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1  Ein Vorfall in der U-Bahn  

 

 

11-27

Einer kurzen Begebenheit, die etwa fünf Jahre zurückliegt, verdanke ich die folgende Erkenntnis: Es besteht ein Unterschied zwischen dem Gefühl kraft­strotz­ender, guter Gesundheit und der Selbsttäuschung, mit der man sich vormacht, nach wie vor jung zu sein.

Mit anderen Worten: Ich lernte, dass ein Mann im fortgeschrittenen Alter, der sich durch sein biologisches Alter niemals in irgendeiner Weise eingeschränkt fühlte, ebendieses Alter niemals völlig aus dem Blick verlieren sollte.

Der Vorfall spielte sich an einem Spätnachmittag im September ab, an dem ich mit meiner Frau und meiner jüngeren Tochter an der Haltestelle Times Square in New York in einen U-Bahn-Zug gestiegen war. Es herrschte Berufsverkehr, und in der schiebenden Menge der Fahrgäste wurden wir, in einer Reihe stehend, dicht aneinandergedrängt, die neunzehnjährige Molly in der Mitte, ich hinter ihr. Zwischen meinem Rücken und der Waggontür stand jemand, den ich aus den Augenwinkeln nur als großen, breitschultrigen Mann, etwa Ende dreißig, ausgemacht hatte. 

Der Zug war eben erst losgefahren, als der nackt rechte Arm des Mannes um mich herumlangte. Die Hand war weit ausgestreckt, und es war offensichtlich, dass er Molly an den Hintern fassen wollte. Ich war sprachlos über die Unverfrorenheit dieses Kerls, besaß aber dennoch die Geistes­gegenwart, das zu tun, was wohl jeder Vater tun würde: Ich drückte den Mann so kräftig gegen die Waggontür, dass Molly außerhalb der Reichweite seiner ausgestreckten Finger war. In einer Art stillschweigender New Yorker Übereinkunft taten danach sowohl der verhinderte Grabscher wie auch ich selbst, als sei nichts vorgefallen, während der Zug weiter über die unterirdischen Gleise ratterte.

Aber ich irrte mich, wenn ich annahm, die Sache sei bereits ausgestanden. Es war gerade mal eine halbe Minute vergangen, als ich eine kaum wahr­nehmbare Hand zu spüren bekam, die sich heimlich in die rechte Tasche meiner Khakihose vorarbeitete. Jeder Gedanke, dass mir vielleicht die Phantasie einen Streich spielte, wurde im nächsten Augenblick zerstreut, denn durch den Stoff spürte ich sehr deutlich, wie die Fingerspitzen durch die leere Tasche wanderten.

In den Sekunden, die folgten, kam mir nicht in den Sinn, die Konsequenzen dessen zu bedenken, was nach meiner Entscheidung augenblicklich getan werden musste. In Wirklichkeit ist »Entscheidung« kaum das passende Wort - was ich dann tat, lief praktisch automatisch ab. Ich fuhr mit der Hand in die Tasche, umschloss die Knöchel, die zu einer Handfläche gehörten, die größer als meine eigene war, und drückte mit aller Kraft zu. Ich spürte, wie ich dabei mit den Zähnen knirschte, und ließ nicht los, bis ich eher fühlte als hörte, wie schmerzhaft sich hier Knochen an Knochen rieb und schließlich etwas unter dem heftigen Druck meiner zupackenden Finger nachgab. Der heftige Schmerzensschrei einer Baritonstimme erinnerte mich wieder daran, dass ich 71 Jahre alt war, und ließ mich erkennen, dass ich zu weit gegangen war.

Worauf hatte ich mich da eingelassen? Hätte es nicht genügt, die eindringende Hand einfach zu entfernen? Vielleicht hätte ich auch gar nichts tun sollen - die Hosentasche war schließlich leer, wie immer, wenn ich damit rechnete, mich an einen geschäftigen, unübersichtlichen Ort begeben zu müssen. Ich hatte dem unüberlegten Impuls nachgegeben, die diebische Hand zu zerquetschen, und das entsprang einem übergroßen, von Hunderten Stunden Krafttraining in einem heimischen Fitnessstudio gespeisten Selbstbewusstsein. Als dieser erste, instinktive Impuls nachließ, wurde mir sofort klar, dass die Rache meines Opfers umgehend folgen würde. Von diesem Gedanken aufgeschreckt, lockerte ich meinen Griff und spürte, wie sich die malträtierte Hand blitzartig aus meiner Hosentasche zurückzog.

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Doch wer hätte ahnen können, dass die Reaktion schließlich so ausfallen würde, wie es dann geschah? Mein Widersacher, der immer noch zwischen meinem Rücken und der Waggontür eingezwängt war, verlegte sich unerklärlicherweise auf eine wirre Beschuldigung und schrie so laut, dass alle mithören konnten, dieser Mann habe »... VERSUCHT, MEINE TASCHE ZU STEHLEN!« 

Ich war mir sicher, dass ich mich verhört hatte, und rechnete mit einem massiven Übergriff. Unbeholfen drehte ich mich in diesen beengten Verhältnissen um, um dem zu erwartenden Angriff so wirksam begegnen zu können, wie ein akuter Anfall nervöser Reue dies zuließ. Nach dieser halben Umdrehung sah ich schließlich in ein gequältes, aber zugleich wütendes Gesicht. Es gehörte zu einem brutal wirkenden unrasierten Kerl, der fast zehn Zentimeter größer war als ich - und deutlich breiter gebaut. Mit einer gewissen Erleichterung sah ich, dass die verletzte rechte Hand schlaff an dem kräftig gebauten Körper hing. An der linken Armbeuge des Mannes baumelte eine dunkelgrüne, prall gefüllte Plastiktasche, die oben von einem straff gespannten Reißverschluss mühsam zusammengehalten wurde. Dies war ohne Zweifel der Beutel, in dem die Tagesbeute eines Taschendiebs versammelt war.

Ich sah die schlaffe, kraftlose Hand an einem muskulösen, aber jetzt zur Tatenlosigkeit verurteilten Unterarm, und das weckte meinen leichtsinnig-verwegenen Mut sofort aufs Neue. Ich sah direkt in die blutunterlaufenen Augen, die mich finster anstarrten (und roch jetzt auch die Alkoholfahne, die mir mit einem heftigen Atem von oben herab ins Gesicht wehte), und brüllte zurück, als wäre ich Samson: »DU HATTEST DEINE HAND IN MEINER TASCHE!« 

Irgendetwas ließ mich innehalten, bevor ich noch ein »Du Hurensohn« folgen ließ, und das war gut so, denn sobald ich die ersten Worte ausgesprochen hatte, bereute ich sie auch schon. Jetzt gewann die Angst wieder die Oberhand, und ich stellte mich auf die gewalttätige Reaktion ein, die unweigerlich folgen musste.

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Doch die Schicksalsgöttinnen standen mir bei: Genau in diesem Augenblick fuhr der Zug in die nächste Haltestelle ein, und als die Türen sich öffneten, drängte sich mein Widersacher sofort hinaus und strebte, so schnell er konnte, der nächsten Treppe zum Ausgang zu. Nur eine Schar von Passagieren, die sich aus dem benachbarten Waggon ergoss, hinderte ihn am schnelleren Fortkommen. Schließlich wurde er von der Menge verschluckt, und ich sah nur noch seinen sich ruckartig bewegenden Kopf. Einen Augenblick später war er verschwunden. Ich blieb zurück - und überlegte, wie nahe ich meiner Selbstopferung gekommen war.

Ich wandte mich Molly und meiner Frau zu, die mir später sagten, mein Gesicht sei in diesem Augenblick blass und blutleer gewesen. Ich fühlte mich, als wäre ich in letzter Sekunde, vor dem sicheren Tod gerettet worden. Meine Hände zitterten, und es schien ein bisschen unsicher, ob mich meine Knie nun aufrecht halten würden oder nicht. Dieser Zustand dauerte ein paar Minuten an, bis zur nächsten Station, dann stand ich wieder auf festen Beinen. 

Obwohl sich schließlich alles stabilisiert hatte, blieb mir eine Peinlichkeit nicht erspart: Ich musste mir die ebenso berechtigte wie vernichtende Kritik der Frauen anhören, die mir vorhielten, wie töricht ich mich doch verhalten hätte. Während dieser kurzen Sturm-und-Drang-Phase, so sagten sie mir später, hätte kein einziger Passagier in dem überfüllten U-Bahn-Waggon auch nur eine Sekunde lang in meine Richtung geschaut oder auf andere Art zu erkennen gegeben, dass irgendetwas Ungewöhnliches vor sich ging.

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Ich erzähle diese Geschichte als Beispiel für einen eigenen inneren Konflikt, einen Konflikt, der sich nach meiner Vermutung in den Köpfen vieler Männer und Frauen abspielt, nachdem sie das Alter von etwa Mitte fünfzig überschritten haben.

Einerseits spüren wir die Folgen des Alterns immer deutlicher und erkennen, dass wir dies nicht nur akzeptieren, sondern nach und nach auch unser Selbstbild und unsere Vorstellungen von unserer persönlichen Zukunft ändern müssen; anderseits ist da immer noch dieser narzisstische Geist in uns, der nicht von den Überresten der phantasievollen Vorstellung ablassen kann, wir hätten einen kräftig sprudelnden Jungbrunnen in uns, mit dessen allmählichem Versiegen unser besseres Selbst sich eigentlich abfinden müsste.

Dieselbe Formel, die unsere späteren Jahre bereichert - fortgesetzte geistige Stimulation, regelmäßige körperliche Betätigung und unvermindertes Engagement bei den Herausforderungen und Belohnungen, die das Leben für uns bereithält -, nährt zuweilen auch das unrealistische Vertrauen auf die Vitalität, die wir uns bewahrt haben. Sie macht uns glauben, bei uns hätte sich im Lauf der letzten Jahrzehnte nichts geändert, nicht einmal an der äußeren Erscheinung, und wir könnten die Jugend immer noch auf ihrem ureigenen Terrain herausfordern. In solchen Momenten des Verdrängens und der Überschätzung kommt uns gelegentlich ein Gleichmut abhanden, der sich über viele Jahre entwickelt hat, und wir benehmen uns tollkühn und närrisch, als wollten wir ein solches Auftreten wie ein Amulett gebrauchen, um ebendiese Entwicklung zu bannen, an die wir uns so erfolgreich angepasst haben, indem wir Körper und Geist bewusst fit gehalten haben.

Die Spannung, die zwischen diesen beiden Haltungen besteht, ist bei Männern höchstwahrscheinlich stärker, aber auch unter Frauen weit verbreitet, obwohl sie sich bei ihnen in etwas anderen Erscheinungsformen zeigt. Dieser innere Zwiespalt ist der Widerschein einer Rivalität mit der Jugend, und er ist weder für die Jugend noch für das Alter gut. Man löst sich nicht so leicht von Selbstbildern, die einer früheren Lebensphase entstammen, selbst wenn es in unserem eigenen besten Interesse ist, sich davon freizumachen. 

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Diejenigen unter uns, die beruflich mit älteren Menschen zu tun haben, wissen, dass die Fähigkeit, sich anzupassen, zu lernen und die eigenen Einschränkungen schließlich zu akzeptieren, eine Voraussetzung dessen ist, was die geriatrische Fachliteratur als »erfolgreiches Altern« bezeichnet.

Zu diesem Anpassen gehört mehr, als sich nur in sein Schicksal zu fügen. Es schließt die Chance auf viel größere Segnungen ein und kann die späten Lebensjahrzehnte in einer Weise aufhellen, die für junge Menschen noch gar nicht erkennbar ist. Schon das Wort selbst ist in seinen Bedeutungsmöglichkeiten zu stark eingeschränkt, um vermitteln zu können, was hier alles angesprochen wird. Im Kontext der subtilen, aber nichtsdestoweniger enorm aussagekräftigen Bedeutungsnuancen, die für die englische Sprache typisch sind, mag das Verb attune (sich [auf etwas] einstellen) diesen Prozess wohl besser umschreiben als adapt (sich anpassen, umstellen): Attune ist hier zu verstehen im Sinne eines Sicheinstellens auf eine neuartige Empfänglichkeit für willkommene und unwillkommene Signale wie auch auf eine Vielfalt von Erfahrungsmöglichkeiten, die zuvor außerhalb unserer Wahrnehmung lagen, während wir zugleich einen gewissen Zustand der Harmonie mit unseren realen Lebensumständen erreichen.

In diesem Buch geht es darum, sich auf das Vergehen der Jahre einzustellen und offen zu werden für die Chancen, die sich in den verbleibenden Jahren möglicherweise auftun -Chancen, die auf Wellenlängen übermittelt werden, die nur für die nicht mehr jungen Menschen wahrnehmbar sind.

Und dieses Buch beschreibt auch die Fallen, die auf die Unachtsamen warten, Fallen, in die wir alle von Zeit zu Zeit tappen. Wir müssen uns selbst beibringen, wie wir mit neuer Zielstrebigkeit aus diesen Fallen herauskommen können. Das hier angeführte Wort attune klingt wie ein anderes Wort, zu dem eine keineswegs zufällige Verbindung besteht: Atone (in Einklang sein) wurde ursprünglich aus den beiden Worten at one zusammengezogen, und das bedeutet: »harmonieren«, »eins sein«, insbesondere mit sich selbst. 

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Sich einstellen auf eine sich entwickelnde Perspektive auf ein Leben heißt: eins sein mit der Realität der gegenwärtigen wie auch der zukünftigen Jahre. Sich erfolgreich darauf einzustellen kann eine zuvor unbekannte und vielleicht auch ungeahnte Gemütsruhe und Gelassenheit mit sich bringen. Diese Entwicklung beginnt damit anzuerkennen, dass der Lebensabend näher rückt. Doch mit diesem Näherrücken sind absehbare Chancen verbunden. Wir müssen nur all das nutzen, was uns diese heraufziehenden Lebensjahrzehnte noch zu bieten haben. Uns allen obliegt es, eine eigene, persönliche Weisheit zu entwickeln.

Unser Alterungsprozess schreitet so unmerklich voran, dass wir uns eines Tages mittendrin sehen. Das Alter folgt uns ohne jede Eile, aber beharrlich, es kommt auf leisen Sohlen immer näher, zieht gleich und wird dann zu einem Teil von uns, während wir seine Nähe immer noch verleugnen. Schließlich findet es Zugang zu den Tiefen des eigenen Daseins, nicht nur, um sie einzunehmen, sondern um zu ihrem Wesenskern zu werden. Mit der Zeit erkennen wir nicht nur an, dass das Älterwerden ein Teil von uns ist, sondern lernen es genauso gut kennen, wie wir die überschäumende Jugend kannten - und immer noch begehren -, die einst in uns zu Hause war. Und schließlich versuchen wir uns mit der unvermeidlichen Gewissheit auszusöhnen, dass wir jetzt zu den älteren Menschen gehören.

Sobald wir erkennen, wie viel von unseren Träumen wir an diese unabänderliche Wahrheit abtreten müssen, sollten wir nicht nur beobachten, wie der Horizont näher rückt, sondern uns genau dies auch zugestehen. Wenn wir weise sind, nehmen wir ihn in uns auf, bis seine Grenzen sichtbar werden; wir begrenzen ihn auf das Mögliche.

So kann dieses Näherrücken gut für uns sein, wenn wir durch die Nähe - die Einschränkung von Erwartungen - unsere Aussichten deutlicher, realistischer und als (zeitlich) begrenzter wahrnehmen, als wir das zuvor getan haben. Das Altern kann das Geschenk sein, das die Grenzen unseres Lebens markiert, eines Lebens, dem bis dahin weit weniger Grenzen gesetzt waren und das sehr viel weniger Einschränkungen duldete.

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Alles, was innerhalb dieser Grenzen liegt, erscheint uns auf diese Weise wertvoller als zuvor: Liebe, Lernen, Familie, Arbeit, Gesundheit, ja sogar die in geringerem Umfang verfügbare Zeit selbst. All dies schätzen wir jetzt mehr, denn die Dringlichkeit, dies alles gut zu pflegen und zu nutzen, nimmt zu. Die Nutzungsmöglichkeiten der neu erkannten Grenzen sind vielfältig. Zu den Vorteilen gehört dabei, dass ein freundliches Bejahen dieser Grenzen durch uns selbst ihren Wert steigert und zu unserer Wertschätzung und Genussfähigkeit beiträgt - zu jeder Freude beiträgt, die in ihren Bereich fällt.

Das Gute ist jetzt leichter zu erkennen; es ist leichter zu erreichen, leichter zu haben, wenn wir nur willens sind, es unverstellten Sinnes und losgelöst von den Sorgen zu betrachten, von denen es möglicherweise umgeben ist. In dieser Zeit gibt es so viel zu genießen, und durch die Endlichkeit, in deren Rahmen es uns gewährt wird, wird dies noch gesteigert, es gewinnt an Bedeutung und Intensität.

Das Altern vermag nicht nur unsere geistigen Kräfte, sondern auch unsere Energien zu bündeln, denn es sagt uns, dass nicht mehr alles möglich ist. Die Fülle des Lebens muss deshalb vollständig aus den verringerten, aber nach wie vor überreichlich vorhandenen Vorräten gewonnen werden. Ab diesem Punkt müssen wir unsere Kräfte richtig einsetzen. Einige der bedeutsameren Kräfte sind im direkten Vergleich zu früher möglicherweise gar nicht geschwächt. Die späteren Lebensjahrzehnte werden zu der Zeit, in der unsere Fähigkeiten sehr bewusst eingesetzt werden, um so ihren gebündelten Wert zu stärken.

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Das Alter setzt zwar unseren Gelenken zu und schwächt die Schärfe unserer Sinne, aber es bringt auch das Versprechen mit sich, dass es noch etwas mehr geben kann, etwas Gutes, wenn wir nur gewillt sind, die Hand auszustrecken und es zu ergreifen. Das Geheimnis liegt in der Bereitschaft und im Willen begründet, und es ist nicht das Geheimnis, wie man ein Leben verlängert, sondern wie man ein gut genutztes Leben belohnt. Denn Altern ist eine Kunst. Die Jahre zwischen seinen ersten Anmutungen und dem Zeitpunkt, an dem man alle irdischen Dinge hinter sich lässt, können - die nötige Bereitschaft und Entschlossenheit vorausgesetzt - zur wahren Ernte unseres Lebens werden.

Dieses Buch soll vom Altern des Menschen und den Belohnungen in dieser Lebensphase berichten - und auch von den Gründen zur Unzufriedenheit. Und das Buch soll außerdem zeigen, wie man sich am besten auf die Veränderungen einstellen kann, die unweigerlich nach Anpassung verlangen, nach einer Verschiebung der Prioritäten und einer realistischen Einschätzung von Zielen und Vorhaben, die neu sein mögen oder mit einer Neugestaltung des Lebensweges verbunden sind.

Wir tun dies in jeder Lebensphase, ohne uns dabei des neuen Verhaltensmusters bewusst zu werden, auf das wir uns einstellen, sei es nun während der Jugendjahre, im dritten Lebensjahrzehnt oder im mittleren Alter. Die Veränderungen mögen offensichtlicher werden, wenn wir auf die sechzig oder siebzig zugehen, in Wirklichkeit sind sie aber nur eine Fortsetzung all dessen, was vorher gewesen ist.

Zum älteren Menschen zu werden bedeutet nichts anderes, als in eine neue Entwicklungsphase des Lebens einzutreten. Diese Phase bringt, wie alle anderen auch, körperliche Veränderungen, begründete Sorgen wie auch berechtigte Hoffnungen und Optimismus mit sich. Mit anderen Worten: Sie hat ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Der Schlüsselbegriff lautet hier »entwicklungsgemäß«. Die menschliche Spezies lebt, im Unterschied zu anderen Lebewesen, lange über ihr fortpflanzungsfähiges Alter hinaus und entwickelt sich während ihrer gesamten Lebenszeit weiter. 

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Wir wissen, dass dies für unser mittleres Lebensalter zutrifft, eine Phase, die wir selbst als Geschenk betrachten. Und wir sollten erkennen, dass wir uns auch in den Jahrzehnten, die auf die mittlere Phase folgen, noch weiterentwickeln, und dies ebenfalls als Geschenk begreifen. Ein längeres Leben ermöglicht es uns, den eigenen Entwicklungsprozess fortzusetzen.

Jeder von uns erkennt für sich persönlich, dass er zu altern beginnt; jeder Mann und jede Frau gesteht sich zu einem anderen Zeitpunkt und aus unterschiedlichen Gründen ein, dass er in die Jahre gekommen und irgendwann schließlich alt ist. Als unverwechselbare Individuen machen wir diese Erfahrung am eigenen Körper und an einzelnen Stationen unserer Lebensreise.

Der englische Dichter Robert Browning (1812-1889) wusste im Alter von 52 Jahren schon genug über solche Zusammenhänge, um zu verstehen, dass diese Entwicklung unauflöslich mit den positiven Aspekten der einzelnen Lebensphasen verbunden war. Ihm war klar, dass er die durchschnittliche Lebenserwartung seines Zeitalters bereits überschritten hatte, doch er wusste nicht, dass ihm noch 25 Jahre bleiben würden, in denen er seinem eigenen Ratschluss folgen konnte, den er Rabbi Ben Ezra an seine Gemeinde richten ließ:

Werdet alt an meiner Seit'!
Das Beste steht erst noch bereit,
Des Lebens allerletzte Zeit, in deren Dienst die erste bleibt:

und ihr riet, so mit dem Alter umzugehen:

... nimm und nutze jetzt dein Werk:
Verborg'nen Makel tilge aus,

Doch am wichtigsten ist vielleicht:

Blicke vorwärts, nicht zurück!

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Die Segnungen des Alterns sind mit gewissen Bürden verbunden, und in mancher Hinsicht sind sie deren Ergebnis. Das eine kann ohne das andere nicht existieren, und wir sollten die Einbußen, die mit den Vorteilen verbunden sind, ohne Zögern akzeptieren. Nichts ist gewonnen, wenn man die körperlichen und seelischen Realitäten, die mit dem Alterwerden einhergehen, herunterspielt. Würde ich mir selbst und dem Leser vorenthalten, was es in diesem Zusammenhang alles zu entdecken gibt, würde ich mein Ziel verfehlen. Es besteht darin zu berichten, wie man sich auf diese Realitäten vorbereiten und ihnen gegenübertreten kann, nicht nur mit Gelassenheit, sondern auch mit den Mitteln, mit denen sich die schlimmsten Auswirkungen des Alterungsprozesses aufhalten oder abschwächen lassen - und sich dabei die Einbußen nutzbar zu machen, wenn das dazu beiträgt, die Ziele zu erreichen, die wir uns selbst gesetzt haben mögen.

Ich habe fast vierzig Jahre meines Berufslebens in einem Teilgebiet der Chirurgie gearbeitet, in dem die mit Abstand größten und häufigsten Heraus­forderungen bei der Behandlung von Männern und Frauen ab dem späten mittleren Alter und danach auftreten.

Tag für Tag konnte ich beobachten, wie diese Altersgruppen auf physische, emotionale und geistig-seelische Krisen reagierten, und ich lernte ihre Zerbrechlichkeit und ihre Stärke, ihre Verletzlichkeit und ihre Widerstandskraft kennen. Diese Menschen waren meine Patienten, meine Freunde und meine Lehrer, und das zu einem Zeitpunkt, als ich noch ein junger Arzt war.

Nun aber bin ich einer von ihnen. Mit diesem Buch hoffe ich ihnen einiges von dem Wissen und Verständnis zurückzugeben, welches sie mir über viele Jahre hinweg geschenkt haben, und andere an dem, was ich gelernt habe, teilhaben zu lassen. Bei alldem halte ich mich an Brownings Motto »Werdet alt an meiner Seit'!« - Ausrufezeichen und alles andere inklusive -, denn ich befinde mich selbst auf der Reise, die ich beschreibe, und ich stelle mir das so vor, dass meine Leser und ich dabei beständig nach vorn schauen, aber nicht vergessen, gelegentlich auch einen Blick zurück zu werfen.

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Doch warum zurückblicken? 

Schließlich mahnt uns der Dichter, gerade dies nicht zu tun, und Dutzende von Selbsthilfebüchern erzählen uns vom Glanz der ewigen Jugend, die uns zuteil werden kann, wenn wir nur ein paar simple Ratschläge befolgen.

Wie auch immer die Versprechungen einer alterslosen Zukunft aussehen, sie ignorieren tendenziell die offenkundige Tatsache, dass bestimmte Schritte, ob nun von Optimismus begleitet oder nicht, am sichersten sind, wenn man sie mit Umsicht tut. Wir müssen herausfinden, wo wir tatsächlich stehen und wohin unsere Füße uns immer noch tragen können. 

Wir dürfen nicht nur nach vorn schauen, auf das lockende Versprechen anhaltender geistiger und körperlicher Kraft, sondern müssen auch vernünftig und umsichtig sein und dabei eines begreifen: Was der immer noch jugendliche Geist will oder sich vorstellt, entspricht nicht immer dem, was der alternde Körper zulässt. Die Mahnung »Verhalte dich deinem Alter entsprechend« hat bisher für jede Lebensphase gegolten, doch erst in den späteren Lebensjahrzehnten nimmt sie eine Bedeutung an, die über die bloße Anweisung, sich nicht lächerlich zu machen, hinausgeht.

Das sind Lehren, die wir im Lauf der Jahre ziehen müssen. Entsprechend den Gegebenheiten zu handeln ist das Geheimnis hinter der Fähigkeit, mit Schwung weiter durchs Leben zu gehen, und dabei müssen wir den Anflug des Gestern bändigen, der uns manchmal dazu drängt, uns nach Dingen zu sehnen, die außerhalb unserer Möglichkeiten liegen. Wir müssen uns selbst beibringen, wie wir einen verbliebenen Instinkt, der in einer früheren Lebensphase nützlich war, erkennen und mit Hilfe unseres gesunden Menschenverstands im Zaum halten können. Das eigentliche Ziel besteht darin, zwischen tatsächlichen Gegebenheiten und Phantasien unterscheiden zu lernen; es besteht in einer Lebensführung, die nach der Erfüllung des Vernünftigen strebt.

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Die Einteilung in Jahrzehnte hat etwas Tyrannisches an sich; das Leben sollte nicht in Zehn-Jahres-Einheiten abgemessen werden. Das Fortschreiten von einer zur Nächsten hat etwas Künstliches an sich.

Ob der vermeintliche Wendepunkt nun dreißig oder siebzig lautet: Mit solchen Zahlen verbindet sich stets die Erwartung, dass wir danach ein anderer Mensch seien als zuvor, dass wir alle plötzlich auf irgendeine Weise verändert seien. Diesen scheinbar entscheidenden Momenten weisen wir eine Bedeutung zu, die ihnen gar nicht zukommt - als ob sie die Katalysatoren einer jähen körperlichen und geistigen Wandlung seien, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, denn eigentlich vollzieht sich nur ein unmerklicher Übergang. In Wahrheit ist der Tag des Übergangs von einem Lebensjahrzehnt zum nächsten bloß ein Meilenstein, aber wir deuten ihn als ein Signal für eine Veränderung oder verbinden damit den Wunsch nach Veränderung. Beim Übergang von einer Alterskohorte zur nächsten drängt sich uns eine Reihe neuer Erfahrungen auf, oder wir erlegen sie uns selbst auf.

Unser Körper zum Beispiel macht da keinen Unterschied. Aus biologischer Sicht gleicht etwa der letzte Morgen des neunundfünfzigsten Lebensjahrs sehr stark dem ersten Morgen des sechzigsten. Dennoch hat sich unser Bewusstsein auf einen neuen Rhythmus eingestellt. Wir glauben, wir seien älter. Es geht nicht in unsere Eigenwahrnehmung ein, dass dieses vom Kalender inspirierte Selbstbild ein kulturelles Kunstprodukt ist. Wir liefern uns diesem Selbstbild gedankenlos aus, als sei der plötzliche Wechsel in ein neues Verhaltensmuster eine unabwendbare Tatsache.

Wie sähe das Leben wohl aus, wenn wir aus irgendeinem Grund kein Kriterium besäßen, nach dem wir den Lauf der Jahre einteilen? Für wie alt würden wir uns wohl halten, wenn wir keine Ahnung von unserem Alter hätten? Wir könnten uns nicht altersgemäß verhalten, wenn wir unser Alter gar nicht kennen würden. 

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Wir könnten uns nicht selbst in fest umrissene Gruppen mit fest umrissenen Interessen und entsprechenden Fähigkeiten einteilen. Wir wären sehr viel mehr das, was wir wirklich sind: Individuen, die in jedem Lebensalter unendlich vielfältig sind. Das Marschieren im geschlossenen (Alters-) Verband hätte ein Ende.

Ich plädiere hier nicht dafür, die Augen davor zu verschließen, wie die Zeit vergeht. Noch rede ich einer Unempfindlichkeit gegenüber der inneren wie auch der uns umgebenden äußeren Realität das Wort. Ich gehe lediglich von einer schlichten biologischen Wahrheit aus: Wir leben entsprechend der Biochemie unserer Körper und nicht nach Jahren; das Leben ist ein Wechselspiel zwischen jener Biochemie und ihrem großartigsten Produkt - dem menschlichen Verstand - und nicht eine Abfolge von Jahrzehnten, die durch periodisch wiederkehrende, abrupte Veränderungen definiert ist. 

Jede(r) von uns existiert deshalb in einer körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Individualität, die von all dem geformt wird, was uns bislang geprägt und jetzt, in diesem Augenblick, auf unser Leben Einfluss hat. Wir alle sind das Produkt einer Kavalkade des Lebens, dessen Summe aus allen Begegnungen besteht, an denen wir teilhaben. Jede(r) von uns ist seine oder ihre eigene Kohorte. Eine Zahl allein sagt noch nichts darüber aus, ob wir »mittleren Alters«, »älter« oder »uralt« sind. Wir können nur anhand dessen definiert werden, was aus uns geworden ist. Altern ist, was immer es sonst für uns bedeuten mag, zuallererst ein Bewusstseinszustand.

Mit alldem ist jedoch ein Vorbehalt verbunden, der hier erneut wiederholt werden muss: Das Alter vergisst zuweilen, wo seine Grenzen sind, und versucht sich in unangemessener Weise jung zu geben. Augenblicke plötzlicher Belastung ermutigen bekanntermaßen zu solchem Verhalten. Die Weigerung, sich von einer bestimmten Anzahl an Jahren einengen zu lassen, bedeutet noch nicht, dass diese Zahl ohne jede Bedeutung ist. Eine derart unkontrollierte Spontaneität kann gefährlich werden. Denken Sie dabei an mich und den eingangs beschriebenen Vorfall in der U-Bahn.

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Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass wir unseren Körper und Geist optimal funktionsfähig zu erhalten suchen. Zu den Themen, die in den folgenden Kapiteln angesprochen werden, gehört die Botschaft, dass die Mahnung des antiken römischen Satirikers Juvenal für uns alle gilt, mit achtzig Jahren genauso wie mit acht, wobei sie ab dem vierzigsten Lebensjahr zunehmend an Bedeutung gewinnt. Mens sana in corpore sano, riet Juvenal, und John Locke übertrug dies eineinhalb Jahrtausende später in einer Abhandlung über die Erziehung der Jugend ins Englische: A sound mind in a sound body, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Man darf sich deshalb aber nicht von einem törichten Missverständnis dessen, was möglich ist, in die Irre führen lassen.

Die Gefahr, zu vergessen, was man sich selbst noch zumuten kann, ist umso größer, wenn keine Reserven vorgehalten worden sind, Reserven, mit denen man auf unvorhergesehene Anforderungen des Alltagslebens reagieren kann. Die volle Lebenskraft vergangener Zeiten ist zwar längst entschwunden, aber innere Reserven können plötzlich zum Vorschein kommen, wenn ein älterer Mensch sich einen gewissen Grad an Fitness und Selbstvertrauen bewahrt hat. 

Sind die mittleren Lebensjahre einmal von den Jahren abgelöst worden, die im Denken vieler Menschen mit dem abwärts gerichteten Bogen der Lebenslinie verbunden sind, müssen wir uns nicht zwingend in die traditionellen gesellschaftlichen Vorstellungen davon fügen, wie ein Mann oder eine Frau sich dann geben sollte. Ich bin mehrmals dankbar dafür gewesen, dass ich nicht zu den Konformisten gehört habe, die solchen Vorgaben entsprachen. Dennoch ist es zu einigen Episoden wie der eben beschriebenen nur deshalb gekommen, weil ich mich übernommen habe und nicht an den Blick zurück gedacht habe.

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Deshalb biete ich hier etwas an, was wie eine verwirrende Mischung aus Vorsicht und Ratschlag wirken mag: Begehen Sie nicht den Fehler, auf den Blick zurück zu verzichten, und behalten Sie dabei im Auge, warum es so wichtig ist, dass wir uns körperliche und geistige Fitness bewahren, die möglich bleibt, obwohl wir älter werden: die Möglichkeit, Kräfte abrufen zu können, deren Einsatz nur selten und, wenn überhaupt, nur im Fall von akuter Gefahr oder Krankheit vonnöten ist. Ich möchte hier keine zwiespältige Haltung zur relativen Bedeutung des Voraus- und Zurückschauens vermitteln - beides ist gleich wichtig. 

Was ich stattdessen vermitteln will, ist die Notwendigkeit zu erkennen, dass wir, während wir altern, wie in jeder anderen Lebensphase auch lernen müssen, mit Widersprüchen zu leben - und nicht nur mit Widersprüchen, sondern auch mit Ungewissheiten. Der vor uns liegende Weg ist alles andere als einfach, wenn wir versuchen, einen Mittelweg zu finden, uns einerseits unsere Vitalität zu bewahren und uns andererseits an die Tatsache anzupassen, dass wir an Lebenskraft verlieren. Dieser Weg ist nicht einfacher zu gehen als in jeder anderen hinter uns liegenden Phase unseres Lebens. Er ist mit Unsicherheit gepflastert, und jede(r) von uns muss hier, wie stets zuvor, den eigenen Weg finden.

Wir Älteren lavieren durch die Unsicherheit, indem wir sorgfältiger auf unseren Geist und Körper achten als jemals zuvor. Wir müssen zu sehr genauen Beobachtern ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten werden. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Phase, die wir als Altern bezeichnen, von allen anderen, die ihr vorausgingen. Wir befinden uns nicht mehr in einem Stadium, in dem sich die Dinge von selbst regeln; nichts ist mehr selbstverständlich.

Wir sind in einer Zeit und an einem Ort unseres Lebens angekommen, wo wir uns so gründlich selbst beobachten müssen wie niemals zuvor, wo wir auf uns achtgeben und uns auf Dinge einstellen müssen, die neu und manchmal auch eine Last sind. Das erfordert Aufmerksamkeit, Nachdenken und Handeln, und das nicht nur in Bezug auf uns selbst, sondern auch in Bezug auf unser Umfeld.

In dieser Hinsicht müssen wir älteren Männer und Frauen alle zu Philosophen werden.

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 Nuland 2007