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   Die Veränderbarkeit der menschlichen Natur   

 

134-148

Ein Argument, auf das man gefaßt sein sollte, da es sowohl von christlichen Apologeten als auch von Neopessimisten ständig vorgebracht wird, ist die angebliche Unveränderbarkeit der »menschlichen Natur«. 

Die Sozialisten werden — meiner Ansicht nach zu Unrecht — der Annahme bezichtigt, daß der Mensch vervollkommnungsfähig ist, und dann wird die Geschichte der Menschheit als eine in Wirklichkeit lange Geschichte der Habgier, des Raubes und der Unterdrückung dargelegt. 

Der Mensch, so heißt es, wird immer versuchen, seinen Mitmenschen zu übervorteilen, er wird immer so viel Vermögen wie möglich für sich und seine Familie erraffen. Der Mensch ist von Natur aus sündhaft und kann nicht durch Gesetzerlasse tugendhaft gemacht werden. Somit ist die klassenlose Gesellschaft, obwohl die wirtschaftliche Ausbeutung bis zu einem gewissen Grad bekämpft werden kann, für immer ausgeschlossen.

Die richtige Antwort hierauf, scheint mir, ist, daß dieses Argument der Steinzeit angehört. Es setzt voraus, daß materielle Güter immer hoffnungslos knapp sein werden.

Der Machthunger der Menschen stellt in der Tat ein ernstes Problem dar, aber es besteht kein Grund, zu glauben, daß die Gier nach mehr Reichtum ein permanentes menschliches Merkmal ist. Wir sind wirtschaftlich egoistisch, weil wir alle in Schrecken vor der Armut leben. 

Aber wenn eine Ware nicht knapp ist, versucht niemand, sich mehr anzueignen, als ihm zusteht. Niemand versucht zum Beispiel, die Luft aufzukaufen. Der Millionär wie auch der Bettler begnügen sich mit genau so viel Luft, wie sie einatmen können. Dasselbe mit Wasser. In diesem Land sind wir nicht von Wassermangel geplagt. Die Folge davon ist, daß das Wasser kaum in unser Bewußtsein dringt. 

Aber was für Eifersüchteleien, was für Haßgefühle, was für entsetzliche Verbrechen doch der Mangel an Wasser in verdorrten Ländern wie Nordafrika verursachen kann! Dasselbe gilt auch für jede andere Art von Gütern. 

Wenn man es so einrichten könnte, daß es sie im Überfluß gäbe, was man sehr leicht tun könnte, besteht kein Grund zur Annahme, daß die angeblichen habgierigen Instinkte der Menschen nicht in ein paar Generationen wegerzogen werden könnten. 

Und wenn sich schließlich die menschliche Natur nie ändert, wie kommt es dann, daß wir nicht nur keinen Kannibalismus mehr betreiben, sondern es nicht einmal wollen?

1944, L 236-7

135-136


  Verfall  

 

»Wir können mit einiger Zuversicht behaupten«, sagt T. S. Eliot, »daß unsere eigene Zeit eine Zeit des Verfalls ist; daß die kulturellen Maßstäbe niedriger sind, als sie es vor fünfzig Jahren waren; und daß die Anzeichen für diesen Verfall in jedem Bereich des menschlichen Wirkens sichtbar sind.«

Dies scheint zu stimmen, wenn man an die Hollywood-Filme oder die Atombombe denkt, jedoch weniger, wenn man an die Kleider und die Architektur von 1898 oder daran denkt, wie das Leben damals für einen arbeitslosen Arbeiter im Ostteil von London ausgesehen hat. Auf jeden Fall können wir, wie Eliot am Anfang selbst zugibt, die gegenwärtige Entwicklung nicht durch bewußtes Handeln rückgängig machen. 

Kulturen werden nicht hergestellt, sie wachsen aus eigenem Antrieb. Darf man hoffen, daß die klassenlose Gesellschaft eine eigene Kultur absondern wird? 

Und bevor wir unser eigenes Zeitalter als unwiderruflich verdammt abschreiben, wäre es nicht lohnenswert, sich daran zu erinnern, daß Matthew Arnold und Swift und Shakespeare — um die Sache nur drei Jahrhunderte zurückzuverfolgen — alle ebenso sicher waren, daß sie in einer Zeit des Verfalls lebten?

1948 (L 202)

T. S. Eliot – Wikipedia       Matthew Arnold – Wikipedia     Jonathan Swift – Wikipedia      William Shakespeare – Wikipedia 

137-138


  Verkehr  (1946)

 

139

Ein aufschlußreiches Beispiel für unsern Widerwillen gegenüber Tatsachen und unsere entsprechende Bereitschaft zu öffentlichen Gesten, deren Nutzlosigkeit leicht vorausschaubar ist, bieten unsere periodischen Kampagnen gegen den »Tod auf der Straße«.

Wenn man wirklich den Tod von den Straßen verbannen will, müßte man das ganze Straßensystem so neu umplanen, daß Zusammenstöße unmöglich wären. Malen Sie sich aus, was das bedeutet (zum Beispiel ganz London abzureißen und wieder aufzubauen), und dann können Sie sich vorstellen, daß es im Augenblick völlig außerhalb der Macht irgendeiner Nation steht. Wenn das nicht möglich ist, kann man nur mildernde Maßnahmen ergreifen, die letztlich darauf hinauslaufen, die Leute vorsichtiger zu machen.

Aber die einzige Milderung, die wirklich etwas ausrichten würde, ist eine drastische Senkung der Geschwindigkeit. 

Wenn man die Geschwindigkeitsgrenze auf zwölf Meilen pro Stunde in sämtlichen geschlossenen Ortschaften herabsetzte, würde man die große Mehrheit der Unfälle ausschalten. 

Aber dies — so wird Ihnen jedermann versichern — ist »unmöglich«. Warum ist es unmöglich? Nun, es wäre unerträglich mühsam. Es würde bedeuten, daß man für jede Autoreise zwei oder drei Mal so lang brauchte wie heute. Außerdem könnte man die Leute nie dazu bringen, eine solche Beschränkung einzuhalten. Welcher Fahrer wird mit zwölf Meilen die Stunde dahinkriechen, wenn er weiß, daß sein Motor fünfzig schaffen würde? Es ist nicht einmal einfach, ein modernes Auto auf zwölf Meilen die Stunde zu beschränken und in einem hohen Gang zu bleiben — und so weiter und so fort, was alles auf die Feststellung hinausläuft, daß langsames Reisen von Natur aus unerträglich ist.

Mit anderen Worten, wir schätzen Geschwindigkeit mehr als menschliches Leben. 

Warum also sagen wir es nicht, anstatt alle paar Jahre eine jener hypokritischen Kampagnen abzuhalten in voller Kenntnis der Tatsache, daß — solange unsere Straßen so bleiben, wie sie sind, und die heute geltenden Geschwindigkeiten beibehalten werden — das Blutbad weitergehen muß?

1946, L 272-3

140


  Wahrheit  

 

141

Jeder, der einmal zur Verteidigung unpopulärer Ziele geschrieben hat oder Zeuge von Ereignissen gewesen ist, die zu Meinungs­verschiedenheiten führen können, kennt die furchtbare Versuchung, Tatsachen zu entstellen oder zu unterschlagen, nur weil eine ehrliche Aussage Enthüllungen enthielte, die von skrupellosen Gegnern verwendet werden könnten.

Es gibt immer ausgezeichnete, edle Gründe, die Wahrheit zu verbergen, und diese Gründe werden von Verfechtern der verschiedensten Sachen fast in denselben Worten vorgebracht. 

Immer wenn A und B im Gegensatz zueinander stehen, wird derjenige, der A angreift oder kritisiert, beschuldigt, B zu helfen und zu unterstützen. Und oft stimmt es, objektiv und kurzfristig gesehen, daß er die Dinge für B tatsächlich einfacher macht. Darum, sagen die Anhänger von A, haltet den Mund und kritisiert nicht: oder, wenn ihr schon kritisieren müßt, dann wenigstens auf »konstruktive Weise«, was in der Praxis immer gleichbedeutend ist mit günstig. 

Und von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Folgerung, daß die Unterdrückung und Entstellung bekannter Tatsachen die höchste Pflicht eines Journalisten ist.

Wenn man nun die Welt in A und B einteilt und annimmt, daß A den Fortschritt und B die Reaktion verkörpert, ist der Standpunkt gerade noch vertretbar, daß keine Tatsache, die A schadet, je enthüllt werden sollte. Aber bevor man diese Forderung stellt, sollte man sich ausmalen, wohin sie führt.

Das ganze Argument, daß man nicht offen sprechen darf, weil man damit dieser oder jener unheilvollen einflußreichen Persönlichkeit »in die Hände spielt«, ist insofern unehrlich, als die Leute es nur verwenden, wenn es ihnen paßt.

Hinter diesem Argument liegt immer die Absicht, Propaganda für irgendeine einzelne Interessengruppe zu betreiben und Kritiker so weit einzuschüchtern, daß sie schweigen, indem man ihnen sagt, daß sie »objektiv gesehen« reaktionär sind. Es ist ein verlockendes Manöver, und ich habe es selbst mehr als einmal benutzt, aber es ist unehrlich. Ich glaube, man ist weniger dazu geneigt, wenn man sich daran erinnert, daß die Vorteile einer Lüge immer kurzlebig sind. 

Wie oft erscheint es einem eine ausdrückliche Pflicht, die Fakten zu verheimlichen oder zu färben! Und trotzdem kann ein echter Fortschritt nur durch vermehrte Aufklärung stattfinden, was soviel bedeutet wie die fortwährende Zerstörung von Mythen.

Das Dumme ist, daß die Reaktion der Leute, wenn man sie belügt, dann um so heftiger ist, wenn die Wahrheit durchsickert, was sie letzten Endes meistens tut.

1945 (L 187-91)

142-143


   Wissenschaft   

144

Die Forderung nach mehr wissenschaftlicher Ausbildung unterstellt, daß, wenn man wissenschaftlich geschult worden ist, man alle Themen intelligenter angeht. Die politische Meinung eines Wissenschaftlers, so wird angenommen, seine Meinungen über soziologische Probleme, über Moral, über Philosophie, vielleicht sogar über die schönen Künste sind immer wertvoller als die eines Laien. Mit anderen Worten: das Leben hier auf Erden wäre besser, wenn die Wissenschaftler es in die Hand nähmen.

Aber stimmt es wirklich, daß ein Wissenschaftler, in diesem engeren Sinne, mit größerer Wahrscheinlichkeit als andere Leute nicht wissenschaftliche Probleme auf eine objektive Weise angeht? 

Es gibt wenig Grund, dies zu glauben. Machen Sie eine einfache Probe — die Fähigkeit, sich dem Nationalismus zu widersetzen. In der Praxis stellen sich die Wissenschaftler aller Länder mit weniger Skrupeln hinter ihre eigene Regierung als die Schriftsteller und Künstler. 

Die deutsche wissenschaftliche Gemeinschaft bot Hitler als Ganzes keinen Widerstand. Hitler mag zwar vielleicht die langfristigen Aussichten der deutschen Wissenschaft verdorben haben, doch gab es immer noch eine Menge begabter Menschen, um über Dinge wie künstliches Öl, Düsenflugzeuge, Raketengeschosse und die Atombombe die nötigen Forschungen anzustellen. Ohne sie hätte der deutsche Kriegsapparat nie errichtet werden können.

Was, hingegen, geschah mit der deutschen Literatur, als die Nazis an die Macht kamen? 

Soviel ich weiß, sind keine vollständigen Listen veröffentlicht worden, doch vermute ich, daß die Zahl der deutschen Wissenschaftler — Juden ausgenommen —, die freiwillig in die Verbannung gingen oder vom Regime verfolgt wurden, viel kleiner war als die Zahl der Schriftsteller und Journalisten. Ja, was noch übler ist, eine Reihe deutscher Wissenschaftler schluckte die Monstrosität der »rassischen Wissenschaft«.

Es ist klar, daß wissenschaftliche Ausbildung das Einpflanzen einer rationalen, skeptischen, auf Erfahrung gegründeten Geisteshaltung bedeuten sollte. Sie sollte bedeuten, eine Methode zu erlernen — eine Methode, die auf jedes Problem, dem man begegnet, angewandt werden kann —, und nicht bloß, eine Menge Fakten anzuhäufen. 

Wenn man es so ausdrückt, wird der Verteidiger der wissenschaftlichen Erziehung gewöhnlich zustimmen. Dringt man jedoch weiter in ihn und bittet ihn, dies zu spezifizieren, so stellt sich irgendwie immer heraus, daß wissenschaftliche Schulung gleichbedeutend ist mit einer größeren Beachtung der exakten Wissenschaften, mit anderen Worten — mehr Fakten. Der Gedanke, daß die Wissenschaft eine Weltanschauung bedeutet, und nicht bloß ein Wissensgebäude, stößt in der Praxis auf starken Widerstand.

Wenn die Wissenschaft lediglich eine Methode oder eine Haltung ist, so daß jeder, dessen Gedankengänge genügend rational sind, in irgendeinem Sinne als Wissenschaftler bezeichnet werden kann — was wird dann aus dem ungeheuren Ansehen, das der Chemiker, der Physiker usw. heute genießen, und aus seinem Anspruch, irgendwie weiser zu sein als der Rest von uns?

1945 (L 205-8)

145-146


   Zukunft   

147

Das moderne mechanisierte Leben wird sehr öde, wenn man es zuläßt.

Die Knechtschaft des Geldes erfaßt jeden von uns, und es gibt nur drei offenkundige Auswege. 

Einer ist die Religion, ein anderer unaufhörliche Arbeit, ein dritter ist eine Art liederlicher Gesetzlosigkeit — daß man bis vier Uhr im Bett liegt und Pernod trinkt. 

Der dritte ist zweifellos der schlimmste, doch ist jedenfalls das Grundübel, daß wir uns überhaupt in Auswege flüchten.

Wir haben uns daran festzuhalten — wie an einen Rettungsring —, daß es eben möglich ist, ein normaler anständiger Mensch zu sein und doch wirklich lebendig zu bleiben.

1936 (CE I, 226)


Seit ungefähr 1930 hat die Welt keinen Grund für irgendwelchen Optimismus geliefert. Nichts ist in Sicht außer einem Durch­einander von Lügen, Haß, Grausamkeit und Torheit, und hinter unseren gegenwärtigen Übeln drohen noch größere, die erst allmählich in das europäische Bewußtsein eindringen. 

Es ist durchaus möglich, daß die wichtigsten Probleme der Menschheit überhaupt nie gelöst werden. 

Aber dies ist auch undenkbar. Wer getraut sich schon, sich in der Welt von heute umzusehen und zu sagen: »So wird's halt immer sein: selbst in einer Million Jahre wird es nicht wesentlich besser werden«

So kommt man zum fast mystischen Glauben, daß es für die Gegenwart kein Rezept gibt, daß alles politische Handeln nutzlos ist, aber daß doch irgendwo irgendwann in Zeit und Raum das Leben nicht mehr so elend und brutal sein wird wie eben jetzt.

1949, CE III, 243


Die Schwäche aller linken Parteien ist ihre Unfähigkeit, etwas Wahres über die unmittelbare Zukunft zu sagen. Wenn man in der Opposition ist und sich Gefolgschaft für ein neues wirtschaftliches oder politisches Programm gewinnen will, muß man die Unzufriedenheit der Leute schüren, und das geschieht fast unweigerlich, indem man ihnen sagt, es werde ihnen besser gehen, wenn das neue Programm einmal in Kraft gesetzt ist.  

Was man ihnen wahrscheinlich nicht sagt, ist, daß sie vermutlich die Verbesserungen nicht sogleich spüren werden, sondern erst nach, sagen wir, zwanzig Jahren.

1945, CE III, 396


148

 

 

Ende

 

 

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