Ljudmila Petruschewskaja Das Mädchen aus dem Hotel Metropol Roman 2019 im Schöffingverlag Frankfurt Audio 2019: |
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2019 300 Seiten wikipedia Autorin *1938 in Moskau detopia: |
Aus dem Russischen von Antje Leetz.
Mit einem Nachwort von Olga Martynova.
Buch beim Verlag: schoeffling.de/buecher/ljudmila-petruschewskaja/das-mädchen-aus-dem-hotel-metropol
Von der Mutter verlassen, drängt es sie zu einem Leben in Freiheit. Wie Édith Piaf singt sie auf Höfen Lieder, erzählt Geschichten und spielt bettelnd Oliver Twist. In Ferienlagern und Kinderheimen erobert sie sich als Außenseiterin mit ihrem Naturtalent Respekt. Wie das Kind sich mit unbändiger Fantasie gegen die Welt zur Wehr setzt, darin liegen die Wurzeln für die Unangepasstheit der großen Schriftstellerin, die später so viele Menschen mit ihren Geschichten bezaubert.
Rezensionen
»Petruschewskajas sowjetische Erinnerungen funkeln in prägnanten, leuchtendbunten Szenen und schmieden aus dem Schmerz ihrer Generation kristallklare, lachende Prosa.« New York Times Book Review
»Grausam-grotesker Roman einer Kindheit.« Neues Deutschland
»Petruschweskaja gilt heute als eine der ganz großen Erzählerinnen der russischen Literatur.« Niels Beintker, Diwan
»Ein hellsichtiges Protokoll des Überlebens und vom Triumph der Literatur.« Christine Hamel, Diwan
»Petruschewskaja zeichnet anschaulich und detailreich das (...) typische Lebensbild einer von Krieg und Evakuierung, von Repressionen und Entbehrungen geprägten Kindheit und Jugend in der Sowjetunion.« Dorothea Trottenberg, ekz-Bibliotheksservice
»Stilistisch abwechslungsreiche, aber immer meisterhaft geschriebene drei Dutzend Erzählungen, Miniaturen, Reminiszenzen.« ORF, ex libris
»Die Schriftstellerin erzählt ganz ohne Wehleidigkeit und Bitterkeit, vielmehr scheinen berechtigter Stolz, eleganter Humor und ein sicheres Gespür für die groteske Absurdität des Lebens auf.« Christine Hamel, WDR 5
»Ihr Roman liest sich wie eine bewegende Biographie, die die russische Seele in einem Zeitraum von etwa dreißig Jahren aufleben lässt.« Sabine Bovenkerk-Müller, Leselust
Ljudmila Petruschewskaja wächst als Tochter von sogenannten "Volksfeinden" am Rande der Gesellschaft auf, sie geht nicht zur Schule, hat keine Winterschuhe und hungert. Der Ton ist kurz und bündig, voller grotesker Beiläufigkeit.
Ljudmila Petruschewskaja wird 1938 in eine Familie kommunistischer Intellektueller geboren. Ihr Urgroßvater Ilja Weger ist Arzt und wird als Bolschewik 1921 in dem Moskauer Hotel Metropol untergebracht, in dem hohe Beamte der bolschewistischen Regierung leben.
Die Familie fällt den stalinschen Repressionen zum Opfer – sie gelten als "Feinde des Volkes", viele werden verhaftet und erschossen, die Großmutter weiß mit ihrer Angst weder ein noch aus und rettet sich in eine psychiatrische Klinik, der Urgroßvater wird nach dem Krieg von einem Lastwagen überfahren, "eine häufige Methode der Hinrichtung"', wie Ljudmila Petruschewskaja lapidar erwähnt.
Auf die Schreckensjahre des Terrors folgt der Zweite Weltkrieg. Die Familie wird in den Süden des Landes evakuiert, Ljudmila besucht keine Schule, sie hat keine Winterstiefel, hungert, bettelt und läuft eine Zeitlang aus der Obhut der Angehörigen weg, nachdem ihre Mutter zum Studium nach Moskau zurückgekehrt ist.
Die Schriftstellerin erzählt von dieser Kindheit ganz ohne Wehleidigkeit und Bitterkeit, vielmehr scheinen berechtigter Stolz, eleganter Humor und ein sicheres Gespür für die groteske Absurdität des Lebens auf.
Ihr Ton ist kurz und bündig, aber jeder Satz sitzt in der streng komponierten Prosa. "Das Mädchen aus dem Hotel Metropol" ist ein Buch, das von widrigsten Lebensumständen erzählt, von der Künstlerwerdung der Autorin und vom Triumph der Literatur.
Eine Rezension von Christine Hamel im WDR
Inhalt
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Petruschewskaja schreibt autobiografisch über ihre Jugend in der Sowjetunion: Leichtigkeit noch bei der Schilderung der schlimmsten Demütigungen.
Ljudmila Petruschewskaja präsentiert in ihrem Buch autobiografische Vignetten und einen Ritt durch das sowjetische Jahrhundert. Noch den schlimmsten Demütigungen verleiht sie Leichtigkeit – und das in vibrierender Sprache voller farbiger Details.
Nein, dies ist nicht der „Roman einer Kindheit“, wie der Untertitel behauptet.
Ljudmila Petruschewskajas Erinnerungen „Das Mädchen aus dem Hotel Metropol“ präsentieren sich vielmehr als lückenhafte, das brav Chronologische immer wieder durchbrechende Folge von autobiografischen Vignetten und Miniaturen.
Zugleich ist es ein Ritt durch das sowjetische Jahrhundert aus der Perspektive einer unbeugsamen Überlebenskünstlerin.
Zwischen Stalins Schreckensherrschaft und Breschnews erstarrtem Neostalinismus beobachtet Petruschewskaja, wie sich der Kommunismus immer wieder von Neuem daran machte, ein ganzes Volk zu unterwerfen, zu verkrüppeln und im Zweifel zu vernichten.
Im Gegensatz zu ihren anderen Büchern und Theaterstücken hat die 1938 in Moskau geborene Autorin hier nichts fiktionalisiert. Ihre frühen Hunger- und Betteljahre sind aber sehr wohl literarisch imaginiert und reflektiert. Virtuos spielt sie mit grotesken und märchenhaften Elementen und verleiht noch den schlimmsten Demütigungen eine Leichtigkeit, als hätte sie eine ganz normale Kindheit erlebt.
Farbige Details, sinnliche Beobachtungen Petruschewskaja, bei Kritik und Publikum als herausragende Stimme der zeitgenössischen russischen Literatur anerkannt, versteht sich auf eine unprätentiöse, fast alltägliche, von spontanen Eingebungen vorangetriebene Sprache. In überschaubaren Sätzen, die vibrieren vor farbigen Details und sinnlichen Beobachtungen, stehen Momente der Idylle unmittelbar neben Momenten des beiläufigen Entsetzens.
Das titelgebende Hotel Metropol, das unmittelbar neben dem Kreml noch heute Luxusgäste empfängt, war nach der Oktoberrevolution vergemeinschaftet worden und wurde von hohen Beamten der bolschewistischen Regierung und Mitgliedern der Kommunistischen Internationale bewohnt.
Als Petruschewskaja kurz nach ihrer Entbindung dort im Zimmer ihres Urgroßvaters Ilja „Dedja“ Wegner, einem Arzt, mit ihrer Mutter Quartier bezog, hatten Stalins Säuberungsaktionen einen Höhepunkt erreicht. Viele Bewohner galten als Volksfeinde, wurden verhaftet, deportiert oder gleich ermordet – darunter zahlreiche Mitglieder ihrer Familie.
Eine lange Liste von gewaltsamen Todesarten durchzieht dieses Buch: Auch Dedja findet auf ihr seinen Platz: 1947 wird er wie so viele unter einen Lastwagen gestoßen. Zwei Jahre später ist er tot.
Ein wildes Mädchen bei der Oma 1941, nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, begleitet der Urgroßvater Ljudmila noch an die Wolga nach Kuibyschew, das heutige Samara, wohin die Familie evakuiert wird. Doch die Mutter verschwindet bald für vier Jahre zum Studium. Als wildes, von niemandem zu bändigendes Mädchen, wächst Ljudmila bei Tante und Großmutter auf.
Nach dem Krieg ist ein baschkirisches Kinderheim ihre nächste Station, und sie verbringt ganze Monate im Pionierlager. Noch die aufsässige Moskauer Journalistik-Studentin lebt der verletzbaren Unverletztlichkeit, die sie sich als Kind erworben hat.
Das von Antje Leetz vorzüglich übersetzte und kommentierte Buch enthält eine Fülle unvergesslicher Szenen. Wie Ljudmila im Bett der Großmutter Literaturunterricht erhält; wie sie als Zwölfjährige in einem Sanatorium für unterernährte Kinder der Vergewaltigung einer Jungenhorde um Haaresbreite entkommt und ein dreister Schönling das erste Begehren in ihr weckt; oder wie ein gewisser Sanytsch trotz drakonischer Prüfungsmethoden ihr Lieblingslehrer wird.
Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit, behauptet ein zwiespältiger Satz. Dieses Buch, erhellt von Ljudmila Petruschewskajas sinnlicher Prosa, bekräftigt ihn von ganzem Herzen.
deutschlandfunkkultur.de/ljudmila-petruschewskaja-das-maedchen-aus-dem-hotel
Zeitlos gültig Ljudmila Petruschewskaja:
"Sie begegneten sich, wie das so vorkommt, beim Schlangestehen in der Bierbar"
Bloomsbury, Berlin 2012.
Deutschlandfunk Kultur – Buchkritik 28.09.2012
https://www.deutschlandfunkkultur.de/zeitlos-gueltig.950.de.html?dram:article_id=222596
Der Alkohol spielt eine nicht unwesentliche Rolle in diesem Erzählband. Auf den ersten Blick kommen Ljudmila Petruschewskajas Texte wie soziologische Abhandlungen daher. Doch kühle Distanziertheit und warme Blicke halten stets die Balance - diese erzählerische Kunst offenbart auch ihre neue Erzählsammlung.
Liest man die Überschriften der Abteilungen, in die diese sechzehn Erzählungen sortiert sind, könnte man meinen, Ljudmila Petruschewskaja sei unter die Soziologen oder Sozialpsychologen gegangen: "Verliebte Frauen", "Wie Kinder lieben" und "Die Geburt einer Familie" lauten sie. In gewisser Weise ist der Eindruck nicht falsch. Schon immer fiel die Prosa dieser Autorin auf durch den überaus geschärften Blick tief hinein in privateste Zustände, der letztlich gesellschaftliche Dimensionen freilegte. Wenn also, wie in der Titelgeschichte, in diesem Band der Alkohol eine nicht unwesentliche Rolle spielt, so bleibt die Ausprägung des einzelnen Falles durchaus privat, beschrieben wird dennoch ein bekanntlich sehr verbreitetes Phänomen.
Bei aller soziologischen Schärfung sind Petruschewskajas Texte doch immer Literatur. Sie erzählen Geschichten, in denen hinter einer geradezu beliebigen Episode auf knappstem Raum eine ganze Lebensgeschichte aufscheinen kann. Das harmlose Anbandeln in der Schlange vor dem Biertresen, das auf einen One-Night-Stand hinausläuft, endet in einem Suizidversuch. Zwei noch recht junge, aber schon von einem gründlichen Scheitern gezeichnete Menschen sind sich da begegnet und haben ihre Sehnsüchte einer auf den anderen projiziert. Doch bricht sich die Wirklichkeit ihre Bahn durch alle Projektionen, je näher beide einander kommen. Der Moment der Erkenntnis ist der Moment des Zusammenbruchs.
Man könnte aus solchen Begebenheiten jeweils ein wahrhaftes soziales Rührstück schaffen. Das freilich ist Petruschewskajas Sache nicht. Mit einer kaum zu übertreffenden Lakonie schildert sie die Lebensumstände und -geschichten ihrer Figuren, oft durchsetzt von einem ätzenden Humor. "Ihrer war ständig dienstlich unterwegs gewesen und dann für immer zurückgekehrt, aber nicht zu ihr", heißt es über eine ältere Frau (und ihren verflossenen Mann), die sich als Versicherungsvertreterin durch ihr entbehrungsreiches Leben schlagen muss. Es wimmelt in diesen Texten von solchen böshumorigen Pointen, in denen man auf den ersten Blick Schonungslosigkeit oder gar Schadenfreude entdecken könnte.
Aber die erzählerische Kunst dieser Autorin besteht genau darin, eine feine Balance zu halten zwischen der kühlen und verkürzenden Distanziertheit, mit der ein von außen kommender Blick die Lächerlichkeit einer Existenz erkennen, und der Wärme, die ein solcher Blick eben auch enthalten kann. Trotz aller Schwächen und Verzagtheiten, die die Figuren aufweisen und die als solche benannt werden, erscheinen diese Figuren nie als Verurteilte. Ein warmes Element des Verstehens, des Mitfühlens auch, ist dieser Lakonie stets beigegeben. Ein desillusioniertes Beschreiben von Zuständen mischt sich mit einem tiefen Verständnis für alles Menschliche, Allzumenschliche.
Das führt zu einer zeitlosen Gültigkeit. Bei einigen der Erzählungen wird deutlich gesagt, dass sie sich in tiefsowjetischer Zeit ereignen. Bei anderen fehlt ein solcher Hinweis, aber kleine Andeutungen lassen erahnen, dass sie in einer ungefähren Gegenwart handeln. Schließlich gibt es Texte, die gar keinen Aufschluss zulassen, in welcher Epoche sie sich abspielen. Es ist auch ganz egal, und in gewisser Weise geht von diesen Erzählungen die größte Verstörung aus. Könnte es sein, dass sich die Dinge nur sehr, sehr langsam verändern?
Zur Autorin: Ljudmila Petruschewskaja wurde 1938 in Moskau geboren, wo sie auch heute lebt. 1961 schloss sie ihr Studium der Journalistik ab, arbeitete für Rundfunk und Fernsehen sowie für Zeitungen und eine Literaturzeitschrift. Ab 1973 erschienen Erzählungen, jedoch bekam sie zunehmend Schwierigkeiten mit der sowjetischen Zensur. Insbesondere in den 70er-Jahren machte sie eine steile Karriere als Dramatikerin, deren Stücke im In- und Ausland aufgeführt wurden. Sie erhielt zahlreiche renommierte Preise, unter anderem. 2003 den Puschkinpreis, zuletzt 2010 den World Fantasy Award.
Besprochen von Gregor Ziolkowski
Ljudmila Petruschewskaja: "Sie begegneten sich, wie das so vorkommt, beim Schlangestehen in der Bierbar. Russische Liebesgeschichten." Aus dem Russischen von Antje Leetz Bloomsbury, Berlin 2012 192 Seiten, 9,99 Euro