1. Die Widersprüche unserer Gesellschaft *
Fall I: Moralische Prinzipien
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1. Beispiel
Kaum eine andere Erfindung hat die Menschheit in eine derartige Abhängigkeit gebracht wie das Auto. Das Autogewerbe aber behauptet einfach das Gegenteil. Der Slogan des diesjährigen Genfer Automobilsalons lautete: »Das Auto macht uns unabhängig!« Was macht's? Kein Mensch nimmt doch an, daß Werbung der Wahrheit entsprechen müsse. Wundert Sie das denn eigentlich nicht? Ist es für Sie bereits eine Selbstverständlichkeit, daß Ihre Kinder tagtäglich mit Aussagen und Behauptungen überhäuft werden, bei denen man von vornherein annimmt, daß sie kaum der Wahrheit entsprechen?
2. Beispiel
Die an der Atomindustrie kommerziell interessierten Kreise behaupten skrupellos, wir brauchten Atomkraftwerke, um uns von der Auslandsabhängigkeit in der Energieversorgung zu lösen. Jedermann, der auch nur einigermaßen informiert ist, weiß ganz genau, daß das Gegenteil zutrifft: daß uns die Atomenergie in eine totale Uran-Abhängigkeit vom Ausland bringt. Was macht's? Kein Mensch scheint anzunehmen, daß Argumente in der politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzung der Wahrheit entsprechen, wenn sie von Lobbykreisen stammen.
*Der Originaltitel lautete: »Der Lehrer zwischen Lüge und Wahrheit«. Vortrag gehalten anläßlich der Tagung der Interkantonalen Mittelstufenkonferenz in Solothurn vom 23. November 1977.
3. Beispiel
Haben Sie sich schon einmal überlegt, weshalb man in der Wirtschaft von frisierten Bilanzen spricht? Frisiert heißt in der nicht-wirtschaftlichen Sprache »unwahr«. Weshalb gibt es kaum ein Unternehmen, das eine unfrisierte Bilanz veröffentlicht, also ehrlich über seine Finanzlage informiert? Und weshalb gibt kaum ein Unternehmen über seine wirtschaftlichen und personellen Verflechtungen wahrheitsgemäß Auskunft? Und weshalb ist kaum ein Unternehmen bereit, eine ökologische Buchhaltung oder gar eine Sozialbilanz mit öffentlichem Kontrollrecht zu erstellen? Aus dem einzigen Grund: Man behält sich vor, ob man die Wahrheit sagen will oder nicht. Und hat das Bankgeheimnis denn überhaupt einen anderen Sinn, als unkontrolliert lügen zu können?
Kann mir jemand von Ihnen sagen, weshalb eigentlich im Wirtschaftsleben die elementarsten moralischen Prinzipien nichts gelten? Weshalb sind im Wirtschaftsleben Lüge und Wahrheit Ermessenssache der Manager? Ich nehme an, daß Sie von Ihren Kindern verlangen, daß sie die Wahrheit sagen. Vielleicht bestrafen Sie sogar die Kinder, wenn sie lügen. Erklären Sie Ihren Kindern aber, daß diese Prinzipien für die »Stützen unserer Gesellschaft« nicht gelten? Wie erklären Sie es?
Fall II: Demokratie
Einige Fakten
76% der Schweizer Arbeiter gehen überhaupt nie zur Urne.
Von den insgesamt gegen 130 in der Eidgenossenschaft eingereichten Volksinitiativen sind sieben (!) angenommen worden.
Die Stimmbeteiligung in der Schweiz sank von durchschnittlich über 50% in den Jahren vor 1959 auf heute noch 38%.
Der Finanzaufwand für eine Volksabstimmung seitens der wirtschaftlich daran interessierten Kreise erreicht siebenstellige Zahlen.
Rund 10% der Bevölkerung gehören einer Partei an; nur noch 6% der Bevölkerung haben eine positive Einstellung zu den Parteien. Im Parlament aber sitzt meines Wissens kein einziger parteiloser Volksvertreter.
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Ist angesichts dieser Tatsachen unsere Demokratie nicht schon längst eine Fiktion? Die Ideologen der heutigen Struktur verlangen eine »Verwesentlichung der Demokratie«, was nichts anderes heißt als eine weitere Einschränkung der Volksrechte - und das Volk scheint zuzustimmen. Weshalb bringen wir es nicht fertig, uns ganz ehrlich einzugestehen, daß wir in der Schweiz eine Demokratie haben, die zwar formal funktioniert, die jedoch in ihrem politischen Gehalt schon längst mehr als fragwürdig geworden ist, sobald es um mehr geht als um Entscheide über Schulhausbauten, Quartierstraße und Altersheime? Oder haben Sie nie daran gedacht,
daß in der heutigen sogenannten Demokratie der Bürger im gesamten Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß kein einziges Wort mitzureden hat, während die interessierten Wirtschaftskreise im sogenannten Vernehmlassungsverfah-ren und in den sogenannten geschlossenen Sitzungen all ihre Forderungen anbringen können? Der Bürger darf höchstens ja oder nein sagen.
daß die Volksinitiative mit dem Instrument des Gegenvorschlages völlig zur Farce gemacht wurde?
daß in der Volksabstimmung Geld wichtiger ist als Argumente?
daß man wohl über die Quartierstraße abstimmen darf, nicht aber über die da& Dorf zerstörende Expreß- oder Nationalstraße?
daß die Beträge, über die wir entscheiden dürfen, geradezu lächerlich sind im Vergleich zu den Milliarden, die von der Wirtschaft jährlich investiert werden, die auch aus unserem Portemonnaie stammen und die für die Struktur unserer Gesellschaft viel entscheidender sind?
daß wir stolz darauf sind, über die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung entscheiden zu können, daß wir aber machtlos zusehen müssen, wie hundert oder gar tausend Arbeiter entlassen werden, weil irgendein Multi-Boß in Panama dies entschieden hat?
daß man beim wichtigsten staatlichen Ausgabenposten - der Armee - dem Volk schlicht und einfach die Urteilsfähigkeit abspricht?
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Aber auch wenn wir nur die formale Seite betrachten: Auf welche Lebensbereiche erstreckt sich denn unser Bekenntnis zur Demokratie? Ist etwa die Schule demokratisch? Oder das Kulturleben? Oder die Armee? Oder die Kirche? Oder die Durchschnittsfamilie? Oder gar die Wirtschaft, die Industrie, die Banken, die es tatsächlich sogar fertiggebracht haben, dem Schweizervolk beizubringen, ein erster, winziger Schritt in Richtung Demokratisierung unserer Wirtschaft, wie es die Mitbestimmungsinitiative anstrebte, liege nicht im Interesse des Volkes?
Wie viele Prozente unseres Lebens basieren denn eigentlich auf demokratischen Prinzipien?
Zeigen Sie Ihren Kindern, wie statt der deklamierten Demokratie in Wirklichkeit eine straff hierarchisch organisierte, oligarchische Plutokratie unsere Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt?
Stellen Sie den Vergleich an zur Urdemokratie, wie sie sich zum Beispiel in den Allmendgenossenschaften zeigte, mit Strukturen, die auf Partnerschaft, Gleichberechtigung, Solidarität beruhten?
Fall III: Freiheitsrechte
Für eine Aussprache in unserem Institut über die Frage, ob die Lehrer objektiv informiert werden, suchten wir einige Referenten. Mehrere Lehrer haben abgelehnt mit der Begründung, sie riskierten sonst ihre Stelle. Sie kennen den Fall der Lehrerin, die entlassen wurde, weil sie mit den Schülern Walter Matthias Diggelmann gelesen hat. Sie kennen vielleicht den Fall des Bankangestellten, der entlassen wurde, weil er Mitglied der Vereinigung »Christen für den Sozialismus« war. Ich renne mit diesen Beispielen wahrscheinlich offene Türen ein. Sie könnten die Liste vermutlich beliebig verlängern.
Wo sind denn eigentlich unsere verbrieften Freiheitsrechte noch geblieben? Die Redefreiheit? Die Versammlungsfreiheit? Weshalb will man denn nicht wahrhaben, daß unsere
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Freiheitsrechte schon längst nicht mehr vor staatlichen Übergriffen geschützt werden müssen, daß sie aber durch die Ansprüche einer sich immer totalitärer gebärdenden Wirtschaft schon großenteils außer Kraft gesetzt worden sind? Sagen Sie das Ihren Kindern, wenn Sie das Rütli besuchen oder wenn sie den Bundesbrief oder die Verfassung von 1848 oder 1874 behandeln?
(In diesem Zusammenhang: Schildern Sie Wilhelm Teil Ihren Kindern als Freiheitshelden oder als Terroristen?)
Fall IV: Rechtsstaat
1. Beispiel
Der Vater fährt mit seinem Töchterchen in die Stadt. Es passieren dem Vater folgende »Mißgeschicke«» Überschreiten der Geschwindigkeitsbeschränkung, leichtes Überfahren einer Sicherheitslinie, rollender Halt an einer Stoppstraße, Erzwingen eines Rechtsvortritts. Die Tochter reagiert wohl kaum. Für den Vater sind dies ja alles Selbstverständlichkeiten. Jede einzelne dieser Übertretungen hätten zwar ein Menschenleben fordern können. Zuhause liegt eine Meldung vor, das Mädchen sei beim Diebstahl eines Kaugummis erwischt worden. Wie reagiert wohl der Vater?
2. Beispiel
Unser Strafgesetzbuch bestimmt, daß folgende Tatbestände bestraft werden müssen:
Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht (hier kommt mir beispielsweise die Reklame der Tabakindustrie in den Sinn oder die Weigerung der pharmazeutischen Industrie, gewisse rentable Suchtmittel der Rezeptpflicht zu unterstellen).
Wer vorsätzlich oder fahrlässig einen Menschen an Körper oder Gesundheit schädigt (hier kommt mir beispielsweise Seveso in den Sinn, oder Bleibenzin, oder Fluor aus der Aluminiumindustrie im Wallis).
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- Wer jemanden durch Vorspiegelung oder Unterdrückung von Tatsachen irreführt (hier kommen mir beispielsweise die Mogelpackungen in den Sinn oder der große Teil unserer Werbung ganz allgemein).
Es gibt sogar eine Bestimmung, die folgendermaßen lautet:
»Wer als Gründer, Teilhaber, Geschäftsführer, Direktor, Bevollmächtigter, als Mitglied eines Verwaltungs- oder Kontrollorgans oder als Liquidator einer Handelsgesellschaft oder einer Genossenschaft in öffentlichen Mitteilungen oder in Berichten oder Vorlagen an die Generalversammlung unwahre Angaben von erheblicher Bedeutung macht oder machen läßt, wird mit Gefängnis oder Buße bestraft.«
Können Sie mir sagen, weshalb alle diese Bestimmungen auf das Verhalten in der Wirtschaft nicht angewendet werden?
3. Beispiel
(Ein Beispiel, das ich immer wieder zitieren muß:) Ich las in einer Zeitung, daß im Kanton Appenzell ein Bauernbub verbrannt sei, weil sein Pullover Feuer gefangen habe. Nach einiger Zeit schickte ich eine Mitarbeiterin zu diesem Bauern, um zu überprüfen, wie er auf den Fall reagiert habe. Der Bauer setzte sich mit dem Warenhaus, in welchem der Pullover gekauft worden war, in Verbindung. Das Warenhaus berief sich darauf, es handle sich beim Pullover um marktgängige Ware, es lehne jede Haftung und Verantwortung ab; der Bauer müsse sich an den Hersteller der Faser wenden. Hersteller war ein Multi, ein multinationales Unternehmen. Können Sie sich nun diesen kleinen Appenzeller Bauern vorstellen, der einen Prozeß gegen einen Multi anstrebt, weil dieser fahrlässig den Tod seines Buben verursacht hat? An sich wäre das ein Fall für den Strafrichter gewesen. Aber auch der reagierte natürlich nicht. Wie soll der Bauer privatrechtlich gegen den Multi vorgehen?
Aber das Beispiel schildert ja nur die Normalsituation zwischen den einzelnen Konsumenten und der Wirtschaft. Recht wird zur reinen Machtfrage.
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4. Beispiel
Die Idealisten, die in Kaiseraugst und Gösgen gegen den Atom-Irrsinn demonstrierten, versuchte man zu kriminalisieren, indem man ihnen Rechtsbruch vorwarf. »Gefahr für den Rechtsstaat«, hieß die Parole der Atomlobby, die von der Schweizer Presse fast unisono übernommen worden war. Wo blieb denn der Ruf nach dem Rechtsstaat, als nachgewiesen wurde, daß die Bewilligungen für Atomkraftwerke rechtswidrig erteilt worden waren?
5. Beispiel
Junge Mitbürger, die es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, Militärdienst zu leisten, werden eingesperrt und als Verräter gebrandmarkt. Regimentskommandanten, die sich trotz Millionenvermögen durch Anwendung von Steuertricks weigern, dem Staat die für die Landesverteidigung notwendigen finanziellen Mittel zukommen zu lassen, werden vom Staat geschützt. Sie gelten nach wie vor als »staatserhaltende Elemente«.
Wie erklären Sie Ihren Kindern eigentlich, was Recht und was Unrecht ist, und wie die Prinzipien des Rechtsstaates?
Fall V: Eigenstaatlichkeit
Die Bundesverfassung verpflichtet die Eidgenossenschaft, die Unabhängigkeit der Schweiz zu wahren. Auch die Existenz unserer Super-Armee rechtfertigen wir mit dem Auftrag, die schweizerische Eigenständigkeit sichern zu müssen. Sehen wir denn nicht, daß es viel gefährlichere Bedrohungen gibt, gegen die eine Armee machtlos ist? Was hätte die Armee tun sollen, als es darum ging, uns vor der Coca-Cola-Kultur zu bewahren? Oder vor der totalen wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Ausland? Oder vor der Konzentration in der Landwirtschaft, die nicht mehr in der Lage ist, unsere Bevölkerung zu ernähren? Und sehen Sie unsere Panzer und Kanonen im Einsatz — gegen eine ökologische Katastrophe, die wir durch unsere Expansionswirtschaft geradezu heraufbeschwören?
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- gegen die immer krasser werdende Diskrepanz zwischen den Entwicklungsländern und der industrialisierten Welt? (Schweizer Panzer im Nord-Süd-Konflikt?)
- gegen die Provokation der Multis, die in eigener Kompetenz darüber entscheiden wollen, was der Menschheit und unserem Lande frommt?
Zeigen Sie den Kindern diese Bedrohungen auf?
Zeigen Sie die Prioritäten auf?
Zeigen Sie auf, wie die Armee bzw. die von der Armee profitierenden Wirtschaftskreise verhindern, daß diese Prioritäten überprüft werden?
Oder sind Morgarten und Sempach noch immer Ihre Orientierungshilfen?
Sollten wir nicht noch einmal - wie 1515 in Marignano** - zugeben, daß wir falsch gelaufen sind? Haben wir den Mut und die Energie zur Umkehr?
Warum nicht ein neues, diesmal wirtschaftliches Marignano?
Fall VI: Arbeit und Freizeit
Negotium als lateinischer Begriff für Arbeit ist die Verneinung von Otium. Das Positive, das Primäre ist Otium, das heißt Leben, Leben gestalten, Muße. Arbeit als Negotium ist die negative Form dieses Lebens. Wir bringen den Kindern immer noch bei: »Müßiggang ist aller Laster Anfang!« Mein zwölfjähriger Sohn mußte kürzlich eine Strafaufgabe schreiben mit dem Titel »Arbeit kommt vor dem Vergnügen«, weil er eine Hausaufgabe vergessen hatte. Kann sich eigentlich ein solcher Lehrer das bittere Lächeln eines jugendlichen Arbeitslosen bei solchen Sprüchen nicht vorstellen? Theoretisch wollen zwar auch wir mit solchen Sprüchen den Kindern nichts anderes weismachen, als daß wir eben arbeiten müssen, um überhaupt leben zu können.
* Morgarten (1315), Sempach (1386): Schweizerische Heldenschlachten.
** Marignano: Niederlage der Schweizer, die dazu führte, daß sich die Schweiz aus der militärischen Machtpolitik zurückzog.
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Hat denn die Entwicklung der letzten Jahre nicht allen gezeigt, daß wir diese Reihenfolge längst pervertiert haben? Wir müssen konsumieren, konsumieren, konsumieren ..., damit genügend Arbeit da ist. Ist dies nicht eine Kapitulation unserer Gesellschaft vor den Mechanismen unseres sogenannten Systems? Wie einfach wäre es doch in einer vernünftigen Gesellschaft, die von solchen Zwängen befreit wäre, die Arbeit anders zu verteilen! Zeigen Sie das Ihren Kindern auf? Oder stimmen Sie in den Chor der stramm Marschierenden ein: Arbeit kommt vor dem Vergnügen? (Ist das nicht das Pendant zu »Kraft durch Freude«?)
Das sind sechs Fälle aus dem Bereich »Pädagogik und Wirklichkeit«. Ich habe versucht, die Wirklichkeit zu schildern. Was machen Sie in der Pädagogik damit? Sie wissen selbst, daß Sie meine Beispiele unbeschränkt ergänzen könnten:
Was zeigen Sie Ihren Kindern: die phänomenalen Fähigkeiten der Dentalmedizin oder die Ursachen des katastrophalen Zustandes unserer Zähne?
Was ist in Ihrem Unterricht wichtiger: die unbegrenzten Möglichkeiten der modernen Bauwirtschaft oder die Häßlichkeit unserer Städte?
Was bringen Sie Ihren Kindern bei: daß die von der Werbung geforderte strahlende Sauberkeit unseres Alltags notwendig sei oder daß die moderne Hygiene die Abwehrkräfte unserer Körper zerstöre?
Was ist das Entscheidende am Computer: die gehirnähnlichen Funktionen oder der drohende Totalitarismus à la Huxley oder Orwell?
Was ist das Entscheidende am Auto: daß wir uns theoretisch individuell völlig mobil bewegen können oder daß wir pro Jahr 250.000 Menschen umbringen, Millionen Krüppel und Waisen hinterlassen, Städte und Landschaften zerstören und schließlich — totale Umkehrung des sogenannten technischen Fortschrittes — die Mobilität wieder aufheben, indem wir im Stoßverkehr steckenbleiben und für den Weg zur Arbeit länger brauchen als früher zu Fuß?
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Ich übertreibe nicht, ich ideologisiere nicht, ich stelle ganz einfach nur fest.
Noch nie ist einer dieser Feststellungen in einem meiner Vorträge grundsätzlich widersprochen worden. Aber das ist genau das, was mich jeweils fast zur Verzweiflung treiben kann. Wenn ich vor Managern spreche, werden alle die Widersprüchlichkeiten, die Verlogenheiten, ja Schizophrenien meist kommentarlos akzeptiert - mit dem leicht süffisanten Schulterzucken: Na und? Genau das ist die Frage: Na und? Sind wir derart in den Mechanismen, in den Zwängen unseres Systems und in den sogenannten Sachzwängen gefangen, daß uns nichts anderes mehr übrigbleibt als dieses: Na und?
Und was ist naheliegender in dieser »Na-und-Situation«, als einen Sündenbock zu suchen. Nun, Sie kennen den Sündenbock:
Eben gestern hat mich ein Brief eines solchen Managers erreicht: Weshalb gehen Sie eigentlich immer nur auf die Manager los? fragt er mich, und dann wörtlich: »Angesprochen sind ganz bestimmt an erster Stelle die Lehrer auf allen Ebenen, von den sogenannten Volksschulen oder auch Vorschulen bis hinauf zu den Universitäten. Hier im kindlichen Alter muß die erste Erziehung zu einer positiven Lebensauffassung und -gestaltung gelegt werden, wenn man später nicht Schiffbruch in so breiter Front erleiden will.« Sie als Lehrer müssen herhalten.
Und in der Tat: Sie als Lehrer sind wohl fast die einzigen, die vom Beruf her in der Lage wären, diese Sachzwänge, diese Systemzwänge, diese Mechanismen zu durchbrechen. Sie hätten es in der Hand, die Generation, die schon in zehn, zwanzig Jahren die Verantwortung übernehmen wird, mit diesen Verlogenheiten vertraut zu machen. Ist es nicht wie in einer Psychoanalyse: Wäre nicht die Einsicht schon die Heilung?
Und nun stelle ich in meinen alltäglichen Erfahrungen fest, daß meine Kinder in einer Gemeinde zur Schule gehen,
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in welcher die Pädagogik noch heute vorwiegend aus Ohrfeigen, Strafaufgaben, Schularrest und Drohungen mit Institutseinweisung zu bestehen scheint.
in welcher sogar der Dorfpolizist die Kinder auf den Posten befiehlt und sie 600mal schreiben läßt: »Lügen haben kurze Beine« - offensichtlich mit Billigung der Lehrer.
in welcher sich die junge Lehrerin weigert, mit den Eltern zusammenzuarbeiten: »Schließlich bin ich die ausgebildete Pädagogin.«
in welcher die Schulpflege im Elternbulletin ihrer Genugtuung über die Arbeitslosigkeit Ausdruck gibt, denn so lernten die Kinder wieder Respekt vor der Arbeit, und so werde es eher gelingen, dem Drogenkonsum Herr zu werden -ohne daß ein Lehrer protestiert.
in welcher der Sportplatz für die Kinder dort gebaut wird, wo Vieh aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr grasen darf - nämlich längs der Autobahn -, und die Lehrer gehen dorthin statt in den nahen Wald.
in welcher die Kinder, ohne Information der Eltern, von den Lehrern gezwungen werden, täglich Fluortabletten zu schlucken, obschon sogar auf den Salzpaketen die Warnung aufgedruckt ist, daß neben dem mit Fluor angereicherten Salz, das von über 90% der Bevölkerung bevorzugt wird, keinerlei Fluor mehr eingenommen werden darf.
- in welcher die Lehrerin als Lernziel angibt: Disziplin, Disziplin und nochmals Disziplin.
- in welcher die Kinder ermahnt werden, sich endlich anständig zu benehmen, die Schule hätte einen derart schlechten Ruf.
(Ich bitte die Lehrer, die sich nicht so verhalten, für diese Pauschalisierung um Entschuldigung.)
Und auf Grund dieser Erfahrungen stellt sich dann die bittere Frage: Ist diese Art Schule, wie ich sie eben geschildert habe, nicht diejenige Schule, die unsere Kinder viel besser auf die Wirklichkeit vorbereitet?
Dürfen wir überhaupt kritische Kinder erziehen, wenn wir uns selbst kaum mehr getrauen, kritisch zu sein, weil wir sonst die Stelle verlieren?
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Dürfen wir überhaupt selbstbewußte Kinder erziehen, wenn doch allein der Notendruck die gesellschaftlich notwendige und von vielen Eltern geforderte Promotion gewährleistet? Dürfen wir zufriedene Kinder erziehen, wenn doch unsere Leistungsgesellschaft dazu im diametralen Gegensatz steht? Dürfen wir genügsame Kinder erziehen, auch wenn unsere Konsumgesellschaft das Gegenteil fordert? Dürfen wir solidarische Kinder erziehen, oder schaffen wir dadurch nicht Versager in einer erbarmungslosen Konkurrenzgesellschaft ?
Ich kann diese Fragen für Sie nicht beantworten. Wahrscheinlich stehen viele - die meisten - von Ihnen tagtäglich vor der Gewissensfrage: Ist es nicht doch in erster Linie meine Aufgabe, die Kinder auf die heutige Wirtschaft vorzubereiten? Und das heißt: Leistungsdruck, Konkurrenzdenken, Rücksichtslosigkeit, Prestige, Kampf usw. usf.
Aber dürfen Sie die Frage heute überhaupt noch in dieser Form stellen? Sollten Sie sich nicht tagtäglich in Erinnerung rufen, daß wir in einer Gesellschaft leben,
in der die Selbstmordrate von Jahr zu Jahr zunimmt,
in der die Verbrechensrate von Jahr zu Jahr steigt,
in der der Zwang zur Flucht aus der Wirklichkeit durch Alkohol, durch Drogen, durch Medikamentenmißbrauch von Jahr zu Jahr steigt,
in der die neurotischen Erkrankungen in horrendem Maße zunehmen,
in der sich alle sozialen Gebilde und alle sozialen Bezüge des einzelnen Individuums immer mehr auflösen?
Wenn man sich all dieser Entwicklungen einmal in aller Schärfe bewußt geworden ist - und es dürfte Ihnen schwerlich gelingen, auch nur eine positive Entwicklung aufzuzeigen -: Gibt es dann überhaupt noch eine Alternative, als Nein zu sagen.
Nein zu den Wertmaßstäben der heutigen Gesellschaft, Nein zu den Zwängen der heutigen Gesellschaft, Nein zu den Widersprüchlichkeiten und Verlogenheiten der heutigen Gesellschaft?
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Aber beurteilen Sie bitte meinen ständigen Appell zum Nein nicht falsch. Es ist wirklich kein negatives Nein, es ist durch und durch ein nicht-verlogenes Ja zum Leben. Aber wie sage ich Nein? Kann ich überhaupt noch Nein sagen? Oder ist die Existenzangst jedes einzelnen Lehrers bereits derart groß, daß gar nichts mehr anderes übrigbleibt, als zu kuschen? Oder weshalb lassen wir uns denn in Zürich einen Gilgen81" gefallen, ohne daß es zu einem umfassenden Protest kommt? Oder weshalb akzeptieren wir einen Wyser* in Solothum, ohne daß wir zum Streik aufrufen? Oder weshalb akzeptieren wir dann einen Scherer* in Zug, ohne daß es zu einer umfassenden Solidarisierung kommt? Oder weshalb akzeptieren wir dann einen Fall Erlenbach**, ohne daß wir 50, 100, ja 1000 Erlenbachs schaffen? Und weshalb akzeptieren wir dann einen Fall Embrach** und Urdorf**, ohne daß wir notfalls sogar auf die Straße gehen?
Ich sehe keine andere Möglichkeit, als daß es endlich zu einer umfassenden Solidarisierung kommt, daß es endlich zu jener Solidarisierung der kritischen, fortschrittlichen, also positiven Lehrer kommt, die allein es fertigbringen kann, die Ohnmacht des einzelnen in eine Macht der Gemeinschaft umzuwandeln. Der Lehrer darf sich nicht mehr länger hinter seinem Individualismus verschanzen.
Individualismus ohne Solidarität ist Feigheit.
Individualismus ohne Engagement ist Flucht.
* Es handelt sich um besonders repressive Erziehungsminister (Regierungsräte) schweizerischer Kantone.
** In diesen Ortschaften gibt es Beispiele praktizierten Berufsverbots.
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