ende, dem sie ohne Illusionen entgegensahen.

Die meisten Ärzte entwickeln schon früh in ihrer Ausbildung eine bestimmte Beziehung zu ihren Patienten, und diese Beziehung prägt ihre Einstellung zu Krankheit und Tod in ihrer weiteren ärztlichen Laufbahn. 

Mary Defoe mußte mit ihrem ersten Aidspatienten eine Erfahrung machen, die den Ärzten der jüngeren Generationen schon fast entschwunden schien: Ohnmacht angesichts einer tödlichen Seuche, die vor allem junge Menschen hinwegrafft.

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Vor 1981 konnte niemand mit dem HIV, dem menschlichen Immunschwächevirus, rechnen. Die ersten Hinweise auf seine verheerenden Wirkungen kamen zu einer Zeit, als die Biochemiker schon stolz einen Forschungsstand erreicht zu haben glaubten, der einen endgültigen Sieg über die Infektions­krankheiten in Aussicht stellte.

Aids stürzte nicht nur die Virusjäger in Verwirrung; die Seuche erschütterte unser aller Zuversicht, daß Wissenschaft und Technik die Menschheit vor den Launen der Natur schützen könnten. Und in den folgenden Jahren begegnete tatsächlich jeder junge Arzt schon in der Ausbildung Patienten, die in einem Alter starben, in dem sie eigentlich noch hätten leben sollen. 

 

Dr. Defoe und ich traten in Ismaels Zimmer. Wir bemühten uns, möglichst leise zu sein, auch wenn der Sterbende weit davon entfernt war, irgend­welche Geräusche wahrzunehmen. Wir taten es eher aus Respekt als aus Notwendigkeit. Der Raum, in dem ein Mensch im Sterben liegt, wird zu einer Kapelle, daher schickt es sich, mit Ehrfurcht einzutreten.

Diese Stille unterscheidet sich grundlegend von den hektischen Szenen, die sich so oft in den letzten Augenblicken eines Patienten abspielen, wenn alles versucht wird, ihn am Leben zu erhalten. Oft bringen ihm diese Versuche noch ein paar Wochen oder Monate mehr des Wartens auf den Tod — manchmal auch nur ein paar Tage oder Stunden. 

Nach dem ganzen Elend, das Ismael Garcia auf seinem Weg durch Fieber und Auflösung hatte erleiden müssen, war die Bewußtlosigkeit verdient; es war angemessen, daß wenigstens sein Ende friedvoll sein sollte.

Die indirekte Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, die Rollos herabgezogen. Gedämpft fiel die herbstliche Mittagssonne in das Zimmer und tauchte es in ein mildes Licht. Der Bewußtlose im Bett hatte hohes Fieber, seine Stirn glänzte gelblich neben dem Weiß des frischbezogenen Kopfkissens. Trotz der Verheerungen, die die Krankheit in seinem Körper angerichtet hatte, konnte man erkennen, daß er einmal ein gutaussehender Mann gewesen war.

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Ich hatte Ismaels Krankenblatt gelesen und wußte, daß im Fall eines Atemstillstands ein Wieder­belebungs­versuch unternommen werden sollte. Dann würde es mit dem Frieden des Tiefschlafs vorbeisein. Bereits vor Monaten hatte er in einem Augenblick der Angst seine Frau Carmen gebeten, sie möge auf die Ärzte eindringen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sein Leben zu retten. Sie dürfe nicht zulassen, daß die Ärzte ihn aufgäben. Jetzt konnte seine Frau nicht glauben, was das Aids-Team ihr zu verstehen gab: daß es tatsächlich auf das Ende zugehe. 

Sie wollte ihr Versprechen halten — ein Versprechen, mit dem sie ihren Mann um einen sanften Tod bringen würde.

Obwohl sich Ismael drei Jahre vor seiner Aidserkrankung von seiner Frau getrennt hatte, war Carmen dennoch seine nächste Verwandte, und sie sprach für seine Familie. Doch eigentlich sprach sie nur für sich selbst, denn sie hatte mit ihrem Mann den festen Entschluß gefaßt, über die Diagnose Aids niemandem auch nur ein Wort zu sagen. Weder Ismaels Eltern noch seine beiden Schwestern kannten den Namen der Krankheit. Sollten sie es doch erfahren haben, dann sprachen sie nie darüber.

Als Carmen merkte, wie krank Ismael wirklich war, hatte sie ihn heimkehren lassen. Sie fand die Kraft, über seine jahrelange Untreue und seine Drogen­abhängigkeit hinwegzusehen, und sie verzieh ihm auch, daß er sie und ihre drei Töchter mit seinem haltlosen Lebenswandel an den Rand der Armut gebracht hatte.

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Er kehrte heim, und sie wurde seine Pflegerin und der einzige Mensch in seiner Familie, mit dem er das Wissen um seine tödliche Krankheit teilte. Er sei trotz allem ein guter Vater gewesen, und dafür sei sie ihm sehr dankbar. Um ihrer Töchter willen und in Erinnerung an ihr früheres gemeinsames Leben habe sie ihn wieder bei sich aufgenommen.

Wenn sie nun ihrem Mann das Sterben verwehrte, obwohl seine Stunde gekommen war, tat sie das aus Liebe zu Ismael; schließlich hatte sie es ihm versprochen. 

Sie weigerte sich, mit den Ärzten darüber zu diskutieren, und keiner der Ärzte brachte es übers Herz, sie zu drängen. Mir gegenüber sagten sie, in einem verborgenen Winkel ihres Herzens müsse Carmen wohl Schuldgefühle hegen, weil sie Ismael, obwohl er offensichtlich sehr an seinen Töchtern hing, den Umgang mit ihnen verboten hatte. Auch hatte sie sein Versprechen, sich zu bessern, nie ernstgenommen, und auf seine Versuche, ein geordnetes Leben zu führen, war sie nie eingegangen. 

Das Ärzte- und Pflegeteam hatte schon den Vorsitzenden der Ethikkommission unseres Krankenhauses konsultiert, doch als er hörte, daß eine Wiederbelebung erfolgreich sein könnte, lehnte er es ab, sich über die Herzensgründe der Frau des Patienten hinwegzusetzen. 

Wer vermag unter solchen Umständen zu sagen, was das Richtige ist?

Ismael war nie allein im Krankenzimmer. Ein auf neunzig mal sechzig Zentimeter vergrößertes, gerahmtes Foto seiner drei Töchter stand auf dem Fensterbrett und sorgte für die ständige Anwesenheit der Töchter im Zimmer des geliebten Vaters. Die Aufnahme aus glücklicheren Tagen zeigte drei hübsche Mädchen mit lockigen Haaren, die im Sonntagsstaat ihrem Vater und anderen Betrachtern zulächelten. Ich deutete stumm auf das Foto und sah Mary fragend an.

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»Die beiden Älteren«, sagte sie, »kommen fast jeden Tag, aber das jüngste Mädchen bringt die Mutter nie mit. Die Sechsjährige spielt für sich am Fuß des Bettes, sie versteht das Ganze noch nicht. Die Zehnjährige steht die ganze Zeit neben dem Bett ihres Vaters und weint. Mit Tränen in den Augen streicht sie ihm übers Haar und streichelt sein Gesicht. Ich vermeide es möglichst, ins Zimmer zu gehen, wenn die Kinder da sind. Ich kann es einfach nicht mit ansehen.«

Vor dem Foto lag aufgeschlagen eine spanischsprachige Bibel. Einige Verse des siebenundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Psalms waren in verschiedenen Farben angestrichen. Ich notierte mir die Stellen auf einer Karteikarte und schlug sie daheim nach:

Verbirg dein Antlitz nicht vor mir und verstoße nicht im Zorn deinen Knecht; denn du bist meine Hilfe. 
Laß mich nicht und tue nicht von mir die Hand ab, Gott, mein Heil! (Ps 27,9)
Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich; aber der Herr nimmt mich auf. (Ps 27,10) 
Gelobt sei der Herr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens. (Ps 28,6)

Mir fiel ein, daß Ismael im Hebräischen »Gott hört« heißt. Der Name kommt von den Worten, die Gott gesprochen haben soll, als er Saras Magd Hagar in der Wüste fand, in die sie vor dem Zorn ihrer Herrin geflohen war: »Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, den sollst du Ismael nennen, darum daß der Herr dein Elend erhört hat.« Der Brunnen, bei dem Hagar die Stimme Gottes gehört hatte, erhielt den Namen <Beer-Lahai-Roï>, »Brunnen des Lebendigen, der mich ansieht«.

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Als der biblische Ismael vierzehn war, erinnerte sich Gott an den Sohn der Magd. Diesmal war es die Stimme des Knaben, die er erhörte. Er rettete ihn vor dem Tod in der Wüste und verhieß, er werde ihn »zu einem großen Volk machen«.

Doch den Ismael, der hier auf dem Sterbebett lag, schien Gott vergessen zu haben. Weder sah er ihn noch hörte er ihn. Auf jeden Fall griff er nicht rettend ein, obwohl sein Knecht in Qualen lag. Hierin glich Ismael Garcia dem großen Dulder Hiob, dessen Leiden Gott nicht sah und dessen Klagen er nicht hörte, so als habe er sich blind und taub stellen wollen.

Ich für meinen Teil glaube, daß Gott nichts mit dieser Krankheit zu tun hat. Wir sind Zeugen eines von den blinden Kräften der Natur angerichteten Desasters, das in seiner Art beispiellos ist und keinen Sinn hat und, vielen Deutungsversuchen zum Trotz, nicht für eine übergreifende Metapher taugt. Auch viele Theologen sind der Meinung, daß Gott bei solchen Katastrophen nicht im Spiel ist. 

Die Bischöfe der holländischen Reformierten Kirche haben sich in ihrer bereits zitierten Schrift <Euthanasie en Pastoraat> freimütig zu der alten Frage nach dem göttlichen Anteil an menschlichem Leiden geäußert, für das es keine Erklärung gibt: »Die natürliche Ordnung der Dinge stimmt nicht notwendig mit dem Willen Gottes überein.« Ihre Haltung wird von weiten Teilen der christlichen und jüdischen Geistlichkeit geteilt.

Jede weniger zurückhaltende Aussage wäre gefühllos und unverantwortlich, denn damit machte man es Menschen, die schon viel zu leiden haben, noch schwerer. Gewiß kann uns Aids viel lehren, aber die Lehren, die aus der Seuche zu ziehen sind, liegen im Bereich von Wissenschaft und Gesell­schaft und sicherlich nicht im Feld religiöser Spekulation.

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Wir haben es nicht mit einem Strafgericht zu tun, sondern mit einer vom Zufall gesteuerten Katastrophe in der Natur, der immer wieder auch Menschen zum Opfer fallen. Die Natur ist gleichgültig, wie Anatole France einmal gesagt hat, sie macht keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Das Problem Aids besteht aus viel mehr als nur den klinischen Fakten. Das gilt zwar für jede Krankheit, ganz besonders aber für diese. 

Um jedoch die kulturellen und gesellschaft­lichen Folgen von Aids abschätzen zu können, muß man sich zuerst über einige klinische und wissen­schaft­liche Phänomene Klarheit verschaffen. Erst dann zeigt sich das ganze Ausmaß der Tragödie sterbender Aidskranker. Ismael Garcias Fall steht stellvertretend für viele.

 

Im Februar 1990 wurde bei Garcia ein HIV-Test durchgeführt, und der Befund war positiv. Der Test war Teil einer Untersuchung, die Aufschluß über eine offene Wunde an Garcias linkem Unterarm geben sollte, die nicht heilen wollte. Garcia hat sich sehr wahrscheinlich durch seine intravenösen Drogen­injektionen infiziert. Nach einer ambulanten Behandlung mit Antibiotika verheilte die Wunde am Unterarm schnell, und da er sich sonst körperlich wohl fühlte, erschien er zu keinem weiteren Beratungstermin. Im Januar 1991 bekam er jedoch einen trockenen Husten, der sich von Woche zu Woche verschlimmerte. Mit dem Husten stellten sich auch beklemmende Schmerzen in der Brust ein, die bei Tiefenatmung noch zunahmen. Nach einem weiteren Monat verunsicherten ihn zwei neue Symptome: Er bekam Fieber und litt unter Atembeschwerden, sobald er sich auch nur ein wenig bewegte. Als er nicht einmal mehr eine Runde in seiner kleinen Wohnung in der Altstadt von New Haven machen konnte, ohne in Atemnot zu geraten, merkte er, daß es Zeit war, ins Krankenhaus zu gehen.

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Eine Röntgenaufnahme des Thorax brachte an den Tag, daß Ismaels Lunge großflächig infiltriert war. Eine Infektion hatte sich dort ausgebreitet und machte ihm das Atmen schwer. Eine weitere Untersuchung zeigte, daß sein arterielles Blut einen ungewöhnlich geringen Sauerstoffgehalt aufwies, ein Beweis dafür, daß der lebenswichtige Gasaustausch in der infizierten Lunge nur noch unvollkommen stattfand. 

Schließlich brauchte der Arzt, der ihn in der Notaufnahme untersuchte, nur in den Mund des fiebrigen Patienten zu schauen, um ein weiteres charakter­istisches Symptom fast aller Aidspatienten zu entdecken: Ismaels Zunge hatte einen milchig-weißen Belag, der von Soor, einer Pilzinfektion, her rührte.

Der Thoraxbefund stimmte mit einer Spielart der Lungenentzündung überein, die bei Aids am häufigsten auftritt und die durch den Erreger <Pneumocystis carinii> hervorgerufen wird. Für Ismael war nun eine stationäre Behandlung unumgänglich. Mit einem Bronchoskop, einem schlangenförmigen Gerät, das in die Luftröhre eingeführt wird, machten die Ärzte einen Abstrich und legten eine Zellkultur an. Die anschließende Untersuchung unter dem Mikroskop bestätigte das Vorhandensein von <Pneumocystis carinii>. Ismael mußte sich nun einer Behandlung mit einem hochspezifischen Antibiotikum, Pentamidin, unterziehen. Gegen den Soor erhielt er ein pilztötendes Medikament. Die Mittel schlugen an, und er erholte sich allmählich. 

Bei seinem Krankenhaus­aufenthalt stellte sich auch heraus, daß er anämisch und die Zahl der weißen Blutkörperchen zu niedrig war. Entgegen seiner Behauptung, immer gut gegessen zu haben, war er so unterernährt, daß der Eiweißgehalt im Blut nicht der Norm entsprach. Auf der Waage mußte er verblüfft feststellen, daß er von seinen gewöhnlichen 70 Kilo zwei verloren hatte.

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Das schlimmste Ergebnis der Diagnose aber war etwas, dessen Tragweite er damals noch gar nicht ermessen konnte. Für eine HIV-Infektion ist die Zahl der T4-Zellen oder Helferzellen, auch CD4-Rezeptoren genannt, eine Unterklasse der T-Lymphozyten, von entscheidendem diagnostischen Wert. In Ismaels Blut lag die Zahl der T4-Zellen bei 120 pro Kubikmillimeter, und das ist erheblich weniger als normal.

Wir wissen nicht, ob Ismael nach seiner Entlassung die verschriebenen Medikamente gegen eine erneute Pneumocystis-carinii-Pneumonie (PcP) genau nach Anweisung eingenommen hat. Vermutlich hat er es nicht getan, denn elf Monate später, im Januar 1992, kam er mit ähnlichen, allerdings schlimmeren Symptomen wieder ins Krankenhaus. Diesmal klagte er außerdem über Kopfschmerzen und Übelkeit und machte insgesamt einen verwirrten Eindruck. Bei der Analyse seiner Rückenmarksflüssigkeit wurden hefepilzähnliche Organismen namens <Cryptococcus neoformans> entdeckt, die Hirnhautentzündung verursachen. Außerdem stellte man eine bakterielle Infektion des rechten Ohrs fest, die er in seinem verwirrten Allgemeinzustand gar nicht wahrgenommen hatte. 

Die Zahl seiner CD4 war auf 50 gefallen, ein sicheres Zeichen dafür, daß die Zerstörung der körpereigenen Abwehr durch das HIV-Virus rasch voranschritt. Das Zusammenkommen dreier verschiedener Infektionskrankheiten hätte Ismaels Ende bedeuten können, doch das Aids-Team des Yale-New Haven Hospital rettete ihn mit einer genau berechneten Therapie. Nach drei Wochen im Krankenhaus konnte er wieder zu Carmen und seinen Töchtern heimkehren. Unterdessen waren die Kosten für seine Behandlung auf zwölftausend Dollar angewachsen. Da er seit seiner bereits lange zurückliegenden Entlassung aus der Firma wegen Drogenabhängigkeit keinen Krankenversicherungsschutz mehr hatte, übernahm der Bundes­staat Connecticut die Kosten.

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Von da an hielt Ismael seine Termine in der Klinik genau ein. Anfang Juli 1992 kam er in die Ambulanz mit einem großen schmerzhaften Abszeß in der linken Achselhöhle, der einen chirurgischen Eingriff erforderte. Bei diesem Besuch begegnete er zum erstenmal Dr. Mary Defoe. In den folgenden Wochen war sie für seine ambulante Behandlung verantwortlich. Der Abszeß heilte gut, ebenso eine Sinusitis und eine weitere Entzündung im Ohr.

Während Ismael von seinen verschiedenen bakteriellen Infekten kuriert wurde, klagte er wieder, daß er sich oft benommen und schwindelig fühle und manchmal Mühe habe, das Gleichgewicht zu halten. Kurz nach dem Auftreten dieser Störungen begann auch sein Gedächtnis immer mehr nachzulassen. Seiner Frau fiel auf, daß er selbst einfache Sätze nicht immer verstand. Die Symptome verschlimmerten sich im folgenden Monat, bis er schließlich die meiste Zeit über verwirrt und lethargisch war. Außerdem verlor er rasch an Gewicht. Dennoch bat er seine Frau, ihn nicht in die Notaufnahme des Krankenhauses zu bringen. Obwohl Carmen den Ärzten für ihre Bemühungen dankbar war, entsprach sie seiner Bitte. Beide ahnten wohl, daß Ismael nach einer Einlieferung ins Krankenhaus nie wieder nach Hause kommen würde.

Schließlich rief Carmen eines Morgens doch den Krankenwagen. Sie hatte ihren Mann an diesem Morgen schwächer denn je gefunden, und auch er selbst hatte keine Einwände mehr. Zu diesem Zeitpunkt war Ismael fast schon im Koma, der linke Arm zuckte unwillkürlich, und er reagierte kaum noch, wenn man ihm etwas ins Ohr schrie. In Abständen ging ein kurzes Zittern durch seine linke Körperhälfte.

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Eine Computertomographie brachte einen Befund, der auf eine Infektion des Gehirns mit einem Erreger namens <Toxoplasma gondii> hindeutete, obwohl die Blutuntersuchungen die Diagnose nicht bestätigten. Die Bilder waren deutlich und zeigten mehrere kleine infizierte Areale in beiden Hirnhälften. Ähnliche Läsionen finden sich auch bei Aidspatienten mit malignem Lymphom, einer bösartigen Lymphknoten­vergrößerung, doch schien bei Ismael eher eine Toxoplasmose vorzuliegen.

In dieser Situation hielt es das Ärzteteam für das sicherste, trotz der bestehenden diagnostischen Unsicherheit zunächst mit Verdacht auf Toxo­plasmose zu behandeln, da diese bei Aidspatienten häufiger auftritt als ein Lymphom. Als nach zweiwöchiger Therapie eine leichte Besserung eintrat, wurde Ismael in den Operationssaal gebracht, wo ein Neurochirurg ein kleines Loch in seine Schädeldecke bohrte und eine kleine Probe Gehirngewebe für eine Biopsie entnahm. Bei der anschließenden mikroskopischen Untersuchung fanden sich keine Toxoplasmose-Erreger, wohl aber Hinweise auf Gewebsveränderungen, die nach Ansicht des Pathologen auf die Heilung der von <Toxoplasma gondii> verursachten Krankheit schließen ließen. Das Aids-Team sah sich ermutigt, die eingeschlagene Therapie fortzusetzen.

Nach einer Woche wurde jedoch deutlich, daß sich Ismaels Zustand verschlechterte. Weil triftige Hinweise auf <Toxoplasma gondii> weiterhin fehlten, empfahlen diejenigen, die von Anfang an gegen diese Diagnose gestimmt hatten, bei Verdacht auf ein Gehirnlymphom mit einer Strahlen­behandlung zu beginnen. Bevor es Aids gab, war ein Gehirnlymphom höchst selten, heute tritt es häufig bei Aidspatienten auf. 

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Anfangs reagierte Ismael auf die Strahlenbehandlung mit einem teilweisen Erwachen aus dem tiefen Koma, in das er gefallen war. Er kam sogar so weit zu Bewußtsein, daß er wieder kleine Portionen Eiercreme und pürierte Nahrung schlucken konnte, die ihm seine Frau oder eine Kranken­schwester löffelweise in den Mund schob. Doch die Besserung war nur von kurzer Dauer. Ismael fiel wieder ins Koma zurück, und das zeitweise schwache Fieber erhöhte sich auf 39 bis 39,5°C. Zu alledem entwickelte sich neben der allgemeinen Infektion ungewissen Ursprungs noch eine bakterielle Lungenentzündung, die sich als therapieresistent erwies. 

So sah Ismaels Krankheitsbild zu jener Mittagsstunde im November aus, als Mary Defoe und ich vor seinem Bett standen. 

Trotz tiefer Bewußtlosigkeit spiegelte sich Unruhe auf Ismaels Gesicht. Spürte er etwas von der Mühe, die ihn das Ein- und Ausatmen durch die infiltrierte Lunge kostete, spürte er, daß immer weniger Sauerstoff in seine Organe gelangte? Sein ganzer Körper war nun septisch, und alle Lebens­funktionen waren in Mitleidenschaft gezogen. Vielleicht hatte die Unruhe aber auch nichts mit dem physischen Streß zu tun, unter dem seine ischämischen Gewebe litten. Vielleicht wollte er auf diese Weise zu verstehen geben, daß er zu schwach sei, um weiterzumachen, daß er sterben wolle, aber nicht könne. Doch sehnte er wirklich den Tod herbei? Lohnte sich nicht jeder qualvolle Kampf, wenn er dadurch die Chance erhielt, seine drei Töchter noch einmal zu sehen? Niemand weiß, warum die Gesichter von Sterbenden so und nicht anders aussehen. Man mag in ihnen Unruhe oder Seelenfrieden lesen, beides kann unzutreffend sein. 

Ismaels Qualen endeten am folgenden Morgen. Carmen, die seinen nahen Tod ahnte, hatte sich einen Tag Urlaub von ihrer Arbeit in einer Kartonage­fabrik in New Haven genommen. Nun saß sie auf seinem Bett, während die Abstände zwischen seinen Atemzügen immer länger wurden.

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Schließlich setzte die Atmung ganz aus. Ohne daß Carmen erneut darauf angesprochen worden wäre, hatte sie tags zuvor Mary Defoe mitgeteilt, daß keine weitere Wiederbelebung versucht werden solle. Sie habe gesehen, daß das Versprechen, das sie ihrem Mann gegeben hatte, eingehalten worden sei; alles Menschenmögliche sei für ihn getan worden. Als Ismael aufgehört hatte zu atmen, ging sie aus dem Zimmer und benachrichtigte die Kranken­schwester, die an diesem Morgen die meiste Zeit bei ihr gewesen war. Und dann tat sie etwas, wogegen sie sich zu Lebzeiten ihres Mannes immer wieder gesträubt hatte: Sie bat um einen Aidstest.

 

Im Nordosten der Vereinigten Staaten, meiner Heimat, ist Aids mittlerweile die häufigste Todesursache bei Männern zwischen 25 und 44, und das in einer Region, in der gerade in dieser Altersgruppe Todesfälle als Folge von Gewalt auf der Straße, Drogenabhängigkeit und Banden­mitgliedschaft genauso zum städtischen Alltag gehören wie Armut und Perspektivlosigkeit, die Ursachen von Delinquenz und Sucht. 

Wie kann man dieser Heimsuchung einen Sinn abgewinnen? 

Noch ist kein verborgener Zusammenhang, keine verborgene Moral entdeckt worden. Aids als Metapher, als Allegorie, als Symbol, als Vorbote der Apokalypse, als Bewährungsprobe der Menschlichkeit, als Exempel für das Leiden überall auf der Welt: unter solchen Überschriften bemühen sich heutzutage Intellektuelle, Moralisten und Schreiberlinge um eine Sinngebung, als müsse dieser Geißel der Menschheit um jeden Preis irgend etwas Positives abgewonnen werden. Doch selbst die Geschichte läßt uns im Stich; Aids ist mit den Seuchen der Vergangenheit nicht zu vergleichen.

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Noch nie hat es eine solch verheerende Krankheit wie Aids gegeben. Was mich zu dieser Behauptung veranlaßt, ist weniger das unvermutete Auftreten und die explosionsartige Verbreitung der Krankheit als vielmehr ihre entsetzlichen patho-physiologischen Auswirkungen. Nie zuvor hatte die Medizin es mit einem Virus zu tun gehabt, das die Zellen des Immunsystems zerstört. Da diese Zellen die körpereigene Abwehr steuern, verliert der Körper mit ihnen die koordinierte Abwehr gegen sekundäre Eindringlinge.

Schon das erste Auftreten von Aids ist in seiner Art ohne Beispiel. 

Mittlerweile gibt es genügend epidemiologische Hinweise, die Spekulationen über Ursprung und Verbreitung der Krankheit bis heute erlauben. Einige Forscher meinen, das Virus sei unter bestimmten zentralafrikanischen Primatenarten endemisch gewesen, ohne pathogen zu wirken. Möglicherweise ist das Blut eines infizierten Tieres mit der Schürfwunde eines Bewohners derselben Region in Berührung gekommen, der seinerseits das Virus an seine Nachbarn weitergab.

Die Verfechter dieser Theorie schätzen aufgrund von mathematischen Modell­rechnungen, daß die erste Übertragung vom Primaten auf den Menschen vor über hundert Jahren stattgefunden haben muß. Da die Dorfgemeinschaften aber nur wenig Außenkontakte hatten, breitete sich die Krankheit nur sehr langsam aus. Doch mit dem tiefgehenden kulturellen Wandel nach der Mitte unseres Jahrhunderts, der sich nicht zuletzt in Verstädterung und zunehmender Mobilität widerspiegelt, beschleunigte sich die Verbreitung dramatisch. Nachdem sich eine hinreichend große Population infizierter Personen gebildet hatte, konnte sich das Virus als Folge der allgemeinen Mobilität über den ganzen Erdball ausbreiten. 

Aids ist eine Seuche im Zeitalter des Düsenflugzeugs.

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Lange bevor das Virus zum erstenmal in Gestalt eines identifizierbaren Aidsfalles manifest wurde, hatte es sich in Tausenden nichtsahnenden Menschen eingenistet. Der erste Hinweis auf die neue Krankheit erschien 1981 in zwei kurzen Artikeln der Juni- und der Julinummer der Zeitschrift <Morbidity and Mortality Weekly Report>, die von den <Centers for Disease Control> (CDC), staatlichen Zentren zur Erfassung von Krankheiten, herausgegeben wird. Die Artikel beschreiben das Auftreten zweier bis dahin höchst seltener Krankheiten bei einundvierzig jungen Homosexuellen in New York und Kalifornien. Die eine Krankheit war PcP, die andere das Kaposi-Sarkom (KS). 

<Pneumocystis carinii> verursacht bei Menschen, deren Immunsystem intakt ist, keine Erkrankung. Tatsächlich handelte es sich in allen bis dahin bekannten Fällen von PcP um Patienten, deren Immunsystem zeitweilig ausgeschaltet war, teils absichtlich zum Zweck einer Organverpflanzung, teils als Folge einer Chemotherapie oder krasser Unterernährung. In ganz wenigen Fällen schien auch eine angeborene Immunschwäche vorzuliegen. Das KS, an dem die homosexuellen Patienten litten, war ungleich aggressiver als die bisher bekannten Spielarten. Bei dem Teil der einundvierzig Patienten, deren Blut auf T-Lymphozyten hin untersucht wurde — eine der Hauptstützen des Immunsystems —, zeigte sich ein erheblicher zahlenmäßiger Schwund der T-Lymphozyten. Ein bis dahin unbekannter Faktor hatte einen großen Teil dieser Zellen zerstört und die Abwehrkräfte der jungen Patienten gefährlich geschwächt. 

In den folgenden Monaten erschienen mehrere Zeitschriftenartikel zu ähnlichen Fällen, die damals unter dem vorläufigen Namen GRID (gay-related immunodeficiency Syndrome, d.h. unter Homosexuellen verbreitete Immunschwäche) bekannt wurden.

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Experten für Infektionskrankheiten wußten einander auf Kongressen, in Briefen und am Telefon immer neue, ähnliche Fälle zu berichten. In der Dezember­nummer des gleichen Jahres stellte David Durack von der Duke University in einem Leitartikel des <New England Journal of Medicine> in lakonischer Kürze die Ausmaße des Problems fest und umriß geradezu hellsichtig den Forschungsrahmen, der nötig sein würde, und die zu erwartenden sozialen Folgen:

Die gegenwärtige Entwicklung stellt ein Problem dar, das gelöst werden muß. An einer Lösung ist sehr vielen Menschen gelegen. Wissen­schaftler und neugierige Menschen werden fragen, warum gerade diese Gruppe betroffen ist und welche Aufschlüsse über die körpereigene Abwehr und die Entstehung von Tumoren zu erwarten sind. Sozialwissenschaftler, die sich für Fragen der Gesundheits­fürsorge interessieren, werden die Problematik in eine gesellschaftliche Perspektive rücken. Homo­sexuellen­verbände, die in Gesundheitsfragen immer sehr aktiv und gut informiert sind, werden Maßnahmen zur Aufklärung und zum Schutz ihrer Mitglieder fordern. Schließlich werden alle humanitär gesinnten und engagierten Menschen darauf dringen, daß alles Machbare getan wird, damit die Kranken nicht unnötig leiden oder sterben.

Durack wußte damals noch nicht, daß sich weltweit bereits rund 100.000 Menschen infiziert hatten. Inzwischen hatte man in den Geweben der jung gestorbenen Patienten über ein Dutzend Formen von Mikroben identifiziert, darunter viele, die nur bei stark herabgesetzten Abwehrkräften gedeihen konnten.

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Wie sich herausstellte, war von der Krankheit der Teil der körpereigenen Abwehr betroffen, der von den T-Lymphozyten abhing, eben jenen Zellen, deren Präsenz im Blut der Befallenen erheblich vermindert war. Weil bei immungeschwächten Patienten Erreger, die sonst harmlos sind, auf einmal schädlich wirken, spricht man von opportunistischen Infektionen. Beim Erscheinen von Duracks Artikel wußte man bereits, daß die Sterblichkeit bei Patienten der neuen Krankheit erschreckend hoch war und daß die Patienten, die keine Homosexuellen waren, gewohnheitsmäßig Drogen nahmen. Die Krankheit erhielt daraufhin den Namen <Acquired Immunodeficiency Syndrome>, abgekürzt Aids. 

Wie schon an anderer Stelle bemerkt, war das Auftreten von Aids ein Schlag für all jene Vertreter der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, die Ende der siebziger Jahre meinten, bakterielle oder Viruskrankheiten stellten keine Gefahr mehr dar und für die medizinische Forschung lägen die Heraus­forderungen der Zukunft im Kampf gegen die Krankheiten mit chronischen Ausfallerscheinungen wie Krebs, Herzerkrankungen, Hirnschlag, Arthritis und Demenz.

 

Heute, keine anderthalb Jahrzehnte später, ist der angestrebte Triumph der Medizin über Infektionskrank­heiten zur Illusion geworden, während die Mikroben immer neue Siege davontragen. Seit den achtziger Jahren bedrohen zwei neue Gefahren Gesundheit und Leben vieler Menschen: medikamenten­resistente Bakterienstämme und Aids. Mit beiden Problemen wird sich die Menschheit noch lange herumschlagen müssen. Dr. Gerald Friedland, der Leiter der Aids-Abteilung in Yale und eine internationale Autorität, gibt eine düstere Prognose: »Aids wird uns bis ans Ende der Menschheit nicht verlassen.«

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Auch wenn einige Aids-Aktivisten protestieren werden, darf man dennoch sagen, daß das Wissen über die Übertragungswege und die Entwicklung der Krankheit und der Fortschritt in der Bekämpfung des tückischen Virus alles in allem erstaunlich sind. »Erstaunlich« ist auch das Wort, das ein Experte benutzte, um den Stand der Forschung im siebten Jahr der Seuche zu beschreiben. Lewis Thomas, der sich unter anderem als Pionier der Immunologie hervorgetan hat, sah sich 1988 veranlaßt, folgendes zu schreiben:

Ich habe die medizinische Forschung viele Jahre meines Lebens verfolgt, aber nie zuvor habe ich etwas gesehen, das sich mit dem Fortschritts­tempo in den Labors messen kann, die sich mit der Erforschung des Aidsvirus befassen. Wenn man bedenkt, daß die Krankheit erst vor sieben Jahren entdeckt wurde und daß ihr Erreger, das HIV, einer der komplexesten und verwirrendsten Organismen dieses Planeten ist, dann ist der bisher erreichte Kenntnisstand erstaunlich.

Thomas führt weiter aus, daß die Wissenschaftler selbst in diesem relativ frühen Stadium »schon mehr über die Eigenschaften des HIV, seine molekulare Struktur, sein Verhalten und seine Zielzellen wissen als bei jedem anderen Virus auf der Welt«.

Aber nicht nur in den Forschungslabors, auch im Bereich der Therapie zeigen sich ermutigende Fortschritte in der Bekämpfung der Krankheit. So leben Aidskranke heutzutage länger, die Phasen, in denen sie ohne Beschwerden sind, dehnen sich aus, und insgesamt ist ihre Lebensqualität gestiegen. Man weiß auch mehr über die weltweite Verbreitung des Virus.

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Die ersten Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge greifen, und allgemein steigt das Bewußtsein, daß soziale Einstellungen und individuelles Verhalten sich ändern müssen, will man die Seuche wirklich unter Kontrolle bekommen. 

Ein großer Teil des Fortschritts wäre ohne die vereinten Anstrengungen von Universitäten, staatlichen Stellen und der pharma­zeutischen Industrie nicht möglich gewesen. Eine solche Allianz ist ein Novum in der amerikanischen Medizin, und daß sie überhaupt zustande kommen konnte, geht auf das Engagement der vielen Aids-Initiativen zurück, zunächst fast ausschließlich der Gruppen innerhalb der amerikanischen Homosexuellengemeinde. 

Daß Patienten über eine Lobby verfügen, die zunehmend Druck auf die medizinische Forschung ausübt, ist ebenfalls neu. Dieses Engagement hat zusammen mit den Forderungen der Ärzteschaft dazu geführt, daß nunmehr rund 10 Prozent des neun Milliarden Dollar schweren Budgets der <National Institutes of Health> (NIH) für die Erforschung des Aidsvirus verwandt werden. Die <Food and Drug Administration>, die amerikanische Gesundheitsbehörde, die für die Zulassung neuer Medikamente zuständig ist, steht unter dem starken Druck der Pressure-groups, die sehr strengen Maßstäbe zu lockern, die für Arzneimittel im Stadium der Erprobung in den Vereinigten Staaten gelten. Dies hatte zweifellos sein Gutes, denn nun können Wirkstoffe, deren therapeutischer Wert unter Laborbedingungen nachgewiesen ist, eine eingeschränkte Zulassung erhalten. Allerdings dürfen auch in Seuchenzeiten die Gefahren einer Lockerung der bewährten Sicherheitsmaßstäbe nicht übersehen werden.

Besonders eindrucksvoll waren die ersten Entdeckungen, die bereits kurz nach den alarmierenden Meldungen der <Centers of Disease Control> Schlag auf Schlag folgten.

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Nachdem mehrere Fälle von PcP bei nichthomosexuellen Drogensüchtigen bekanntgeworden waren, die sich die Drogen intravenös injizierten, tauchte die Vermutung auf, die neue Krankheit könnte auf ähnliche Weise wie die im Drogenmilieu sehr verbreitete Hepatitis B übertragen werden. Mit anderen Worten, der gesuchte Erreger könnte ein Virus sein. Diese Theorie wurde durch die Ergebnisse eines CDC-Berichts aus dem Jahr 1982 bestätigt, wonach neun Patienten einer ersten Gruppe von neunzehn Aidskranken aus dem Großraum Los Angeles sexuellen Kontakt mit demselben Mann hatten, und diese neun wiederum mit vierzig anderen Patienten in zehn verschiedenen Städten. Damit war die sexuelle Übertragung der Krankheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermittelt. 

Mitte 1984 wurde das HIV identifiziert und seine Rolle als Erreger von Aids beschrieben. Auch die Art und Weise, in der dieses Retrovirus das Immun­system angreift und entscheidend schwächt, war nun kein Geheimnis mehr. Gleichzeitig wurde das klinische Bild, das die Krankheit mit ihren Verheerungen bot, vollständig beschrieben und ein Bluttest zum Nachweis einer HIV-Infektion entwickelt. Zu diesen Errungenschaften in Labor und Klinik gesellten sich die Untersuchungen von Epidemiologen und Vertretern der Gesundheitsbehörden, die den Bedingungen der Ausbreitung auf den Grund gegangen waren.

Anfangs herrschten unter Wissenschaftlern erhebliche Zweifel, ob jemals ein Medikament gefunden würde, welches das Virus selbst unschädlich machen könnte. Was den Experten besonders Sorge machte, waren die Ergebnisse der neuesten Forschung, die einiges über die Eigenschaften des Mikroorganismus zutage gefördert hatten.

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Die Überlebensstrategie des Virus sieht nämlich so aus, daß es die Lymphozyten angreift und sich dann in deren genetisches Material (die DNS) einschreibt. Doch damit nicht genug, hat das HIV auch die Fähigkeit, sich in Zellen und Geweben einzunisten, in denen es geschützt und schwer zu finden ist. 

Außerdem täuscht es die körpereigene Abwehr mit einem verblüffenden Trick. Während eine Bakterie außen vor allem aus Kohlenhydraten besteht, steckt das Virus in einer Hülle aus Eiweiß und fettartigem Material. Die Abwehr wird leichter durch Eiweiß als durch Kohlenhydrate ausgelöst. Das HIV schützt nun aber seine Eiweißhülle mit einer Schicht aus Kohlenhydraten, mit anderen Worten, es ist ein Virus, das im Gewand einer Bakterie daherkommt. Dank dieser gelungenen Tarnung geht die Produktion von Antikörpern zurück. Als wäre das noch nicht genug, mutiert das HIV auch noch ausgiebig und kann sich in eine ganz neue Spielart mit anderen Eigenschaften verwandeln, sollte es der Immunantwort des Körpers oder einem antiviralen Medikament gelingen, die bisherigen Erkennungs­schwierigkeiten zu überwinden.

Angesichts dieser Schwierigkeiten und der Tatsache, daß das HIV die Hauptstütze der körpereigenen Abwehr angreift, indem es die Lymphozyten zerstört, die ihm als Wirt dienen, gab es Gründe genug, entmutigt zu sein. Um nicht alle Hoffnung fahren zu lassen, begannen Forscher, eine Reihe von Medikamenten auf die Fähigkeit zu testen, das eindringende Virus zu bekämpfen. So trickreich wie das Virus war, bestand wenig Aussicht, in kurzer Zeit einen Impfstoff zu entwickeln, der die körpereigene Abwehr mobilisierte. Daher gingen die Forscher bei der Aidsbekämpfung in gleicher Weise vor, wie sie es bei bakteriellen Infektionen bereits erfolgreich getan hatten.

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Sie suchten nach pharmazeutischen Wirkstoffen, die nach Art der Antibiotika funktionierten, also die eindringenden Mikroben abtöten oder an der Fort­pflanzung hindern, ohne auf die Mitwirkung des Immun­systems angewiesen zu sein. 

Einige der getesteten Wirkstoffe waren für ganz andere Zwecke entwickelt worden, zeigten nur sehr beschränkte Effektivität und verschwanden bald wieder in den Magazinen. Je mehr Wissen sich über die spezifischen Eigenschaften des Virus ansammelte (vor allem nachdem es 1984 gelungen war, das HIV im Labor zu züchten und für Experimente bereitzustellen), desto genauer konnte das Ziel der Suche nach neuen Wirkstoffen angesteuert werden. Bis Ende Frühjahr 1985 wurden am <National Cancer Institute> dreihundert Medikamente getestet, und bei fünfzehn von ihnen konnte nachgewiesen werden, daß sie die Fortpflanzung des Virus im Reagenzglas unterbanden.

Am meisten versprach man sich von einem Wirkstoff, der 1978 zuerst als Mittel gegen Krebs vorgestellt wurde und die chemische Bezeichnung Azidothymidin trug, abgekürzt AZT (auch der Name Zidovudin ist gängig). AZT wurde am 3. Juli 1984 zum erstenmal einem Aidspatienten verabreicht, und darauf folgten großangelegte klinische Tests in zwölf medizinischen Zentren der Vereinigten Staaten. Im September 1986 konnte dann als Ergebnis festgehalten werden, daß das Medikament die Zahl der opportunistischen Infektionen verringert und die Lebensqualität der Aidspatienten verbessert, solange sich das Virus dem Wirkstoff nicht durch Mutation entzieht. Mit AZT stand zum erstenmal ein Mittel zur Verfügung, das gegen Retroviren wirkt, eine Unterfamilie der Viren, zu denen auch das HIV gehört. Obwohl das Medikament teuer und potentiell giftig ist, wurde es bei der Behandlung Aidskranker bald zum Mittel der Wahl.

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Mit der Entdeckung von AZT als Mittel gegen das HIV bekam die Forschung neuen Auftrieb. Mittlerweile sind weitere Wirkstoffe gefunden worden; einer davon, Didanosin oder Didesoxyinosin (ddI), steht als Alternative zu AZT zur Verfügung.

Es gibt also Fortschritte in der Aidsbekämpfung. Der mikrobiologischen Forschung verdanken wir immer tiefere Einsichten in die Vorgänge im Innern der Zelle. Die Methoden zur Beobachtung und Vorbeugung von Infektionskrankheiten werden ständig verbessert. Die pathologischen Vorgänge, denen opportunistische Infektionen zugrunde liegen, verstehen wir heute besser als früher, und nicht zuletzt kommen neue Medikamente zur Bekämpfung der Viren in die klinische Erprobung. 

Nach welchem Mechanismus die vielen opportunistischen Infektionen den Körper eines Aidskranken zerstören, ist nicht leicht zu verstehen und zu erklären. Die HIV-Infizierten und die betreuenden Ärzte haben es mit einem solchen Knäuel von Problemen zu tun, daß man nur dankbar anerkennen kann, wieviel schon geleistet worden ist. Wenn ein Arzt meiner Generation mit einem Aids-Team aus Ärzten und Pflegepersonal auf Visite geht, kann er nur über das Fachwissen staunen, das diese Kliniker in solch kurzer Zeit angesammelt haben. 

Jeder Patient auf der Station leidet an mehreren Infektionen und manchmal noch an ein oder zwei Krebserkrankungen; jeder erhält zehn oder mehr Medikamente, ohne daß sich die positiven oder negativen Reaktionen des Körpers mit Sicherheit abschätzen ließen. Ismael Garcia wurde zuletzt mit vierzehn Medikamenten behandelt. Täglich, manchmal sogar noch häufiger, muß über die Therapie eines Aidskranken neu entschieden werden. Die relativ kleine Aidsstation meines Krankenhauses hat vierzig Betten, die immer belegt sind.

Doch ein Arzt hat nicht nur mit klinischen Problemen zu kämpfen, er muß auch den besorgten Angehörigen des Kranken, die im Nebenzimmer warten, Rede und Antwort stehen oder tröstende Worte für sie finden. Seine größte Aufmerksamkeit gilt freilich denen von uns, die in die Fänge der tückischen Krankheit gefallen sind. Im Endstadium ist ihr ausgemergelter Körper anämisch, fiebrig und geschwollen. Aus bangen Augen schauen sie den Arzt an und hoffen stumm auf eine Erlösung von ihren Qualen, die allzuoft nur der Tod bringen kann. 

Mögen viele Kranke auch bewundernswerte Geduld in ihrem Leid und große moralische Kraft angesichts des sicheren Todes zeigen — die Unerbittlichkeit, mit der die Krankheit sie dahinrafft, ist jedesmal aufs neue niederschmetternd.

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  Nuland 1993