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   10. Die Bösartigkeit des Krebses   

 

 

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Es war einmal ein kleiner Schornsteinfeger, der hieß Tom. Das ist ein kurzer Name, und ihr habt ihn sicher schon gehört, ihr könnt ihn euch also gut merken. Tom lebte in einer großen Stadt im Norden, wo viele Schornsteine gefegt werden mußten. So konnte Tom viel Geld verdienen, und sein Meister konnte viel Geld ausgeben. 

Tom konnte weder schreiben noch lesen, aber das war ihm auch nicht wichtig. Er wusch sich nie, weil es in dem Haus, in dem er wohnte, kein Wasser gab. Das Beten hatte ihm niemand beigebracht. Er hatte noch nie etwas von Gott oder von Jesus Christus gehört, nur in Ausdrücken, die ihr noch nie gehört habt und die er besser nicht gehört hätte. 

Die Hälfte der Zeit weinte, die andere Hälfte lachte er. Er weinte, wenn er in die dunklen Schlote steigen mußte und sich die Knie und Ellenbogen wundscheuerte, wenn er Ruß in die Augen bekam, was an jedem Tag der Woche geschah, und wenn er nicht genug zu essen hatte, was ebenfalls täglich der Fall war.

So beginnt Charles Kingsleys 1863 erschienener Kinderbuchklassiker <Wasserkinder>. Der Held des Buches Tom ist ein sogenannter »Kletterjunge«, wie die englische Oberschicht es damals beschönigend nannte. Er brauchte für seinen Beruf weder besondere Fähigkeiten noch eine lange Ausbildung. Seine Leidens­genossen nahmen die Arbeit zumeist im zarten Alter zwischen vier und zehn Jahren auf. Sein Tagewerk begann so: »Nach ein oder zwei wimmernden Lauten und nach einem Tritt seines Meisters kroch Tom in die Esse und kletterte den Schlot hinauf.«

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Die damaligen Kamine hatten mit den senkrechten Abzügen späterer Kamine nur wenig gemein. Aber schon zu Kingsleys Zeiten, also Mitte des 19. Jahr­hunderts, waren sie weniger verwinkelt als 1775, als der britische Chirurg Percivall Pott sich mit den Risiken von Toms Berufszweig befaßte. Zu Potts Zeiten war das Innere eines Schlotes nicht nur unregelmäßig gekrümmt, sondern der Abzug verlief unangenehmer­weise auch über eine kurze Strecke in horizontaler Richtung, bevor er dann in den eigentlichen vertikalen Schlot einmündete. Aufgrund seines verwinkelten Verlaufs hatte der Abzug zahlreiche Kanten, Ritzen und ebene Oberflächen, an denen sich Ruß ablagerte. Ein Junge, der sich im Schlot nach oben arbeiten mußte, rieb sich zwangsläufig die Haut auf, besonders an den Gliedmaßen und an den Genitalien.

Daß auch der Intimbereich bei dieser schmutzigen Arbeit in Mitleidenschaft gezogen wurde, hängt damit zusammen, daß die kleinen Kletterer ihre Arbeit zumeist völlig nackt verrichteten und so mit dem Ruß überall in Kontakt kamen. Ihre Haut war ungeschützt, weil sie — zumindest aus der Sicht der Meister — keine Kleider tragen durften: Die Schlote hatten einen Durchmesser zwischen dreißig und sechzig Zentimetern. 

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Die Arbeit konnte also nur von schmächtigen Jungen verrichtet werden; eine dicke Schicht Kleider hätte sie stark behindert. Die Meister der Schornstein­feger schickten ihre kleinen Lehrbuben also allmorgendlich mit einem Tritt in den rußgeschwärzten nackten Hintern die engen stickigen Abzüge hinauf.

Die Lage der jungen Schornsteinfeger wurde durch ihre Lebensgewohnheiten noch verschlimmert. Als Angehörige der Unter­schicht der englischen Gesell­schaft hatten sie nie etwas von Körperpflege gehört. Viele hatten kein Elternhaus, und keine liebende Mutter hatte sie je angehalten, gelegentlich in eine Badewanne zu steigen. Viele waren Findelkinder. Die teerhaltigen Rußpartikel fraßen sich vor allem am Hodensack über Monate und Jahre in die Falten und Poren der Haut. Dies wurde vielen nach einem elenden Leben zum Verhängnis. 

 

Percivall Pott (1714-1788), der bedeutendste Londoner Chirurg seiner Zeit, kannte die erbärmliche Lebenssituation englischer Schornsteinfeger bestens. »Das Los dieser Menschen«, klagte er, 

»scheint besonders hart: In der frühen Kindheit werden sie meistens brutal mißhandelt, sie hungern und erfrieren fast. Man jagt sie enge und zuweilen heiße Kamine hinauf, in denen sie sich blaue Flecken holen, sich verbrennen und fast ersticken. Wenn sie in die Pubertät kommen, werden sie seltsam anfällig für eine ekelerregende, schmerzhafte tödliche Krankheit.« 

Pott prangerte diese skandalösen Zustände 1775 in einem längeren medizinischen Aufsatz an, der den Titel trug: <Chirurgische Beobachtungen zum grauen Star, zu Nasenpolypen, zum Krebs am Hodensack, zu verschiedenen Arten von Brüchen und zu Veränderungen der Zehen und Füße.> 

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Es handelt sich um die erste bekannte Beschreibung einer berufsbedingten Krebserkrankung. Zwar brauchte die Krankheit für ihre Entwicklung Jahre, doch bei manchen Patienten brach sie schon in der Pubertät aus. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wurde sogar der Fall eines Achtjährigen bekannt.

Was Pott beschrieb, war nichts anderes als die gefährliche Krebserkrankung, die heute als Schorn­stein­feger­krebs oder Carcinoma asbolicum bekannt ist. Auf den Hodensäcken seiner jungen Patienten zeigte sich 

»eine oberflächliche, schmerzhafte und ausgefranste böse Entzündung mit harten und erhöhten Rändern, von der Zunft auch Rußwarze genannt... Sie wandert den Samenleiter hinauf in den Unterleib ... Dort befällt sie einige Bauchorgane und entfaltet sehr rasch ihre schmerz­hafte und zerstörerische Wirkung.« 

Pott wußte nur zu gut, daß dieser Krebs des Hodensacks stets tödlich verlief, von den seltenen Fällen abgesehen, in denen die Wucherung früh erkannt und chirurgisch beseitigt wurde. Immer wieder hatte er junge Patienten durch eine Operation zu retten versucht. Vor Erfindung der Narkose bedeutete dies, daß die Patienten schreiend auf den Operationstisch geschnallt und von kräftigen Gehilfen festgehalten wurden, damit die Tortur des Eingriffs überhaupt durchgeführt werden konnte. Eine Operation kam allerdings nur bei Jungen in Frage, bei denen die Krebsgeschwulst noch lokal begrenzt war. 

Die Operation war auch seelisch grausam: Die unglücklichen Jungen oder Jugendlichen verloren einen Hoden und den halben Hodensack. Um Infektionen zu verhindern, drückte man auf die blutende Operationswunde ein glühendes Eisen. Von Versuchen, die Brandwunden anschließend zu vernähen, kam man ab, weil sich stets eitrige Entzündungen bildeten. So ließ man sie einfach offen, damit brandiges Gewebe abgestoßen wurde und die eitrige Flüssigkeit während der langen Monate der Heilung abfließen konnte.

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Die Ergebnisse rechtfertigten die körperlichen und seelischen Qualen nur selten. Die Nachunter­suchungen der Patienten entmutigten Pott:

»Obwohl die Wunden nach solchen Operationen bisweilen gut verheilten und die Patienten das Krankenhaus scheinbar wohlauf verlassen konnten, kamen sie im allge­meinen innerhalb weniger Monate mit dem gleichen Leiden am anderen Hoden oder in den Lymphdrüsen der Leistengegend wieder. Andere waren totenbleich und völlig entkräftet. Da sie unter starken Leibschmerzen litten, konnte man mit Sicherheit davon ausgehen, daß ein Bauchorgan befallen war. Dann folgte ein qualvoller Tod

Pott schildert den Krankheits­verlauf anschaulich, aber er untertreibt noch die Qualen, die seine unglücklichen Patienten bis zu ihrem Tod erleiden mußten. Wie Pott beobachtete, begann die Krankheit als abnorme lokale Wucherung, die sich unaufhaltsam ins umliegende Gewebe hineinfraß und brandige Geschwüre bildete. 

Er veröffentlichte seine Studie zu einer Zeit, in der die These, daß eine Krankheit durch Einwirkung von Fremdmaterialien ausgelöst werden könne, auf fruchtbaren Boden fiel. Erst kurz zuvor hatten namhafte medizinische Forscher den Gedanken formuliert, daß lebendes Gewebe zur Erfüllung seiner Funktionen einen äußeren Reiz, eine sogenannte »Irritation«, benötige. Vom Konzept der Irritation war es nur ein kleiner Schritt zur Vorstellung, daß Organe sich durch übermäßige Reizung entzünden und daran erkranken. Pott vertrat die Ansicht, der Krebs an den Genitalien von Schornsteinfegern rühre unmittelbar von einer Entzündung her, die durch die chemische Einwirkung des Rußes hervorgerufen werde.

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Heute warnen die Gesundheitsminister der westlichen Industrieländer auf jeder Zigarettenpackung vor den gefährlichen Folgen des Rauchens, und die meisten Menschen nehmen diese Warnung ernst. Daß Teerstoffe und Harze Krebs erregen können, wissen inzwischen alle gebildeten Menschen — und die meisten wissen auch, daß die krebserregende Wirkung dieser Stoffe auf einer dauernden Reizung des Körpergewebes beruht. Diese Einsicht mußte sich bei den Ärzten allerdings erst durchsetzen.  

Als Percivall Pott die Vermutung vorbrachte, der Schornsteinfegerkrebs werde durch die Einwirkung von Ruß hervorgerufen, stand die allgemeine Theorie von Reizung und Entzündung noch auf schwankendem Boden, und später wurde sie zum größten Teil sogar wieder verworfen. Auch die Schornsteinfeger, die ihre Berufskrankheit doch »Rußwarze« nannten, schienen bis dahin nicht auf die Idee gekommen zu sein, sich durch gelegentliches Waschen einen schlimmen Leidensweg zu ersparen. Sie nahmen die Krankheit als unvermeidliches Berufsrisiko hin.

Trotzdem fand Potts Hypothese, der Krebs der Schornsteinfeger werde durch die ständige Einwirkung von Ruß verursacht, in der Ärzteschaft auf Anhieb Zustimmung. Dies führte unmittelbar zu einem Beschluß des Parlaments, wonach Schornsteinfeger ihre Lehre nicht vor dem achten Lebensjahr beginnen durften; zudem mußte ihnen Gelegenheit gegeben werden, mindestens einmal in der Woche zu baden. 

1842 betrug das gesetzliche Mindestalter für Schorn­steinfeger schon einundzwanzig Jahre. Das Gesetz wurde allerdings häufig gebrochen, so daß die Arbeit zwanzig Jahre später, als Charles Kingsley die <Wasserkinder> schrieb, noch immer von zahlreichen Minderjährigen verrichtet wurde. 

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Schon zu Hippokrates' Zeiten und früher hatten griechische Ärzte eine bestimmte Vorstellung von der zerstörerischen Wirkung bösartiger Geschwülste. Sie gaben den harten Schwellungen und Geschwüren, die sie häufig in der weiblichen Brust ertasteten oder aus dem Mastdarm oder der Vagina herauswuchern sahen, je nach Beschaffenheit verschiedene Namen. Um eine solche Geschwulst von der gutartigen, onkos genannten Geschwulst zu unterscheiden, verwendeten sie das Wort karkinos, »Krebs«, das sich interessanterweise aus der indoeuropäischen Wurzel für »hart« ableitet. Der Begriff karkinoma mit der Nachsilbe oma für »Tumor« bezeichnete bösartige Wucherungen. Im Deutschen wurde daraus »Karzinom«. Onkos dagegen wird heute für alle, also auch für bösartige Tumoren gebraucht; deshalb heißt ein Facharzt für Geschwulstkrankheiten Onkologe.

In der Antike glaubte man, Karzinome oder bösartige Geschwülste würden durch Stauung eines überschüss­igen Körpersaftes hervorgerufen, der sogenannten Schwarzen Galle oder melan cholos (von melas, »schwarz«, und cholos, »Galle«). Da Leichenöffnungen bei den alten Griechen unüblich waren, waren ihnen lediglich die eitrigen Geschwülste von Brust und Haut bekannt oder Tumoren, die bereits aus dem Mastdarm und dem weiblichen Genital herauswucherten. Ihre phantasievolle Erklärung für das Entstehen des Krebses wurde gestützt durch die Beobachtung, daß Krebspatienten melancholisch waren, wofür es natürlich eine viel einleuchtendere Erklärung gibt.

Die Ärzte wählten den Ausdruck karkinos oder Karzinom wie viele andere medizinische Fachbegriffe aufgrund dessen, was sie mit bloßem Auge beobachteten oder mit den Fingern abtasteten. Galen, ein griechischrömischer Arzt des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, der das damals verfügbare Wissen sammelte und zu einem eindrucksvollen medizinischen Lehrgebäude verarbeitete, verglich die verhärtete, ins Fleisch einwuchernde Masse mit den eitrigen Geschwüren in der Mitte, die er so oft auf der weiblichen Brust sah, mit einem »Krebs, dessen Beine in alle Richtungen wachsen«.

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Dabei wuchert ein Krebs nicht nur mit den »Beinen«, sondern mit dem gesamten Körper immer weiter in den Leib seines Opfers hinein. Er ähnelt einem Parasiten, der seine Klauen ins Fleisch einer wehrlosen Beute schlägt. Unaufhörlich erweitert er den Radius seiner tödlichen Umklammerung und frißt sich tiefer und tiefer ins Gewebe. Dieser lautlose Vorgang hat keinen erkennbaren Anfang; er endet, wenn der Krebs aus seinem Opfer das letzte Stück Lebens­kraft gesogen hat.

Noch bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts galt der Krebs als Krankheit, die sich heimlich vorwärtsarbeitete und erst in Erscheinung trat, wenn sie bereits so viel Körpergewebe zerstört hatte, daß der ausgezehrte Kranke ihr keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte. Als bösartiger Wundbrand würgte der Krebs dann gleichsam das Gewebe wieder aus, das er in sich hineingefressen hatte.

Heute weiß man es besser. Im Licht der modernen Forschung offenbart der Krebs ein anderes Gesicht. Er arbeitet sich durchaus nicht langsam durchs Gewebe, sondern zeigt bei seinen Attacken eine rasende Zerstörungswut. Bei seinem Blitzkrieg gegen den menschlichen Organismus hält ihn nichts auf. Krebszellen verhalten sich wie eine barbarische Horde plündernder Soldaten, die keiner Führung mehr gehorchen. Forscher sprechen in diesem Zusammen­hang von »Autonomie«. 

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Durch ihre Form und ihre rasante Vermehrung brechen Krebszellen mit allen Regeln des geordneten Wachstums im gesunden Zellverband, der sie mit Nährstoffen versorgt und den sie schließlich vernichten. In diesem Sinn ist Krebs kein Parasit. Und Galen hat unrecht, wenn er ihn praeter naturam nennt, »außerhalb der Natur«. Die ersten Krebszellen entstehen aus gesunden Mutterzellen. Sie werden abgestoßen, weil sie unförmig sind und ihre Aufgaben im Gesamt­organismus nicht erfüllen. Sie benehmen sich dann in der intakten Gemeinschaft gesunder Körperzellen wie ein randalierender Haufen von Chaoten. 

Noch besser bezeichnet man sie als Bande jugendlicher Verbrecher. Denn Krebs gilt heute als eine Krankheit, die auf der unvollkommenen Reifung junger Zellen beruht. Unter normalen Bedingungen werden abgestorbene Zellen ständig durch neue ersetzt, nicht nur durch Teilung jüngerer Gewebszellen, sondern vor allem durch die Aktivität einer Zellart, die speziell für die Reproduktion von Körperzellen zuständig ist:

Die sogenannten Stammzellen sind unreife Zellen mit der Fähigkeit, neues Gewebe zu bilden. Ihre Tochterzellen machen beim Reifungsprozeß mehrere Stadien durch. Dabei verlieren sie zunehmend die Fähigkeit zur raschen Vermehrung und können dafür immer besser die Aufgaben erfüllen, für die sie bestimmt sind. So kann eine voll ausgereifte Zelle der Darmwand hervorragend Nährstoffe aus dem Darminhalt absorbieren, während ihre Fähigkeit zur Teilung zurückgegangen ist. Das gleiche gilt für eine ausgereifte Zelle der Schilddrüse, die die Fähigkeit zur Bildung des Schilddrüsenhormons erworben hat. Die Analogie zum Sozialverhalten eines ganzen Organismus, wie des Menschen, ist unübersehbar. 

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Eine Krebszelle ist eine Zelle, die die Fähigkeit zur »Differenzierung« verloren hat. Mit diesem Begriff bezeichnen Forscher die normale Zellentwicklung, bei der die Zellen nach verschiedenen Reifestadien schließlich die Funktionen übernehmen, für die sie bestimmt sind. Eine Wucherung aus unreifen, also undifferenzierten Zellen heißt nach dem griechischen Wort für »Neubildung« Neoplasma. Im neueren Sprachgebrauch bedeutet Neoplasma das gleiche wie Tumor. Tumoren, deren Zellen bei der Differenzierung dem Reifestadium besonders nahe gekommen sind, sind weniger gefährlich und werden deshalb als »gutartig« bezeichnet. Die Zellen eines gutartigen Tumors vermehren sich nicht so unkontrolliert wie die einer Krebsgeschwulst. Sie sind bereits gut differenziert und ähneln unter dem Mikroskop stark ihren ausgereiften Entsprechungen. Ein solcher Tumor wächst langsam, er infiltriert das umgebende Gewebe nicht und wandert nicht in entferntere Körperbereiche. Oft umgibt ihn eine bindegewebige Kapsel, und er wird nur sehr selten gefährlich.

Ein bösartiges Neoplasma, also eine Krebsgeschwulst, ist eine Wucherung völlig anderer Art. Genetische, umweltbedingte oder andere Einflüsse haben den Reifungsprozeß in einem so frühen Stadium zum Erliegen gebracht, daß die Zellen sich ungehindert vermehren. Sie haben keine ausreichend hohe Entwicklungsstufe erreicht, um ihre Aufgaben als Körperzellen zu erfüllen, und sie sehen auch ganz anders aus. Krebszellen bleiben gewissermaßen in einem Alter stecken, in dem sie die gesellschaftlichen Spielregeln ihrer Umgebung noch nicht richtig beherrschen. Sie neigen wie unreife Heranwachsende zu maßlosem Verhalten und handeln ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Nachbarn. 

Als unreife Körperzellen nehmen Krebszellen an den komplexen Stoffwechselaktivitäten der gesunden Zellen in ihrer Umgebung nicht teil. Eine Krebszelle im Darm beteiligt sich nicht an den Verdauungs­vorgängen, die sich in gesunden Darmzellen abspielen.

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Eine Krebszelle in der Lunge ist nicht an der Atmung beteiligt. Gleiches gilt für fast alle anderen bösartigen Tumorzellen. Sie vermehren sich unkontrolliert, statt bei der Erfüllung der Aufgaben zu helfen, mit denen eine bestimmte Gewebsart das Überleben des Gesamtorganismus sichert. Die entarteten Zellen vermehren sich massenhaft und behindern so den umliegenden Zellverband in seiner Funktion. Sie sind nicht produktiv, sondern rein reproduktiv - und dadurch zerstörerisch.

Anders als gesunde Körperzellen sterben Krebszellen auch nicht ab, wenn ihre Zeit gekommen ist. In der Natur ist der Tod die letzte Stufe im normalen Reifungsprozeß der Zelle. Bösartige Zellen erreichen sie nicht, so daß ihre Lebensdauer potentiell unbegrenzt ist. Was für Dr. Hayflicks Fibroblasten gilt, gilt nicht für die Zellpopulation einer bösartigen Wucherung. Im Labor gezüchtete Krebszellen können unbegrenzt weitere Tumorzellen hervorbringen. Sie sind »immortalisiert«, wie man in der Forschung sagt. Potentielle Unsterblichkeit und unkontrollierte Vermehrung sind ihre gefährlichsten Verstöße gegen die Regeln des gesunden Organismus. Beides zusammen ist der Hauptgrund dafür, warum sich ein Krebs anders als gesundes Gewebe sein ganzes Leben lang ausbreitet.

Der Krebs hält sich an keine Gesetze und wuchert rücksichtslos auf Kosten seiner Umgebung. Ein bösartiger Tumor ist eine anarchische Gesellschaft unreifer Zellen, die den Zellverband zerstören, der sie hervorgebracht hat. Es gibt keine Möglichkeit, die Reifung solcher Zellen nachträglich zu beeinflussen. Man kann nur versuchen, sie zu vernichten oder wenigstens ihre weitere Vermehrung zu stoppen.

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Später wird noch die Rede davon sein, daß ein solcher anarchischer Zellverband sich nicht mit einer lokalen Ausbreitung begnügt. Er sät in allen Körper­regionen Zellen aus, die dann zu wuchern beginnen und weitere Zerstörungen anrichten, die schließlich dem Krebs selbst zum Verhängnis werden. Da Krebs den Gesamtorganismus, der ihn am Leben erhält, vernichtet, bereitet er sich selbst den Untergang. Schon bei der Entstehung trägt er in sich den Keim der Selbstzerstörung. 

Krebszellen sind in jeder Hinsicht nonkonformistisch, aber nur in einem negativen Sinn. Sie verhalten sich anders als gesunde Körperzellen und heben sich schon rein äußerlich von ihnen ab. Eine Krebszelle behält die Gestalt ihres unreifen Stadiums bei. Diese Eigenschaft der bösartigen Tumorzelle nennt man nach dem griechischen Wort für »formlos« Anaplasie. Die Krebszelle gibt sie bei der Reproduktion an alle Tochterzellen weiter.

Allerdings weicht die äußere Erscheinung von Tumorzellen außer bei ungewöhnlichen Krebsen niemals so sehr vom Aussehen entsprechender gesunder Zellen ab, daß ihre Herkunft aus einem bestimmten Körpergewebe nicht mehr feststellbar wäre. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zum gesunden Gewebe zeigt gewöhnlich schon ein genauer Blick durchs Mikroskop. So kann man einen Tumor des Darms identifizieren, weil seine Zellen noch immer einige charakteristische Züge gesunder Darmzellen aufweisen. Selbst wenn der Blutstrom eine Tochtergeschwulst in die entfernte Leber getragen hat, läßt sich die Identität dieser Krebszellen trotz Anaplasie ermitteln. Obwohl Krebszellen scheinbar keinen Regeln mehr gehorchen, weisen sie noch immer einige Merkmale des Zellverbandes auf, dessen Zerstörung sie in Angriff genommen haben. 

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Die beiden Eigenschaften der Autonomie und Anaplasie bestimmen unser heutiges Verständnis von Krebs. Ob man im Zusammenhang mit Krebszellen nun von »unförmig« und »unkontrolliert« oder gelehrter von Anaplasie und Autonomie spricht: Die Zellen sind im wissenschaftlichen Sinn bösartig, weil sie den Gesamt­organismus, in dem sie entstanden sind, zwangsläufig zugrunde richten.

Die Anaplasie bösartiger Tumorzellen zeigt sich am deutlichsten an ihrer unregelmäßigen Form. Während sich gesunde Zellen von den Nachbarzellen ihres Verbandes äußerlich kaum unterscheiden, haben die Zellen einer Krebspopulation gewöhnlich eine individuelle Form und Größe, und sie sind unregelmäßig angeordnet. Sie erscheinen aufgebläht, abgeflacht, in die Länge gezogen, gestaucht oder auf andere Weise deform. Und sie agieren völlig unabhängig voneinander. Daß es unter ihnen weder Kommunikation noch Abstimmung gibt, ist durch genetische Veränderungen bedingt. Einige Ursachen dieser Veränderungen, zu denen Umwelteinflüsse und der Lebensstil des Krebskranken gehören, sind bekannt und teils gut erforscht; andere liegen bislang noch im dunkeln.

Trotz der ungewöhnlichen Form und unterschiedlichen Größe müssen die Zellen einer bösartigen Geschwulst nicht immer völlig unregelmäßig sein. Einige Krebsarten weisen seltsamerweise einheitlich geformte Zellen auf und überraschen durch ein ungewohntes Maß an Regelmäßigkeit. Ihre Zellen reproduzieren Myriaden fast identischer Nachkommen, einförmiger Keime des Todes, die sich indes alle von Zellen des Muttergewebes unterscheiden. Beim Krebs ist nicht einmal die Unregelmäßigkeit der Zellform sicher.

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Der Kern oder Nukleus einer Krebszelle ist größer und auffälliger als ein gesunder Zellkern, und manchmal ist er ebenso mißgestaltet wie die ganze Zelle. Er nimmt Färbemittel stärker an als das umliegende Protoplasma und erscheint unter dem Mikroskop deutlich dunkler. Ein solcher Nukleus verhält sich auch ganz anders als der einer normalen Zelle: Bei der Mitose, der Kernteilung, spaltet er sich nicht in zwei symmetrische Hälften. Die Chromosomen mit der Erbinformation ordnen sich vor der Teilung zu einem jeweils neuen bizarren Muster an. Beobachtet man die Tumorzellen einiger Krebsarten unter dem Mikroskop, entdeckt man, daß ihre Teilungsrate um ein Vielfaches über der gesunder Gewebszellen liegt. Und jede Zelle teilt sich auf ihre ganz eigene Art. So überrascht es nicht, daß die Tochterzellen, die in einer solchen krankhaften Wucherung entstehen, sich ins umliegende Gewebe nicht eingliedern können. Und sie verhalten sich in ihrer »Andersartigkeit« sehr aggressiv: Sie wandern in die Verbände der Nachbarzellen ein und verdrängen sie bei ihrem weiteren Vormarsch. 

Mit einem Wort, Krebszellen verhalten sich asozial gegenüber den Mitgliedern des funktionierenden Zellverbandes. Sie haben sich von allen Zwängen gesunder Zellen befreit, und wenn sie sich irgendwo eingenistet haben, wuchern sie unkontrolliert weiter. Nichts kann sie aufhalten. Sie fressen sich in lebenswichtige Strukturen wie Blutgefäße oder Knochen hinein, legen die Funktion von Organen lahm und entziehen dem Organismus alle Lebenskraft.

Der Prozeß einer bösartigen Zellwucherung beginnt im mikroskopischen Bereich. Ist der Vorgang erst richtig in Gang gekommen, läuft er unaufhaltsam weiter. Schließlich ist der Tumor mit bloßem Auge sichtbar und mit den Fingern zu spüren. Anfangs ist er noch klein und räumlich begrenzt, so daß er noch keine Beschwerden verursacht. Bemerkt der Krebskranke ihn, ist es oft schon zu spät. Besonders in unempfindlichen Organen kann ein Tumor eine beträchtliche Größe erreichen, bevor er Symptome verursacht. Nicht umsonst gilt Krebs als ein Mörder, der auf leisen Sohlen kommt. 

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Eine Niere beispielsweise kann einen erstaunlich großen Tumor beherbergen, von dem der Erkrankte erst erfährt, wenn er sich im fortgeschrittenen Stadium durch Blut im Urin oder dumpfe Schmerzen in der Seite bemerkbar macht. Ein Chirurg steht bei einer Operation dann vor der Schwierigkeit, daß der Tumor bereits in ausgedehnte Teile des umliegenden Gewebes hineingewuchert ist. Die gewöhnlich braune, symmetrische und glatte Oberfläche der Niere sieht in einem großen Bereich wie angefressen aus. Sie zeigt eine unregelmäßig gelappte Ausbuchtung, die rauh und hart beschaffen und grau verfärbt ist. Die Wucherung in der Niere hat sich bis an die Oberfläche durchgefressen und ist ins umliegende Fettgewebe eingewandert. Der Chirurg hat eine verschrumpelte, unförmige Masse Fleisch vor sich, von der akute Gefahr für den ganzen Organismus ausgeht. Der Krebs ist der besondere Feind des Chirurgen. 

Abnorme Zellstruktur und aggressives Wachstum sind nur zwei der vielen Aspekte, die eine bösartige Wucherung kennzeichnen. Besonders heimtückisch ist die Fähigkeit der Krebszellen, die Abstoßungs­reaktionen des Gewebes gegen körperfremdes Material auszuschalten. Theoretisch müßten Krebszellen von einem intakten Immunsystem als fremdes oder »andersartiges« Gewebe ausgemacht und wie ein Virus vernichtet werden. Bis zu einem gewissen Grad geschieht dies auch tatsächlich. Nach Auffassung zahlreicher Forscher produziert ein Körper sogar laufend Krebszellen, die dann aber durch die körpereigene Abwehr erkannt und vernichtet werden.

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Bösartige Geschwülste entwickeln sich demnach nur in den seltenen Fällen, in denen das Kontroll­system versagt. Gestützt wird diese Annahme durch die Tatsache, daß Patienten mit der Immun­schwächekrankheit Aids deutlich öfter an Tumoren wie einem bösartigen Lymphom (Lymph­knoten­geschwulst) oder Sarkom (Bindegewebsgeschwulst) erkranken. Überhaupt liegt die Krebsrate bei Personen mit einem geschwächten Immunsystem ungefähr zweihundertmal höher als bei der übrigen Bevölkerung, beim Kaposi-Sarkom sogar vierhundertmal. Ein besonders vielversprechender Ansatz in der medizinischen Forschung befaßt sich gegenwärtig mit der körpereigenen Abwehr gegen Tumorzellen. Dabei geht es darum, die Fähigkeit des Körpers zu stärken, auf die von Krebszellen hervorgebrachten Antigene zu reagieren. Zwar liegen bereits einige positive Ergebnisse vor, doch ist der Durchbruch noch nicht gelungen. 

Um ihre Funktion und Lebensfähigkeit aufrechtzuerhalten, brauchen Körperzellen ein komplexes Gemisch aus Nährstoffen und Wachstumsfaktoren. Sie werden ihnen über eine Nährlösung zugeführt, die sogenannte Extrazellulärflüssigkeit, die durch den Blutkreislauf ständig mit Nährstoffen angereichert und von Abfallstoffen gereinigt wird. Die Extrazellulärflüssigkeit besteht zu einem Fünftel aus Blutplasma. Bei den verbleibenden vier Fünfteln handelt es sich überwiegend um die Flüssigkeit zwischen den einzelnen Zellen. Diese Flüssigkeit macht ungefähr 15 Prozent des Körpergewichtes aus. Bei einem Mann von 75 Kilogramm sind dies etwas über 11 Liter. Der französische Physiologe Claude Bernard führte im neunzehnten Jahrhundert für die innere Umgebung der Zellen im lebenden Organismus den Begriff des <Milieu interieur> ein.

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Zellen, die sich zu einem hochkomplexen Verband zusammengeschlossen haben, werden also wie ihre einzelligen Vorfahren im Urmeer von einer lebensspendenden Flüssigkeit umspült, die sie mit Nährstoffen versorgt und die Entsorgung der giftigen Abfallstoffe übernimmt. Bösartige Tumorzellen kennzeichnet dagegen eine verminderte Abhängigkeit von den Nährstoffen und Wachstumsfaktoren der Extrazellulär­flüssigkeit. Diese Eigenschaft versetzt sie in die Lage, auch in Gewebebereiche hineinzuwuchern, die weniger gut versorgt werden.

Obwohl eine einzelne bösartige Zelle mit weniger Nahrung auskommt als eine gesunde, entsteht durch ungezügelte Vermehrung eine große Zellpopulation, deren wachsender Bedarf an Nahrung das Angebot bald übersteigt. Da die Neubildung von Blutgefäßen mit dem rasch wachsenden Tumor nicht Schritt halten kann, entsteht ein Versorgungsmangel.

So kann es passieren, daß ein Teil der Wucherung durch Unterernährung oder Sauerstoffmangel wieder zugrunde geht: Die Krebsgeschwulst bildet Geschwüre und verursacht Blutungen. In ihrem Zentrum oder am Rand könnten sogenannte Nekrosen (nach dem griechischen nekrosis für »Absterben«) auftauchen, schmierige Ablagerungen abgestoßenen toten Gewebes. Vor hundert Jahren, als die Amputation noch nicht zu den üblichen Behandlungsmethoden bei Brustkrebs gehörte, war der Tod für die unglücklichen Patientinnen nicht immer das schlimmste Übel: Die Geschwulst fraß sich durch die Haut an die Oberfläche und bildete brandige, eitrige Wunden. Nicht umsonst hieß das Karzinom bei den Ärzten der Antike der »stinkende Tod«. 

Im späten 18. Jahrhundert bezeichnete Giovanni Morgagni, der Vater der pathologischen Anatomie, Krebs als »besonders widerliche Krankheit«. In späterer Zeit, als man über Krebs viel mehr wußte, galt ein bösartiger Tumor noch immer als ein Verfaulen bei lebendigem Leibe, als ekelerregende Krankheit, die man hinter Beschönigungen und Lügen verbergen mußte.

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Zahlreich sind die Beispiele von Patientinnen mit Brustkrebs, die sich aus ihrem Bekanntenkreis völlig zurückzogen und die letzten Monate ihres Lebens in schrecklicher Isolation verbrachten. Einige sahen nicht einmal mehr die Mitglieder ihrer Familie. Als ich in der Ausbildung war, also vor gut dreißig Jahren, lernte ich noch Frauen kennen, die sich schließlich überreden ließen, ins Krankenhaus zu gehen, weil die Isolation zu Hause unerträglich geworden war. Noch heute haftet dieser Krankheit etwas von diesem Ekel an. Dies ist ein besonders wichtiger Grund dafür, warum sich Ärzte meiner Generation noch immer kaum überwinden können, das Wort »Krebs« vor betroffenen Patienten oder Angehörigen auszusprechen.

Ein rasch wachsender Tumor kann ein robustes Organ wie die Leber oder eine Niere so stark schädigen, daß es seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Er kann die Lichtung eines Darms zuwuchern und damit die Verdauung und die Versorgung des Körpers mit Nahrung lahmlegen. Schon ein kleiner Tumor kann lebens­wichtige Hirnzentren zerstören. Er kann wie beim Magen- oder Dickdarmkrebs kleine Blutgefäße zerfressen, Eiterherde bilden und zu starken Blutungen führen. Oft sickert aus verkrebstem Gewebe eine bakterien­verseuchte Flüssigkeit, die zu Lungen­entzündung und Atmungs­insuffizienz führt, eine häufige Todesursache bei Lungenkrebs. Krebs kann den Körper auf unterschiedlichste Weise von der Versorgung mit Nährstoffen abschneiden. 

Bei all diesen tödlichen Mechanismen handelt es sich nur um die möglichen Folgen einer Primär­geschwulst, einer lokalen Wucherung, die sich noch nicht weiter ausgebreitet hat und ihre verheerende Wirkung nur in der unmittelbaren Umgebung entfaltet.

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Aber der Krebs ist noch gefährlicher: Er kann verschiedenste Gewebsarten befallen, die vom Ort seiner Entstehung weit entfernt liegen. In der medizinischen Fachsprache spricht man in diesem Zusammenhang von der Bildung von Metastasen

Die griechische Präposition meta bedeutet »dahinter« oder »jenseits«, stasis bedeutet »Stellung« oder »Standort«. Eingeführt mit den Hippokratischen Schriften, bezeichnete metastasis ursprünglich den Übergang von einer Form des Fiebers in eine andere. Später nahm das Wort eine speziellere Bedeutung an und bezeichnete den Teil eines Tumors, der in andere Körperbereiche wandert. Die Fähigkeit zur Bildung von Metastasen gilt heute als das charakteristische Kennzeichen bösartiger Geschwülste schlechthin: Krebs ist ein Neoplasma, das fern seines Entstehungsortes Tochtergeschwülste bilden kann. Man spricht hier von der Aussaat von Metastasen.

Die Fähigkeit der Metastasenbildung ist das wichtigste und gefährlichste Merkmal bösartiger Tumoren. Wenn Krebs auf seinen Entstehungsort beschränkt wäre, könnte er außer bei einem großflächigen Befall lebenswichtiger Organe mit ein paar Schnitten des Chirurgen rasch beseitigt werden. Statt dessen frißt er sich häufig durch die Wände von Blut- oder Lymphgefäßen und streut Tumorzellen in den Blutkreislauf oder die Lymphflüssigkeit ein. Einzeln oder als Embolus gelangen die Zellen in entfernte Körpergewebe, wo sie sich einnisten und vermehren. Es hängt von der Blutbahn, dem Weg der Lymphflüssigkeit und anderen bislang ungeklärten Faktoren ab, in welchen Organen sich die Metastasen einer bestimmten Krebsart bevorzugt festsetzen. Ein Brustkrebs metastasiert mit Vorliebe in Knochenmark, Lunge und Leber.

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Noch häufiger bildet er Metastasen in den Lymphknoten der Achselhöhlen. Ein Krebs der Prostata bildet gewöhnlich Tochtergeschwülste in den Knochen. Knochen sind neben Leber und Nieren das beliebteste Siedlungsgebiet für Metastasen.

Nur robuste Tumorzellen überleben den weiten Weg in entfernte Körperteile. In der starken Strömung des Blutkreislaufs lauern mechanische Gefahren, und auch das Immunsystem des Organismus droht sie zu vernichten. Heil am Ziel angelangt, müssen sie sich im Gewebe einnisten und Nahrungsquellen erschließen. Abgewanderte Tumorzellen können nur dann eine lebensfähige Kolonie gründen, wenn es ihnen gelingt, das Wachstum neuer Blutgefäße zu stimulieren, die sie mit den lebensnotwendigen Nährstoffen versorgen.

Diese Erfordernisse sind alle zusammen so schwer zu erfüllen, daß nur die wenigsten abgewanderten Krebszellen Erfolg haben. Spritzt man Mäusen im Experiment eine gewisse Anzahl von Tumorzellen ein, so überlebt nur ein Zehntel Prozent dieser Zellen die nächsten vierund­zwanzig Stunden. Nach einer Schätzung erreicht von hunderttausend in die Blutbahn gelangten Krebszellen nur eine einzige ein anderes Körperorgan, und noch weitaus weniger sind in der Lage, sich dort auch wirklich festzusetzen. Wenn der Ausbreitung des Krebses nicht diese Hindernisse entgegenstünden, würde jede Primärgeschwulst ab einer bestimmten Größe sofort eine gewaltige Anzahl von Metastasen bilden. 

Durch das Einwuchern in umliegendes Körpergewebe und die Aussaat von Metastasen beeinträchtigt der Krebs die Funktion der verschiedenen Arten des Körpergewebes. Organe mit Lichtungen verstopfen, Stoff­wechsel­prozesse brechen zusammen, und es kommt zu Sicker­blutungen oder sogar großen Blutverlusten durch angefressene Gefäße. Lebenswichtige Hirnzentren gehen zugrunde, labile biochemische Gleichgewichte werden gestört. Schließlich brechen alle Lebens­funktionen des Organismus zusammen.

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Ein unkontrolliert wuchernder Tumor tötet aber auch indirekt, indem er den Körper schwächt, auszehrt und anfälliger für Infektionen macht. Man spricht hier von krebsbedingter Kachexie. Der Begriff ist dem Griechischen entlehnt und bedeutet soviel wie »schlechter Zustand«. Kennzeichen der Kachexie sind allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit, Veränderungen im Stoffwechsel und ein Schwund von Muskelmasse und Körpergewebe.

Die Kachexie tritt bei Krebs manchmal schon in einem frühen Stadium mit einem relativ kleinen lokalen Tumor auf. Verantwortlich ist also offenbar nicht die Tatsache, daß eine wachsende Geschwulst unmittelbar an den Ressourcen des Körpers zehrt. Zwar könnte man einen Tumor tatsächlich vereinfachend als Parasit begreifen, der dem Organismus lebensnotwendige Nährstoffe entzieht, doch sind die Ursachen der Kachexie bei Krebs oft viel komplexer. Eine veränderte geschmackliche Wahrnehmung, die Verstopfung der Darmlichtung, Schluckbeschwerden sowie die Nebenwirkungen von Chemotherapie oder Strahlenbehandlung können zu unzulänglicher Ernährung führen.

Zahlreiche Untersuchungen an Krebspatienten zeigen ferner verschiedene Anomalien bei der Verwertung von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen; die Ursachen sind noch ungeklärt. Einige Tumoren steigern anscheinend sogar den Grundumsatz des Kranken und bewirken schon dadurch einen Gewichtsverlust. Noch komplizierter wird das Problem dadurch, daß einige der weißen Blutkörperchen (Monozyten) bei bestimmten Krebs­erkrankungen nachweislich eine Substanz freisetzen, die bezeichnenderweise Kachektin heißt.

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Sie wirkt direkt auf das Hungerzentrum des Gehirns ein und verursacht Appetitlosigkeit. Und nicht nur Kachektin entfaltet diese Wirkung. Wahrscheinlich setzen alle bösartigen Tumoren verschiedene hormonähnliche Substanzen frei, die sich auf die Ernährung, das Immunsystem und andere lebenswichtige Funktionen des befallenen Organismus auswirken. Daß die parasitäre Lebensweise der Wucherung dafür verantwortlich sei, wie noch bis vor kurzem angenommen, ist jedenfalls falsch.

Die mangelnde Ernährung hat weitreichendere Folgen als nur Gewichtsverlust und Entkräftung. 

Der gesunde Körper gleicht die verminderte Nahrungszufuhr hauptsächlich durch den Abbau von Fettreserven des Körpers aus. Da dieser Mechanismus bei Krebs gestört ist, wird Körpereiweiß angegriffen. Dies und die unzulängliche Ernährung führen nicht nur zum Schwund von Muskelgewebe; der Mangel an Proteinen trägt darüber hinaus zu einer Fehlfunktion von Organen und Enzymsystemen bei, was zu einer beträchtlichen Schwächung der körpereigenen Abwehr führt. Es gibt Hinweise darauf, daß Tumorzellen auch Substanzen freisetzen, die das Immunsystem schädigen, was zumindest theoretisch weiteres Krebswachstum fördern kann. Für die Schwächung des Immunsystems von Krebspatienten und ihre Anfälligkeit für Infektionen sind freilich vor allem Chemotherapie und Strahlenbehandlung verantwortlich. 

Unmittelbare Todesursachen bei Krebspatienten sind häufig Lungenentzündungen, Abszesse, Entzündungen der Harnwege oder andere Infektionen. Das Aus bringt bei allen eine Sepsis. Ein Patient mit fortgeschrittener Kachexie ist so sehr geschwächt, daß er weder richtig husten noch atmen kann.

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Neben dem erhöhten Risiko einer Lungenentzündung besteht die Gefahr, daß der Kranke an Erbrochenem erstickt. Er stirbt mit tiefen, gurgelnden Atemzügen, ein Todesröcheln ganz anderer Art als die bellenden Laute, die mein Patient James McCarty von sich gab.

Im Endstadium der Krankheit führt eine Verringerung der Menge an Blut und Extrazellulär­flüssigkeit nicht selten zu einem langsamen Absinken des Blutdrucks. Auch ohne Schock kann der chronische Mangel an Nährstoffen und Sauerstoff zu einem Versagen von nicht befallenen Organen wie Leber oder Nieren führen. Bei älteren Krebskranken lösen die verschiedenen Formen der Unterversorgung oft Schlaganfälle, Herzinfarkte oder Herzversagen aus. Eine vorhandene Stoffwechselerkrankung wie Diabetes kann das Ende stark beschleunigen.

Bisher wurden nur solche Krebsarten erwähnt, die zunächst auf ein bestimmtes Organ oder Gewebe beschränkt sind. Eine kleine Gruppe von Krebserkrankungen dagegen ist von Anbeginn an weiter verbreitet oder entsteht in einem bestimmten Gewebe an mehreren Stellen gleichzeitig, besonders im System der Blutbildung und im Lymphsystem. So befällt Leukämie das Gewebe, das für die Entstehung der weißen Blutkörperchen verantwortlich ist. Ein malignes Lymphom, ein bösartiger Tumor, bildet sich in den Lymphdrüsen und ähnlichen Strukturen. Patienten mit Leukämie und malignen Lymphomen sind besonders anfällig für Infektionen, und viele sterben auch daran. Eine häufige Form des malignen Lymphoms ist die Hodgkinsche Krankheit. 

Man kann die Hodgkinsche Krankheit nicht erwähnen, ohne auf eine der bedeutendsten medizinischen Errungen­schaften im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hinzuweisen. Noch vor dreißig Jahren führte diese Krebsart in praktisch allen Fällen zum Tod.

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Spätere Erkenntnisse über ihre Ausbreitung in den Lymphdrüsen und eine geeignete Behandlung mit Chemotherapie und Hochvolt­bestrahlung haben jedoch dazu geführt, daß annähernd 70 Prozent der Patienten die daran anschließenden fünf Jahre krankheitsfrei überleben. Wird die Krankheit frühzeitig in einem Stadium erkannt, in dem sie sich erst beschränkt ausgebreitet hat, liegt der Prozentsatz sogar bei fünfundneunzig. Rückfälle nach fünf Jahren sind selten und verringern sich von Jahr zu Jahr. Nicht nur die Hodgkinsche Krankheit, sondern maligne Lymphome allgemein sind heute von allen Krebsarten am besten heilbar.

Die verbesserten Heilungschancen bei Patienten mit Lymphomen ist nur eines von vielen Beispielen für den gewaltigen Fortschritt der Krebsmedizin. Enorme Erfolge werden auch bei der Behandlung von Leukämie bei Kindern erzielt. Vier von fünf Kindern mit dieser Erkrankung leiden an der sogenannten akuten lymphatischen Leukämie, die früher in allen Fallen tödlich verlief. Heute kann in 60 Prozent der Fälle in den fünf Jahren nach der Diagnose ein kontinuierlicher Rückgang der Symptome erzielt werden, und die meisten dieser Kinder werden dauerhaft geheilt. 

Obwohl bei der Behandlung anderer Krebsarten spektakuläre Erfolge wie bei der Hodgkinschen Krankheit und der Leukämie selten sind, gibt es doch Anlaß zu vorsichtigem Optimismus. Neue Ergebnisse der Grundlagenforschung, eine verbesserte Früherkennung, die Entwicklung neuer Medikamente und eine gezieltere Chemotherapie haben in den letzten Jahrzehnten einige Verbesserungen gebracht. Zum medizinischen Fortschritt beigetragen hat nicht zuletzt die Bereitschaft der Patienten, an großangelegten Versuchen mit neuen Behandlungsmethoden mitzuwirken.

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Im Jahr 1930, als ich geboren wurde, war fünf Jahre nach einer Diagnose auf Krebs nur noch einer von fünf Patienten am Leben, in den vierziger Jahren einer von vier. Dank der Erfolge der modernen Medizin hat sich dieses Verhältnis in den sechziger Jahren auf eins zu drei verbessert. Gegenwärtig haben 40 Prozent aller Krebspatienten nach der Diagnose die Aussicht, die nächsten fünf Jahre zu überleben. Zieht man in dieser Statistik die Todesfälle durch Herzinfarkt oder Schlaganfall ab, dann sind es sogar 50 Prozent. 

Und nach der magischen Schwelle von fünf krankheitsfreien Jahren ist das Risiko eines erneuten Ausbruchs der Krankheit deutlich vermindert. 

Diese Fortschritte wurden fast ausschließlich durch die beiden bereits erwähnten Faktoren ermöglicht: die verbesserte Früherkennung und neue Formen der Behandlung. Patienten mit Krebs im fortgeschrittenen Stadium setzen ihre Hoffnungen heute vor allem auf neue Methoden der Therapie. Allerdings werden hier oft falsche Erwartungen geweckt, welche die Ärzte in schwierige Situationen bringen und bei Patienten zu bitteren Enttäuschungen führen können. 

Als Arzt am Krankenhaus bekam ich über die Jahre mit, wie man sich in der Fachwelt allmählich bewußt wurde, daß eine wirksamere Krebstherapie nicht vornehmlich durch eine Perfektionierung chirurgischer Methoden zu erzielen ist. Statt dessen sollten tiefere Einblicke in die inneren Abläufe der Zelle bei Krebserkrankungen den Durchbruch bringen. Tatsächlich führten neue Erkenntnisse über die Krebszelle zur Entwicklung einer effizienteren Krebsbehandlung. 

Die Erfolge führten allerdings nicht nur zu einem berechtigten Optimismus. Vielfach machte sich eine übertriebene Wissenschafts­gläubigkeit mit der Ideologie breit, daß eine Behandlung so lange fortgesetzt werden muß, bis ihre Sinnlosigkeit erwiesen oder zumindest für den Arzt zufriedenstellend belegt ist.

Die Grenze, jenseits derer eine Therapie keinen Sinn mehr macht, war freilich von jeher verschwommen und wird es wohl auch bleiben. Wohl aus diesem Grund hat sich in der Ärzteschaft eine Überzeugung durchgesetzt - die inzwischen fast schon als Teil der ärztlichen Verantwortung gilt -: daß man bei der Behandlung eher zuviel als zuwenig tun sollte. Dies freilich dient eher den Interessen des Arztes als denen des Patienten. 

Nur allzu oft verleiten Erfolge den Mediziner, seine Möglichkeiten zu überschätzen. Und nur zu oft versucht er Patienten zu retten, die seine Rettungs­versuche bei unvoreingenommener Einschätzung ihrer Lage nicht über sich ergehen lassen würden.

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Nuland 1993