1 Einleitung
Das Phänomen des Wieder-Erlebens — weit verbreitet und unerkannt
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Das Phänomen des Wiedererlebens scheint der Aufmerksamkeit der Menschen bisher fast völlig entgangen zu sein, obwohl vermutlich jeder in seinem Alltag wenigstens Spuren davon wahrnehmen kann. Meist ist es ein besonderer Geruch oder Geschmack, manchmal auch eine bestimmte Farbe oder eine besondere Situation, die uns plötzlich für einen kurzen Augenblick an einen anderen Ort und in eine andere Zeit zu versetzen scheint.
Eine mehr oder weniger vage Erinnerung blitzt auf und verschwindet wieder; ein seltsames, lange nicht empfundenes Gefühl steigt in uns auf, eine merkwürdige Stimmung ergreift uns — und ist schon wieder verschwunden, bevor wir sie festhalten und mit einem bestimmten Ereignis unseres Lebens in Verbindung bringen könnten. Wir spüren nur, daß diese Erscheinung von ganz anderer, tieferer und intensiverer Art ist als die gewohnten Erinnerungen, die ständig aus unserem Gedächtnis aufsteigen, die wir bewußt von dort »abrufen«, die aber auch durch Assoziationen hervorgerufen werden können oder ganz spontan und unkontrollierbar plötzlich da sind.
Sind wir aber erst einmal auf das Phänomen aufmerksam und sensibel dafür geworden, dann können wir es öfter an uns selbst wahrnehmen, und wir entdecken auch, daß es uns in der Literatur schon immer wieder begegnet ist oder fortan begegnet: Man sieht eben nur, was man schon weiß (so Goethe; etwas ausführlicher sagte es Alphonse Bertillon: »Man kann nur sehen, worauf man seine Aufmerksamkeit richtet, und man richtet seine Aufmerksamkeit nur auf Dinge, die bereits einen Platz im Bewußtsein einnehmen.«).
Das wohl eindrücklichste Beispiel des Wiedererlebens in der Literatur findet sich in dem siebenteiligen Romanzyklus von Marcel Proust »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, der seine Entstehung ganz und gar dem Phänomen des Wiedererlebens verdankt.
Ich zitiere (in einer an wenigen Stellen von mir stilistisch geänderten Übersetzung) eine Passage aus dem ersten Teil des Zyklus, worin der Autor minuziös beschreibt, wie er, von einer scheinbar belanglosen, zufälligen Wahrnehmung angestachelt, sich den Zugang zum Wiedererleben eines weit zurückliegenden Geschehens förmlich erzwingt.
Viele Jahre lang hatte in meiner Erinnerung nichts von Combray existiert, außer dem Haus, das der Schauplatz des Dramas meines Zubettgehens war, als meine Mutter eines Wintertags, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man >Madeleine< nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer Sankt-Jakobs-Muschel benutzt.
Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und durch die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchen gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein überwältigendes Glücksgefühl, das ganz für mich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.
Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu lediglich einem Trug der Sinne geworden; es vollzog sich in mir, was sonst nur die Liebe vermag, zugleich aberfühlte ich mich von einem köstlichen Fluidum erfüllt, oder vielmehr: das Fluidum war nicht in mir, sondern ich war dieses Fluidum. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, dem Zufall ausgesetzt, sterblich zu fühlen. — Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens verbunden war, doch darüber hinausging und von ganz anderem Wesen war. Woher kam sie? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? — Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir gar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen.
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Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Botschaft wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine lähmende Ratlosigkeit tritt ein, sooft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll, und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, wertlos ist. Suchen? Nicht nur das: Schaffen! Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist und das doch nur er erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.
Wieder frage ich mich, welch unbekannter Zustand das sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein des Glücks mit sich führte, einer Wirklichkeit, vor der alle anderen verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe im Geiste rückwärts den Weg bis zu dem Moment, da ich den ersten Löffel Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt. Ich fordere von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal heraufzubeschwören.
Und damit sein Schwung sich an keinem Hindernis breche, räume ich alles hinweg: Ich verbanne jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Ohr und meine Aufmerksamkeit ab gegen alle Geräusche des Nebenzimmers. Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmüht, zwinge ich umgekehrt ihn zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt. Dann schaffe ich ein zweites Mal völlige Leere um ihn, ich stelle ihm den noch ganz frischen Geschmack jenes ersten Schlucks gegenüber und spüre, wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat. Ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume.
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Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild sein, die visuelle Erinnerung, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; ich kann die Form nicht unterscheiden, nicht von ihr als dem einzigen Dolmetsch erbitten, daß sie mir die Botschaft ihres Begleiters, ihres unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks, übersetzt, kann sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag.
Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit hergekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? Ich weiß es nicht.
Jetzt fühle ich nichts mehr. Er, der Augenblick, ist zum Stillstand gekommen, vielleicht zurück in die Tiefe geglitten; wer weiß, ob er jemals wieder aus seinem Dunkel emporsteigen wird? Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann.
Und dann, mit einem Male, war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir in Combray (...) am Sonntagmorgen, sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Leonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen Tee getaucht hatte.
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Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte. Vielleicht kam das daher, daß ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und daß dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, daß von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen — darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid — waren versunken, oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durch den sie ins Bewußtsein hätten emporsteigen können.
Indessen, wenn von einer früheren Vergangenheit nichts mehr existiert nach dem Ableben der Personen und dem Untergang der Dinge, so führen doch — zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu — Geruch und Geschmack wie irrende Seelen auf den Trümmern alles übrigen noch lange ihr Leben weiter — wissend, wartend, hoffend, um irgendwann aus einem beinahe unwirklichen winzigen Tröpfchen Tee das unermeßliche Gebäude der Erinnerung entstehen zu lassen.
Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte, die, in Tee getaucht, meine Tante mir zu reichen pflegte (und obgleich ich noch immer nicht wußte und auch erst später würde ergründen können, weshalb die Erinnerung mich so glücklich machte), trat das graue Haus mit seiner Straßenfront, hinter der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzu, der für meine Eltern nach hinten heraus angebaut worden war, (zu jenem verstümmelten Teilbild also, das ich bislang allein vor mir gesehen hatte) und mit dem Hause die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, in denen ich bei jeder Witterung von morgens bis abends zu finden war, die Wege, die wir bei schönem Wetter gingen.
Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, stiegen die Stadt und die Gärten, alles deutlich und greifbar auf aus meiner Tasse Tee.
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aus Marcel Proust »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«
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Ich nehme, mit guten Gründen, an, daß wohl jeder Mensch ähnliche Erfahrungen machen kann. Sehr viel leichter als in obigem Beispiel — ja geradezu wie von selbst — öffnet sich der Zugang zum Wiedererleben, wenn man nicht auf einen glücklichen Zufall, auf einen situativen Anstoß wartet, sondern selbst die Initiative ergreift und versucht, ein Ereignis wiederzuerleben, an das man sich noch gut erinnern kann. Merkwürdigerweise — aber nicht ohne Grund — können gerade solche Ereignisse besonders leicht wiedererlebt werden, die ausgesprochen unangenehm waren.
Das Wiedererleben eines solchen Geschehens ist selbstverständlich auch nicht angenehm, aber es hat heilsame Wirkungen: es wirkt befreiend und entlastend und beseitigt — wie ich noch zeigen werde — störende Nachwirkungen des Erlebten oder verhindert deren Entstehen. Wegen der damit verbundenen unangenehmen Gefühle ist es ratsam, das Wiedererleben eines solchen Ereignisses im Beisein eines »Begleiters«, zum Beispiel eines Psychotherapeuten, vorzunehmen.
Für einen solchen ist die folgende Beschreibung gedacht.
Erste Bekanntschaft mit dem »aktiven Wiedererleben«
Für die erste Erfahrung mit dem aktiven Wiedererleben eignen sich besonders gut leichtere Traumatisierungen wie z.B. durch einen (nicht zu schweren) Verkehrsunfall. Sofern Sie unter Ihren Klienten eine Person haben, die vor einiger Zeit einen Autounfall erlebt hat und psychische Nachwirkungen davon spürt, etwa gelegentliche oder häufigere Alpträume, Angst oder Unsicherheit beim Autofahren, vielleicht sogar Panikanfälle, die ihr das Autofahren — und sei es nur als Beifahrer — bis zur Unerträglichkeit verleiden, und sich die Person auf eine Wiedererlebens-Sitzung einlassen möchte, empfiehlt sich folgendes Vorgehen:
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Sie sagen dem Klienten, daß Sie ihm helfen könnten, wenn er bereit wäre, den Unfall in Gedanken noch einige Male nachzuerleben. Läßt sich der Klient auf den Versuch ein, bitten Sie ihn, sich in einen bequemen Sessel zu setzen und Ihnen den Unfall und die belastenden Erlebnisse danach möglichst genau zu schildern. Wenn Sie aufmerksam zuhören, werden Sie merken, was davon für Ihren Klienten besonders unangenehm war. Dann bitten Sie ihn, die Augen zu schließen, sich in der Erinnerung nochmals in jene Situation zu begeben und sie Ihnen so zu beschreiben, als wenn sie den Unfall gerade eben erlebte. Ermutigen Sie ihn, alle Einzelheiten und auch seine Gefühle genau wahrzunehmen und — so schmerzlich sie auch sein mögen — sich darauf einzulassen und sie Ihnen zu beschreiben. Sagen Sie ihm etwa: »Schau das genau an!« — »Spür genau, was du dabei fühlst!« — oder ähnliches, und tun Sie dies besonders nachhaltig bei den Details, die Ihnen zuvor aufgefallen waren. Sie können, um die Person tiefer in das Geschehen hineinzuführen, nach irgendwelchen Einzelheiten fragen, die sie eventuell sehen, riechen oder fühlen könnte, oder nach ihrer Stimmung und ihren Emotionen.
Vielleicht bemerken Sie, daß die Person dazu neigt, bestimmte Einzelheiten des Vorgangs zu vermeiden, das heißt, sich um deren genaue Erinnerung und Schilderung herumzudrücken; dann ermutigen Sie sie, dies zu unterlassen. (Dazu sind die oben genannten Aufforderungen und gezielte Fragen nützlich.)
Wenn der Klient am Ende der Episode angekommen ist, bitten Sie ihn, an den Anfang zurückzugehen und die Geschichte nochmals nachzuerleben. Dabei ist wichtig, daß er jetzt nicht beginnt, eine Story abzuspulen, die er vielleicht schon x-mal erzählt hat, sondern sich bemüht, den Vorgang wie neu zu erleben. Spätestens nach einigen Wiederholungen tritt etwas Überraschendes ein: Die Person sieht plötzlich eine Szene aus dem Geschehen bildhaft vor sich und hat das Gefühl, wenigstens für einen Augenblick mitten darin zu sein. Vielleicht hört sie auch zuerst ein Geräusch, das Quietschen der Reifen etwa oder das Krachen beim Aufprall, oder sie nimmt einen typischen Geruch aus der damaligen Situation wahr, zum Beispiel den Geruch von Staub oder von Blut.
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Vielleicht erlebt sie auch als erstes ihr Erschrecken besonders lebhaft oder ihr Entsetzen beim Bedenken der Unfallfolgen oder den Schock, der gleich danach eingetreten ist. Ihr Erleben kann auch von Anfang an mehrdimensional sein und Sehen, Hören, Riechen und Schmecken umfassen. Diese »Vision« mag zunächst nur wenige Sekunden dauern, wird aber bei den nächsten Wiederholungen länger und zugleich intensiver und detaillierter werden, bis sie schließlich das ganze Geschehen umfaßt. Dann wird die Person auch Einzelheiten wahrnehmen, an die sie sich zuvor gar nicht erinnern konnte, entweder weil sie sie nicht bewußt wahrgenommen hatte oder weil sie durch den »Blackout«, der meist mit einem Schock einhergeht, nicht in ihrem Gedächtnis gespeichert worden waren. Falls die Person bei dem Unfall verletzt wurde, wird sie vielleicht auch davon Spuren wahrnehmen: sie wird etwas von den damaligen Schmerzen spüren, ihr werden eine Zeitlang einige Gelenke weh tun, oder sie wird ein wenig humpeln.
Nachdem das Wiedererleben des Geschehens seine größte Intensität erreicht hat und alle wichtigen Details »aufgetaucht« sind, wird in den folgenden Wiederholungen die Episode zu verblassen beginnen. Außerdem wird sie löchrig, das heißt, die weniger wichtigen und belastenden Details verschwinden plötzlich. Zudem kühlen die wiedererlebten Emotionen der Person ab, und der Vorfall verliert für sie mehr und mehr seine Schrecken. Schließlich werden die farblos gewordenen Wiederholungen für sie immer langweiliger, sie wird des Ganzen überdrüssig.
Lassen Sie sie trotzdem noch einige »Durchgänge« machen, bis sie schließlich gar nicht mehr in der Lage ist, irgend etwas von dem Geschehen wiederzuerleben (dies geschieht manchmal — und insbesondere nach einiger Übung — auch ganz abrupt und ohne das beschriebene allmähliche Verblassen). Dann sagen Sie dem Klienten, er möge wieder ganz in die Gegenwart und den Alltag kommen, sprechen Sie eine Zeitlang mit ihm über das eben Erlebte, und gehen Sie dann zu Alltagsthemen über, bis Sie den Eindruck haben, daß er wieder ganz »hier« ist. Sagen Sie ihm auch, er möge auf dem Heimweg (erst recht auf der Heimfahrt) sich ganz auf das Gegenwärtige konzentrieren und sich unterwegs keineswegs mit dem Erlebten beschäftigen.
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Dies ist vor allem dann wichtig, wenn Sie in der ersten Sitzung, die etwa eine bis eineinhalb Stunden dauern kann, nicht bis zum Ende gekommen sein sollten, das heißt, nicht so viele Wiederholungen machen konnten, daß ein nochmaliges Wiedererleben nicht möglich ist. In diesem Fall wird der Klient zwar schon eine beträchtliche Erleichterung spüren, aber gleichzeitig kann er innerlich aufgewühlt, entsetzt, traurig oder sehr müde sein und dazu neigen, wieder in das Geschehen »zurückzufallen«, während er mit sich allein ist und sich noch intensiv mit dem Erlebten beschäftigt. Das könnte zum Beispiel beim Autofahren verhängnisvoll sein.
In einer oder höchstens zwei weiteren Sitzungen (warten Sie nicht zu lange damit!) dürften Sie jedoch zum Ende kommen, es sei denn, die Person hat früher schon einmal einen Verkehrsunfall oder ein ähnliches Trauma erlebt. Dann wird sie ziemlich sicher während einer der Sitzungen ganz von selbst darauf kommen, was sich dadurch zeigt, daß sie sich plötzlich in einer ganz anderen Zeit und an einem ganz anderen Ort zu befinden scheint, nämlich eben in jenem früheren Geschehen. Dann behandeln Sie erst dieses frühere Trauma bis zum Verschwinden (wir nennen dies auch Auflösung), und kehren Sie dann zum ersten Geschehen zurück. (Die Auflösung geht übrigens um so schneller, je intensiver sich die Person beim Wiedererleben auf unangenehme und schmerzhafte Details einläßt.)
Sie werden nun vermutlich fragen, welchen Sinn ein solches Experiment habe und ob es nicht nur ein effektvolles, gelegentlich amüsantes, vielleicht wissenschaftlich interessantes, aber doch eigentlich nutzloses Spielchen sei. Nun, sein praktischer Nutzen erweist sich sehr rasch: nach Auflösung des Protokolls (so nenne ich die Aufzeichnung eines traumatischen Geschehens im Gedächtnis oder, vorsichtiger formuliert, irgendwo im Organismus des Betroffenen) verschwinden die körperlichen und psychischen Symptome, die von dem Trauma hervorgerufen wurden, sehr rasch, oft von einer Stunde zur nächsten. Eine meiner Schülerinnen hat schon kurz nach Beginn ihrer Ausbildung eine Freundin behandelt, die vor einiger Zeit einen Autounfall erlebt hatte und seither nicht mehr Auto fahren konnte. Als das Protokoll aufgelöst war, hatte die junge Frau keinen dringlicheren Wunsch, als noch am selben Abend endlich wieder einmal mit ihrem Auto zu fahren, was sie dann auch prompt und mit großem Vergnügen tat.
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Fallbeispiel 1: Ein Autounfall
Sandra, 49 Jahre alt, hat vor zehn Jahren als Beifahrerin eine folgenschwere Massenkarambolage miterlebt. Seither hat sie regelmäßig Panikanfälle, wenn sie sich in einem dringenden Fall ausnahmsweise dazu bewegen läßt, in ein Auto zu steigen. Sandra bittet ihre Freundin C., eine meiner Schülerinnen, um Hilfe. In der ersten Sitzung beginnt Sandra sehr schnell, den Unfall wiederzuerleben; sie spürt heftige Gefühle der Angst und des Schreckens und hat nach der Sitzung eine Rötung und eine kleine Beule an der Stirn, wo sie seinerzeit mit dem Kopf irgendwo aufgeprallt war. Nach ein paar zeitweilig sehr dramatischen Sitzungen ist das Protokoll aufgelöst, und Sandras Symptome sind von Stund an verschwunden. Ich zitiere aus einem Brief, den sie mir daraufhin schrieb:
Lieber Herr Petry, wenn ich Gummiarme hätte, würde ich Sie jetzt umarmen, aber die Entfernung von hier nach W. ist doch zu weit. Aber ich muß Ihnen einfach mitteilen, wie glücklich ich bin — meine Familie übrigens auch. Ich fahre ohne Angst und ohne Pillen Auto, und das erstmals wieder seit einem Unfall von 1986. Nichts, aber gar nichts hat mir geholfen, bis C. und K. auf Sie und Ihre Methode stießen. Welch ein Glück für mich; ich könnte die Welt umarmen! Keine Lügen mehr, wenn mich Bekannte in der Stadt im Auto mitnehmen wollen, keine Ausflüchte mehr. Ich freue mich das erste Mal seit dem Unfall auf den Sommerurlaub. Ich war eine große Gefahr für Mann und Sohn, habe in das Steuer gegriffen, bin auf der Fahrbahn ausgestiegen. Heute begreife ich das alles nicht, es geht mir so gut wie nie zuvor, es ist ein Gefühl, das ich kaum beschreiben kann.
Bliebe noch nachzutragen, daß Sandra nun auf den Führerschein spart und sich von ihrem Sohn zum anstehenden 50. Geburtstag eine Fahrt über den Nürburgring gewünscht hat.
Eine Anmerkung: Nach einer dpa-Meldung vom Dezember 1995 behandelt ein Diplom-Sozialpädagoge in Bad N. in seiner »Praxis für aktive Fahrsicherheit« Ängste vorm und beim Autofahren mit dem klassischen Instrumentarium der Verhaltenstherapie. »Von 3 Monaten bis zu einem Jahr und mehr dauert es, bis der Hilfesuchende wieder alleine sein Fahrzeug führen kann.«
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Das nächste Beispiel zeigt, daß es möglich ist, auch sehr weit zurückliegende und völlig vergessene Ereignisse wiederzuerleben und dadurch ihre störenden Auswirkungen zu beseitigen.
Fallbeispiel 2: Verbrennungen
Nathalie wird seit längerem von K. wegen einer Reihe von teils sehr schweren Symptomen behandelt, die — wie wir inzwischen durch begleitetes Wiedererleben wissen — auf schwersten Mißhandlungen und sexuellen Folterungen von frühester Kindheit an beruhen.
Während einer ihrer Sitzungen wiedererlebt Nathalie ein Trauma aus ihrem zweiten oder dritten Lebensmonat: Sie wird von ihrer Mutter mit einem Fläschchen gefüttert, dessen Inhalt offenbar viel zu heiß ist, und erleidet schmerzhafte Verbrühungen der Speiseröhre und der Magenschleimhaut. Nathalie zeigt dabei die charakteristische Haltung, Mimik und Gestik eines Babies; sie spürt die heftigen Schmerzen und schreit daraufhin auch wie ein Baby. Natürlich weigert sie sich weiterzutrinken und wird deswegen von der anscheinend recht lieblosen und ungeduldigen Mutter geschimpft, gebeutelt und geschlagen, was bei der kleinen Nathalie Panik auslöst. Danach spürt sie »einen Knubbel im Bauch«. (Mit diesem Begriff aus ihrer Kindersprache meint sie ein bekanntes Angstsymptom; »das liegt mir im Magen, das ist mir auf den Magen geschlagen, ich habe einen Stein im Magen«.)
Nach dieser Sitzung, in der das Protokoll noch nicht aufgelöst werden konnte, erfährt K. erstmals, daß Nathalie »schon seit sie sich erinnern kann, in belastenden Situationen einen Knubbel im Bauch spürt« und daß sie an chronischer Magenschleimhautentzündung leidet.
Nach einigen weiteren Sitzungen ist das Protokoll aufgelöst. Von da an sind der »Knubbel im Bauch« und die chronische Gastritis verschwunden. Sie sind seither nie wieder aufgetaucht.
Einige Wochen später stoßen Nathalie und K. bei ihrer Arbeit auf ein Trauma aus dem vierten Lebensmonat: Der sieben Jahre ältere Bruder steckt der Kleinen ein brennendes Streichholz in den Mund und verbrennt ihr den vorderen Teil des Gaumens. In den Tagen danach ist die Nahrungsaufnahme für Nathalie qualvoll. Sie sträubt sich heftig gegen das Fläschchen und wird von der ahnungslosen Mutter wütend geschimpft und geschlagen.
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Nathalie magert mehr und mehr ab; bald ist ihr Zustand lebensbedrohend. Die hilflose Mutter bringt sie schließlich in ein Säuglingsheim, wo sich eine der Nonnen liebevoll ihrer annimmt und sie mühsam dazu bringt, wieder etwas zu essen (siehe dazu Fallbeispiel 6).
Warme Speisen und Getränke aber sind seither für Nathalie ein Schrecken: sie kann nur kalte Nahrung zu sich nehmen. Wenn sie mit Bekannten zusammen ißt, was sie sehr ungern tut, trödelt sie mit allen möglichen Geschäftigkeiten herum, bis ihr Essen kalt geworden ist.
In 19 Wiederholungen, die sich auf mehrere Sitzungen verteilen, wird das Protokoll aufgelöst. Zwei Stunden danach ruft Nathalie ihre Therapeutin K. an und berichtet, sie habe soeben erstmals eine wirklich warme Mahlzeit zu sich genommen und zum ersten Mal in ihrem Leben heißen Kaffee getrunken. »Ich wußte gar nicht, wie herrlich Kaffee schmecken kann!«
Am leichtesten (und am zweckmäßigsten) ist der Einstieg ins Wiedererleben unmittelbar nach einem traumatischen Erlebnis, und dann ist es zugleich eine äußerst wirksame Form psychologischer Erster Hilfe, die verhindert, daß sich das Trauma überhaupt »festsetzen« und störende Wirkungen entwickeln kann.
Fallbeispiel 3: Psychologische Erste Hilfe
Susanne, Medizistudentin, wurde im Sommer 1995, eine Woche vor Beginn ihrer Abschlußexamina, abends auf einem abgelegenen Parkplatz von zwei Männern überfallen und ausgeraubt. Susanne fuhr, noch im Schock, nicht etwa sofort zur Polizei, sondern 30 km weit zu ihrer Studentenwohnung. Ihre Nachbarin C., eine meiner Schülerinnen, war zufällig vor dem Haus, um den Mülleimer auszuleeren, und wunderte sich, als Susanne in hohem Tempo angebraust kam und mit einer Vollbremsung ihren Wagen kurz vor der Gartenmauer zum Stehen brachte: »Mit der stimmt etwas nicht!« Susanne blutete am Kopf und redete ganz durcheinander von einem Überfall. C. nahm sie mit zu sich ins Wohnzimmer, legte sie aufs Sofa und bat sie, die Augen zu schließen und ihr zu erzählen, was geschehen war: »Beschreib mir alles ganz genau und stell dir vor, die beiden Männer würden jetzt vor dir stehen!« Nach der ersten Schilderung ermunterte sie Susanne, alles noch einmal zu erzählen.
Susanne wunderte sich darüber, aber C. beruhigte sie: »Erzähl es mir ruhig noch einmal, das tut dir gut; vielleicht hattest du auch noch etwas davon weggelassen — ich will genau hören, was da alles passiert ist.«
Susanne begann folgsam von vorne und geriet dabei unversehens ins Wiedererleben des Geschehens. Nach viermaligem Wiedererleben »war sie das Trauma los«. Sie fühlte sich wohl, konnte ohne Angst allein in ihre Wohnung gehen und ungestört schlafen. Es traten auch später keine Ängste oder andere Spätfolgen des Überfalls auf, und Susanne brauchte ihr Examen nicht zu verschieben. Ihre Bekannten, denen sie emotionslos von dem Überfall berichtete, wunderten sich, daß sie so »cool« dabei bleiben konnte.
Übrigens verdanke ich selbst den ersten (freilich fiktiven) Hinweis auf wirksame psychologische Erste Hilfe nach einem traumatischen Erlebnis der Literatur: ALDOUS HUXLEY beschreibt im zweiten Kapitel seines utopischen Romans »Eiland«, wie ein zehnjähriges Mädchen einen soeben knapp dem Tode entronnenen Schiffbrüchigen zum beharrlich wiederholten Wiedererleben seines Traumas anleitet, bis dieses überwunden (»ausgelöscht«) ist.
Dort findet sich auch die treffende Erwiderung auf den gutgemeinten, aber nutzlosen Ratschlag, den Traumatisierte so oft hören: Sie sollen doch die Vergangenheit vergangen sein lassen, sich der Gegenwart zuwenden und im Hier und Jetzt leben: »Du kannst nicht im Hier und Jetzt sein, solange du nicht diese Schlangen (das Trauma) losgeworden bist!«
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