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   9  Das Leben eines Virus und der Tod eines Menschen  

 

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Viele rasch aufeinanderfolgende Entdeckungen auf dem Gebiet der Molekularbiologie haben Licht in den Lebenszyklus der Viren gebracht. Nun ist es möglich, die schwachen Stellen dieser Mikro­organismen auszumachen und sie dort anzugreifen. Für sich betrachtet, ist ein Virus nicht mehr als ein Partikel genetischen Materials in einer Hülle aus Eiweiß und fettartigen Bestandteilen. Viren sind die kleinsten Lebewesen überhaupt, und sie enthalten nur wenig genetische Information. Als Parasiten können sie nur innerhalb einer fremden Zelle leben. 

Da sie sich nicht wie etwa Bakterien selber vermehren können (Wissen­schaftler sprechen bei Viren meist von »replizieren«, da Viren sich durch identische Verdopplung vermehren), dringen sie in eine Zelle ein und übernehmen den genetischen Mechanismus der Wirtszelle. Das Immun­schwächevirus benutzt hierzu ein Verfahren, bei dem die Übertragung der genetischen Information in umgekehrter Richtung wie sonst üblich verläuft. Deshalb wird es Retrovirus genannt. 

Das genetische Material der Zellen besteht aus Molekülketten der Desoxyribonukleinsäure (DNS); die DNS ist die Trägerin der Erbinformation. In normalen Körperzellen wird die Erbinformation der DNS in eine andere Molekülkette, die sogenannte Ribonukleinsäure (RNS), übersetzt. Die RNS reguliert die Bildung von neuem Eiweiß in der Zelle. Bei Retroviren hingegen enthält die RNS die genetische Information. Außerdem verfügen diese Viren über ein Enzym, die reverse Transkriptase. Dringt das Virus in eine Wirtszelle ein, wird die RNS des Virus zunächst durch die reverse Transkriptase in DNS umgeschrieben, die dann wieder in üblicher Weise in Eiweiße übersetzt wird. 

Was geschieht, wenn ein Lymphozyt von einem Immunschwächevirus infiziert wird, kann vereinfacht folgendermaßen dargestellt werden: Das Virus heftet sich an einen sogenannten CD-Rezeptor, eine Bindestelle an der Eiweißhülle der Zelle; es wirft die eigene Hülle ab, sobald es in die Zelle gelangt; dort wird die Virus-RNS in DNS umgeschrieben. Die DNS wandert dann in den Zellkern des Lymphozyts und gliedert sich in die DNS der Zelle ein. Der Lymphozyt bleibt für den Rest seines Lebenszyklus mit dem Virus infiziert, und dasselbe gilt für alle seine Nachfolger.

Immer wenn sich eine infizierte Zelle teilt, verdoppelt sich auch die Virus-DNS zusammen mit den Genen der Zelle und bleibt als latente Infektion vorhanden. Aus noch unbekannten Gründen löst die Virus-DNS zu einem bestimmten Zeitpunkt die Bildung neuer Virus-RNS und neuer Virusproteine aus. So entstehen wieder neue Viren. Sie bilden Knospen an der Zellmembran des Lymphozyts, lösen sich ab und befallen andere Zellen. Läuft dieser Prozeß sehr schnell ab, kann der Wirtslymphozyt zerstört werden, wenn die Viruspartikel aus der Membran ausbrechen.

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Wirtslymphozyten können auch durch ein anderes Verfahren zerstört werden. Dabei machen sich die neu knospenden Viren ihre Fähigkeit zunutze, an noch nicht infizierte T-Lymphozyten anzubinden, was zur Folge hat, daß sich viele Zellen zu sogenannten Synzytien verklumpen. Da diese Riesenzellen für die körpereigene Abwehr funktionslos werden, ist die Verschmelzung vieler T-Lymphozyten ein sehr effizientes Verfahren, mit einem Schlag viele dieser Zellen außer Gefecht zu setzen.

Wie schon oben gesagt, spielen die T-Lymphozyten, vom Thymus abhängige weiße Blutkörperchen, in der Immunabwehr eine wichtige Rolle. Besonders eine Unterart, die CD-Zellen, auch Helferzellen genannt, ist ein tragender Pfeiler der gesamten körpereigenen Abwehr. Gerade auf diese Zellen hat es das Immun­schwäche­virus besonders abgesehen. Es kann sie zu seiner Vermehrung nutzen, für lange Perioden in ihnen ruhen, sie zerstören oder sie funktionslos machen. Der zahlenmäßige Schwund von CD4-Zellen, der mit der Zeit immer größer wird, ist die' Hauptursache dafür, daß der Körper des Aidskranken keine Immunantwort auf die vielen Infektionen bilden kann, die in Form von Bakterien, Pilzen und anderen Mikroben in ihn eindringen. 

Das Immunschwächevirus greift noch eine andere Art weißer Blutkörperchen an, die Monozyten, von denen rund vierzig Prozent einen CD4-Rezeptor in ihrer Zellmembran haben und daher das Virus anbinden können. Einen weiteren Unterschlupf bieten die Makrophagen, Zellen, die Bakterien, Viren und Fremdkörper aufnehmen und nach einer HIV-Infektion auch das Immunschwächevirus enthalten können. Anders als die CD4-Zellen werden Makrophagen und Monozyten nicht durch das Immunschwächevirus zerstört, vielmehr scheinen sie dafür bestimmt zu sein, dem Virus als Unterschlupf zu dienen, in dem es über lange Perioden »stumm« überleben kann.

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Dies ist nur eine skizzenhafte Darstellung der Verfahren, mit denen das Immunschwächevirus die Abwehrkräfte des Körpers überlistet und schrittweise lahmlegt. Auch sehr vorsichtige Epidemiologen schätzen, daß es im Jahr 2000 weltweit zwischen 20 und 40 Millionen Menschen mit der Diagnose »HIV-positiv« geben wird, Menschen, die infiziert sind oder bereits an der Krankheit leiden. In den Vereinigten Staaten kommen jährlich 80.000 Infizierte hinzu, und eine ähnliche Anzahl stirbt im gleichen Zeitraum.

Nach dem aktuellen Stand der Forschung gibt es für Aids nur drei Übertragungswege: Geschlechtsverkehr, Blutaustausch (durch gemeinsamen Nadel­gebrauch bei Drogenabhängigen oder durch Transfusionen mit infiziertem Blut) und die Übertragung von der infizierten Mutter auf das Kind (während der Schwanger­schaft, bei der Niederkunft oder nach der Geburt durch die Muttermilch). 

Das Immun­schwäche­virus konnte mit Labormethoden in Blut, Sperma, Vaginalsekret, Speichel, Muttermilch, Tränen, Urin und Rückenmarks­flüssigkeit nachgewiesen werden, aber in der zur Infizierung nötigen Konzentration wurde es nur in Blut, Sperma und Muttermilch gefunden. Seit 1985 sind die Blutkonserven so gründlich auf etwaige Verseuchung geprüft worden, daß die Gefahr, bei einer Transfusion mit dem Immun­schwächevirus angesteckt zu werden, extrem niedrig ist. In den Vereinigten Staaten und den meisten hochentwickelten Ländern ist die große Mehrzahl der Personen, die sich auf sexuellem Weg infiziert haben, homo- oder bisexuell, in Afrika und auf Haiti dagegen sind die Mehrheit der Infizierten heterosexuell.

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Zwar bleibt im Westen die Zahl der Fälle von heterosexueller Übertragung relativ niedrig, aber sie steigt wie die Zahl der infizierten Säuglinge allmählich an. In den Vereinigten Staaten stellen Drogenabhängige, die sich die Droge intravenös spritzen, jährlich ein Drittel der Neuinfizierten. Ein zweites Drittel bilden homosexuelle Männer. Das restliche Drittel, überwiegend schwarze und lateinamerikanische Frauen, infiziert sich auf heterosexuellem Weg. Der hohe Frauenanteil dieses letzten Drittels erklärt, weshalb in den Vereinigten Staaten jährlich zweitausend aidsinfizierte Babies geboren werden.

Aids ist keine hochgradig infektiöse Krankheit. Das HIV ist ein sehr empfindliches Virus, deshalb kann man sich nicht leicht damit anstecken. Ein einfaches Bleichmittel, wie es im Haushalt verwendet wird, tötet das Virus in der Verdünnung 1:10 zuverlässig ab, ebenso Alkohol, Wasserstoffperoxid und Lysol. Virushaltige Flüssigkeit, auf einer Tischplatte ausgegossen und nach zwanzig Minuten angetrocknet, ist nicht mehr infektiös. Auch die vier Schreck­gespenster, die ängstliche Zeitgenossen geflissentlich meiden, nämlich Insekten, Toilettenbrillen, Eßbestecke und Küsse, braucht man nicht zu fürchten. Zwar gibt es sicherlich Fälle, in denen die Krankheit bei nur einem Sexualkontakt übertragen wurde, doch gewöhnlich sind zur Infektion eine hohe Viruskonzentration oder wiederholte Kontakte nötig. 

In den Vereinigten Staaten ist das Risiko, sich bei einem episodischen heterosexuellen Kontakt anzustecken, zwar vorhanden, aber sehr gering. 

Die Hürden, die vor einer Infektion erst überwunden werden müssen, mögen auf den ersten Blick beruhigend wirken, doch das Gefühl der Sicherheit schwindet sofort wieder angesichts der Tatsache, daß jeder, der sich einmal infiziert hat, mit hoher Wahrschein­lich­keit an Aids sterben wird. 

Das allein rechtfertigt die Vorsichts­maßnahmen, zu denen uns die Vertreter der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ermahnen. 

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Das Virus gibt sich meist schon früh nach der Infektion zu erkennen. Binnen eines Monats vermehrt es sich durch identische Doppelung so rasch, daß es in hoher Konzentration im Blut vorhanden ist; die hohe Konzentration hält zwei bis vier Wochen an. Die meisten Infizierten zeigen keine Symptome, bei anderen treten leichtes Fieber, Drüsenschwellungen, Muskelschmerzen, Hautausschlag und manchmal Kopfschmerzen auf. Da diese Symptome aber nicht spezifisch sind und sich die Infizierten allgemein geschwächt fühlen, werden sie oft fälschlich einer Grippe oder dem Pfeifferschen Drüsenfieber zugeschrieben. Nach dieser ersten Phase tauchen die ersten Antikörper gegen das Immunschwächevirus im Blut auf. Mit einem HIV-Antikörpertest können sie nachgewiesen werden, und wenn dies der Fall ist, ist der Patient HIV-positiv oder aidsinfiziert. Auch nach dem Ende der ersten Symptomphase vermehrt sich das Virus weiter. 

Vieles spricht dafür, daß die ersten grippeähnlichen Symptome auf die Immunantwort zurückgehen, die die körpereigene Abwehr gibt, wenn die sich rasch vermehrenden Viren in hoher Konzentration auftreten. Anfangs ist die Abwehr noch erfolgreich, und die Zahl der Viruspartikel im Blut sinkt rapide. Wahrscheinlich ziehen sich die verbliebenen Mikroben in die CD4-Zellen und die Lymphknoten, ins Knochenmark, ins Rückenmark und in die Milz zurück, wo sie jahrelang ruhen oder sich so langsam vermehren, daß die Konzentration im Blut niedrig bleibt. Nur 2 bis 4 Prozent der CD4-Zellen des Körpers sind im Blut vorhanden. Die CD4-Zellen in den Lymphknoten, im Knochen- und Rückenmark und in der Milz werden während der langen Latenzphase vermutlich allmählich zerstört, doch diese Zerstörung wird erst zum Schluß im Blut offensichtlich, wenn die Zahl der CD4-Zellen, die bisher konstant war, plötzlich dramatisch fällt.

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In der Folge kommt es dann zu den vielen Sekundärinfektionen, die für Aids so charakteristisch sind. Zu diesem Zeitpunkt steigt die Viruskonzentration im Blut wieder. Warum die Latenzphase so lange dauert, ist unbekannt, aber die Vermutung liegt nahe, daß die körpereigene Abwehr die Infektion auf die eine oder andere Weise dämpft, zumindest soweit sie auf das Blut beschränkt ist. Ist das Immunsystem erst weitgehend zerstört, nimmt die Zahl der Viren, die sich frei im Blut bewegen oder die in die Lymphozyten eindringen, wieder beträchtlich zu.

Diese Vorgänge können als Erklärung dafür dienen, warum viele Aidsinfizierte innerhalb der ersten, zwei bis vier Wochen dauernden Symptomphase an Schwellungen der Lymphdrüsen am Hals und in den Achselhöhlen leiden, die nicht mehr zurückgehen. Danach haben die Infizierten drei bis fünf, manchmal sogar zehn Jahre keine Beschwerden. Nach der Latenzphase stellt sich bei einem Bluttest gewöhnlich heraus, daß die Zahl der CD4-Zellen beträchtlich gefallen ist, von normalerweise 800 bis 1200 auf weniger als 400 pro Kubikmillimeter. Das heißt, daß 80 bis 90 Prozent dieser Lymphozyten zerstört wurden. Etwa achtzehn Monate später zeigt ein Allergietest, daß das Immunsystem erste Schwächen zeigt. Die Zahl der CD4-Zellen fällt weiter, obwohl Patienten in diesem Stadium nicht unbedingt klinische Symptome zeigen. Unterdessen steigt die Viruskonzentration im Blut an, und die geschwollenen Lymphknoten werden langsam zerstört.

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Fällt die Zahl der CD4-Zellen unter die Grenze von 300 pro Kubikmillimeter, stellen sich bei den meisten Patienten Pilzinfektionen ein. Der sogenannte Soor besteht aus weißen Flecken, die die Zunge und die ganze Mundhöhle belegen können. Der gleiche Pilz kann auch eine Vaginalinfektion verursachen. Außerdem kann sich Herpes um Mund, After und Geschlechtsorgane ausbreiten. Ein typischer Befund ist orale haarförmige Leukoplakie (von Griechisch leukos, »weiß« und plakoeisy »flach«), schwielenartige weiße Flecken, die gehäuft an Zungenrand und Wangenschleimhaut auftreten. Diese Symptome sind Folge eines vom Virus ausgelösten Anschwellens der oberen Hautschichten.

Ein oder zwei Jahre nach diesen ersten charakteristischen Beschwerden werden viele Patienten Opfer opportunistischer Infektionen, bei denen nicht nur die Haut und die Körperöffnungen befallen werden. Zu diesem Zeitpunkt liegt die Zahl der CD4-Zellen im allgemeinen weit unter 200, und sie fällt weiter. Das ganze Immunschwächesyndrom wird jetzt offenbar, wenn Krankheiten auftreten, die von ansonsten unschädlichen Mikroben ausgelöst werden. Nun ist das Stadium erreicht, in dem Aidspatienten ernstlich erkranken, wenn sie mit Mikroorganismen in Kontakt kommen, zu deren Abwehr ein intaktes Immunsystem nötig ist. Aidskranke sind für bekannte Krankheiten wie Tuberkulose und bakterielle Lungenentzündung anfällig, aber sie werden auch von verschiedenen ungewöhnlichen Krankheiten befallen, verursacht durch eine Vielfalt von Erregern wie Parasiten, Pilzen, Viren und auch Bakterien.

Vor dem Auftreten von Aids hatten die Ärzte mit diesen Krankheiten nur selten zu tun. Für einige dieser Mikroorganismen standen vor den späten achtziger Jahren keine wirksamen Mittel bereit. Erst dann gelang es der Wissenschaft dank vereinter Forschungsanstrengungen von Universitäten und pharma­zeutischer Industrie, eine Gruppe von Medikamenten zu entwickeln, die ganz verschieden erfolgreich waren.

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Die neuen pharmazeutischen Wirkstoffe können die aggressiven Formen der Krankheit dämpfen oder ihr Auftreten verzögern. Dennoch werden Infektionen in neuem Gewand den Körper wieder befallen. Die eine oder andere Schlacht mag im Verlauf der Krankheit gewonnen oder durch prophylaktische Gabe bestimmter Medikamente von vornherein abgewendet werden, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der Ausgang des Kampfes von Anfang an feststeht. Vor den immer neu anstürmenden Mikroben muß der immungeschwächte Körper schließlich kapitulieren.

Obwohl Aidspatienten einer Vielzahl möglicher pathologischer Prozesse zum Opfer fallen können, werden die meisten Todesfälle nur durch eine relativ kleine Gruppe von Mikroben verursacht. An vorderster Stelle steht Pneumocystis carinii, beim weltweiten Ausbruch der Seuche als erster Erreger identifiziert. Mittlerweile gehen die Zahlen der Opfer zurück, weil heute prophylaktisch Medikamente gegen diesen Erreger gegeben werden, doch vor noch gar nicht langer Zeit hatten mehr als 80 Prozent aller Patienten eine PcP, und viele starben daran, sei es an zunehmender Atemnot oder an Komplikationen, die im Zusammenhang mit PcP auftraten. Als es noch keine wirksamen Medikamente gab, erlagen je nach Schwere der Erkrankung zwischen 10 und 50 Prozent bereits der ersten Attacke. Auch heute noch ist die Mikrobe an etwa der Hälfte aller Todesfälle von Aidskranken ursächlich beteiligt, allerdings sinkt der prozentuale Anteil weiter.

Die Symptome von PcP gleichen im wesentlichen denen, die Ismael Garcia spürte, als er zunehmend an Atembeschwerden litt und schließlich ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Manchmal findet sich die Mikrobe auch in anderen Organen als der Lunge. Bei Patienten, die an der Infektion starben, zeigte die Obduktion, daß fast alle wichtigen Organe befallen waren, vor allem aber Gehirn, Herz und Nieren.

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Die Opfer von PcP ersticken wie Patienten mit anderen Formen von Lungenentzündung, weil die infizierte Lunge den lebensnotwendigen Gasaustausch nicht mehr leistet. Je weiter sich die Infektion in der Lunge ausbreitet, desto mehr Lungenbläschen werden zerstört. Schließlich ist ein Punkt erreicht, an dem der Sauerstoffgehalt des arteriellen Bluts nicht weiter erhöht werden kann, obwohl künstlich beatmet wird. Mangelnde Sauerstoffzufuhr und die Zunahme von Kohlendioxid schädigen das Gehirn und bringen schließlich das Herz zum Stillstand. Die Gewebszerstörung kann solche Ausmaße annehmen, daß sich ähnlich wie bei Tuberkulose regelrechte Kavernen bilden.

Bei Aids wird an erster Stelle die Lunge befallen. 

Alle opportunistischen Infektionen, aber auch viele Tumoren entwickeln sich vorzugsweise in der Lunge. Tuberkulose, bakterielle Eiterherde, Zytomegalie und Toxoplasmose kommen am häufigsten vor. Von der Toxoplasmose abgesehen, befallen sie alle das Lungengewebe. Tuberkulose kommt bei Aidspatienten fünfhundertmal häufiger vor als in der übrigen Bevölkerung. Toxoplasmose war vor dem Auftreten von Aids eine so seltene Krankheit, daß ich mich kaum an sie erinnern konnte, als ich sie bei einem der ersten Aidspatienten feststellte. Heute, gut zehn Jahre später, gehört Toxoplasma gondii zu den Mikroben, die im Gefolge der HIV-Infektion am häufigsten auftreten. Der Erreger ist ein Einzeller, der sich hauptsächlich Vögel, Katzen und andere kleine Säugetiere als Wirt sucht. Auf Menschen wird er in Form sogenannter Oozysten übertragen, die sich in Katzenkot, rohem Fleisch, infizierten Nutztieren oder Rohmilch finden. 

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Der Erreger lebt »stumm« in 20 bis 70 Prozent aller Amerikaner, je nachdem, welchem sozialen Milieu und welchem Berufsstand sie angehören. Bei einem Aidspatienten kann er Fieber, Lungenentzündung, eine Vergrößerung von Leber oder Milz, Hautausschlag, Entzündungen der Hirnhaut (Meningitis) und des Gehirns selbst (Enzephalitis) auslösen. Manchmal greift er auch den Herzmuskel an. Sein Hauptangriffsziel bei Aids ist das zentrale Nervensystem; dadurch löst er Fieber, Kopfschmerzen, neurologische Ausfall­erscheinungen, Anfälle und Bewußtseinstrübungen aus, die von leichter Verwirrung bis zu tiefem Koma reichen können. Auf Computertomogrammen ähneln die infizierten Gehirnpartien so sehr Lymphomläsionen, daß eine Differentialdiagnose schwierig ist. Das war auch im Fall von Ismael Garcia der Grund, warum die Wahl der richtigen Therapie solche Probleme bereitete.

Nur ganz wenige Aidspatienten entgehen einer Schädigung des zentralen Nervensystems. Bei einigen wenigen Patienten stellen sich neurologische Störungen schon in der Frühphase der Ansteckung ein, teilweise sogar schon vor den eigentlichen Aids-Symptomen. Die Komplikationen treten jedoch im allgemeinen erst im Spätstadium auf und werden Aids-Demenz oder Aids-Demenz-Komplex genannt. 

Die Auswirkungen auf die geistigen Fähigkeiten, die motorische Koordination und das allgemeine Verhalten können verheerend sein, beginnen aber meist eher harmlos mit Konzentrations­störungen und Vergeßlichkeit. Nach einiger Zeit werden viele Kranke apathisch und ziehen sich auf sich selbst zurück, während eine kleinere Zahl über Kopfschmerzen klagt und Anfälle bekommt. Treten diese Störungen schon im Anfangsstadium der Infektion auf und verschwinden sie nicht bald wieder, dann verstärken sie sich in der Folgezeit allmählich. 

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Ebenso geht es den Patienten, die erst im Stadium des Vollbilds Aids diese Symptome zeigen. Ihre geistige Leistung sinkt ab, und sie haben motorische und Gleichgewichtsstörungen. Bei ausgeprägter Aids-Demenz sind die Patienten geistesschwach und hilflos und reagieren kaum auf ihre Umwelt. Sie können beidseitig gelähmt sein und an Tremor oder Konvulsionen leiden. Diese Komplikationen stellen sich völlig unabhängig von den Prozessen ein, die durch intrazerebrale Toxoplasmose, Lymphom des Gehirns oder andere opportunistische neurologische Störungen wie Meningitis nach Infektion mit dem Hefepilz Cryptococcus neoformans verursacht werden. Aids-Demenz soll auf das Virus selbst zurückgehen, aber die genaue Ursache ist noch unbekannt. Die Gehirnatrophie, die sich auf dem Computertomogramm und bei einer Biopsie zeigt, steht in keiner Beziehung zu anderen Faktoren. Neben Toxoplasmose ist dies die häufigste Form neurologischer Störungen bei Aidspatienten. Glücklicherweise tritt Aids-Demenz dank der günstigen Wirkung von AZT heute weniger häufig auf.

 

Zwei Verwandte des Tuberkulose-Erregers gehören zu den Mikroben, die sich am häufigsten im Körper von Aidskranken ausbreiten. Das <Mycobacterium avium> und das <Mycobacterium intracellulare> (MAI), üblicherweise zum Mycobacterium-avium-Komplex (MAK) zusammengefaßt, können bei rund der Hälfte aller Aidspatienten im Endstadium nachgewiesen werden. MAK verursacht Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust, Durchfall, Anämie, Gelbsucht, allgemeine Körperschwäche und Schmerzen. Zwar ist MAK selten allein die Todesursache, aber die mit ihm einhergehenden Erkrankungen schwächen den Körper so sehr, daß er gegen weitere Eindringlinge wehrlos wird.

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Das sind nur einige der zahlreichen Symptome von Aids. 

Man könnte die Liste der Erkrankungen, von denen die Patienten heimgesucht werden, noch lange fortsetzen, ohne damit ein vollständiges Bild aller Leiden zu geben. Einige Beispiele sind: Erblindung durch Netzhautentzündung nach Infektion mit CMV oder <Toxoplasma gondii>; anhaltender Durchfall, der ein halbes Dutzend Ursachen haben kann, von denen keine genau zu isolieren ist; Hirnhautentzündung oder bisweilen auch Lungenentzündung als Folge von Kryptokokkose; Soor, Schluckbeschwerden bei Candida-Mykose, manchmal auch mit Schleimabsonderungen an den befallenen Hautpartien; schmerzhafte Herpesgeschwüre am After; Histoplasmose mit Lungenerkrankung und anschließender Ausbreitung im Körper; Befall durch typische und atypische Bakterien, insgesamt wohl über zwei Dutzend Mikrobenarten mit Namen wie Aspergillus, Strongyloides, Cryptosporidium, Coccidioides, Nocardia. Alle diese Eindringlinge nutzen die Gelegenheit, sich in dem bereits geschwächten Körper auszubreiten. Ungefährlich bei Menschen mit intaktem Immunsystem, werden sie zur tödlichen Bedrohung für Aidskranke, deren körpereigene Abwehr zusammen­gebrochen ist. 

Aids befällt auf mannigfache Weise Herz, Leber, Pankreas und Magen-Darm-Trakt, darüber hinaus auch solche Gewebe, die im landläufigen Sinn nicht als Organe gelten wie Haut, Blut oder Knochen. Ausschläge, Entzündungen der Nasennebenhöhlen, Probleme mit der Blutgerinnung, Pankreatitis, Übelkeit und Erbrechen, Soor und Schleimabsonderungen, Sehstörungen, Schmerzen, gastrointestinale Geschwüre und Blutungen, Arthritis, Vaginalinfektionen, Halsweh, umschriebene Entzündungen des Knochenmarks, Infektionen des Herzmuskels und der -klappen, Leber- und Nierenabszesse und dergleichen mehr. Diese Krankheiten erschöpfen die Patienten nicht nur körperlich, die Leidgeplagten fühlen sich durch die Fülle immer neuer Infektionen oft auch gedemütigt und deprimiert.

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Die Funktion von Leber und Nieren ist oft herabgesetzt; am Herzen können sich Störungen am Klappen­mechan­ismus oder im Erregungsleitungssystem einstellen; auch der Verdauungstrakt bereitet den Patienten Beschwerden. Die Hormonproduktion der Nebennierenrinde und des Hypophysenvorderlappens geht teilweise zurück. Nimmt die bakterielle Infektion überhand, stellen sich die Symptome der Blutvergiftung ein. Währenddessen schwächen Unterernährung und Anämie den Körper weiter. Neben mangelhafter Nährstoffaufnahme sind oft noch große Eiweißverluste zu verzeichnen, eine Folge der Schädigung der Nieren, für die der Ausdruck Aids-assoziierte Nephropathie verwendet wird. Die Nephropathie kann innerhalb von drei bis vier Monaten in todbringende Urämie übergehen. 

Auch ohne direkte Infektion erweitert sich das Herz mancher Aidspatienten. In solchen Fällen kann es zum Herzversagen kommen, oder Herzrhythmus­störungen führen zum plötzlichen Tod. 

Nicht weniger gefährdet ist die Leber, da viele Patienten außer mit dem Aidsvirus auch mit dem Virus der Hepatitis B infiziert sind. Das CMV und MAI, sowie die Erreger der Tuberkulose und verschiedene Pilze befallen bevorzugt die Leber. Das Organ wird nicht nur durch die Krankheit belastet, sondern auch durch die zahlreichen Therapieversuche, denn die dabei eingesetzten Medikamente haben die verschiedensten toxischen Nebenwirkungen. Bei nur 15 Prozent aller obduzierten Aidsopfer war die Leber noch intakt.

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Der Magen-Darm-Trakt ist ein gewundener Schlauch, der den Krankheitserregern eines immunschwachen Körpers zahlreiche Gelegenheiten zum Angriff bietet. Die Qualen der Aidskranken im Endstadium haben die verschiedensten Ursachen, angefangen bei Herpes und den vielen Entzündungen und Infektionen am und im Mund über den Soorbefall der Speiseröhre bis zu den Problemen, die Inkontinenz am Anus auslöst.

Schließlich sind so viele Organe und Gewebe befallen, daß die Beschwerden den Patienten von der Nahrungsaufnahme bis zur Ausscheidung nicht loslassen. Besonders der unkontrollierbare wäßrige Durchfall bedrückt die Patienten und macht es obendrein schwierig, für ausreichende Hygiene im Bereich von Rektum und Anus zu sorgen. 

Viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie in dieser erniedrigenden Lage beim Sterben noch ein Rest von Würde gerettet werden kann. Und doch, mitten im Siechtum kommt es zu Augenblicken von Würde und Größe, in denen die deprimierende Wirklichkeit der Krankheit für eine Weile überwunden ist. Aus welchen verborgenen Quellen diese Kraft kommt, wissen wir nicht, doch daß sie zum Staunen Anlaß gibt, empfinden wir alle.

Ein intaktes Immunsystem wehrt nicht nur Infektionen ab, sondern verhindert auch Tumorwachstum. Fehlt eine wirksame Abwehr, liegt ein Milieu vor, in dem sich maligne Prozesse entfalten können. Das Immunschwächevirus hat vor allem eine bestimmte Krebsform begünstigt, die bis dahin höchst selten auftrat. Die Zahl der Neuerkrankungen mit Kaposi-Sarkom (KS) hat sich in den USA um den Faktor Tausend erhöht. Bei Aidspatienten ist es bei weitem der häufigste Tumor, und aus bisher noch unbekannten Gründen sind erheblich mehr Homosexuelle davon betroffen (40 bis 45 Prozent) als Drogenabhängige (zwischen 2 und 3 Prozent) oder Bluter (1 Prozent). Diese Zahlen geben nur das Vorkommen bei Patienten wieder, denen die Diagnose zu Lebzeiten gestellt wurde. Vergleicht man die Befunde von Obduktionen, dann steigt die Häufigkeit des KS um das Drei- bis Vierfache, wiederum vor allem bei homosexuellen Männern.

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Im Jahr 1872 beschrieb Moritz Kaposi, Professor für Dermatologie an der medizinischen Fakultät der Universität Wien, ein Phänomen, das er »idiopathisches multiples Pigmentsarkom« nannte. Dabei handelt es sich um schrotkorn- bis haselnußgroße, braunrot bis blaurot gefärbte Knoten, die zuerst an Händen und Füßen, später an den Extremitäten aufwärts bis zu Rumpf und Kopf auftreten. Im Verlauf der Krankheit vergrößern sich die Läsionen, eitern und breiten sich über die Blutbahn auf innere Organe aus. »Fieber, blutiger Stuhl, Bluthusten und Marasmus sind die Etappen der Krankheit, ehe schließlich der Tod eintritt. Der Sektionsbefund zeigt ähnliche Knoten in großer Zahl in Lunge, Leber, Milz, Herz und Darmtrakt.«

Der Ausdruck Sarkom geht auf das Griechische sarx, »Fleisch«, und oma, »Geschwulst«, zurück. Die Wucherungen gehen von den Zellen aus, die Stütz- und Bindegewebe, Muskeln und Knochen aufbauen. Trotz Kaposis Warnung, es bestehe keine Hoffnung, »daß durch die frühzeitige, wenn überhaupt ausführbare Exstirpation der anfänglichen Knoten der deletäre Verlauf hintangehalten werden könne«, haben Ärzte hundert Jahre lang die Gefährlichkeit dieser seltenen Geschwulst unterschätzt.

Die Entwicklung des KS galt als langsam; man sprach von »drei bis acht Jahren oder noch länger«. In Lehrbüchern wurde der Verlauf der Krankheit mit dem Wort »indolent« beschrieben, was soviel wie schmerzfrei bedeutet. Infolgedessen verkannte man die todbringende Natur der Krankheit, auch wenn manche Autoritäten die tödlichen Auswirkungen wie innere Blutungen sehr wohl beschrieben.

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Das Wort »indolent« erschien tatsächlich noch 1981 in Artikeln englischer und amerikanischer Fachzeit­schriften, die den Ausbruch des KS unter homo­sexuellen Männern beschrieben. Die Verfasser waren jedoch so beeindruckt von der Aggressivität der Krankheit, die bisher als indolent galt, daß sie sich in einem amerikanischen Artikel zu einem Hinweis an die Leser veranlaßt sahen, wonach auch »heftige Verläufe mit starken inneren Blutungen« bekannt seien. In der entsprechenden englischen Ausgabe hieß es, »die Hälfte der Patienten starb innerhalb von zwanzig Monaten nach Diagnosestellung«. Nunmehr stand fest, daß man es mit einer neuen Form des KS zu tun hatte, die gefährlicher war als alle bisher bekannten Ausprägungen. 

Bevor das KS im Bewußtsein der Ärzte fest mit dem Immunschwächevirus assoziiert war, kannte man es jahrzehntelang durch sein gleichzeitiges Auftreten mit den verschiedenen Spielarten des lymphatischen Krebses, des sogenannten Lymphoms. Heute sind KS und Lymphom, die nicht unbedingt gleichzeitig auftreten, die beiden Tumorarten, die am häufigsten Aidskranke befallen. Von der Grundbedingung der Immunschwäche abgesehen, ist die Beziehung zwischen den beiden Erkrankungen noch nicht geklärt. Das Aids-assoziierte Lymphom, das meist das zentrale Nervensystem, den Magen-Darm-Trakt, die Leber und das Knochenmark in Mitleidenschaft zieht, ist nicht weniger aggressiv als das KS. 

Anders als bei allen bisher bekannten Seuchen scheint das Aufgebot der tödlichen Waffen, über die Aids verfügt, keine Grenzen zu kennen. Ein Krebsschaden der Bauchspeicheldrüse etwa führt auf eine ganz bestimmte Weise zum Tod; bei Herz- oder Nierenversagen findet eine genau definierte Reihe von Ereignissen statt; ein Schlaganfall trifft eine ganz bestimmte Stelle im Gehirn und zeichnet für das Opfer den Weg in den Tod vor.

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Ganz anders bei Aids — hier bestehen offensichtlich unbegrenzte Möglichkeiten, wie ein Organsystem nach dem anderen von immer neuen Mikroben und bösartigen Tumoren befallen werden kann. Der einzig konstante Autopsiebefund ist eine ernste Schädigung des Lymphsystems als Teil des Immunsystems. Selbst die Ärzte sind am Seziertisch oft überrascht, wie viele Körperareale befallen und in welchem Ausmaß einzelne Gewebe zerstört sind.

Atemstillstand, Blutvergiftung, Zerstörung von Hirngewebe durch Tumor oder Infektion, das sind die üblichen unmittelbaren Todesursachen. Manche Patienten sterben an Blutungen im Gehirn, in der Lunge oder auch im Magen-Darm-Trakt, andere erliegen einer fortgeschrittenen Tuberkulose oder einem Sarkom. Organe versagen, Gewebe bluten, Infektionen breiten sich im Körper aus. In jedem Fall kommt es zu Unterernährung. Welche Mittel man auch aufbieten mag, am Ende kann der Hungertod nicht abgewendet werden. Auf einer Station für Aidskranke im Endstadium sieht man nur ausgemergelte Gestalten mit gespenstischem Blick aus tiefen Augenhöhlen. Das Gesicht ist oft ausdruckslos, der Körper zusammen­geschrumpft und welk als Folge vorzeitigen Alterns. Viele Patienten haben allen Lebensmut verloren. Das Virus, das ihnen die Jugend geraubt hat, nimmt ihnen schließlich noch den letzten Rest Leben. 

Pathologen unterscheiden bei der Angabe der Todesursache zwischen der mittelbaren und der unmittel­baren Ursache für den Eintritt des Todes. Für den Tod all dieser jungen Menschen ist Aids mittelbar verantwortlich, während die unmittelbare Todesursache ein beliebiger pathologischer Prozeß sein kann. Das Ausmaß des Leidens ist für alle gleich, die Todesart kann verschieden sein.

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In diesem Zusammenhang ist die Meinung Dr. Peter Selwyns, Professor in Yale, von Bedeutung. Selwyn hat sich in beispielloser Weise für die Therapie und Pflege von Aidspatienten eingesetzt und mit seinem Engagement viele Ärzte und Studenten an unserer medizinischen Fakultät beeindruckt. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil er mit seinen Forschungsbeiträgen das Verständnis von Aids vertieft hat, ist er ein Mann, der mit seinem Urteil zurückhaltend ist und weitreichende Konzepte in knappe Worte faßt. Er sagt nur: »Meine Patienten sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist.«

Auf den ersten Blick scheint dies eine befremdend schlichte Behauptung zu sein, wenn man an die komplexen Zusammenhänge denkt, die von molekular-biologischen Fragen bis zur Durchführung der Pflege reichen. Und dennoch leuchtet seine Aussage ein. Am Ende, sagt Selwyn, funktioniert so vieles nicht mehr, wie es eigentlich sollte, daß der Zeitpunkt kommt, wo dem Kranken die Lebenskraft einfach ausgeht. Wenn der Kranke an Blutvergiftung, Organversagen und Unterernährung leidet, verlassen ihn die Lebensgeister, und der Tod ist unabwendbar. 

Selwyn weiß, was er sagt, denn er hat es oft genug beobachtet.

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Zwischen mir und dem Krankenhaus liegen einige hundert Kilometer. Es ist einer jener unerwartet schönen Nachmittage im Herbst. Unter dem makellosen Blau des Himmels ist alles genau so, wie es sein sollte, aber fast nie ist. Der Sommer war verregnet, doch vielleicht zeigen sich gerade deshalb die Hügel um die Farm meines Freundes John Seidman in einer Farbenpracht, die mir, dem Stadtbewohner, ungläubiges Staunen entlockt.

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Die Natur meint es gut mit uns, ohne daß sie es weiß, wie sie andererseits auch grausam sein kann, ohne daß sie es weiß. Man glaubt, eine so herrliche Stunde komme nie wieder. Während ich noch das Herbstlicht bewundere, spüre ich, daß ich diesen Tag vermissen werde. Ich will mir unbedingt jeden Baum einprägen, denn ich weiß, daß die strahlenden Herbstfarben nicht wiederkehren und schon morgen schwächer sein werden. Wem etwas Schönes und Gutes zuteil wird, der sollte sich Gestalt und Farbe merken und auch die wohltuende Wirkung solcher Erlebnisse nicht vergessen. 

Ich sitze in der sonnigen Küche des über hundert Jahre alten Farmhauses meines Freundes. Das Haus liegt in Hügel gebettet und umgeben von rund acht Hektar fruchtbaren Landes unweit der Stadt Lomontville im Norden des Bundesstaates New York. Zehn Jahre ist es her, daß hier in einem Schlafzimmer im ersten Stock Johns bester Freund David Rounds nach langer, schwerer Krankheit in seinen Armen starb. John und David waren mehr als gute Freunde, eine Liebe verband sie, der sie Dauer wünschten.

Doch der Krebs wollte es anders. 

David wurde John und uns allen, die wir ihn jeder auf seine Art gern hatten, weggenommen, und zwar zu einer Zeit, als beide meinten, in eine sichere und verheißungsvolle Zukunft zu blicken. Keine zwei Jahre zuvor hatte David am Broadway einen Tony Award für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle erhalten, und auch Johns Bühnenkarriere entwickelte sich vielversprechend. Dann zog für lange Zeit Trauer in das Farmhaus ein, ehe das Leben wieder zu seinem gewohnten Rhythmus fand. 

Ich kenne John Seidman nun schon fast zwanzig Jahre. Meine Frau Sarah hat mit ihm und David vor langer Zeit im gleichen Haus gewohnt. Er ist ein so enger Freund der Familie geworden, daß meine beiden jüngsten Kinder ihn Onkel nennen.

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Und dennoch gibt es weite Teile seines Lebens, über die er nie mit mir gesprochen hat und von denen ich so gut wie nichts weiß. An diesem strahlenden Herbstnachmittag mit all seiner flüchtigen Herrlichkeit sitzen wir beide zusammen und reden über den Tod — und über Aids.

Der Tod ist für John ein enger Vertrauter geworden. Es ist so, als sei der Verlust von David nur der Auftakt einer Zeit der Trauer gewesen, in deren Verlauf Freunde, Theaterkollegen und Bekannte krank wurden, dahinsiechten und schließlich starben. In den letzten zehn Jahren hat John in seinem Freundeskreis immer wieder den gleichen Zyklus miterleben müssen: positiver HIV-Test, Ausbruch der Krankheit, hingebungsvolle Krankenpflege, Sterbebegleitung und Tod. Mit seinen vierzig Jahren ist er Zeuge vieler Tragödien geworden. Wie ihm ging es vielen anderen, und nicht wenige sind mittlerweile selbst tot. 

 

Die jungen Männer und die wenigen jungen Frauen, die einander zum Grab begleitet haben, sind in den Jahren ihrer höchsten Produktivität dahin­gerafft worden. Vieles, was sie hätten schaffen können, ist nun für immer verloren. Die Talente und die Lebenskraft einer ganzen Generation haben unter der Seuche gelitten. 

 

Wir sprechen über Johns Freund Kent Griswold, der 1990 an Toxoplasmose und damit einhergehenden Komplikationen wie Zytomegalie, MAI und PcP gestorben ist. Ich frage John, ob bei einem solchen Tod überhaupt Platz für Würde ist. Kann etwas von dem sterbenden Leben gerettet werden, damit der Kranke nach so vielen Qualen in seiner letzten Stunde doch noch einen Sinn in allem erkennt? 

John denkt lange nach, ehe er antwortet. Nicht daß er sich die Frage noch nie gestellt hätte, aber er will sicher sein, daß ich ihn verstehe. Die Suche nach einer schwer faßbaren Würde - so meint er - sei für den Sterbenden selbst belanglos, denn er habe seinen Kampf hinter sich. Gegen Ende könnten seine Freunde an ihm oft keine Zeichen für Bewußtheit mehr erkennen. Würde sei etwas, das unter diesen Umständen nur die Überlebenden suchten, und nur in ihren Köpfen existiere sie, wenn überhaupt.

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Wir Hinterbliebenen suchen nach Würde, damit wir nicht schlecht von uns selbst denken müssen. Wenn die geliebte Person aus Schwäche und Hinfälligkeit ein bestimmtes Maß an Würde nicht wahren kann, springen wir ihr bei und zwingen ihr auf, was unseren Erwartungen entspricht. Es ist unser einziger möglicher Sieg über die Schrecken dieses Todes. 

Bei einer Krankheit wie Aids müssen wir erleben, wie ein Mensch allmählich seine Individualität und Einzigartigkeit verliert. Gegen Ende unterscheidet er sich nicht mehr vom letzten Kranken, den man diese Qualen hat durchleiden sehen. Es ist bedrückend, wie aus einem Individuum schließlich ein klinischer Fall wird. Inwieweit geht es beim »guten Tod« um den Sterbenden und inwieweit um die Menschen, die ihn begleiten? Beides ist miteinander verbunden, die Frage ist nur wie. 

Für mich hat die Vorstellung eines »guten Todes« in den meisten Fällen wenig mit dem Sterbenden zu tun. Ein »guter Tod« ist relativ, im Grunde läuft alles nur darauf hinaus, die Katastrophe zu begrenzen. Man kann kaum mehr tun, als den Sterbenskranken sauber und möglichst schmerzfrei zu halten und ihn nicht allein zu lassen. Selbst daß es so wichtig sein soll, in den letzten Stunden nicht allein zu sein, stellen wir uns vielleicht nur vor.

Rückblickend komme ich zu dem Schluß — und das mag schroff klingen —, daß der einzige Anhalt, den wir haben, um zu ermessen, ob wir dem anderen bei einem »guten Tod« geholfen haben, wohl das Gefühl der Reue ist. Haben wir alles getan, oder hätten wir doch noch mehr tun können? Wenn wir mit gutem Gewissen sagen können, daß wir nichts ungenutzt gelassen haben, dann haben wir unser Bestes gegeben. Doch auch dieses Urteil ist ganz subjektiv. Am Ende ist man in einer Situation, in der niemand glücklich sein kann. Man hat einen Menschen verloren, und was man dabei fühlt, hat mit »gut« nichts zu tun.

Wenn es etwas gibt, das eine unverbrüchliche Beziehung zwischen Menschen stiftet, dann ist es die Liebe. Wenn wir in der Stunde, die zum Tod führt, Liebe zeigen, dann, glaube ich, verhelfen wir dem anderen zu einem »guten Tod«, wenn so etwas überhaupt in unserer Macht steht. Aber das ist ganz subjektiv. 

 

Während der letzten Wochen im Krankenhaus war Kent nie allein. Welchen Beistand ihm seine Freunde geleistet haben, ob sie noch mehr hätten tun können oder nicht, allein schon ihre ständige Gegenwart war ihm eine Wohltat, die ihm Ärzte und Pfleger, so aufmerksam sie auch sein mochten, so nicht geben konnten. 

Jeder, der homosexuelle Aidspatienten beobachtet, ist beeindruckt von der Sorge, mit der ein Kreis von Freunden, die nicht unbedingt alle homosexuell sind, sich um den Kranken kümmern und ihm Ehefrau und Familie ersetzen. Dr. Alvin Novick, der sich als einer der ersten für die Aidskranken eingesetzt hat und hohes Ansehen genießt, hat diese gemeinsame hingebungsvolle Fürsorge als »Geborgenheit spendende Umgebung« bezeichnet. Es handelt sich um einen Akt der Nächstenliebe und noch etwas mehr. 

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John beschreibt es folgendermaßen:

An Aids erkranken oft Menschen - vor allem homosexuelle Männer - die sich aufgrund einer ganz bewußten Wahlverwandtschaft einen Freundeskreis, eine Art Familie aufgebaut haben. Wenn wir uns füreinander verantwortlich fühlen, dann nicht aus gewöhnlichen sozialen Bindungen heraus. Oft ist es gerade die traditionelle Familie, die uns ablehnt. Um so wichtiger wird für uns der auf Wahl­verwandtschaft beruhende Freundeskreis.

Viele Menschen glauben tatsächlich, daß uns Homosexuellen das passieren mußte. Sie sehen darin eine Heimsuchung, eine Strafe für unsere Abartigkeit. Deshalb haben wir ein gemeinsames Interesse, daß keiner von uns mit diesem gesellschaftlichen Verdikt allein gelassen wird. Wer an Selbsthaß leidet, dem mag die Ansicht, Aids sei eine Strafe, willkommen sein. Allerdings wissen auch anders­denkende Homosexuelle, daß diese Ansicht von vielen geteilt wird. Wenn wir unsere Freunde mit der Krankheit allein ließen, würden wir sie damit in gewisser Weise dem Urteil der selbstgerechten Welt überlassen.

Kents letzte Wochen, so berichtet John mir, glichen denen anderer Aidskranker und vieler anderer Menschen, deren nachlassende Lebenskraft langsam von der Krankheit aufgezehrt wird. Nach langen Monaten des Kampfes gegen Probleme aller Art schien er an einen Punkt gekommen zu sein, wo er nicht mehr wahrnahm, daß es mit jeder neuen Komplikation schwieriger wurde, den Gesamtorganismus unter Kontrolle zu halten.

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Zugleich hörte er auf, gegen die anbrandenden Infektionen zu kämpfen, als sei es ihm nun nicht mehr wichtig zu widerstehen. Vielleicht ging aber auch die Anstrengung, neue Krankheitsschübe geistig zu verarbeiten, einfach über seine mittlerweile sehr begrenzten Kräfte. Die Einzelheiten der letzten todbringenden Wendung gingen an ihm vorüber. 

Manche werden diese Gleichgültigkeit aus Erschöpfung vielleicht Zustimmung nennen, aber das Wort suggeriert, der Tod sei willkommen. Eher handelt es sich um das Eingeständnis der Niederlage, das unwillkürliche Anerkennen, daß nun die Zeit gekommen ist, die Waffen zu strecken. 

Die meisten Sterbenden, ob nun Aidskranke oder Patienten mit anderen todbringenden Krankheiten, scheinen nicht wahrzunehmen, daß sie das letzte Stadium erreicht haben. Einige wenige, deren geistige Fähigkeiten während der Krankheit intakt bleiben, fügen sich ganz bewußt ins Sterben, doch in den meisten Fällen wird den Kranken eine Entscheidung dadurch abgenommen, daß sie in einen Zustand eingetrübter Wahrnehmung oder gar ins Koma fallen. Ärzte wie William Osler und Lewis Thomas sahen in diesem Stadium des Sterbens nur Ruhe und Frieden. Doch in den meisten Fällen kommt dieser Frieden zu spät, um denen noch Trost zu sein, die am Sterbebett wachen.

Als Kent noch nicht so krank war, hatte ihn manchmal die Frage beunruhigt, wieviel Schmerz er wohl erdulden könne und wie qualvoll seine letzten Wochen sein würden. Er wollte zum entscheidenden Zeitpunkt in der Lage sein, selbst zu bestimmen, ob der Kampf weitergehen sollte. Keiner aus seiner Umgebung vermag zu sagen, ob dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist.

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Ein einflußreicher Freund hatte Kent ein gutausgestattetes Privatzimmer im Krankenhaus besorgt. In diesem großen Raum schien er mit jedem neuen Tag kleiner zu werden. Man mußte schon genau hinsehen, um ihn zu entdecken. Wie John es ausdrückte: »Er verschwand immer mehr unter den Laken.« Auch als es Kent noch besser ging, konnte er nicht ohne fremde Hilfe zur Toilette gehen; später war er die ganze Zeit bettlägrig. Er, der nie ein kräftiger Mann gewesen war, schien nun dahinzuschwinden. 

Als John mir Kents allmähliches Verschwinden beschrieb, fiel mir wieder ein, was Thomas Browne vor 350 Jahren über das Sterben seines Freundes gesagt hatte: »Am Ende war er nur noch halb so groß und ließ vieles zurück, was er nicht mitnehmen konnte.«

 

Die Toxoplasmose schritt bei Kent so weit voran, daß er sein Denkvermögen einbüßte und nicht mehr verstand, was um ihn herum vorging. Eine durch den Zytomegalievirus ausgelöste Entzündung der Netzhaut führte zur Erblindung des einen und dann des anderen Auges. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits so hinfällig, daß sein Gesicht keinen erkennbaren Ausdruck mehr zeigte. Ob es ein Lächeln oder eine Grimasse war, was ihm die Mundwinkel verzog, war nicht mehr eindeutig festzustellen. Der ganze Körper des Sterbenden hatte eine dunkle Farbe angenommen, besonders im Gesicht. 

Kent hatte schon früher gesagt, daß er keine aggressive Therapie wolle, wenn keine Aussicht auf Besserung seines Zustande bestehe. Seinem Willen gemäß setzten sich seine Freunde mit den Ärzten ins Benehmen, und gemeinsam bemühte man sich, die für jede neue Phase der Krankheit richtige Entscheidung zu finden. Doch bald gab es keine Entscheidung mehr zu treffen, weil medizinische Hilfe nicht mehr möglich war. Mit Peter Selwyns schlichten Worten: Kents Zeit war gekommen.

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Kent nahm Schmerzen und Leid immer weniger wahr. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun. »Unsere Aufgabe«, berichtet John, »bestand nur noch darin, ihm das Gefühl unserer Anwesenheit zu geben, zu ihm Verbindung zu halten, sofern er dergleichen überhaupt noch spürte. Vor allem aber wollten wir ihn nicht allein lassen.« Am Ende ging Kent ganz sanft hinüber. John kommt zum letzten Teil der Geschichte:

Ich war nicht in New York, als er starb, ich verbrachte ein paar Tage hier auf der Farm. Ich kam gerade vom Bus und hörte meinen Anrufbeantworter ab. Es war die Nachricht darauf, Kent sei gestorben. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war kaum zu erkennen gewesen, daß er noch lebte, auf jeden Fall war er nicht mehr der Kent, den wir früher gekannt haben. Zwar mußte mit seinem baldigen Tod gerechnet werden, aber trotzdem war ich verstört. Der Schock hatte wohl damit zu tun, daß ich die ganze Zeit vorher mit ihm verbracht hatte und jetzt von meinem Anrufbeantworter erfahren mußte, daß er tot war.

Kent starb im Beisein der Freunde, die ihm in den letzten zwei Jahren seines Lebens beigestanden hatten. 

Er gehörte nicht zu den Homosexuellen und Drogen­abhängigen, die von ihren Familien verstoßen werden. Er war Einzelkind, seine Eltern waren bei seiner Geburt schon im vorgerückten Alter, und sie waren Jahre vor ihm gestorben. 

Ohne die Erinnerung seiner Freunde wäre sein Tod und ebenso sein Leben bald vergessen gewesen.

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Was hier über die Fürsorge und Sterbebegleitung Aidskranker geschrieben wurde, soll keineswegs den Anschein erwecken, als sorgten traditionelle Familien sich nur selten um ihre sterbenden aidskranken Kinder oder Ehemänner oder Ehefrauen. Das Gegenteil ist der Fall. Gerald Friedland spricht von der Rückkehr der Eltern, vor allem der Mütter, zu ihren Kindern, von deren Leben und Freunden sie sich Jahre zuvor distanziert hatten. Dies trifft sowohl für Homosexuelle als auch für Drogenabhängige zu. 

Auch haben nicht alle Homosexuellen und nicht alle Drogenabhängigen mit ihren Familien gebrochen, daher ist es nicht ungewöhnlich, daß junge Aidskranke die letzten Monate im Familienkreis verbringen, zu dem sich mitsorgende Freunde oder ein Partner gesellen. Im allgemeinen können Angehörige des Mittelstands sehr viel leichter ihre Arbeitsstelle oder einen weitentfernten Wohnsitz verlassen als die Mitglieder einer Familie aus innerstädtischen Slums, für die ein Tag Abwesenheit von der Arbeit nicht nur weniger Lohn, sondern häufig auch den Verlust des Jobs bedeutet.

Ich habe von Müttern gehört, denen zur gleichen Zeit vier Kinder an Aids starben. Das Virus sorgt für Schicksale, die über alle Vorstellungskraft gehen. 

Am Sterbelager junger Menschen wachen Mütter und Ehefrauen, Gatten und Lebensgefährten, Schwestern, Brüder und Freunde, und alle tun ihr möglichstes, um dem Tod etwas von seinem Schrecken zu nehmen. Wie in alten Zeiten, wenn ein Kind im Sterben lag, lassen sich die leise murmelnden Stimmen der Eltern und Angehörigen vernehmen, manchmal kaum hörbar, wie es der Stille in der Nähe des Todes geziemt. Mit sanften Worten wird Mut zugesprochen, und es wird gebetet. Wie oft sind schon die Worte des biblischen Königs David wiederholt worden, als er über der Leiche seines erschlagenen Sohnes Absalom weinte, mit dem er sich zerstritten hatte:

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Mein Sohn Absalom, 
Mein Sohn, mein Sohn Absalom! 
Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! 
O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!

Gerald Friedland spricht von einer »Verkehrung des normalen Lebenszyklus«: Eltern tragen ihre Kinder zu Grabe. Ein Atavismus ist zurück­gekehrt, gerade als wir glaubten, die Wissenschaft habe solch verheerenden Seuchen ein für allemal ein Ende gesetzt. Das Virus treibt sein Unwesen, und die natürliche Ordnung ist auf den Kopf gestellt. Mit AZT, dem derzeit besten Medikament, das uns in der Therapie zur Verfügung steht, versuchen wir die reverse Transkriptase und damit den gesamten Prozeß, der den Lebenszyklus auf den Kopf stellt, zu stoppen. Die Therapie schlägt an, allerdings nicht so gut wie erwartet, und der Tod rafft weiterhin die Jungen und sehr Jungen dahin, während die Älteren nur dabeistehen und trauern können. 

Welche Würde und welchen Sinn wir einem solchen Tod abringen können, vermögen wenn überhaupt nur die Menschen zu sagen, die ihr Leben denen verschrieben haben, die es bald verlieren werden. Die vielen jungen Menschen, die in Pflegeberufen tätig sind und deren Einsatz den jungen Sterbenden gilt, wundern sich über soviel Uneigennützigkeit in einer Welt, die man ihnen als zynisch geschildert hat. Ihre eigene tägliche Arbeit straft die Zyniker Lügen. Was sie tun, verdient Respekt und Anerkennung, denn sie haben eigene Ängste überwunden, um sich in den Dienst der Aidspatienten zu stellen. Sie fällen kein moralisches Urteil, sie machen keinen Unterschied zwischen gesellschaftlichen Klassen, bestimmten Formen der Infektion oder der Zugehörigkeit zu dieser oder jener sogenannten Risikogruppe.

Camus hat es sehr gut gesagt: »Was für alle Übel in der Welt gilt, trifft auch auf die Pest zu. Sie hilft Menschen, über sich selbst hinaus­zuwachsen.«

Gerade wenn immer wieder von unwilligen Ärzten oder Chirurgen mit Aids-Phobie berichtet wird (einer Umfrage unter niedergelassenen Ärzten zufolge würden 20 Prozent es vorziehen, HIV-infizierte Patienten im gegebenen Fall nicht zu behandeln), ist es ermutigend zu wissen, daß Aidskranke so aufopferungs­voll von Freunden, Familienangehörigen, von Ärzten und Pflegern umsorgt werden. 

Junge Menschen, die Aidskranke pflegen, tragen die zusätzliche Bürde, daß sie sich in den Dienst von Sterbenden stellen, die erst so alt wie sie oder doch nur zehn Jahre älter sind. Diese Ungerechtigkeit der Natur empört uns wohl am meisten.

Das Aidsvirus raubt uns viele der Menschen, mit denen wir die Zukunft gestalten wollten. Von den vielen jungen Aidstoten kann mit Recht gesagt werden, was der Neurochirurg Harvey Cushing siebzig Jahre zuvor trauernd über seine im Ersten Weltkrieg gefallenen Kameraden geschrieben hat: »Sie sind doppelt tot, weil so jung gestorben.«

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 Nuland 1993