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Dean Price

 

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Um die Jahrtausendwende, im Alter von etwa dreißig Jahren, träumte Dean Price, dass er auf dem Weg zu seinem Pastor eine asphaltierte Straße entlangging. Hinter einer Kurve wurde aus der Straße ein unbefestigter Weg, und hinter einer weiteren Kurve wurde daraus ein schmaler Hohlweg, in dem alte Bauernkarren tiefe Spuren hinterlassen hatten. Das Unkraut zwischen den Spurrillen reichte ihm bis an die Brust, hier war seit langem niemand vorbeigekommen. Dean lief immer weiter, er breitete die Arme aus und strich über die kitzelnden Gräser. Dann hörte er eine Stimme – sie kam aus seinem Inneren, wie ein Gedanke. »Du wirst jetzt nach Hause gehen, du wirst deinen Traktor holen und an diese Stelle zurückkehren, und du wirst diesen Weg mähen, damit andere, die dir folgen möchten, sehen, dass hier schon jemand gewesen ist. Sie werden kommen, sie werden dir folgen. Du musst nur immer dafür sorgen, dass der Weg gemäht ist.«

Dean hatte Tränen in den Augen, als er aufwachte. Sein ganzes Leben lang war er wie ein ruderloses Schiff um sich selbst gekreist und hatte sich gefragt, welche Aufgabe ihm zugedacht war, zu welchem Zweck er überhaupt auf dieser Erde war. Er brauchte eine Weile, um den Traum zu verstehen, aber er spürte gleich, dass er eine Botschaft enthielt, und dass diese Botschaft sein Schicksal war. Dean hatte sich gerade mit einem Kiosk selbständig gemacht, was nicht gerade nach einer schicksalhaften Berufung aussah. Weitere fünf Jahre sollte er benötigen, um seine wahre Berufung zu finden. Er war hellhäutig und voller Sommersprossen, sein Haar war schwarz, und wenn er lächelte oder mit heller Stimme kicherte, bildeten sich um seine dunklen Augen winzige Fältchen. Die Hautfarbe hatte er von seinem Vater, das hübsche Gesicht von der Mutter. Seit seinem zwölften Lebensjahr kaute er Tabak der Marke Levi Garrett, er verleugnete seine bäuerliche Herkunft nicht und sprach mit der sanften Intensität eines Kreuzfahrers. Er war freundlich und unaufdringlich, seine höfliche Art gab den Männern, die in der Moose Lodge Wodka aus Plastikbechern tranken, Gesprächsstoff, sie fragten sich, wie überzeugend Dean als Bauernjunge war. Seit frühester Kindheit liebte er eine Bibelstelle mehr als alle anderen – Matthäus7,7: »Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet.«

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Er hatte immer nach Unabhängigkeit gesucht – besonders finanzieller Art. Vor nichts fürchtete er sich wie vor Armut und beruflichem Scheitern, was seinen guten Grund hatte. Seine beiden Väter waren Farmer gewesen, sie bauten Tabak an wie ihre Väter und Großväter, die Tradition reichte zurück bis ins achtzehnte Jahrhundert, immer auf dem gleichen Fleck in North Carolina, Bezirk Rockingham. Alle in der Familie hatten schottisch-irische Namen, die so kurz waren, dass sie bequem auf einen Grabstein passten: Price, Neal, Hall. Und alle waren arm. »Das ist so«, sagte Dean. »Ich muss mir einen Weg bahnen, um den Fluss zu erreichen. Wenn ich ihn jeden Tag gehe, wird schließlich ein Trampelpfad daraus. So und nicht anders sind in diesem Land die Straßen entstanden. Manchmal sind die Menschen, die die Pfade entdeckt haben, den Fährten der Tiere gefolgt. Wenn der Weg einmal angelegt ist, wird es bald unmöglich, einen anderen zu gehen. Weil wir uns an das Muster gewöhnt haben, weil wir uns über Generationen hinweg nicht trauen, es anders zu denken.«

Als Dean ein kleiner Junge war, wuchs der Tabak bis an die Zäune. Von April bis Oktober roch ganz Rockingham County danach. Er wuchs in Madison auf, einem Ort vierzig Minuten nördlich von Greensboro, an der Route 220. Die Familie wohnte im Ort, aber Deans eigentliches Leben spielte sich auf der Tabakfarm seines Großvaters Norfleet Price ab. Er hieß Norfleet, weil sein Vater, Deans Urgroßvater, einmal auf einem Zweispänner eine Ladung Tabak nach Winston-Salem gebracht hatte. Ein Mann, der mit Nachnamen Norfleet hieß, machte ihm einen sehr guten Preis. Deans Vater wurde noch auf dem angestammten Land der Familie geboren, auf einem Grundstück am Rand einer Waldrodung, wo eine Schindelhütte mit einer kleinen Veranda stand. Wenige Meter entfernt war ein Tabakschuppen aus kreuzweise aufeinander gefügten Eichenstämmen, den Norfleet mit nichts als einer Axt gebaut hatte. In den Spätsommern seiner Kindheit, wenn die hellen Blätter vorbereitet, im Schuppen aufgehängt und im Rauch getrocknet wurden, bettelte er so lange, bis er auf der Farm übernachten durfte, wo sein Großvater alle ein bis zwei Stunden aufstand, um nachzusehen, ob Tabakblätter in die Flammen des Ölfeuers gefallen waren.

Die Vorbereitung der Blätter war härteste Arbeit, aber Dean liebte den Duft des Tabaks, die reifen gelben Blätter, die an den hohen Stangen schwer wurden wie Leder, er liebte den

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klebrigen Teer, der seine Hände schwärzte, den Rhythmus beim Aufziehen der Blätter, die Bündel, die wie getrocknete Flundern unter den Dachbalken hingen, die gemeinsamen Stunden.

Die Familie schlachtete noch selbst. Es gab einen Gemüsegarten und eine Frau mit einer Kuh, die ein paar Häuser weiter wohnte und Buttermilch brachte. Wenn die Ernte spät kam, wurde der Schulanfang verschoben, und im Frühherbst erwachten die Auktionshäuser von Madison zum Leben. Es gab ein Erntefest mit Marschkapelle und Parade, die Familien hatten Geld für das Jahr und freuten sich auf die Festtage im Winter. Dean zweifelte nicht einen Moment, dass auch er Tabakfarmer werden würde und dass seine Kinder aufwachsen würden wie er selbst. Sein Großvater war sein bester Freund. Noch im Herbst, bevor er 2001 starb, schlug Norfleet Price sein eigenes Holz. Als Dean ihn zum letzten Mal im Altersheim besuchte, war er neunundachtzig Jahre alt und saß festgeschnallt in einem Rollstuhl. Die letzte Ruhe fand er im Familiengrab, auf einem sanften Hügel, im roten Lehm der eigenen Felder. Norfleet arbeitete, damit er seine Frau nicht sehen musste – manchmal hatte er zwei oder drei zusätzliche Jobs. Aber im Tod stand, auf einen Grabstein gemeißelt, sein Name neben dem von Ruth. Nur ihr Todesjahr fehlte noch, und ihre Leiche.

Deans Vater hatte die Chance, der teuflischen Spirale der Armut, in dem seine Familie seit Generationen steckte, zu entkommen. Harold Dean Price, genannt Pete, war klug und ein begeisterter Leser. Die unbedruckten Seiten am Ende seines Wörterbuchs waren mit einer handgeschriebenen Liste von Wortbedeutungen gefüllt, mit Wörtern wie »Transposition« und »Simulacrum«. Er konnte gut reden, war ein überzeugter, beinahe militanter Baptist und ein Rassist aus tiefster Seele. Als Dean eines Tages das Bürgerrechtsmuseum im alten Woolworth-Haus von Greensboro besuchte, wo in der Cafeteria 1960 die ersten Sit-In-Proteste stattgefunden hatten, betrachtete er ein vergrößertes Foto von vier schwarzen Studenten, die aus einem Gebäude der North Carolina A&T-Universität traten. Sie mussten durch ein Spalier von Weißen gehen, einer Masse jugendlicher, aufgereizter Heißsporne mit zurückgekämmten Haaren, die ihre Hände tief in die Taschen gesteckt hatten, die T-Shirts und aufgerollte Jeans trugen und Zigaretten auf den hasserfüllten Lippen.

Einer von ihnen war Deans Vater. Er hasste den trotzigen Stolz der Bürgerrechtler, hatte aber nie etwas gegen Charlie und Adele Smith, die sein Land gepachtet hatten und sich um ihn kümmerten, wenn Deans Großmutter in der Mühle arbeitete. Sie waren herzlich und voller Humor, und sie wussten, wo ihr Platz in der Gesellschaft war.

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Pete Price lernte Barbara Neal in einem Tanzcafé kennen, sie heirateten 1961, nachdem er das Studium am Western Carolina College abgeschlossen hatte – er war der Erste in der Familie, der es so weit gebracht hatte. 1963 wurde Harold Dean Price II geboren, in den Jahren darauf folgten drei Mädchen. Die Familie zog in ein kleines Backsteinhaus in Madison, der Tabakspeicher der Firma Sharp and Smith war gleich nebenan. Madison und Mayodan, ein Städtchen in der Nähe, lebten von der Textilindustrie, noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren stellten die Mühlen jeden jungen Mann ein, der einen Schulabschluss hatte. Wer zum College fortging und mit einem Diplom zurückkehrte, konnte sich vor Angeboten kaum retten. Die Hauptstraße war von soliden Geschäftshäusern gesäumt, in den Geschäften – Apotheken und Kurzwarenhandlungen, Möbelläden und einfachen Restaurants – drängten sich die Kauflustigen. Am größten war der Betrieb, wenn die Textilspeicher zum Ausverkauf ihre Tore öffneten. »Unser Land ist damals, genau zu dieser Zeit, so wohlhabend gewesen, wie es nie wieder sein wird«, sagte Dean. »Gas, Strom und Benzin waren billig, das Öl lag unter unseren Füßen, die Felder draußen waren fruchtbar, die Leute nahmen ihre Arbeit ernst und hatten Freude an ihr. Das Geld war da, man musste es nur verdienen.«

Deans Vater nahm eine Stelle bei DuPont an, einer großen Nylonfabrik in Martinsville gleich hinter der Staatsgrenze in Virginia. In den späten Sechzigern lernte er Glenn W. Turner kennen, einen hasenschartigen, lispelnden Schwindler aus South Carolina. Er trug einen glänzenden Dreiteiler und feine, kalbslederne Stiefel, obwohl er aus ärmsten Verhältnissen stammte und kaum lesen oder schreiben konnte. 1967 gründete Turner eine Firma, die er Koscot Interplanetary nannte. Sie verkaufte, zu fünftausend Dollar, Vertriebslizenzen für Kosmetika. Wer einstieg und weitere Investoren rekrutierte, konnte mit einem beträchtlichen »Finderlohn« rechnen. Außerdem brachte er seine Helfer dazu, schwarze Aktenkoffer zu kaufen, die mit seinen eigenen Motivationskassetten gefüllt waren. Die Serie hieß »Das Wagnis der Größe« und kostete fünftausend Dollar, der Kauf berechtigte dazu, weitere Käufer für den Koffer zu finden und sehr viel Geld zu verdienen.

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Familie Price kaufte eine Lizenz und lud Freunde und Bekannte zu rauschenden Hausfesten ein, in denen sie »Das Wagnis der Größe« anpriesen. Ein Film über den sagenhaften Aufstieg von Turner wurde gezeigt, Gäste sprangen spontan auf und wiederholten laut Turners bekannteste Merksätze – etwa, dass man auf den Zehenspitzen stehen muss, um nach den Sternen zu greifen. 1971 erfasste das Fieber große Teile der Arbeiterviertel, das Life-Magazin brachte ein Porträt von Turner. Wenig später wurde er beschuldigt, eine illegale Investitionspyramide zu betreiben, und landete für fünf Jahre im Gefängnis. Price verlor sein gesamtes Geld.

In den frühen Siebzigern arbeitete Pete Price als leitender Angestellter im Kraftwerk von Duke Energy in Belews Creek. Dann wechselte er zu Gem-Dandy in Madison, wo er es bis zum stellvertretenden Geschäftsführer brachte. Die Firma stellte Strumpfhalter und Ähnliches für Herren her. Später wurde er Schichtleiter in der Pine Hall-Ziegelei am Dan River, unweit von Mayodan. Jedes Mal traf er auf Vorgesetzte, die er für weniger intelligent hielt als sich selbst, und jedes Mal wurde er gefeuert oder kündigte gleich selbst. Das Hinschmeißen wurde zu einer Art Gewohnheit, es war »die Falte im Gemüt, die du einfach nicht rausgebügelt kriegst«, erklärte Dean. »Sie ist hartnäckig wie eingerittenes Leder. Das Scheitern wurde ein Teil von ihm, es beherrschte sein Denken, seinen Willen, sein Leben.«

Zum ersten Mal wurde diese Falte auf der Tabakfarm sichtbar, wo Deans Vater ein Stück Land geerbt hatte, das ungünstig lag, weil es keine Zufahrt hatte. Seine Brüder hatten als Farmer weit mehr Erfolg. Außerdem hielt er sich mit seinen 1,70 Metern für zu klein und verlor früh seine Haare. Aber das eigentliche Scheitern hatte mit der Arbeit zu tun, die Pete Price am meisten bedeutete. Noch Jahrzehnte später stand auf Deans Kaminsims ein gerahmtes Schwarzweißfoto: Es zeigte einen Jungen in einem dunklen Anzug und einer schmalen, zu kurzen Hose, dessen glänzender, schwarzer Topfschnitt in einem geraden Pony knapp über den Augenbrauen endete. Er blinzelte in die Sonne und drückte mit beiden Armen eine Bibel an die Brust, als wollte er sich schützen. Neben ihm stand ein kleines Mädchen in einem Kleid mit Spitzenkragen. Es war der 6.April 1971. Wenige Wochen vor seinem achten Geburtstag war der Junge bereit, sein Leben Jesus zu widmen, damit seine Seele gerettet werde.

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In den Siebzigern leitete Deans Vater eine Reihe von baptistischen Dorfkirchen. Sein Dogmatismus und seine Sturheit führten in den Gemeinden zu Zwist, der immer in einer Abstimmung gipfelte. Ob sie sich für ihn aussprachen oder gegen ihn – er ging im Streit (denn er war ungeduldig und strebte danach, ein großer Prediger vom Format eines Jerry Falwell zu werden, mit einer tausendköpfigen Gemeinde). Es wurde dann immer schwieriger, eine neue Pastorenstelle zu finden. Er reiste von Ort zu Ort, bewarb sich mit einer Predigt, die Feuer und Schwefel beschwor, und kassierte eine Ablehnung nach der anderen. Auf eine Kirche in Cleveland County, die Davidson Memorial Baptist Church, hatte er es besonders abgesehen, und als ihm auch diese Kanzel versagt wurde, gab er frustriert auf.

Von seinem Vater erbte Dean den Ehrgeiz und die Liebe zu Büchern. Er las, von der ersten bis zur letzten Seite, die vielbändige Familienenzyklopädie. Eines Abends beim Essen, er war neun oder zehn Jahre alt, fiel das Gespräch auf seine Zukunftspläne: »Und? Was willst du denn mal werden?«, fragte Deans Vater verächtlich. »Ich möchte Hirnchirurg werden, Neurologe«, antwortete Dean. Er hatte das Wort in der Enzyklopädie gelesen. »Ehrlich. Das ist der Beruf, den ich gern hätte.« Sein Vater lachte ihn einfach aus. »Die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass ich zum Mond fliege, als dass du Neurologe wirst.« Deans Vater konnte lustig und herzlich sein, aber niemals Dean gegenüber. Dean hasste ihn, weil er ihn für grausam hielt und für einen Versager. Er hatte seinen Vater schon oft predigen hören, selbst auf öffentlichen Plätzen in Madison, aber im Grunde nahm er ihm seine Botschaft nicht ab, denn zu Hause war er so gemein und brutal, dass er auf der Kanzel wie ein Heuchler wirkte.

In seiner Kindheit liebte Dean nichts so sehr wie Baseball. In der siebten Klasse begann er, sich vor Mädchen zu fürchten. Mit den lächerlichen vierzig Kilo, die er – nass geschwitzt – auf die Waage brachte, hatte er keine Chance, jemals ins Footballteam aufgenommen zu werden. Aber als Shortstop in der Baseballmannschaft der Madison-Mayodan Middle School machte er sich gut. 1976 war die Mannschaft bereits gemischt, es gab schwarze und weiße Spieler. Sein Vater wollte nicht, dass er mit Schwarzen zu tun hatte. Weil er den Umgang unterbinden wollte, und weil er sich gerade einer neuen Gemeinde andiente, die ihn dafür loben würde, nahm er Dean (der inständig darum bettelte, bleiben zu dürfen) aus der öffentlichen Schule und schickte ihn nach Gospel Light Christian, eine streng konfessionelle Schule der Independent Fundamental Baptists in Walkertown, die nur weiße Schüler aufnahm.

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Zwei Stunden dauerte die Fahrt mit dem Schulbus von Mayodan Mountain, wo die Familie zu jener Zeit wohnte. Dean hatte weder Zeit für Baseball noch für seine schwarzen Freunde – mit beidem war es vorbei. Als Dean in der zehnten Klasse war, begann sein Vater, an der Schule amerikanische und biblische Geschichte zu unterrichten. Dean hätte ohne weiteres nach dem Unterricht zum Baseball-Training gehen und mit seinem Vater nach Hause fahren können. Der aber bestand darauf, um Punkt drei Uhr zu fahren, damit er zu Hause in seiner Studierstube lesen und arbeiten konnte. Im Hause der Prices standen sich zwei Gegner gegenüber in einem Kampf, den Dean nicht gewinnen konnte. Der Vater hatte sich auf den ungleichen Kampf eingelassen – und wich nicht einen Schritt zurück. Als Dean siebzehn Jahre alt war, verließ der Vater die Gemeinde in Mayodan Mountain. Die Familie zog in den Osten des Staates in die Nähe von Greenville. In der Ortschaft Ayden hatte ihm eine kleine Kirche die Pastorenstelle angeboten. Es sollte seine letzte sein. Nach nur vier Monaten jagten sie ihren Pastor Price davon, die Familie kehrte nach Rockingham County zurück. Da sie kaum Geld hatten, zogen sie in ein Haus, das der Familie von Deans Mutter gehörte. Es lag außerhalb des Weilers Stokesdale an der Route 220, nur wenige Meilen südlich von Madison. Deans Großmutter Ollie Neal lebte in einem Anbau hinter dem Haus, hinter dem Grundstück erstreckte sich eine Tabakfarm, die sein Großvater 1932, als die Route 220 noch eine unbefestigte Straße war, beim Poker gewonnen hatte. Dean hatte zu dieser Zeit nur ein einziges Ziel: dem Einflussbereich seines Vaters zu entkommen. Wenige Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag fuhr er nach Winston-Salem und sprach mit einem Musterungsoffizier der Marineinfanterie. Am folgenden Morgen sollte er zurückkehren, um sich zu melden, doch in der Nacht fasste er einen anderen Entschluss: Er wollte die Welt sehen und das Leben genießen, und zwar auf eigene Faust. Als Dean 1981 die Schule abschloss, waren die Stellen bei der Zigarettenfabrikation bei R.J. Reynolds in Winston-Salem die begehrtesten in der Region. Wer dort arbeiten durfte, war für den Rest seines Lebens versorgt, er war kranken- und rentenversichert und erhielt zwei Stangen Zigaretten pro Woche. Es waren die guten Schüler, die sofort eingestellt wurden, die mittelmäßigen und schlechten gingen in die Textilmühlen,

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wo die Löhne niedriger waren – bei DuPont und Tultex in Martinsville, Dan River in Danville, Cone in Greensboro und in den kleineren Mühlen von Madison– oder sie arbeiteten für Möbelfabriken in High Point, Martinsville und Bassett/Virginia. Die besten Schüler aber – in Deans Klasse waren es drei– gingen zum Studium fort. (Bei einem Klassentreffen dreißig Jahre später sah Dean, dass viele seiner ehemaligen Mitschüler fett geworden waren. Sie arbeiteten als Kammerjäger oder verkauften T-Shirts auf Volksfesten. Einer, der einst mit guten Aussichten bei R.J. Reynolds begonnen hatte, hatte seine sicher geglaubte Stelle verloren und offenbar jede Hoffnung aufgegeben.)

Dean, der sich in der Schule nie besonders angestrengt hatte, nahm in jenem ersten Sommer eine Stelle in Madison an, in der Auslieferung einer Firma, die Kupferrohre herstellte. Es war gutes Geld für das Jahr 1981, nur war es genau die Stelle, die er nie haben wollte. Seine Mitarbeiter warteten nur auf die Rente, hatten keinerlei Ehrgeiz und quatschten den ganzen Tag übers Saufen, über Pferderennen und Sex. Dean fand das so schlimm, dass er beschloss, ein Studium zu beginnen. Die einzige Universität, deren Gebühren sein Vater zu zahlen bereit war, hieß Bob Jones University, ein Bibelseminar in South Carolina, wo Mischehen und Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen verboten waren. Anfang1982, wenige Monate nach Deans Immatrikulierung, sprach das ganze Land über Bob Jones: Die Regierung von Ronald Reagan versuchte, eine Entscheidung der Steuerbehörde zu widerrufen, die der Universität Steuerfreiheit zugesichert hatte. Nach einem Sturm der Empörung musste Reagan zurückrudern. Die Universität, so erzählte Dean später, sei die einzige weltweit gewesen, in der der Stacheldraht, der den Campus umschloss, wie in einem Gefängnis nach innen gerichtet war. Die jungen Männer durften sich die Haare nicht über die Ohren wachsen lassen, die einzige Möglichkeit, mit den Mädchen auf der anderen Seite des Geländes in Kontakt zu treten, war über einen Läufer, der einen kleinen Kasten voller Kärtchen von Wohnheim zu Wohnheim trug. Das Einzige, was Dean an der Universität gefiel, war die Morgenandacht, in der alte Kirchenlieder gesungen wurden. Er schwänzte die Kurse, für die er eingeschrieben war, und bestand im ersten Semester nicht eine einzige Prüfung. Zu Weihnachten fuhr er nach Hause und erklärte seinem Vater, er werde das Studium hinschmeißen und ausziehen.

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Sein Vater schlug ihn windelweich und warf ihn zu Boden. Dean stand auf und sagte: »Wenn du mich noch einmal anrührst, bringe ich dich um. Das ist mein Ernst.« Er verließ das Haus und kehrte nicht mehr zurück.

Mit seinem Vater ging es nun steil bergab. Er klagte über Rückenschmerzen und Kopfschmerzen und eine Menge weiterer, echter und erfundener Krankheiten, und ließ sich von einer Reihe von Ärzten, die nichts voneinander wussten, Oxycodon verschreiben. Er schluckte immer mehrere Pillen auf einmal und bunkerte seine Vorräte in den Innentaschen seiner Jacketts und in Müllbeuteln, wo Deans Mutter sie fand. Sein Blick war bald leer und matt, die Magenschleimhaut rebellierte. Immer wieder zog er sich ins Arbeitszimmer zurück – angeblich, um religiöse Bücher zu studieren –, er schluckte Tabletten und dämmerte vor sich hin. Mehrmals ging er zum Entzug in eine Klinik.

Dean dagegen stürzte sich ins Leben und war kaum zu halten. Schnell entdeckte er die Freuden des Alkohols und der Frauen, er spielte, rauchte Marihuana und geriet in Schlägereien. Seine erste Freundin war eine Pastorentochter, seinen ersten Sex hatte er in der Kirche, auf dem Boden vor dem Klavier. Er rebellierte bis zum Äußersten, nicht zuletzt gegen den Gott seines Vaters. »Ich war ein richtiges Arschloch«, erzählte Dean, »ich respektierte nichts und niemanden.« Er zog nach Greensboro, teilte sich ein Haus mit einem Kiffer. Eine Zeitlang assistierte er dem Golf-Pro im Greensboro Country Club, wo er hundertzwanzig Dollar die Woche verdiente. 1983, er war zwanzig Jahre alt, beschloss er, es noch einmal mit dem Studium zu versuchen. Er schrieb sich an der staatlichen Universität in Greensboro ein und studierte Politikwissenschaften. 1989, nach sechs Jahren, in denen er sich als Kellner über Wasser hielt, gelang ihm tatsächlich der Abschluss – trotz einer fünfmonatigen Unterbrechung, als er mit Chris, seinem besten Freund, nach Kalifornien fuhr. Sie schliefen im VW-Bus, liefen den Mädchen hinterher und genossen das Leben.

Dean war eingetragener Republikaner, Ronald Reagan war sein Idol. Für Dean war Reagan wie ein Großvater, der einem mit ruhiger Stimme zusprach und dem man vertrauen konnte: Seine Reden waren inspirierend und unkompliziert. Die Menschen wussten, was er meinte, wenn er von Amerika als Zitadelle, von einer »Stadt auf dem Hügel« sprach. Dean wollte ihm nacheifern, er wusste, dass er reden konnte, er stammte immerhin aus einer Predigerfamilie. Wenn Reagan sprach, begannen die Menschen, wieder an die Macht und Größe Amerikas zu glauben.

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