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    11. Krebspatient und Hoffnung      

Harvey (Bruder), Bob DeMattheis, Hoffnung   

   

329-356

Einem jungen Arzt wird als wichtigste Lektion eingeimpft, die Patienten dürften nie die Hoffnung verlieren, auch nicht, wenn keinerlei Hoffnung auf Heilung mehr besteht. Dieser oft wiederholte Rat basiert auf der Überzeugung, daß alle Hoffnung vom Arzt und seiner Fachkompetenz ausgeht. Er allein ist dafür zuständig, Hoffnungen zu wecken, vorzuenthalten oder zu zerstören. 

Obwohl viel für diese Überzeugung spricht, ist sie doch nur die halbe Wahrheit. Denn über dem Krankenhausbetrieb und dem Arzt, der noch so qualifiziert und wohlmeinend sein mag, steht die Entscheidungsbefugnis des Patienten und seiner Angehörigen. In diesem und dem folgenden Kapitel geht es um die Hoffnungen und die Verzweiflung von Patienten mit Krebs im Endstadium.

»Hoffnung« ist ein abstrakter, verschwommener Begriff, der von jeher für Menschen verschiedener Zeiten und Lebens­situationen etwas anderes bedeutete. Auch Politiker kennen seine Wichtigkeit für die Menschen und für ihre Wähler. Man kann »Hoffnung« mit den verschiedensten Adjektiven von »zaghaft« bis »sicher« verbinden. Trügerische Hoffnungen sind stets auf Sand gebaut, Enttäuschungen vorprogrammiert. 

Ein Arzt darf keine Hoffnung wecken, die unbegründet ist. 

In einem Konversationslexikon heißt es über die Hoffnung: »Nicht selten setzt sie den Menschen überhaupt in die Lage, die Last des Gegenwärtigen zu tragen. Mangel an Hoffnung oder gänzliche Hoffnungslosigkeit kann das Handeln völlig lähmen. In der Krankenbehandlung ist die Hoffnung ein wichtiger Faktor.« 

Gemeinsam ist den verschiedenen Definitionen der Hoffnung die zukunftsgerichtete Erwartung eines erwünschten Zustandes, die Ausrichtung auf eine zukünftige Situation, in der das gewünschte Ziel verwirklicht sein wird. Der Publizist Eric Cassell schreibt in seinem Buch <The Nature of Suffering> einfühlsam über die Bedeutung der Hoffnung für Menschen, die entweder selbst an einer unheilbaren Krankheit leiden oder dies bei einem Angehörigen miterleben: »Durch den Verlust an Zukunft — der eigenen Zukunft oder der Zukunft der Kinder oder anderer lieber Menschen — wird ein intensives Unglücks­gefühl ausgelöst. In dieser Dimension des Seins ist die Hoffnung angesiedelt. Sie ist ein Kennzeichen des erfolgreichen Lebens.«

Ein Arzt hat viele Möglichkeiten, einem todgeweihten Patienten dabei zu helfen, die Hoffnung zu entdecken. Eine Art der Hoffnung schließt alle anderen ein: die Hoffnung, daß ein letzter Erfolg erzielt werden kann, der das momentane Leid und Elend überwinden hilft. Zu oft mißverstehen Ärzte Hoffnung allein als Hoffnung auf Behandlung und Heilung. 

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Einige Mediziner, die ansonsten aufrichtig und kompetent sein mögen, machen Patienten wider besseres Wissen glauben, sie könnten ihnen noch für Monate oder Jahre ein beschwerdefreies Leben verschaffen. Fragt man sie, warum sie falsche Erwartungen wecken, lautet die Antwort, sie wollten dem Patienten nicht jede Hoffnung nehmen. Obwohl die Täuschung in der besten Absicht geschieht, kann sie dem Kranken die letzten Wochen und Tage zur Hölle machen.

Zuweilen möchte der Arzt auch die eigene Hoffnung nicht fahren lassen, wenn er sich auf Therapien einläßt, deren Nebenwirkungen und Risiken durch die geringen Erfolgsaussichten nicht gerechtfertigt sind. Statt dem Patienten zu helfen, sich auf den nahen Tod vorzubereiten, stürzt er sich mit ihm in ein medizinisches Abenteuer, das nur der Ablenkung dient. Das Verhalten des Arztes spiegelt das allgemeine Bedürfnis der Gesellschaft wider, die Macht des Todes und die Endlichkeit des Lebens zu leugnen. 

Der Arzt sucht Zuflucht bei einer unwirksamen Scheinbehandlung, die den Tod allenfalls hinauszögern kann. William Bean von der Universität von Iowa, ein einflußreicher Arzt der letzten Generation, nennt dies 

»das geschäftige Treiben der Schulmedizin, die an einem flüchtigen Schatten von Leben festhält, obwohl alle Hoffnung längst verflogen ist. Dies führt mitunter zu abwegigen und lächerlichen Versuchen, die darauf abzielen, einige äußerliche Kennzeichen des Lebens aufrecht­zuerhalten, während der endgültige und vollständige Tod allenfalls hinaus­geschoben und verzögert wird.«

Bean spielt nicht nur auf lebensverlängernde Geräte und Apparaturen an, sondern auf das gesamte Repertoire an Kunstgriffen, mit denen Menschen sich der Gewißheit zu entziehen versuchen, daß die Natur letztlich stets die Oberhand behält. Die damit verbundenen falschen Hoffnungen haben mit realistischen Erwartungen nichts gemein. 

Daß allerdings nur wenige gegen sie gefeit sind, mußte ich vor einigen Jahren selbst erfahren, als bei meinem Bruder Darmkrebs diagnostiziert wurde, der schon viele Metastasen gebildet hatte. 

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    Harvey    

Mein Bruder Harvey Nuland war 62 Jahre alt und äußerlich kerngesund. Einen Arzt brauchte er nur selten. Aufgrund seines stämmigen Körper­baus wirkte er trotz seiner fünf bis sieben Kilogramm Übergewicht nicht dick. Als Teilhaber einer größeren New Yorker Revisionsfirma hatte er viel zu tun und viel Verantwortung zu tragen. 

Obwohl seine Arbeit ihn in höchstem Maße befriedigte, war sie nicht sein wichtigster Lebensinhalt. Harveys ganzes Glück war seine Familie. Er hatte Ende Dreißig geheiratet und war erst mit über vierzig Jahren Vater geworden. Dies und vielleicht die Tatsache, daß sich unsere Wege als Erwachsene getrennt hatten, mögen die Gründe dafür gewesen sein, warum ihm familiäre Nähe soviel bedeutete. 

An einem Vormittag im November 1989 teilte mir Harvey telefonisch mit, er habe seit Wochen Bauchschmerzen und Verdauungs­probleme. Am Tag vor seinem Anruf hatte sein Hausarzt eine Verhärtung im rechten Unterleib festgestellt. Noch am selben Tag sollten Röntgenaufnahmen gemacht werden. Harvey versprach, mich auf dem laufenden zu halten. 

Er versuchte mich sachlich über die Ereignisse zu informieren, aber wir kannten uns viel zu gut, als daß er mich über seine innere Unruhe hätte hinwegtäuschen können. Auch mir gelang es nicht, ihm mit ein paar beruhigenden Worten die Angst auszureden. Als Brüder durchschauten wir uns gegenseitig, aber nur ich ahnte, wie die Diagnose wohl aussehen würde.

Wenn ein Zweiundsechzigjähriger, in dessen Familie es mehrere Fälle von Darmkrebs gab, schwere Verdauungs­probleme und eine schmerzhafte Verhärtung im Unterleib hat, ist er aller Wahrschein­lichkeit nach gleichfalls an dieser besonders gefährlichen Krebsart erkrankt. Und wenn Darmkrebs entdeckt wird, kommt die Rettung oft zu spät.

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Die Röntgenuntersuchung bestätigte meine Befürchtungen. Harvey entschied sich für eine Behandlung an einer großen Universitäts­klinik, da er bei der Arbeit einen leitenden Arzt der dortigen Abteilung für Magen- und Darmkrankheiten kennen­gelernt hatte. Der Chirurg, den ich ihm empfohlen hatte, stand wegen eines Kongresses in den USA im Augenblick leider nicht zur Verfügung. Da bei Harvey ein Darmverschluß drohte, war ein sofortiger operativer Eingriff unumgänglich. Ich kannte den Operateur nicht persönlich, aber er hatte bei dem Gastroenterologen, den Harvey kannte, einen sehr guten Ruf.

Jedenfalls fand er bei meinem Bruder einen großen Tumor im aufsteigenden Dickdarm. Die Geschwulst war bereits ins umliegende Gewebe hineingewuchert und hatte praktisch alle Knoten des abfließenden Lymphsystems befallen. Sie hatte an verschiedenen Oberflächen und Geweben in der Bauchhöhle Tochter­geschwülste gebildet, allein in der Leber mindestens ein halbes Dutzend. Die Bauchhöhle war mit einer Flüssigkeit voller Krebszellen angefüllt. 

Der Befund hätte nicht schlimmer sein können. Dabei hatte Harvey nur ein paar Wochen Beschwerden gehabt. 

Das Operationsteam entfernte den Teil von Harveys Dickdarm, der von der Primärgeschwulst befallen war. Die Gefahr des Darmverschlusses war damit fürs erste gebannt. Große Mengen verkrebsten Gewebes in der Leber und in anderen Körperregionen dagegen konnten operativ nicht beseitigt werden. Als sich Harvey vom Eingriff erholt hatte, fiel mir die Aufgabe zu, ihm schonend die Wahrheit beizubringen. Von mir hing letztlich auch die Entscheidung über die weitere Behandlung ab, denn es war klar, daß Harvey sich an meine Empfehlungen halten würde. 

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Wie konnte ich in dieser Situation objektiv bleiben? Das Leben meines Bruders stand auf dem Spiel. Andererseits konnte ich mich natürlich nicht aus der Verantwortung stehlen. Ich konnte Harvey, seine Frau Loretta und ihre beiden Kinder im College-Alter nicht einfach im Stich lassen.

Von den behandelnden Ärzten hatte ich kaum Entscheidungshilfen zu erwarten. Sie hatten sich bisher als unnahbar und distanziert gezeigt und waren vor allem mit sich selbst beschäftigt. Angesichts dieser Gefühls­armut schienen sie mir kaum fähig, an einem fremden Schicksal ernsthaft Anteil zu nehmen. Ich sah sie geschäftig von Raum zu Raum eilen und war jedesmal fast froh, daß mich in meinem Leben Tragödien daran gehindert hatten, so zu werden wie sie.

Ich habe jahrzehntelang mit Spezialisten von Universitäts­kliniken zu tun gehabt. Die meisten von ihnen haben meiner Meinung nach Einfühlungs­vermögen, nur die wenigsten sind völlig gleichgültig. Doch ich hatte den Eindruck, daß diese wenigen in der Klinik, in der mein Bruder behandelt wurde, den Ton angaben.

Mit dieser Bürde auf meinen Schultern machte ich eine Reihe von Fehlern. Daß ich dabei die besten Absichten hatte, ändert nichts an meiner heutigen Einschätzung. Ich war überzeugt, ich würde meinem Bruder jede Hoffnung nehmen, wenn ich ihm die volle Wahrheit sagte. Ich saß also genau dem Irrtum auf, vor dem ich andere gewarnt habe.

Wie ich und meine vier Kinder hatte auch Harvey die tiefblauen Augen unserer Mutter. Wenn ich meinen Bruder in den langen drei Wochen nach der Operation im Krankenhaus besuchte, waren seine Pupillen jedesmal nur so groß wie Stecknadelköpfe: Wegen der anhaltenden Schmerzen der Operations­wunde, die sich von den Rippen bis zum Schambein hinzog, bekam er Morphium oder andere Schmerzmittel.

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Harvey war sehr kurzsichtig, trug seine Brille in dieser Zeit aber selten. Seine ungewöhnlich blauen Augen hatten wieder diesen Blick, den ich aus unserer Kindheit kannte, wenn wir in der Bronx in den wenigen freien Stunden nach Schule und Arbeit zusammen Ball gespielt hatten. Die Krankheit hatte Harvey auf geheimnisvolle Weise die Unschuld und Zuversicht seiner frühen Jugend wiedergegeben. Mein großer Bruder, bei dem ich mir im Lauf meines Lebens so oft Rat und Hilfe geholt hatte, war wieder ein kleiner Junge. Ich dagegen war als gesunder Mensch erwachsen geblieben. 

In den Tagen nach der Operation beschloß ich, meinem Bruder die Ängste derer zu ersparen, die wissen, daß sie verloren sind. Aus heutiger Sicht weiß ich, daß ich vor allem mir selbst vieles ersparen wollte. 

Mir war damals keine Form der Chemo- oder Immuntherapie bekannt, die Krebs in diesem fortgeschrittenen Stadium hätte aufhalten können. In New Haven sprach ich mit Onkologen über den Fall, in der Hoffnung, sie könnten mir vielleicht zu einem medizinischen Wunder verhelfen. Bei mehreren zermürbenden Versuchen, mich mit Harveys behandelnden Ärzten zu besprechen, bekam ich deren Arroganz zu spüren. Dann erfuhr ich von Experimenten mit einer neuen Therapie, bei der zwei Wirkstoffe in einer bislang unerprobten Kombination verabreicht wurden. Es handelte sich um 5-Flurouracil, das in den Stoffwechsel der Krebszelle eingreift, und Interferon, das auf bisher ungeklärte Weise das Wachstum von Tumoren hemmt. Beide Präparate waren in einer bestimmten Kombination erst bei einer sehr kleinen Gruppe von Patienten getestet worden. 

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Bei elf von neunzehn Patienten hatte die Behandlung zu einer Schrumpfung des Krebsgewebes geführt, allerdings war dieser Erfolg mit sehr starken Neben­wirkungen erkauft worden. Die Medikamente wirkten wie Gift auf den Organismus. Ein Patient war sogar an ihnen gestorben. Ich machte an Harveys Klinik einen Arzt ausfindig, der diese Kombination von Präparaten bereits erprobt hatte. 

Statt mich von meinen klinischen Erfahrungen mit solchen Krebsfällen leiten zu lassen, gab ich meinen Gefühlen für meinen Bruder nach. Wieso glaubte ich plötzlich, ein Problem, das unlösbar war, wenn ich nüchtern darüber nachdachte, könnte durch einen glücklichen Zufall gelöst werden? Wie konnte ich darauf hoffen, daß eine neue Heilmethode oder zumindest ein wirkungsvolleres Mittel zur Linderung des Krebsleidens gerade in dem Augenblick auftauchen würde, in dem mein Bruder unheilbar daran erkrankt war? 

Heute weiß ich nicht mehr, was ich damals glaubte, aber meine Handlungen wurden ganz offenbar von meiner Unfähigkeit diktiert, Harvey die volle Wahrheit über seine Heilungschancen zu sagen.

Ich konnte meinem Bruder einfach keinen reinen Wein einschenken, wie es richtig gewesen wäre. Ich brachte es nicht über mich, ihm seelische Qualen zu bereiten. So weckte ich in ihm trügerische Hoffnungen, statt zu versuchen, ihm angesichts des nahen Todes Trost und Rat zu spenden.

Ich hatte in die kindlich zuversichtlichen blauen Augen meines Bruders geblickt und in ihnen den innigen Wunsch gelesen, gerettet zu werden. Ich wußte, daß es keine Rettung gab, brachte es aber nicht fertig, ihm die Hoffnung zu nehmen. Ich erklärte ihm, er habe Darmkrebs und Metastasen in der Leber, sagte ihm aber nicht, wie weit die Primärgeschwulst ins umliegende Gewebe hineingewuchert war und was die Flüssigkeit in seiner Bauchhöhle bedeutete.

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Ich dachte keinen Augenblick daran, ihn darüber aufzuklären, daß er den nächsten Sommer mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben würde. Ich hielt mich in jeder Hinsicht an den pater-nalistischen Leitsatz, den mir ein Professor in meiner Studienzeit mit auf den Weg gegeben hatte: »Teile deinen Optimismus und behalte den Pessimismus für dich.« Harveys Augen und das, was er sagte, bestimmten unbewußt mein Handeln.

 

Kein Arzt, der Krebspatienten behandelt hat, kann die Macht des sogenannten Leugnens bestreiten. Dieser unbewußte psychische Mechanismus, der Freund und Feind der Todkranken, lindert für den Augenblick und erschwert auf lange Sicht alles. 

Elisabeth Kübler-Ross* hat zu beschreiben versucht, welche Folge von Reaktionen bei Patienten abläuft, bei denen eine tödlich verlaufende Krankheit diagnostiziert worden ist. Bei aller Hochachtung für ihre Bemühungen weiß ich wie jeder erfahrene Kliniker, daß einige Patienten über die Phase des Leugnens, zumindest nach außen hin, nie hinauskommen. Viele andere Patienten bleiben im großen und ganzen beim Leugnen, obwohl sich der Arzt bemüht, sie über ihre schlechte Prognose aufzuklären. Oft werden selbst Erklärungen, warum das Leugnen eine so große Anziehungskraft hat, nicht zur Kenntnis genommen.

Harvey Nuland hatte einen scharfen Verstand und das wache Gespür von Menschen, die in ihrem Leben mit vielen Widrigkeiten fertig werden mußten. Doch ich war immer wieder bestürzt, wie hartnäckig er sich trotzdem bis in die letzten Tage hinein der Wahrheit verschloß. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, sich mit dem abzufinden, was seine Sinne ihm sagten. Der Wille weiterzuleben war bei ihm weitaus größer als der Wunsch, die Wahrheit zu kennen. 

*(d-2015:)  Kübler-Ross bei detopia 

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Das Leugnen ist einer der beiden Faktoren, welche den Ärzten und Angehörigen, die einen Sterbenden in seinen letzten Tagen an allen Entscheidungen in vollem Umfang teilhaben lassen wollen, die Aufgabe maßlos erschweren. Nur wenige Sterbende, die begriffen haben, daß ihre Krankheit unaufhaltsam weiter voranschreitet, sind noch bereit, einen heroischen und schwächenden Kampf gegen das nahe Ende zu führen. Wenn sich trotz Vernunft und Logik die »klare Einsicht in den Verlauf ihrer Krankheit« nicht einstellen will, ist das Haupthindernis meist das Leugnen. 

Ihm verfallen überraschenderweise oft auch Leute, die sich bereits als Gesunde mit der Möglichkeit, daß sie unheilbar erkranken könnten, vertraut gemacht haben: Einige haben Erklärungen unterschrieben, wonach ihr Leben bei einem schweren Unfall oder einer schweren Krankheit nicht künstlich verlängert werden soll. Ist es dann aber tatsächlich so weit, wollen auch sie nicht sterben. Ein gutes Mittel, dem Tod auszuweichen, besteht in der unbewußten Weigerung, ihn als Realität zu akzeptieren.

 

Das zweite Hindernis, das einer vollen Teilnahme des Patienten an den medizinischen Entscheidungen entgegensteht, ist der fehlende Wille vieler Patienten, sich eine eigene Meinung zu bilden und ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen oder ihre »psychische Autonomie«, wie es der Psychoanalytiker und Rechtsgelehrte Jay Katz nennt, zu wahren. Die Patienten sind oft zu schwach oder emotional nicht in der Lage, sich ein Bild über ihre Situation zu verschaffen und entsprechende Entscheidungen zu treffen.

Ihnen die Verantwortung für sich selbst abzunehmen, ist in vielen Fällen nicht leicht und immer mit der Gefahr von Fehlent­scheidungen verbunden. Andererseits kann das Problem durch ein klärendes Gespräch verringert werden. Oft stellt sich dann heraus, daß ein Todkranker sehr viel aktiver am Entscheidungs­prozeß teilnehmen will, als er sich zunächst zugetraut hat. Wenn er nicht teilnehmen will, muß natürlich auch dies respektiert werden. 

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Ich wollte für Harvey das Beste und versuchte dem Bild gerecht zu werden, das wir beide von mir hatten: das des jüngeren Bruders, der Medizin studiert hat und ein allwissender, geradezu allmächtiger Arzt geworden ist. Ich wollte ihm die Hoffnung, die er scheinbar brauchte, nicht rauben und nahm mir vor, die gesamte Krebsmedizin zu mobilisieren, um ihn aus den Klauen des Todes zu befreien. Jeder Arzt sieht sich insgeheim als ein solcher Lebensretter, und ich brauchte nur in die Augen meines Bruders zu blicken, um mich bestätigt zu fühlen. Wenn ich klüger gewesen wäre und mich von unvorein­genommenen Kollegen hätte beraten lassen, hätte ich wohl begriffen: Die Hoffnung, die ich in Harvey wachhalten zu müssen glaubte, mußte sich früher oder später als gefährliche Illusion erweisen. Und angesichts der schweren Neben­wirkungen der Chemotherapie, mit der wir experimentierten, bedeutete diese Hoffnung für uns alle nur zusätzliche Leiden und Ängste. 

 

Harvey lebte nach der ersten Operation noch zehn Monate. In dieser Zeit mußte er noch dreimal stationär ins Krankenhaus eingewiesen werden, das erste Mal zu Beginn der Chemotherapie zur Beobachtung, dann wieder gegen Ende seiner Krankheit wegen eines Notfalls: Die wachsenden Tumoransiedlungen hatten bei ihm zu einem akuten Darmverschluß geführt. Allerdings öffnete sich die Darmlichtung von selbst wieder so weit, daß er ausreichend flüssige Nahrung zu sich nehmen konnte; eine weitere Operation war deshalb überflüssig. Trotzdem verlor er zusehends an Gewicht. Obwohl diese letzte Phase im Kranken­haus für uns alle sehr schwer war, ist mir die Zeit unmittelbar davor in noch schlimmerer Erinnerung geblieben.

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Harveys Sohn Seth hatte sich für ein Jahr von der Schule beurlauben lassen, um in einem Kibbuz in Israel zu arbeiten. Als sein Vater krank wurde, kehrte er zurück und trug die Hauptlast bei der Pflege des Vaters, denn Harvey bestand darauf, daß seine Frau Loretta ihre Vollzeitbeschäftigung an einem College in der Nähe nicht aufgab. An einem Freitag teilte mir Seth am Telefon mit, Harvey liege seit zwei Tagen mit schweren Vergiftungserscheinungen auf einer fahrbaren Trage im Flur der Notaufnahme des Kranken­hauses. Er falle immer wieder ins Koma. Seth, seine Schwester Sara und Loretta wechselten sich an der Trage ab. Im ganzen Krankenhaus war kein einziges Bett frei. Die Chemotherapie hatte bei Harvey von Anfang an Übelkeit und Durchfall ausgelöst und die Neubildung weißer Blutkörperchen verhindert, doch in letzter Zeit hatte sich sein Zustand bedrohlich verschlechtert. Alles geriet außer Kontrolle. Der Onkologe, der Harvey betreute, war ins Wochenende gefahren, und seinem Assistenten fiel nichts Besseres ein, als eine intravenöse Infusion zu veranlassen. 

Als ich am nächsten Morgen im Krankenhaus ankam, war jede Kabine der Notaufnahme belegt. Das Chaos war perfekt. Im engen Korridor draußen standen mindestens sieben fahrbare Tragen. Ich hatte noch nie so viele Schwerkranke auf so engem Raum zusammengepfercht gesehen. Es handelte sich vor allem um Kranke mit Aids und Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium. Ich drängte mich vorsichtig an Patienten und Angehörigen vorbei, auf der Suche nach meinem Neffen. Er stand mit verzweifelter Miene an einer fahrbaren Trage, auf der sein Vater lag. Harvey war nicht bei Bewußtsein. Am Fußende saß meine Nichte und starrte zu Boden. Dann blickte sie zu mir auf und versuchte zu lächeln, aber Tränen liefen ihr über das Gesicht.

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In den drei Tagen, in denen Harvey auf dem überfüllten Korridor des Krankenhauses stand und immer wieder ins Koma fiel, hatte er ständig zwischen neun­unddreißig und vierzig Grad Fieber. Obwohl die Krankenschwestern und Harveys Kinder alles taten, um ihm wenigstens ein Minimum an Pflege zu geben, lag er mehrmals längere Zeit in seinem flüssigen Stuhl. 

Wenn er aus dem Koma erwachte, kam er nie ganz zu sich. Meist wußte er nicht, wo er war und was um ihn herum vor sich ging.

Ich sprach mit der zuständigen Ärztin, die mit den Nerven völlig am Ende war. Sie hatte immer wieder mit der Aufnahme telefoniert und darum gebeten, wenigstens die Patienten, denen es besonders schlecht ging, auf eine Station zu verlegen. Für Harvey erklärte sie sich zu einem weiteren Versuch bereit, froh über meine Beziehungen im Krankenhaus, denn so konnte sie hoffen, wenigstens einem Patienten zu einem Bett zu verhelfen. Die Rechnung ging auf. Zwei Stunden später konnten wir Harvey einen Stock höher auf Station bringen. Als wir ihn zum Fahrstuhl schoben, warf ich mit schlechtem Gewissen noch einen Blick auf die zurückgebliebenen Tragen. Neben der Stelle, an der unsere Trage gestanden hatte, sah ich einen übernächtigt aussehenden jungen Mann, der nicht älter war als mein Neffe; er beugte sich über eine Trage und redete mit seinem unter den Laken zitternden Freund — ebenfalls ein junger Mensch, der kurz vor dem Aids-Tod stand.

Harvey zahlte einen hohen Preis für eine Hoffnung, die nicht in Erfüllung ging. Wir hatten das Unmögliche versucht, obwohl ich gewußt hatte, daß dieser Versuch mit noch größeren Leiden erkauft werden würde. Bei meinem Bruder hatte ich meine über Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen einfach vergessen oder nicht wahrhaben wollen.

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Dreißig Jahre früher, vor der Entwicklung der Chemotherapie, wäre Harvey in etwa derselben Zeit und ebenfalls an einer schweren Kachexie und an Leber­versagen gestorben, aber ohne die zusätzlichen Leiden aufgrund der Nebenwirkungen der Medikamente und ohne die trügerische Hoffnung, die ich aus falsch verstandener Rücksicht bei ihm, seiner Familie und mir selbst nicht rechtzeitig ausgeräumt hatte. 

In meiner medizinischen Praxis mußte ich einigen Patienten mit Krebs im fortgeschrittenen Stadium sagen, daß für sie nur noch eine Chemotherapie mit schwersten Nebenwirkungen und sehr geringen Erfolgs­aussichten in Betracht käme. Einige haben eine weitere Behandlung daraufhin abgelehnt und ihre Hoffnung anderswo gefunden.

Die Metastasen in Harveys Leber waren durch die Behandlung zwar tatsächlich um beinahe 50 Prozent geschrumpft, aber als er sich von der fast tödlichen Vergiftung wieder etwas erholte, begannen sie erneut zu wachsen. Da das Wachstum der Tumoren in den anderen Körperbereichen nicht hatte gestoppt werden können, gab es für eine Fortführung dieser gefährlichen Behandlung keine Rechtfertigung mehr. Die Ärzte schickten ihn zum Sterben nach Hause. 

Zu diesem Zeitpunkt schalteten wir den lokalen Hospizdienst ein. Ich war im Vorstand des Connecticut Hospice gewesen und konnte diese Einrichtung bestens empfehlen. Ihre Schwestern und Ärzte hatten schon zahlreiche meiner Krebspatienten betreut. Ziel ihrer Arbeit ist es, dem Sterbenden und seinen Angehörigen Trost zu spenden und ihm das Leben in der Zeit des Abschieds zu erleichtern.

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Der lokale Hospizdienst nahm die Arbeit sofort auf und half Loretta den Haushalt so zu organisieren, daß Harvey sich ihn ihm noch möglichst lange frei bewegen konnte. Seth lernte, seinem Vater Schmerzmittel und Medikamente gegen Übelkeit zu verabreichen, und er lernte Techniken, wie er Harvey durchs Haus führen konnte.

Als die wuchernde Krebsgeschwulst zu einem völligen Darmverschluß führte, mußte sich Harvey erneut zur stationären Behandlung in die Klinik begeben. Der Krebs hatte sich inzwischen so stark ausgebreitet und so viele Bereiche des Dünndarms befallen, daß eine Operation nicht mehr möglich war. Das Ende schien nahe. Dann aber öffnete sich der Darmtrakt von selbst wieder so weit, daß Harvey nach Hause entlassen werden konnte. Mit dem chirurgischen Eingriff hatte ich diesmal den Kollegen betraut, den ich für die Behandlung meines Bruders ursprünglich vorgesehen hatte. Harveys Familie und ich sind ihm für seine Anteilnahme, seine Freundlichkeit und seinen gesunden Menschenverstand noch heute sehr dankbar.

Seth wurde Harveys Krankenpfleger und ständiger Gefährte. Trotz intensivster Betreuung und zahlreicher Besuche durch den Hospizdienst wurde es immer schwieriger, die Schmerzen des Kranken zu lindern und ihn angesichts seiner zunehmenden Schwäche richtig zu pflegen. Wegen des verengten Darmtrakts konnte er kaum noch Nahrung aufnehmen. Medikamente mußten ihm in Form von Zäpfchen verabreicht werden. Er hatte stark an Gewicht verloren, und es ging jetzt rapide bergab.

Wenn ich Harvey besuchte, setzten wir uns aufs Sofa und versuchten uns gegenseitig Mut zu machen. Einige Male, als wir kurze Zeit alleine waren, sprachen wir über Loretta und die Kinder und darüber, wie es weitergehen würde, wenn er nicht mehr da wäre. 

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Manchmal redeten wir auch über unsere Vergangenheit als Jungen in der Bronx und über unsere Babe, mit der wir jiddisch gesprochen hatten. Diese ferne Zeit erschien uns nun wie gestern. Verflogen waren die Verstimmungen und Spannungen, die es immer gibt, wenn zwei willensstarke Brüder heiraten und eigene Wege gehen. 

In diesen letzten Wochen tröstete mich die Erinnerung an schwierige Lebenslagen, aus denen mir Harvey als einziger hatte helfen können: Vor über zwanzig Jahren hatte ich alles, was mir in meinem Leben wichtig war, hinter mir gelassen, war in eine ferne, trostlose Fremde gereist und nur deshalb wieder zurück­gekommen, weil er mich erwartet hatte. So sehr wir uns auseinandergelebt hatten, an unserer Zuneigung füreinander hatte das nichts geändert. Und das mußten wir uns jetzt sagen. Ich küßte ihn jedesmal, bevor ich nach New Haven zurückfuhr; das letzte Mal zwei Tage, bevor er in dem Bett, das er und Loretta so viele Jahre geteilt hatten, von seinen langen Leiden erlöst wurde.

In den Tagen nach der Beerdigung ging ich jeden Morgen mit Seth und Sara in die Synagoge, in der ich keine zwei Jahre zuvor an einem Festessen zum Abschluß von Harveys Amtszeit als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde teilgenommen hatte. Wir sprachen ein Kaddisch, das Totengebet, das ich auswendig kannte, weil ich es so oft schon gesprochen hatte: zum erstenmal vor einem halben Jahrhundert an einem kalten Dezember­morgen, als Harvey und ich am offenen Grab unserer Mutter gestanden hatten.

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In einer Zeit medizinischer Hochtechnologie, in der täglich neue vielversprechende Wundermittel auf den Markt geworfen werden, erliegt man der Hoffnung leicht auch dann, wenn der gesunde Menschenverstand es besser weiß. Solche Hoffnungen werden nur allzuoft bitter enttäuscht, und sie richten mehr Schaden an, als daß sie Nutzen stiften.

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Ich bin nicht der erste, der Patienten, Angehörige und auch Ärzte dazu anhält, ihre Hoffnung anderswo zu suchen als nur in zum Teil fragwürdigen und gefährlichen Behandlungs­methoden. Bei unheilbaren Krankheiten wie Krebs im fortgeschrittenen Stadium muß neu definiert werden, was Hoffnung ist. Einige sterbende Patienten haben mir auf bewundernswerte Weise vor Augen geführt, wie vielfältig Hoffnung sein kann, wenn der Tod sicher ist. 

Ich wünschte, ich könnte von vielen solchen Fällen berichten, aber leider klammern sich die meisten Todgeweihten an den Strohhalm, den ihnen der Arzt hinstreckt. Sie bezahlen in der Regel mit zusätzlichen Leiden, vergeuden wertvolle Zeit der Vorbereitung auf den Tod und machen es sich und den Angehörigen unnötig schwer. 

Obwohl sich die meisten Menschen nach einem friedlichen Tod sehnen, behält der Überlebenstrieb doch die Oberhand.

 

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   Bob  

 

Vor ungefähr zehn Jahren hatte ich einen Krebspatienten, der sich so sehr vor der Behandlung fürchtete, daß er jede Hoffnung auf Heilung aufgab und seine ganze Hoffnung auf Bereiche außerhalb der Medizin setzte. Er fand sich mit seinem bevorstehenden Tod ab; Wunder erwartete er allenfalls von der Natur oder sich selbst, nicht aber von einem Optimismus versprühenden Onkologen.

Robert DeMatteis war 49 Jahre alt. Er war Anwalt und spielte in der Lokalpolitik seiner kleinen Heimatstadt in Connecticut eine wichtige Rolle. Und er hatte panische Angst vor Ärzten. Ich hatte ihn vierzehn Jahre vor seiner Krebserkrankung bereits einmal behandelt. Er war damals bei einem Verkehrsunfall ernsthaft verletzt worden, und ich war überrascht über seine geringe Bereitschaft, sich mit den kleinen Unannehmlichkeiten in der Klinik zu arrangieren.

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An der panischen Angst, die ihn beim bloßen Anblick eines weißen Kittels befiel, änderte nicht einmal die Tatsache etwas, daß seine Frau Carolyn Kranken­schwester war. Wie sie mir einmal verriet, bestand er darauf, daß sie die Schwesterntracht nach Dienst schon im Krankenhaus ablegte. Bob gehörte zu den Menschen, denen niemand Befehle erteilt. Er war stolz auf seine Unbeugsamkeit, und dazu gehörte, daß er sich nicht dazu überreden ließ, auf seine Gesundheit zu achten. Das einzige, was ihn an seinem Körper interessierte, war sein unersättlicher Appetit nach herzhafter Kost. So brachte Bob DeMatteis bei einer Größe von einem Meter zweiundsiebzig über drei Zentner auf die Waage.

Seine Familie, seine Freunde und die vielen Mitbürger, die bei ihm Rat suchten, kannten ihn als warmherzigen und geselligen Menschen. Dennoch war jeder sensible Mensch, der dem massigen Mann mit der finsteren Miene zum ersten Mal begegnete, eingeschüchtert. So herzlich Bob gegenüber Freunden und Bekannten war, so heftig konnte er im Streit werden. Und er war Respekt gewohnt. Seine rauhe Baßstimme ließ selbst Zärtlichkeiten wie eine Drohung klingen.

Bob schien kein Mensch, der beim bloßen Anblick einer Krankenschwester mit einer Spritze in der Hand zusammenzuckt. Daß er selbst über seine Angst spottete, änderte jedoch nichts daran, daß die Ärzte und das Pflegepersonal allerhand Schwierigkeiten mit ihm hatten. Während seines Aufenthalts auf meiner Unfallstation hinderte er mich mehrmals daran, seine Verletzungen sachgerecht zu versorgen.

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Angesichts dieser Erinnerungen war ich vierzehn Jahre später nicht besonders erfreut, als mir Bobs Internist eines Nachmittags Mitte Mai am Telefon mitteilte, Bob sei am selben Morgen nach einer heftigen Darm­blutung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Im Augenblick erhielt er eine Bluttransfusion auf der Inneren Abteilung. Ich ging zu ihm und schloß aus unserem Gespräch, daß er schon Monate vor dem jetzigen Vorfall kleinere Mengen Blut im Stuhl gehabt hatte. Er hatte seit Februar unter immer stärkeren Schmerzen im Unterleib gelitten. Außerdem hatte sich der Geruch seines Stuhls verändert, und auch dies deutete ohne sichtbare Farbänderung unmißverständlich auf Blut hin.

Vor einem Monat war es Carolyn mit viel gutem Zureden schließlich gelungen, ihn zu einem Besuch beim Internisten zu bewegen. Eine Reihe von Röntgen­aufnahmen ergab eine oberflächliche Erosion des Zwölffingerdarms, aber kein Geschwür. An der Valva ileocoecalis, dem Übergang zwischen Dickdarm und Dünndarm, wurde eine Schwellung entdeckt. Zu Bobs Erleichterung stellte man keine Geschwulst fest.

Einige Stunden nach seiner Aufnahme im Yale New Haven Hospital hörte die akute Blutung auf. Jetzt konnte man Bobs Verdauungstrakt eingehend unter die Lupe nehmen. Wegen der seltsamen Anschwellung auf dem Röntgenbild und den körperlichen Befunden konzentrierte sich die Untersuchung auf den unteren Bereich des Darmtraktes. Wir waren nicht überrascht, als sich bei einer Untersuchung mit dem Koloskop, einem Gerät mit Glasfiberoptik, die Schwellung an der Valva ileocoecalis als Tumor herausstellte.

Wie vorherzusehen war, reagierte Bob auf die Nachricht, daß er sich einer Operation unterziehen müsse, mit Panik und lehnte den Eingriff zunächst kategorisch ab. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, ließ er sich von seiner geduldigen Frau schließlich jammernd und fluchend doch zu einer Operation überreden. Ich habe in meinem Leben wohl nie einen ängstlicheren Patienten im Operationssaal gehabt.

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Während der Narkotisierung halte ich meinen Patienten, sofern möglich, die Hand und rede ihnen beruhigend zu. Bob war eine völlig neue Erfahrung. Bevor ich mir die Hände desinfizieren und die Handschuhe überstreifen konnte, mußte ich mir erst einige Minuten die Finger massieren. Er hatte sie mir so fest gedrückt, daß sie völlig taub geworden waren. 

Der Befund bei der Operation war ein Schock. Ich hatte als Ursache der Blutung einen relativ kleinen Tumor mit einem Geschwür erwartet. Statt dessen stieß ich, so später der Bericht aus der Pathologie, auf ein »spärlich differenziertes primäres Adenocarcinom, das am Zäkum an der Valva ileocoecalis entstanden und transmural ins pericolonische Fettgewebe eingewandert ist; zudem ausgedehnter lymphatischer und vaskulärer Befund sowie Metastasen in acht von siebzehn Lymphknoten.« Eine stark eiternde Nekrose im Zentrum des Tumors hatte für die akute Darmblutung gesorgt. 

Zwar gab es keine sichtbaren Hinweise auf Fernmetastasen, aber Bobs Krebs war besonders aggressiv. Die umliegenden Blut- und Lymphgefäße waren stark befallen, also mußte man davon ausgehen, daß eine große Menge Krebszellen in den Kreislauf gelangt waren. Und fast ebenso sicher hatte der Tumor in die Leber metastasiert, auch wenn die Tochtergeschwülste unter der Oberfläche des Organs noch zu klein waren, als daß man sie hätte sehen oder ertasten können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich bemerkbar machen würden.

Bobs Aussichten waren furchtbar. 

Bob DeMatteis war so schroff und direkt, wie seine Erscheinung vermuten ließ. Dabei hatte er ein feines Ohr für ausweichende Antworten. Er wollte über seinen Zustand alles ganz genau wissen, keine Einzelheit durfte unterschlagen werden.

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Von meinem Bruder Harvey abgesehen, habe ich möglichst immer die Voraussetzungen dafür zu schaffen versucht, daß meine Patienten volle Aufklärung verlangen konnten. Ich war froh über Bobs Fragen, fürchtete allerdings, daß er die Wahrheit doch nicht ganz verkraften würde. Doch ich nahm ihn beim Wort und machte mich darauf gefaßt, daß er seelisch zusammenbrechen oder in tiefe Niedergeschlagenheit verfallen würde.

Aber nichts dergleichen geschah. 

Der befürchtete Gefühlsausbruch blieb aus. Bob nahm den Befund ruhig und gefaßt entgegen. Er hatte Carolyn vor ihrer Hochzeit einmal gesagt, er erwarte nicht, seinen fünfzigsten Geburtstag zu erleben — wie er darauf kam, weiß sie bis heute nicht. Jetzt schien sich seine Prognose zu bestätigen. 

Nach unserem Gespräch nach der Operation wußte er, daß er an Darmkrebs sterben würde, und er hatte die Absicht, sich ins Unvermeidliche zu fügen und keine weiteren Eingriffe über sich ergehen zu lassen. Er war nicht religiös, vertraute aber fest auf die eigene seelische Kraft, und das wirkte in der ihm verbleibenden Zeit als stabilisierender Faktor. 

Bob hoffte nicht auf die Fachärzte. Weil (meiner Meinung nach obwohl) seine Krankheit bereits im fortgeschrittenen Stadium war, erhielt er erst auf Anregung seiner Frau und des untersuchenden Internisten Gelegenheit zum Beratungsgespräch mit einem Onkologen. Obwohl weder er noch ich uns viel davon versprachen, erklärte er sich zu einem solchen Gespräch bereit — wegen Carolyn, die alle medizinischen Mittel ausschöpfen wollte, um ihren Mann vielleicht doch noch zu retten. 

Ich hatte es bis dahin noch nie erlebt, und daran hat sich bis heute nichts geändert, daß ein Onkologe einem Patienten von einer Behandlung abgeraten hätte, es sei denn die Krankheit war in einem sehr frühen Stadium erkannt und chirurgisch beseitigt worden. Bob machte keine Ausnahme, und Carolyn bewog ihn dazu, das Therapie­angebot wahrzunehmen. 

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Aus einem Grund, der fast nur bei besonders dicken Patienten auftritt, mußte die Chemotherapie verschoben werden. Wegen der dicken Fettschicht unter Bobs Haut konnte ich die Wunde nach der Operation nicht sofort wieder vernähen, da die Gefahr bestand, daß sich Eiterherde bilden würden. Ich mußte sie langsam von unten nach oben zusammenwachsen lassen, deshalb kam die Verabreichung der starken Medikamente, die bei der Chemotherapie eingesetzt werden, bis auf weiteres nicht in Frage. Als die Behandlung schließlich beginnen konnte, waren die Metastasen in Bobs Leber bereits so groß, daß man sie bei einer Szintigraphie, einer Untersuchung mit Radionukleiden, erkennen konnte. 

Der Onkologe führte mit Bob vor Beginn der Behandlung ein »umfassendes, offenes Gespräch«, wie er später in einem Brief an mich schrieb. Er »erläuterte ihm eingehend, wie weit die Metastasierung vorangeschritten war«. Sollte die Chemotherapie nicht anschlagen, würde es rasch bergab gehen. Das Ende wäre dann in einem Zeitraum von sechs Monaten zu erwarten. 

Bob, so berichtete der Onkologe, sei sehr aufgeschlossen gewesen und habe einen »vorsichtigen Optimismus« gezeigt, er sei aber realistisch geblieben.

Damals hatte Bob die zehn Kilogramm Gewicht, die er nach der Operation verloren hatte, wieder zugenommen. Er hatte keinerlei Beschwerden und fühlte sich erstaunlich wohl. Daß die Medikamente der Chemotherapie nur »palliativ oder präventiv« (so die Fachsprache), also lindernd und vorbeugend verabreicht werden sollten, war ihm genau bekannt. Ich glaube, er erhoffte sich nicht einmal eine lindernde oder verzögernde Wirkung und stimmte der qualvollen Prozedur überhaupt nur deshalb zu, weil Carolyn und ihre einundzwanzigjährige Tochter Lisa es so wollten.

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Die Behandlung konnte beginnen. Innerhalb von zwei Wochen traten bei Bob Schübe mit hohem Fieber auf. Verstopfung und Durchfall lösten sich ab. Wegen des flüssigen Stuhls und des Drucks aufgrund seines großen Körpergewichts entzündete sich die Haut am Gesäß und wurde wund. Die Chemotherapie mußte abgesetzt werden. Gleichzeitig bekam Bob Schmerzmittel, weil sich die Metastasen in der Leber bemerkbar machten.

Bob konnte schon bald nicht mehr in der Kanzlei arbeiten.

Die Metastasen in der Leber wuchsen erschreckend schnell. Bald stellte sich eine Gelbsucht ein. Ein weiterer Tumor im Beckenbereich drückte auf die Gefäße im Unterleib und führte zu einem Ödem in den Beinen. Wegen der starken Schwellungen konnte Bob kaum noch einen Spaziergang um sein Haus machen. Da Carolyn arbeitete, blieb Lisa bei ihm zu Hause. Jahre später erzählte sie mir, daß sie mit ihrem Vater ganze Nächte hindurch über sich und ihr Leben geredet hätte. »Obwohl unser Verhältnis schon zuvor sehr innig gewesen war, rückten wir in diesen letzten Monaten noch enger zusammen.« 

Am Morgen des 24. Dezember machte ich einen Hausbesuch bei DeMatteis.

Er wohnte in einem bewaldeten, hügeligen Gebiet in einem Vorort der Stadt, in der er so lange Zeit politisch aktiv gewesen war. Seit einigen Stunden fiel Schnee, gleichsam als wolle der Himmel den letzten Wunsch eines Mannes nach einer weißen Weihnacht erfüllen, der keine weitere Weihnacht erleben würde. Weihnachten war für Bob immer eine ganz besonders fröhliche Zeit gewesen, die er gerne im Kreis von Freunden ausgelassen gefeiert hatte. Seit ihrer Eheschließung hatten die DeMatteis zu Heiligabend immer viele ganz verschiedene Gäste gehabt.

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Einziges Kriterium der Einladung war, daß Bob mit der betreffenden Person gerne zusammen war. In Gesellschaft fühlte er sich am wohlsten, und je lauter es herging, desto mehr ging auch er aus sich heraus. Bei solchen fröhlichen Anlässen wich sogar der finstere Blick aus seinem Gesicht. An Weihnachten war er jedesmal wie verwandelt, und er pflegte seiner Tochter Lisa und Carolyn vor der Bescherung sogar Dickens' Erzählung <Der Weihnachtsabend> vorzutragen — nicht vorzulesen, sondern auswendig vorzutragen.

Mich wunderte es nicht zu erfahren, daß diese Erzählung, in der sich der Geizhals Scrooge am Weihnachts­abend auf wunderbare Weise in einen gütigen und hilfsbereiten Menschen verwandelt, für ihn das beste Werk seines Lieblingsautors Dickens war. 

Bob war fest entschlossen, sein letztes Weihnachten nicht anders zu feiern als alle bisherigen. Carolyn öffnete mir mit einem mutigen Lächeln die Tür. Das Haus war festlich geschmückt, der Tisch für ungefähr fünfundzwanzig Gäste gedeckt, und unter dem Weihnachtsbaum stapelten sich die Geschenke. Da die Gäste erst in einer Stunde eintreffen sollten, konnten Bob und ich uns in Ruhe über den Grund meines Besuchs unterhalten. Ich wollte ihn dazu überreden, den örtlichen Hospizdienst in Anspruch zu nehmen. Da sich sein Gesundheitszustand täglich verschlechterte, würde ihn Lisa bald nicht mehr angemessen versorgen und pflegen können.

Wir setzten uns nebeneinander auf Bobs gemietetes Krankenhausbett. Nach einer Weile nahm ich seine Hand in meine. Jetzt fiel mir das Sprechen leichter.

Wir waren zwei Männer ungefähr gleichen Alters, aber in ganz verschiedenen Lebenssituationen. Bob hatte keine Zukunft mehr vor sich. Aber er hatte für sich eine Form der Hoffnung gefunden: Er wollte bis zum letzten Atemzug er selbst bleiben, und seine Freunde sollten ihn so in Erinnerung behalten, wie er immer gelebt hatte. 

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Er feierte sein letztes Weihnachten und war sich dessen voll bewußt. Nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, war er bereit, die Dienste der Schwestern des Hospizes für die verbleibende Zeit in Anspruch zu nehmen. 

Als ich mich von diesem ungewöhnlichen Mann verabschiedete, der einen Lebensmut ausstrahlte, den ich ihm niemals zugetraut hätte, war mir die Kehle wie zugeschnürt. Bob war ungeduldig, denn er mußte sich vor dem Eintreffen der Gäste noch umziehen, was längere Zeit in Anspruch nahm; außerdem erinnerte meine Gegenwart ihn daran, was nach dem Fest auf ihn zukommen würde. Als ich in die verschneite Nacht hinausging, rief er mir vom Schlafzimmer aus nach, ich solle vorsichtig sein, es sei glatt auf der Straße: »Es ist gefährlich da draußen, Doc — und Weihnachten ist keine Zeit zum Sterben!«

Bob hatte an alles gedacht. Carolyn mußte das Licht etwas abdunkeln, damit die Gäste nicht sahen, wie gelb er im Gesicht war. Beim Abendessen ging es wie immer fröhlich und ausgelassen zu; Bob saß am Kopf der Tafel und lud sich Speisen auf den Teller, obwohl er feste Nahrung schon seit langem nicht mehr zu sich nehmen konnte. Alle zwei Stunden schleppte er sich in die Küche und ließ sich von Carolyn eine Morphiumspritze geben. Als die letzten Gäste sich verabschiedet hatten — darunter viele alte Freunde, die Bob nie mehr sehen würde —, schleppte er sich wieder ins Bett. 

Carolyn fragte ihn, wie ihm der Abend gefallen habe. An seine Worte erinnert sie sich noch heute: »Es war eines der schönsten Weihnachten, die ich je erlebt habe.« Und er fügte hinzu: »Weißt du, Carolyn, bevor man stirbt, muß man gelebt haben.«

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Vier Tage nach Weihnachten begann der Hospizdienst mit der häuslichen Betreuung Bobs. Es war kein Tag zu früh. Zu Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen aufgrund der Tumoren in der Leber und im Beckenbereich kam jetzt noch hohes Fieber. An Silvester stieg Bobs Körpertemperatur auf 41 Grad. Er hatte heftigen Durchfall und konnte den wäßrigen Stuhl oft nicht halten.

Doch das Schlimmste war noch nicht überstanden. Am 21. Januar stimmte er einer stationären Aufnahme in das Connecticut Hospice in Branford zu. Zu diesem Zeitpunkt konnte man bei ihm die Leber, die bei gesunden Menschen nicht unter dem unteren Rippenrand hervortritt, durch die Bauchwand fünfundzwanzig Zentimeter tiefer fühlen. Die gewaltige Vergrößerung ging fast ausschließlich auf verkrebstes Gewebe zurück. Trotz der bereits seit langem anhaltenden mangelhaften Ernährung bescheinigte man ihm bei der Aufnahme im Hospiz eine »massive Fettleibigkeit«. 

Obwohl sich Bob einer stationären Aufnahme im Hospiz zunächst widersetzt hatte, mußte er schließlich zugeben, daß dieser Schritt für ihn und für seine Familie eine gewaltige Erleichterung bedeutete. Er hatte Angstzustände und zeigte eine nervöse Unruhe, so daß ihm neben Morphium auch noch Beruhigungs­mittel in hohen Dosen verabreicht werden mußten. Durch den Mund konnte er nur beschränkte Mengen an Flüssigkeit zu sich nehmen. Nach der Einlieferung schien er stündlich schwächer zu werden. Er zwang sich, zum Wasserlassen aufzustehen, und machte erfolglose Versuche zu gehen. 

Obwohl er den Tod angenommen hatte, konnte er vom Leben offenbar noch nicht lassen. Am Nachmittag nach dem Tag seiner Einlieferung wurde er plötzlich sehr unruhig. Er erklärte Carolyn und Lisa, er wolle jetzt sofort sterben.

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Die Frauen begannen in ihrer Hilflosigkeit zu weinen. Bob sah sie bittend an, breitete seine noch immer massigen Arme aus und drückte sie tröstend an sich, wie er es schon so viele Male getan hatte. Während er sie festhielt, bat er sie um Erlaubnis zu sterben. Ohne diese Einwilligung, so meinte er, könne er nicht gehen. Er verlangte von ihnen nichts als diese Erlaubnis, und erst, als er sie erhielt, beruhigte er sich wieder.

Einige Augenblicke später sagte er zu Carolyn: »Ich möchte sterben.« Dann flüsterte er: »Aber ich will leben.« Dann schwieg er. 

Bob war fast den ganzen nächsten Tag über wie betäubt. Er sprach bis zum Nachmittag kein einziges Wort, aber Carolyn war überzeugt, daß er sie verstand, wenn sie zu ihm sprach. Sie redete leise mit ihm und sagte ihm, wieviel er ihr bedeute. Plötzlich - als sehe er durch die geschlossenen Lider etwas Wunderbares - legte sich ein Lächeln über sein ganzes Gesicht. »Was er auch gesehen hat«, meinte Carolyn danach, »es muß sehr schön gewesen sein.« Fünf Minuten später war er tot. 

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Bob wurde von einer gewaltigen Menschenmenge zum Grab geleitet. Die Beerdigung, an der sogar der Bürgermeister teilnahm, war geradezu ein öffentliches Ereignis. Eine kleine Ehrenformation der Polizei holte Bobs Sarg vor der Kirche ab. Er wurde mit einem Abschiedsbrief seiner Tochter Lisa in der Anzug­tasche beerdigt. Als der Sarg aus Kirschholz in die Grube gesenkt wurde, bemerkte Carolyns Onkel auf dem Deckel einen kleinen nassen Fleck von Lisas Tränen.

Bob liegt auf einem katholischen Friedhof ungefähr fünfzehn Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Wie um die Gleichheit der Menschen im Tod hervor­zuheben, gibt es auf dem hügeligen Areal mit gepflegten Gräbern keine Grabsteine. Die Ruhestätten sind nur durch einen Stein am Fußende gekenn­zeichnet.

Ich besuchte das Grab von Bob DeMatteis, als ich diese Seiten schrieb. Ich wollte einen Mann ehren, der für sich einen neuen Lebenssinn gefunden hatte, als ihm klargeworden war, daß er bald sterben würde. Er hat mir gezeigt, daß Hoffnung auch dann noch möglich ist, wenn es keine Rettung mehr gibt. Als mein Bruder zehn Jahre später todkrank wurde, hatte ich diese wichtige Lehre vergessen. An ihrer Gültigkeit ändert das freilich nichts. 

Ich wußte von Carolyn bereits, daß Bob noch zu Lebzeiten ein Zitat von Dickens - sein Lieblingszitat - als Grabspruch ausgewählt hatte. Trotzdem war ich beeindruckt, als ich auf dem Stein aus Granit den Spruch las, mit dem Bob DeMatteis bei den Menschen in Erinnerung bleiben wollte: 

»Und immer wurde von ihm gesagt, wenn jemand Weihnachten richtig feiern könne, dann sei er es.« 

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Nuland 1993