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6  -  Zur Verhinderung von Literatur 

 <Polemic>, Januar 1946   

 

 

77-96

Vor einem Jahr etwa nahm ich an einer Versammlung teil, die der PEN-Club einberufen hatte, anläßlich der 300-Jahr-Feier von Miltons <Aeropagitica>, wie erinnerlich einer Streitschrift zur Verteidigung der Pressefreiheit.  

Am Kopf der Einladung stand Miltons berühmter Satz über die Sünde, ein Buch zu ›töten‹. Vier Redner sprachen. 

Einer von ihnen befaßte sich in seiner Ansprache mit der Pressefreiheit, jedoch nur in bezug auf Indien. Ein anderer erklärte zögernd und in nur sehr allgemein gehaltenen Ausdrücken, daß die Freiheit eine gute Sache sei. Der dritte griff die Gesetze über Pornographie in der Literatur an, und der vierte verteidigte im größten Teil seiner Rede die Säuberungsaktionen in Rußland. 

Die Redner aus dem Auditorium kamen zum Teil auf die Frage der Pornographie und der diesbezüglichen Gesetze zurück, andere hielten bloße Lobgesänge an die Adresse Sowjet-Rußlands. Moralische Freiheit, das heißt die Freiheit, sexuelle Fragen in Druckform zu erörtern, schien allgemeine Zustimmung zu finden. Politische Freiheit wurde nicht erwähnt. 

Von den mehreren hundert Leuten, die an der Versammlung teilnahmen, und von denen etwa die Hälfte beruflich etwas mit Schrifttum zu tun hatten, war nicht ein einziger, der darauf hingewiesen hätte, daß Pressefreiheit, wenn dieses Wort überhaupt eine Bedeutung besitzt, in der Freiheit besteht, Kritik zu üben und zu opponieren. 

Bezeichnenderweise zitierte keiner etwas aus der Streitschrift, die doch auf der Versammlung offenbar gefeiert werden sollte. Ebensowenig wurden die Bücher erwähnt, die in England oder den Vereinigten Staaten während des Krieges <getötet> worden sind. Im Endergebnis war die Feier eine Demonstration zugunsten der Zensur.* Darin liegt nichts weiter Überraschendes. 

Die Idee der intellektuellen Freiheit ist in unserm Zeitalter einem Angriff aus zwei Richtungen ausgesetzt. Auf der einen Seite sind es die theoretischen Feinde, die Vertreter des Totalitarismus; auf der andern seine unmittelbaren, praktischen, die Monopole und die Bürokratie. Jeder Schriftsteller oder Journalist, der sich seine geistige Integrität bewahren möchte, wird daran mehr durch den allgemeinen Trend der Gesellschaft als durch tatsächliche Verfolgung gehindert.

Was sich ihm in den Weg stellt, ist die Konzentration der Presse in den Händen einiger weniger reicher Männer, die Monopolherrschaft bei Radio und Film, die geringe Neigung des Publikums, Geld für Bücher auszugeben, was fast jeden Schriftsteller zwingt, sich seinen Unterhalt durch unschöpferische Kleinarbeit zu verdienen; es ist die Bevormundung durch Behörden wie dem Informationsministerium und dem British Council, die dem Schriftsteller helfen, am Leben zu bleiben, gleichzeitig aber seine Zeit vergeuden und ihm seine Ansichten auf zwingen; und schließlich die seit zehn Jahren andauernde Kriegsatmosphäre, deren zermürbender Einwirkung sich keiner hat entziehen können. 

Alles in unserer Zeit hat sich verschworen, aus dem Schriftsteller wie dem Künstler so etwas wie einen subalternen Beamten zu machen, der Themen behandelt, die von oben bestellt werden, wobei er nie das ausdrücken kann, was er für wahr hält. Aber sobald er sich dagegen auflehnt, kommt man ihm nicht einmal von seiner eigenen Seite zu Hilfe, das heißt, es gibt innerhalb der öffentlichen Meinung keine größere Schicht, die ihn darin bestätigen würde, daß er im Recht ist.

* Dazu muß man sagen, daß sämtliche Tagungen, die eine Woche oder länger dauerten, nicht immer auf dem gleichen Niveau standen. Vielleicht hatte ich einen schlechten Tag erwischt. Aber beim Lesen der Reden (die unter dem Titel Freiheit der Meinungsäußerung gedruckt herauskamen) ergibt sich, daß heute fast niemand für geistige Freiheit eintritt, wie es Milton vor 300 Jahren tat, obwohl er in der Zeit des Bürgerkrieges schrieb. (Orwell). 

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Früher, jedenfalls die ganzen protestantischen Jahrhunderte hindurch, waren der revolutionäre Gedanke und die Forderung nach geistiger Freiheit eng miteinander verbunden. Ein Ketzer, ob politisch, moralisch, religiös oder ästhetisch — war jemand, der sich weigerte, seinen eigenen Gedanken Gewalt anzutun. Seine Überzeugung kommt in den Worten der ›Revivalist‹-Hymne zum Ausdruck:

Dare to be a Daniel,
Dare to stand alone;
Dare to have a purpose firm,
Dare to make it known.

(Wag es, ein Daniel zu sein, wag es, allein zu stehen; wag es, ein festes Ziel zu haben, wag es, es zu verkünden.)

 

Um diese Hymne für uns heute zu aktualisieren, braucht man nur zu Beginn jeder Zeile ein ›nicht‹ hinzusetzen. Denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit, daß von den Rebellen, die gegen die bestehende Ordnung revoltieren, jedenfalls die Mehrzahl und die am schärfsten profilierten sich gleichzeitig gegen den Gedanken der individuellen Integrität wenden. »Wagen, allein zu stehen« ist ideogisch* so verbrecherisch wie in der Praxis gefährlich. Die Unabhängigkeit des Schriftstellers und Künstlers wird von anonymen wirtschaftlichen Mächten zerfressen und gleichzeitig von denen ausgehöhlt, die sie verteidigen sollten.  

Es ist diese letztgenannte Erscheinung, mit der zu beschäftigen sich lohnt.

Gedanken- und Pressefreiheit werden gewöhnlich mit Argumenten vom Tisch gefegt, um die man sich weiter nicht zu kümmern brauchte. Jeder, der mit Vorträgen und Diskussionen Erfahrungen gemacht hat, kann sie auswendig.

* (u.2014) ideologisch?

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Ich will auch nicht versuchen, mich mit der bekannten Behauptung auseinanderzusetzen, Freiheit sei eine bloße Illusion, oder es gäbe mehr Freiheit in totalitären Staaten als in demokratischen, und mit der sehr viel ernsteren und gefährlicheren, wonach Freiheit gar nichts Erstrebenswertes und geistige Unabhängigkeit eine Form antisozialer Ichbezogenheit sei. Obwohl meist andere Aspekte im Vordergrund stehen, dreht sich die Kontroverse über Rede- und Pressefreiheit im Grunde um die Frage, was erstrebenswerter ist, Ehrlichkeit oder Lüge. 

Worum es wirklich geht, ist das Recht, offen über Zeitgeschehen zu berichten, oder jedenfalls so wahrheitsgetreu wie Unkenntnis, Fehlurteile und Selbsttäuschung — woran jeder Beobachter leidet — dieses zulassen. Damit könnte ich den Eindruck erwecken, als hielte ich die Reportage für den einzigen Literaturbereich von Bedeutung; aber ich will später noch zu zeigen versuchen, daß auf jeder literarischen Ebene und vermutlich bei jeder Kunst das gleiche Problem in mehr oder weniger verfeinerter Form besteht. Zunächst jedoch ist es notwendig, die Nebensächlichkeiten, in denen sich die Kontroverse gewöhnlich verliert, beiseite zu räumen.

Die Gegner geistiger Freiheit versuchen immer, ihre Sache als ein Plädoyer für Disziplin und gegen Individualismus aufzuziehen. Die Fragestellung ›Wahrheit contra Unwahrheit‹ wird so weit wie möglich in den Hintergrund geschoben. Obwohl die Akzente verschieden gesetzt werden, wird der Schriftsteller, der sich weigert, seine Meinung zu opfern, immer als krasser Egoist bezeichnet. Ihm wird vorgeworfen, in einem elfenbeinernen Turm leben zu wollen, oder seine Persönlichkeit in exhibitionistischer Weise zur Schau stellen zu müssen oder sich dem ehernen Ablauf der Geschichte mit dem Versuch zu widersetzen, seine durch nichts gerechtfertigten Privilegien aufrechtzuerhalten. 

Katholiken und Kommunisten nehmen beide an, daß ein Gegner nicht ehrlich und intelligent zugleich sein könne. Beide setzen stillschweigend voraus, daß die Wahrheit bereits gefunden ist, und daß der Ketzer, wenn er nicht ein Narr ist, die Wahrheit kennt, sie aber aus selbstsüchtigen Gründen leugnet.

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In der kommunistischen Literatur wird der Angriff auf die geistige Freiheit gewöhnlich durch Phrasen wie ›kleinbürgerlicher Individualismus‹, ›liberale Illusionen des 19. Jahrhunderts‹ etc. und durch sinnentleerte Epitheta wie ›romantisch‹ und ›sentimental‹ bekräftigt; Worte, unter denen man sich nichts und alles vorstellen kann und die sich daher schwer widerlegen lassen. Auf diese Weise wird die Diskussion von ihrem Kernpunkt wegmanövriert. Einem kann man zustimmen, und die meisten aufgeklärten Menschen tun dies auch: daß, wie die Kommunisten erklären, wahre Freiheit nur in einer klassenlosen Gesellschaft möglich sei und daß heute derjenige schon annähernd frei ist, der für das Zustandekommen einer solchen Gesellschaft kämpft.

Gleichzeitig damit wird die durch nichts begründete Behauptung dazwischengeschmuggelt, daß die kommunistischen Parteien für die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft eintreten, und daß dieses Ziel in Sowjet-Rußland bereits in greifbare Nähe gerückt sei. Wenn man diese zweite Behauptung zusammen mit der ersten gelten läßt, so gibt es fast keinen Angriff auf den gesunden Menschenverstand und das Anstandsgefühl, der sich nicht rechtfertigen ließe. Man geht einfach der zentralen Frage aus dem Weg. 

Geistige Freiheit bedeutet die Freiheit zu berichten, was man gesehen, gehört und empfunden hat, ohne gezwungen zu sein, imaginäre Fakten und Auffassungen zu fabrizieren. Die vertrauten Tiraden gegen ›Abweichlertum‹, ›Individualismus‹, ›Romantizismus‹ und so weiter sind bloße Deklamationen, Hilfsmittel, welche die Verfälschung der geschichtlichen Wahrheit berechtigt erscheinen lassen sollen.

Als man vor fünfzehn Jahren die geistige Freiheit verteidigte, mußte man sie gegen Konservative, Katholiken und bis zu einem gewissen Grad — da sie in England nicht von großer Bedeutung waren — gegen die Faschisten verteidigen. Heute gegen Kommunisten und ihre ›Mitläufer‹.

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Man sollte zwar den Einfluß der kleinen kommunistischen Partei Englands nicht übertreiben, aber an der vergifteten Wirkung des russischen Mythos auf das englische Geistesleben kann kein Zweifel bestehen. Das ist die Ursache, weshalb erwiesene Tatsachen unterdrückt oder bis zu einem solchen Ausmaß entstellt werden, daß man daran zweifeln muß, ob es je möglich sein wird, die Geschichte unserer Zeit wahrheitsgetreu zu schreiben.

Aus den Hunderten von Beispielen, die man anführen könnte, möchte ich nur eins herausgreifen. 

Als Deutschland zusammen­brach, stellte sich heraus, daß sehr viele Sowjetrussen, die meisten zweifellos nicht aus politischen Gründen, die Front gewechselt und auf deutscher Seite gekämpft hatten. Auch eine kleine, aber nicht unbedeutende Zahl russischer Kriegsgefangener und Versprengter weigerte sich, in die UdSSR zurückzukehren, und einige davon wurden gegen ihren Willen repatriiert. Diese Tatsachen, allen Journalisten durch Augenschein bekannt, blieben in der englischen Presse so gut wie unerwähnt, während zur gleichen Zeit russophile Publizisten in England auch weiterhin die Säuberungsaktionen und Deportationen zwischen 1936 und 1938 rechtfertigten, indem sie behaupteten, daß es in der UdSSR keine Volksverräter gegeben habe.

Der Nebel von Lügen und Verfälschungen, der sich um Vorgänge wie die Hungersnot in der Ukraine, den Spanischen Bürger­krieg, die russische Politik in Polen breitete, ist nicht eine Folge bewußter Unaufrichtigkeit, sondern jeder Schriftsteller oder Journalist, der rückhaltlos mit der UdSSR sympathisiert — sich also so verhält, wie die Russen es von ihm erwarten —, ist gezwungen, von sich aus wichtige Geschehnisse zu verfälschen. 

Vor mir liegt ein sehr seltenes Pamphlet aus der Feder Maxim Litwinows von 1918, das sich mit den Ereignissen der russischen Revolution befaßt. Der Name Stalin wird nicht erwähnt, dagegen Trotzki, Sinowjew, Kamenew und andern höchste Anerkennung gezollt. Was könnte selbst der intellektuell gewissen­hafteste Kommunist zu einem solchen Schriftstück sagen?

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Bestenfalls würde er sich um eine Antwort herumdrücken und erklären, es sei unerwünscht und man täte besser, es verschwinden zu lassen. Sollte aber aus irgendwelchen Gründen beschlossen werden, eine gereinigte Fassung des Schriftstücks herzustellen, in der Trotzki beschimpft und dagegen Stalin in den Himmel gehoben würde, könnte kein parteitreuer Kommunist protestieren. Solche Fälschungen sind in den letzten Jahren vorgekommen. Entscheidend dabei ist nicht, daß es passiert ist, sondern daß sie auch bei Bekanntwerden keinerlei Reaktion von seiten der linken Intelligenz insgesamt hervorrufen. Auf Argumente wie, es wäre ›unzweckmäßig, die Wahrheit zu sagen‹, oder: ›es würde jemandem in die Hände arbeiten‹ und dergleichen, kann man nichts erwidern, und nur wenige beunruhigt die Aussicht, daß der ganze Wust von Lügen, der in den Zeitungen steht, einmal in die Geschichtsbücher eingehen könnte.

 

Die von totalitären Staaten organisierten Lügen sind nicht, wie oft behauptet wird, vorübergehende Hilfsmittel wie etwa die Kriegslist bei militärischen Operationen. Es sind integrierende Bestandteile des Totalitarismus, etwas, was weiterbestehen wird, auch wenn Konzentrationslager und Geheimpolizei sich nicht mehr als notwendig erweisen würden. 

Unter intelligenten Kommunisten ist eine Legende verbreitet, nach der die russische Regierung, auch wenn sie heute noch zu einer Lügen­propaganda, Schauprozessen und so weiter gezwungen ist, im geheimen die wahren Vorgänge registriert und sie zu einem künftigen Zeitpunkt veröffentlichen wird. Ich glaube, man kann ganz sicher sein, daß das nicht stimmt, weil das eine liberale Geschichts­schreibung voraussetzen würde, die davon ausginge, daß man Daten der Vergangenheit nicht abändern kann, und daß die genaue Kenntnis geschichtlicher Vorgänge einen Wert besitzt, der sich von selbst versteht. 

Vom totalitären Standpunkt ist Geschichte eher etwas, das immer neu geschaffen, statt gelehrt werden muß.

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Der totalitäre Staat ist praktisch eine Theokratie, und seine herrschende Klasse muß als unfehlbar erscheinen, um ihre Position zu behaupten. Da aber tatsächlich niemand unfehlbar ist, so erweist sich die Abänderung von Vorgängen als notwendig, um zu beweisen, daß dieser oder jener Fehler gar nicht begangen worden ist, und dieser oder jener nie errungene Sieg tatsächlich stattgefunden hat. Dazu kommt, daß jeder politische Kurswechsel auch eine entsprechende Abänderung der Doktrin und eine Neubewertung prominenter historischer Figuren erforderlich macht.

Solche Dinge kommen überall vor, führen aber mit größter Wahrscheinlichkeit in Gesellschafts­systemen, in denen zu jeder gegebenen Zeit immer nur eine Meinung erlaubt ist, zu ausgesprochenen Fälschungen. Totalitarismus benötigt eine unausgesetzte Abänderung der Vergangenheit und führt auf die Dauer zur Skepsis an einer objektiven Wahrheit. Freunde des Totalitarismus in diesem Lande benutzen gern das Argument, daß absolute Wahrheit doch unerreichbar und eine große Lüge daher nicht ärger sei als eine kleine. Weiter heißt es, daß alle Geschichts­schreibung unklar und ungenau sei, und die moderne Physik habe bewiesen, daß was uns als reale Welt erscheine, eine Illusion, und also das Vertrauen auf unsere sinnlichen Wahrnehmungen nichts als gewöhnliches Philistertum sei. 

Eine totalitäre Gesellschaft, die sich lange Zeit behaupten könnte, würde vermutlich in geistiger Schizophrenie enden, bei der die Gesetze des gesunden Menschenverstandes im praktischen Leben und in bestimmten exakten Wissenschaften ihre Gültigkeit behalten, vom Politiker, Historiker, Soziologen aber mißachtet werden dürften. Heute schon gibt es viele Leute, die die Verfälschung eines wissenschaftlichen Werkes für einen Skandal halten würden, in der Verfälschung einer historischen Tatsache dagegen nichts Böses sehen. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem Literatur und Politik sich mit dem Totalitarismus überschneiden, der den größten Druck auf den Intellektuellen ausübt.

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Die exakten Wissenschaften sind heute noch nicht von Ähnlichem bedroht, das ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß es in allen Ländern dem Wissenschaftler leichter fällt als dem Schriftsteller, sich insgeheim gegen seine jeweilige Regierung zu stellen.

Um den Faden nicht zu verlieren, möchte ich wiederholen, was ich am Anfang dieses Essays gesagt habe: daß die unmittelbaren Feinde der Wahrheit und also der Gedankenfreiheit, die Beherrscher der Presse, die Filmmagnaten und die Bürokratie sind, daß aber das nachlassende Bedürfnis nach Freiheit unter den Intellektuellen selbst das ernsteste Symptom ist. Es könnte scheinen, als hätte ich die ganze Zeit über die Auswirkungen der Zensur nicht auf die Literatur in ihrer Gesamtheit, sondern auf einen Teil, den politischen Journalismus, gesprochen.

Geht man davon aus, daß Sowjet-Rußland in der englischen Presse tabu ist, daß Fragen wie Polen, der Spanische Bürgerkrieg, der deutsch-russische Pakt von jeder ernsthaften Erörterung ausgeschlossen sind, und daß von jemandem, der im Besitz von Informationen ist, die mit der herrschenden Linie nicht übereinstimmen, erwartet wird, sie entweder zu verändern oder den Mund zu halten — das alles als gegeben angenommen, was hat die Literatur im weitesten Sinne damit zu tun? 

Ist denn jeder Schriftsteller ein Politiker und jedes Buch notwendigerweise reine Reportage? Kann selbst unter der schärfsten Diktatur ein Schriftsteller nicht eine geistige Freiheit bewahren und seine unorthodoxen Gedanken so subtil und verkleidet zum Ausdruck bringen, daß die Obrigkeit in ihrer Dummheit es nicht merkt? Stimmt der Schriftsteller aber mit der herrschenden Linie überein, warum muß das dann einen einengenden Einfluß auf sein Schaffen haben? Benötigt die Literatur oder eine andere Kunst nicht immer zu ihrer Entfaltung eine Gesellschaft, in der alle einer Meinung sind und zwischen Künstler und Publikum keine Gegensätze bestehen? Muß man zu dem Schluß kommen, daß jeder Schriftsteller ein Rebell ist, oder sogar schon als Schriftsteller ein exzentrischer Mensch?

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Wenn man die geistige Freiheit gegen die Ansprüche des Totalitarismus verteidigt, begegnet man diesen Argumenten in der einen oder anderen Form. Sie beruhen auf der völligen Verständnislosigkeit über das Wesen der Literatur und wie — oder man sollte vielleicht besser sagen: warum — sie entsteht. Sie gehen davon aus, daß der Schriftsteller nur zur Unterhaltung anderer da ist, daß er die Propagandalinie so leicht wechseln kann, wie ein Drehorgelspieler seine Walzen. Aber wie kommt es, daß immer noch Bücher geschrieben werden? 

Oberhalb eines ziemlich niedrigen Niveaus ist Literatur ein Versuch, Einfluß auf die öffentliche Meinung zu gewinnen, und zwar durch die Veröffentlichung von Erfahrungen. Und was die Meinungsfreiheit betrifft, so besteht kein großer Unterschied zwischen einem Journalisten und einem ›gänzlich unpolitischem‹ Dichter. Der Journalist ist unfrei und wird sich seiner Unfreiheit bewußt, sobald er gezwungen ist, Lügen zu schreiben oder eine Nachricht zu unterdrücken, die ihm wichtig erscheint. Der Dichter ist unfrei, wenn er seine subjektiven Gefühle verfälschen muß, die in seinen Augen Tatsachen sind. Er mag die Wirklichkeit abändern und karikieren, aber die Szenerie seines eigenen Geistes kann er nicht verfälschen. Er kann nicht glaubwürdig versichern, daß er das liebt, was er verabscheut, oder sagen, daß er an etwas glaube, woran er nicht glaubt. Wird er dazu gezwungen, so ist das einzige Ergebnis, daß seine schöpferischen Fähigkeiten verkümmern. Er kann das Problem auch nicht dadurch lösen, indem er umstrittenen Themen aus dem Weg geht. So etwas wie eine rein unpolitische Literatur gibt es nicht und am wenigsten in einer Epoche wie der unsern, wo Furcht, Haß und politische Bindungen bei jedem dicht unter der Bewußtseinsgrenze liegen.

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Schon ein einziges Tabu kann eine frustrierende Wirkung auf den Geist ausüben, weil immer die Gefahr besteht, daß ein frei zu Ende gedachter Gedanke zu dem tabuisierten führen könnte. Daraus ergibt sich, daß die Atmosphäre des Totalitarismus für jeden Prosa-Schriftsteller tödlich ist, während sie einem Dichter, wenigstens einem lyrischen, noch die Möglichkeit zu atmen geben könnte. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Prosa-Literatur, wie sie bei uns über 4000 Jahre bestanden hat, in einer totalitären Gesellschaft, die auch nur zwei Generationen überdauert, ihr Ende finden wird.

Es hat zwar schon unter despotischen Regierungen eine blühende Literatur gegeben, aber dieser Despotismus von einst war nicht totalitär, wie schon oft ausgeführt worden ist. Ihr Unterdrückungsapparat war immer ineffektiv, ihre herrschenden Klassen immer entweder korrupt oder apathisch oder halb-liberal in ihren Ansichten, und die religiösen Lehren standen einem Perfektionismus, der sich auf menschliche Unfehlbarkeit berief, ablehnend gegenüber. Trotzdem stimmt es, daß Prosa-Literatur ihre Höhepunkte in Zeiten der Demokratie und der gedanklichen Freiheit erreicht hat. 

Das Neue am Totalitarismus ist, daß seine Doktrin nicht diskutiert werden kann und gleichzeitig unstabil ist. Man muß sie bei Strafe der Vernichtung annehmen, während sie ständig einer Änderung unterworfen werden kann. Man sehe sich zum Beispiel die verschiedenen, völlig unvereinbaren Haltungen an, die ein englischer Kommunist oder Mitläufer gegenüber dem Krieg zwischen England und Deutschland einnehmen mußte. Vor September 1939 war er jahrelang zur flammenden Entrüstung über ›die Greuel des Nazismus‹ verpflichtet. Nach September 1939 hatte er zwanzig Monate lang zu glauben, daß man Deutschland mehr Unrecht antue als es verschuldet habe, und das Wort ›Nazi‹ hatte, wenigstens soweit es Gedrucktes betraf, aus seinem Wortschatz zu verschwinden. 

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Unmittelbar nach Abhören der Acht-Uhr-Nachrichten am Morgen des 22. Juni 1941 mußte er wieder umlernen und von neuem die Ansicht vertreten, daß der Nazismus das Schlimmste sei, was die Welt je erlebt habe. Nun wird es einem Politiker nicht schwer, solche Frontwechsel vorzunehmen. Bei einem Schriftsteller liegt der Fall etwas anders. Wenn er im richtigen Moment seine Ansichten pflichtgemäß ändern soll, muß er entweder beim Schreiben seine persönlichen Gefühle Lügen strafen oder sie überhaupt unterdrücken. In beiden Fällen hat er den Motor seines Schaffens vernichtet.

Nicht nur, daß Gedanken sich nur widerwillig einstellen werden, die Worte, die er benutzt, werden sich ihm im Gebrauch versagen. Politisches Schrifttum in unserer Zeit besteht fast gänzlich aus vorfabrizierten Phrasen, die nur zusammengesetzt zu werden brauchen, wie die Teile eines mechanischen Kinderspielzeugs. Das ist das unvermeidliche Ergebnis einer Eigen-Zensur. Um in einer klaren, kraftvollen Sprache zu schreiben, muß man furchtlos denken können, und um furchtlos zu denken, kann man kein Konformist sein. 

In einer ›Epoche des Glaubens‹ mag es anders sein, wo die herrschende Lehre bereits so lange besteht, daß sie nicht mehr allzu ernst genommen wird. Unter solchen Umständen kann es möglich sein, daß große Teile des eigenen Denkens unberührt von dem bleiben, was man vorschriftsmäßig zu glauben hatte. Es scheint bedeutsam, daß in dem einzigen Zeitalter des Glaubens, dessen Europa sich je erfreut hat, Prosa-Literatur fast ganz verschwand. Das ganze Mittelalter hindurch hat es so gut wie keine erzählende Literatur und nur sehr wenig Geschichtsschreibung gegeben. Die geistigen Führer der Gesellschaft bedienten sich einer toten, tausend Jahre unverändert gebliebenen Sprache, um ihre ernstesten Gedanken auszudrücken.

 

Vom Totalitarismus kann man allerdings weniger ein Zeitalter des Glaubens als ein Zeitalter der Schizophrenie erwarten. Eine Gesellschaft wird immer dann totalitär, wenn ihre Struktur offenkundig künstlich wird, das heißt, wenn die herrschende Klasse ihre eigentliche Funktion verliert und sich nur noch durch Gewalt oder Betrug an die Macht klammert. Eine solche Gesellschaft, gleichgültig, wie lange sie besteht, kann sich nicht leisten, tolerant oder geistig stabil zu sein. Sie kann weder die wahrheitsgemäße Aufzeichnung von Tatsachen zulassen, noch die Aufrichtigkeit der Gefühle, welche eine Voraussetzung der Literatur ist. 

Um vom Totalitarismus korrumpiert zu werden, braucht man nicht in einem totalitären Lande zu leben. Die bloße Vorherrschaft bestimmter Ideen verbreitet eine Art von Gifthauch, der ein Thema nach dem ändern für die Literatur unmöglich macht. Wo immer eine den Massen aufgezwungene Ideologie herrscht — oder zwei, wie das oft der Fall ist —, hört gute Literatur auf. Einen Beweis dafür liefert der Spanische Bürgerkrieg. Für viele englische Intellektuelle war der Krieg ein aufwühlendes Erlebnis, aber ein Erlebnis, über das sie sich nicht ehrlich äußern konnten. Es gab nur zwei Dinge, die sie sagen durften, und beides waren handgreifliche Lügen. Im Endergebnis brachte der Krieg Berge von Gedrucktem hervor, aber fast nichts, was sich zu lesen lohnt.

Es ist nicht sicher, ob die Auswirkungen des Totalitarismus auf die Poesie ebenso vernichtend sind wie die auf die Prosa. Es gibt eine ganze Reihe übereinstimmender Anzeichen dafür, daß es einem Lyriker leichter fällt, sich in einer autoritären Gesellschaft zu Hause zu fühlen, als einem Prosa-Schriftsteller. Zunächst einmal deshalb, weil Bürokraten und andere Männer des praktischen Lebens den Lyriker gewöhnlich viel zu sehr verachten, um an seinen Äußerungen interessiert zu sein. Zweitens ist die Aussage des Gedichts — das heißt, sein Sinn, wenn es in Prosa übersetzt würde — dem Dichter selbst ziemlich unwichtig. Der in einem Gedicht enthaltene Gedanke ist immer sehr simpel und nie mehr als der erste Anstoß zu einem Gedicht, so wie die Anekdote der Anstoß zu einem Gemälde ist.

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Ein Gedicht ist die Anordnung von Klängen und Assoziationen, so wie ein Gemälde die Anordnung von Pinselstrichen ist. In kurzen Passagen, etwa dem Refrain eines Songs, kann das Gedicht überhaupt auf jeden Sinn verzichten. Es ist daher für einen Dichter ziemlich leicht, gefährlichen Themen aus dem Weg zu gehen und Ketzereien nicht laut werden zu lassen. Und selbst wenn er sie laut werden läßt, dürften sie unbeachtet bleiben. Vor allem aber sind gute Gedichte, im Gegensatz zur Prosa, nicht unbedingt das Produkt eines einzelnen. 

Eine bestimmte Gattung, wie zum Beispiel Balladen oder überaus kunstvolle Versformen, können das Ergebnis der Zusammenarbeit einer Gruppe sein. Ob die alten englischen und schottischen Balladen ursprünglich von einem einzelnen oder aus der Masse des Volkes stammen, ist strittig. Auf jeden Fall sind sie nicht-individuell, schon deshalb, weil sie von Mund zu Mund überliefert werden. Selbst im Druck sind kaum zwei Verse einer Ballade immer die gleichen. Viele Verse stammen aus dem Volk und werden gemeinsam verfaßt. Einer beginnt zu improvisieren, wobei er sich selbst auf einem Instrument begleitet, ein zweiter fällt mit einer Zeile oder einem Reim ein, wenn der erste abbricht, und das setzt sich fort, bis eine ganze Ballade oder ein Song entstanden ist, ohne daß man ihn einem Urheber zuschreiben könnte.

Bei der Prosa ist eine derartige Zusammenarbeit völlig unmöglich. Ernste Prosa jedenfalls entsteht in der Abgeschlossenheit, während bei bestimmten Arten von Vers-Kunst gerade das gehobene Gefühl, einer Gruppe anzugehören, ein wichtiges Element bildet. Verse — in ihrer Art sogar gute Verse, wenn auch nicht von höchster Kunst — können selbst unter dem despotischsten Regime fortleben. Auch in einer Gesellschaft, in der jede Freiheit ausgelöscht ist, besteht ein Bedarf nach patriotischen Liedern oder heroischen Balladen, die Siege verherrlichen oder irgendeiner Persönlichkeit in ausgesuchter Form schmeicheln. Diese Art Gedichte können auf Bestellung geschrieben oder kollektiv verfaßt werden, ohne deshalb an künstlerischem Wert zu verlieren.

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Prosa ist eine völlig andere Sache, da der Schriftsteller den Umkreis seines Denkens nicht einengen kann, ohne seine Erfindungs­gabe zu töten. Die Geschichte totalitärer Staaten oder Gruppen mit totalitärer Ideologie deutet darauf hin, daß der Verlust der Freiheit für jede Art von Literatur vernichtend ist. Unter Hitlers Regime verschwand die deutsche Literatur fast ganz, und in Italien lagen die Dinge nicht viel anders. Die russische Literatur hat sich, soweit man nach den Übersetzungen urteilen kann, seit den ersten Tagen der Revolution merklich verschlechtert, obwohl einige Versdichtungen besser als die Prosa zu sein scheinen. In etwa fünfzehn Jahren sind nur wenige ernstzunehmende russische Erzählungen übersetzt worden. In West-Europa und Amerika ist ein großer Teil der literarischen Intelligenz entweder durch die kommunistische Partei hindurchgegangen, oder hat stark mit ihr sympathisiert, aber diese ganze linke Bewegung hat sehr wenig an Büchern hervorgebracht, die des Lesens wert wären.

Der orthodoxe Katholizismus, um es nochmals zu sagen, scheint auf einige Formen der Literatur eine geradezu katastrophale Wirkung zu haben. Wie viele Leute sind in den letzten 300 Jahren gute Schriftsteller und zugleich gute Katholiken gewesen? Tatsache ist, daß bestimmte Themen sich nicht mit Worten verherrlichen lassen, und die Tyrannei ist eine davon. Niemand hat je ein gutes Buch zur Verherrlichung der Inquisition geschrieben. Die Poesie mag in einem totalitären Zeitalter fortbestehen, und einige Künste oder Halb-Künste wie die Architektur mögen die Tyrannei sogar förderlich für sich finden, aber dem Prosa-Schriftsteller bleibt keine andere Wahl als die zwischen Schweigen und Tod. Prosa-Literatur, wie wir sie kennen, ist ein Ergebnis des Rationalismus, der protestantischen Jahrhunderte, der autonomen Einzelpersönlichkeit. Die Beseitigung der geistigen Freiheit trifft nicht nur den Schriftsteller, sondern ebensosehr den Journalisten, den Soziologen, den Historiker, den Kritiker und schließlich auch den Dichter.

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Es wäre denkbar, daß in Zukunft eine neue Art von Literatur entsteht, die von individuellen Ansichten und Gefühlen oder von wahrheits­getreuen Beobachtungen frei ist. Im Augenblick erscheint uns etwas Derartiges unfaßbar. Denkbarer ist für uns, daß mit dem Absterben der liberalen Kultur, in der wir seit der Renaissance gelebt haben, auch die Literatur als Kunst ihr Ende findet.

Natürlich wird die Drucktechnik fortbestehen, und es ist interessant, darüber nachzudenken, wie der Lesestoff beschaffen sein mag, den es in einer totalitären Gesellschaft dann noch geben wird. Wahrscheinlich erscheinen noch Zeitungen, bis das Fernsehen einen höheren Stand erreicht hat, aber schon heute ist es zweifelhaft, ob bei den Volksmassen in Industrieländern überhaupt ein Bedürfnis nach Druckerei­erzeugnissen, abgesehen von Zeitungen, besteht. Jedenfalls gibt man schon jetzt für Lesestoff sehr viel weniger aus als für andere Zerstreuungen. Romane und Erzählungen dürften durch die Darbietungen des Films und Radios immer mehr verdrängt werden. Vielleicht hält sich noch eine Sensations-Presse-Produktion auf niederstem Niveau, am laufenden Band erzeugt, wobei der Anteil des einzelnen Autors auf ein Minimum reduziert ist.

Sicherlich liegt es nicht außerhalb des menschlichen Erfindergeistes, Bücher auf maschinellem Wege herzustellen. 

Eine Art von Mechanisierung ist bereits heute bei Film und Radio, in der Propaganda und Reklame und in den unteren Bereichen des Journalismus erkennbar. Disney-Filme werden zum Beispiel hauptsächlich fabrikmäßig hergestellt, zum Teil auf rein mechanischem Weg, zum Teil durch ein Team von Künstlern, die dabei auf ihren persönlichen Stil verzichten müssen. Funk-Features werden meistens von ausgepumpten Soldschreibern verfertigt, denen Thema und Stil bereits vorgeschrieben sind. Auch so bleibt ihre Arbeit nur Rohstoff für den Produzenten und Zensor, der ihm dann die endgültige Form gibt. Das gleiche gilt für die zahllosen, von Regierungs­stellen in Auftrag gegebenen Bücher und Druckschriften. 

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Noch maschineller erfolgt die Herstellung von Kurzgeschichten, Fortsetzungsromanen und Gedichten für die Groschen­zeitschriften. Hefte wie der <Writer> sind voll von Anzeigen literarischer Institute, die für ein paar Shillinge pro Stück fertige Handlungen für eine Story anbieten. Einige liefern sogar den Anfang und Schluß jedes Kapitels zusammen mit der Inhalts­angabe. Wieder andere bieten eine Art algebraischer Formel, mit deren Hilfe man sich selbst eine Story konstruieren kann, und schließlich gibt es Agenturen, die einen mit der Beschreibung von Personen und Situationen beliefern, die man nur noch zusammenfügen muß. Das ergibt dann automatisch eine interessante Erzählung. 

Vermutlich würde auf diese oder ähnliche Weise Literatur in einem totalitären Staat hergestellt werden, falls noch das Bedürfnis danach vorhanden sein sollte. Phantasie, persönliche Verantwortung, all dieses würde bei der Arbeit des Schriftstellers soweit wie möglich ausgeschaltet werden. Bücher könnten im Entwurf von Bürokraten geplant werden und danach durch so viele Hände gehen, daß sie am Schluß so wenig das Werk eines einzelnen sind wie ein Fordmodell beim Verlassen des Fließbandes. Selbstverständlich wäre alles derart Entstandene der letzte Schund, aber alles, was nicht Schund wäre, würde die Staatsordnung gefährden. Was die noch vorhandene Literatur von früher betrifft, so müßte sie entweder verboten oder sehr sorgfältig umgeschrieben werden.

Der Totalitarismus hat sich bisher nirgends ganz durchgesetzt. Unsere eigene Gesellschaft ist im großen und ganzen noch liberal. Um sein Recht auf freie Meinungsäußerung zu behaupten, muß man gegen wirtschaftlichen Druck und breite Schichten der Öffentlichkeit ankämpfen, aber vorläufig noch nicht gegen eine geheime Staatspolizei.

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Man kann so gut wie alles sagen oder drucken, solange man es in umschriebener Form tut. Bedrückend ist aber, wie ich zu Beginn sagte, die feindselige Einstellung gegenüber der Freiheit von seiten derer, denen sie das Höchste bedeuten müßte. Das große Publikum ist an der Frage weder in der einen noch in der anderen Weise interessiert. Es ist weder dafür, einen Nonkonformisten zu verfolgen, noch geneigt, für ihn einzutreten. Es ist einerseits zu gesund und andererseits zu dumm, um sich die totalitäre Ideologie zueigen zu machen. Der direkte, gezielte Angriff auf geistige Ehrlichkeit und Anständigkeit kommt von den Intellektuellen selbst.

Wären die russophilen Intellektuellen nicht diesem speziellen Mythos erlegen, so vielleicht einem anderen ähnlichen. Jedenfalls gibt es den russischen Mythos, und die durch ihn hervorgerufene moralische Korruption stinkt zum Himmel. 

Wenn man erlebt, daß hochgebildete Menschen Unterdrückungen und Verfolgungen gegenüber gleichgültig bleiben, fragt man sich, was verächtlicher ist, ihr Zynismus oder ihre Kurzsichtigkeit. 

Zu den kritiklosen Bewunderern der UdSSR gehören zahlreiche Wissenschaftler. Sie scheinen zu glauben, daß die Abschaffung der Freiheit bedeutungslos ist, solange ihr eigenes Schaffen nicht davon berührt wird. Die UdSSR ist ein großes, sich rasch entwickelndes Land, das dringend wissenschaftliche Fachkräfte braucht und sie deshalb sehr großzügig behandelt. Vorausgesetzt, daß sie sich nicht mit gefährlichen Themen abgeben, nehmen sie eine privilegierte Stellung ein. 

Schriftsteller dagegen werden unbarmherzig verfolgt. Es steht einwandfrei fest, daß literarische Prostituierte wie Ilja Ehrenburg oder Alexej Tolstoi vom Staat große Summen bezogen, aber dafür mit dem einzigen zahlen mußten, was für einen Schriftsteller von Wert ist, mit der Freiheit ihrer Meinung. Es gibt wenigstens einige unter den englischen Wissenschaftlern, die sich so enthusiastisch über die ihren Kollegen in Rußland gebotenen Möglichkeiten äußerten, die das verstehen können.

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Aber ihre Einstellung scheint folgende zu sein: »So, Schriftsteller werden in Rußland verfolgt? Na und? Ich bin kein Schriftsteller.« Sie sehen nicht, daß jeder Angriff auf die geistige Freiheit und den Begriff der Objektivität schließlich jeden Bereich des Denkens bedroht.

Im Augenblick duldet der totalitäre Staat den Wissenschaftler, weil er ihn braucht. Selbst im Nazi-Deutschland wurden Wissenschaftler, wenn sie nicht Juden waren, verhältnismäßig gut behandelt, und die Gesamtheit der deutschen Wissenschaftler leistete Hitler keinen Widerstand. 

In der heutigen Situation muß auch der größte Autokrat die realen Gegebenheiten berücksichtigen, teils, weil liberale Gewohnheiten und liberales Denken immer noch insgeheim weiterbestehen, teils mit Rücksicht auf die Vorbereitungen für einen Krieg. Solange man reale Gegebenheiten nicht einfach beiseite schieben kann, solange zwei mal zwei immer noch vier ausmachen, hat der Wissenschaftler seinen festen Platz. Man kann ihm sogar ein gewisses Maß an Freiheit einräumen. Sein Erwachen wird später kommen, wenn der totalitäre Staat fest begründet ist. Bis dahin wäre es in seinem Interesse, falls er seine wissenschaftliche Unabhängigkeit wahren will, eine Art Solidarität zu seinen Schriftsteller-Kollegen herzustellen und es nicht als gleichgültig anzusehen, wenn sie zum Schweigen gebracht oder zum Selbstmord getrieben und Zeitungen gefälscht werden.

Wie immer es jedoch um die physikalischen Wissenschaften oder die Musik, Malerei und Architektur bestellt sein mag, es ist keine Frage, daß die Literatur zum Untergang verurteilt ist, wo es keine Gedankenfreiheit mehr gibt. Nicht nur, daß sie in jedem Land abstirbt, das eine solche Verfassung hat — jeder Schriftsteller, der eine totalitäre Ideologie unterstützt, der für Verfolgungen und die Verfälschung der Wirklichkeit Entschuldigungen findet, vernichtet sich selbst. Einen Ausweg gibt es da nicht.

Keine Tiraden gegen Individualismus und den elfenbeinernen Turm, keine scheinheiligen Plattheiten, daß ›wahre Individualität nur durch Aufgehen in der Gemeinschaft zu erreichen ist‹ können darüber hinwegtäuschen, daß ein gekaufter Geist ein zerstörter Geist ist.

Wo kein Platz mehr für spontane Ideen ist, wird literarisches Schaffen zur Unmöglichkeit, ja die Sprache selbst verdorrt. Einmal, in Zukunft, wenn der menschliche Geist zu etwas völlig anderem geworden ist, als wir bisher darunter verstanden haben, wird man vielleicht lernen, literarisches Schaffen und geistige Wahrheit voneinander zu trennen. Heute wissen wir nur, daß die Phantasie sich wie bestimmte Tierarten in der Gefangenschaft nicht fortpflanzt.

Jeder Schriftsteller oder Journalist, der das leugnet — und jeder, der die Sowjet-Union verherrlicht, tut das —, verlangt in Wahrheit seinen eigenen Tod.

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