T2-2   Start   Literatur  

2  Erlebnisgedächtnis und psychosomatische Störungen

 

 

a)  Was sind psychosomatische Störungen ?  

Psychosomatische Störungen sind gekennzeichnet durch objektiv nachweisbare körperliche Symptome, die durch emotionale Faktoren entstehen oder verschlimmert werden. Nach dem betroffenen Organsystem (das immer in besonders engem Zusammenhang mit dem vegetativen Nervensystem steht) werden die klassischen psychosomatischen Störungen in sechs Gruppen unterteilt:

147


Darüber hinaus zeigen Untersuchungen, wie sie seit über zwei Jahrzehnten angestellt werden, einen Zusammen­hang zwischen psychischen Belastungen einerseits und Infektionskrankheiten, Allergien, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Herzanfällen, Knochenbrüchen, Ausbruch einer Leukämie und anderen Erkrankungen andererseits. Für die Befürworter einer ganzheitlichen Sicht des Menschen sind diese Ergebnisse alles andere als überraschend, während sie für die konventionelle Medizin eher störend wirken und in der Praxis daher oft lieber ignoriert werden.

 

b) Wie kommt es zu psychosomatischen Störungen ?

Wie schon zitiert, stellt »die heutige Klinische Psychologie ein Gebiet dar, in dem es nur wenige gesicherte Ergebnisse gibt.« Dies gilt in besonderem Maße für die psychosomatischen Störungen. Im folgenden versuche ich, einen Überblick über den gegenwärtigen Stand des Wissens (und der Vermutungen) zu geben.

 

1 Welche physiologischen Mechanismen können psychische Belastungen (»Streß«) in körperliche Krankheiten umsetzen?

1. Schon seit längerem gilt das vegetative (= autonome) Nervensystem als das Bindeglied zwischen Psyche und Körper. Der Grund dafür ist, daß es einerseits vielfältige Einflüsse auf Gewebe und Körperorgane ausübt und - wenn ungestört - für den zweckmäßigen Ablauf aller unbewußten Lebensvorgänge sorgt. So bestimmt die Tonuslage des vegetativen Systems unter anderem die Pulsfrequenz, den Blutdruck, den Blutzuckergehalt, den pH-Wert und den Leukozytengehalt des Blutes, die Peri-staltik von Magen und Darm und die Sekretionsvorgänge im Magen-Darm-Trakt. Eine Funktionsstörung des vegetativen Systems kann daher eine Vielfalt von Krankheiten nach sich ziehen.

Andererseits aber wird das vegetative System nachweisbar durch Emotionen (angenehme wie unangenehme) beeinflußt, was sich in Veränderungen der oben genannten Parameter äußern kann. Wiederholte oder lang anhaltende psychische Belastungen können daher durch Vermittlung des vegetativen Systems zu körperlichen Krankheiten führen.

148


2. Erst in jüngerer Zeit ist das Immunsystem des Körpers, das krankheitserregende Mikroorganismen im Körper erkennt und für entsprechende Schutzmaßnahmen sorgt, Gegenstand der psychosomatischen Forschung geworden. Ihre Ergebnisse bestätigen im allgemeinen einen Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen und Anfälligkeit zum Beispiel für Infektionen des Atmungstraktes, für Tuberkulose, Herpes simplex und Drüsenfieber.

Die Beeinflussung des Gesundheitszustandes bei vergleichbarer psychischer Belastung aber ist individuell sehr unterschiedlich. Daher muß es Einflußfaktoren geben, die in der Persönlichkeit des Individuums begründet sind und die als seine »Widerstandskraft« bezeichnet werden.

Diese Widerstandskraft gegenüber psychischen Einflüssen auf die Gesundheit beruht nach KOBASA und PUCETTI (zitiert nach DAVISON/NEALE) auf drei Persönlichkeitsmerkmalen. Diese sind:

Daneben scheint mir ein weiterer, den drei anderen vorgeordneter Faktor von großer Bedeutung zu sein, nämlich die Fähigkeit, psychische Belastungen überhaupt als solche bewußt wahrnehmen zu können, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und eventuell auch mit anderen Menschen darüber zu sprechen, statt sie zu verdrängen.

149


(3) Ein Überblick über die Theorien psychosomatischer Störungen

Die Beschäftigung mit den Ursachen psychosomatischer Störungen führt zu drei Fragen:

1. Warum leiden nur manche Menschen unter körperlichen Folgen psychischer Belastungen?

2. Warum verursachen psychische Belastungen manchmal eine Krankheit und nicht eine psychische Störung?

3. Wovon hängt es gegebenenfalls ab, welche der zahlreichen möglichen psychosomatischen Störungen sich einstellt?

Verschiedene Theorien mit unterschiedlichen Ansätzen versuchen wenigstens einen Teil dieser Fragen zu beantworten.

 

1 Die Theorie der Organschwäche

Diese Theorie nimmt an, daß genetische Faktoren, frühere Krankheiten, Ernährungs- und andere Gewohnheiten des Individuums eines seiner Organe so geschwächt haben können, daß es durch psychische Belastungen krank wird.

 

2 Die Theorie der spezifischen Reaktion

Jeder Mensch reagiert auf psychische Belastungen auf seine eigene Weise, von der angenommen wird, daß sie genetisch bedingt ist. Bei dem einen schlägt das Herz schneller, während bei dem anderen nur der Atem beschleunigt wird. Die Vertreter der Theorie vermuten, daß das jeweils am stärksten reagierende Körpersystem auch der Ort einer eventuellen späteren psychosomatischen Störung sein könnte. Reagiert jemand auf Streß mit vermehrter Sekretion von Magensäure, entwickelt er möglicherweise auf die Dauer ein Magengeschwür, während jemand, der auf Streß mit erhöhtem Blutdruck und schnellerem Pulsschlag reagiert, anfällig für chronischen Bluthochdruck und Herzrasen ist.

Das erste Beispiel wirkt überzeugend, da exzessive Sekretion von Magensäure bekanntlich eine der Ursachen von Magengeschwüren ist, weil Magensäure unter Umständen die Wände des Magens und des Zwölffingerdarms angreift. 

150


Dagegen ist nicht einzusehen, wieso gelegentlicher Blutdruckanstieg und erhöhte Pulsfrequenz zu einem Dauerzustand führen sollen. Schließlich ist selbst täglich mehrfacher Anstieg der Pulsfrequenz und des Blutdrucks durch körperliche Anstrengung oder (wenngleich weniger häufig) durch freudige Erregung oder sexuelle Betätigung kein Anlaß zu chronischem Herzrasen und Bluthochdruck, sondern wird sogar als gesundheitsfördernd empfohlen. Ausschlaggebend scheint also die emotionale Tönung der Erregung zu sein.

 

3 Die Theorie der selbstgemachten Stressoren (»Evolutionstheorie«)

Die Aktivitäten der beiden Teile des autonomen Nervensystems, des Sympathikus und des Parasympathikus, die manchmal zusammen, manchmal auch gegeneinander arbeiten, befinden sich in einem gesunden Körper in einem komplexen und empfindlichen Gleichgewichtszustand. Eine gelegentliche längere Überaktivität des einen Teils, die etwa durch äußere Bedrohung (zum Beispiel durch Angriff eines Feindes [beim Menschen auch: eines Vorgesetzten oder Kollegen] oder eines wilden Tieres, aber auch durch eine häusliche Auseinandersetzung) ausgelöst werden kann, schadet dem gesunden Körper nicht, aber damit Eingeweide, Blutgefäße und Drüsen effektiv arbeiten können und ungeschädigt bleiben, darf keines der beiden Systeme allzuoft oder allzulange überaktiv sein.

Die Überaktivität des sympathischen Systems wurde ursprünglich (und wird bei Tieren noch heute) durch äußere Bedrohungen von Leib und Leben ausgelöst und sollte die Kraftreserven des Individuums für Angriff oder Flucht mobilisieren und gleichzeitig alle im Gefahrenmoment überflüssigen, energieverzehrenden Funktionen wie Verdauung und komplizierte Denkprozesse ausschalten. Durch die Entwicklung seines Großhirns (daher die irritierende Bezeichnung »Evolutionstheorie«) hat der Mensch auch die Fähigkeit erlangt, Vorstellungen und Phantasien zu entwickeln. 

Dies hat verschiedene, hier bedeutsame Folgen:

151


1. Der Mensch kann sich Gefahren vorstellen, die gar nicht vorhanden sind (zum Beispiel bei einem nächtlichen Gang durch einen Wald oder über einen Friedhof, eventuell genügt schon ein düsterer Keller), und sich vor den eigenen Phantasieprodukten fürchten.

2. Er kann auf Bedrohungen seiner materiellen Existenzgrundlage (zum Beispiel durch Verlust des Arbeitsplatzes), aber auch schon auf Gefährdung seines Lebensstandards oder nur seiner Bequemlichkeit so reagieren, als bedrohten sie sein Leben - und auch davor schon im voraus Angst haben und sich Sorgen machen (!).

3. Er kann aus irgendwelchen Gründen soziale Ängste entwickeln und Begegnungen mit Menschen, Telefongespräche und andere Kontakte wie eine leibliche Bedrohung empfinden - und sich auch hiervor schon vorab ängstigen.

4. Und er kann sich schließlich nachträglich über eine unangenehme Situation anhaltend ärgern oder sich selbstquälerisch Vorwürfe machen.

Entscheidend ist, daß alle diese »selbstgemachten Stressoren« (die allerdings auf früheren Traumatisierungen beruhen können) das autonome Nervensystem genauso beeinflussen können wie tatsächliche Gefahren. Ängste vor vermuteten oder auch nur eingebildeten Gefahren, Ärger und Selbstanklagen wegen Vergangenem und Sorgen um Zukünftiges - all das versetzt das sympathische System in Aktivität. Aber vor Ängsten, Ärger, Selbstvorwürfen und Sorgen kann man nicht fliehen, und man kann auch nicht körperlich aktiv gegen sie kämpfen. Und sie verschwinden auch nicht ohne weiteres von selbst. Sie können das sympathische System in ständige Erregung und den Körper in einen anhaltenden Alarmzustand versetzen. Unter solchen Bedingungen wird es für die Steuerungskräfte des Körpers immer schwerer, sympathische und parasympathische Aktivitäten im Gleichgewicht zu halten, und möglicherweise geht dieses schließlich verloren. Unsere höheren geistigen Fähigkeiten - so die Theorie - setzen unseren Körper physiologischen Stürmen aus, denen er seiner Anlage nach nicht gewachsen ist.

Allerdings wird dabei übersehen, daß es neben den evolutionären Errungenschaften noch andere Einflußfaktoren geben muß: mittels Phantasie und Vorstellungskraft kann der Mensch sich Ängste, Ärger, Skrupel und Sorgen machen, aber er muß dies nicht tun. 

152


In nicht-industrialisierten Gesellschaften, etwa bei den Ureinwohnern Amerikas und Australiens, deren Phantasie und Vorstellungskraft nicht minder entwickelt sind, waren (oder sind) psychosomatische Störungen ausgesprochen selten, und selbst in verschiedenen Ländern Westeuropas treten diese Störungen in höchst unterschiedlichem Ausmaß auf. Neben der Lebensweise in der westlichen Gesellschaft, die oft durch Vereinsamung, Langeweile und Frustration gekennzeichnet ist, spielen wohl auch Unterschiede im Temperament und in der Einstellung dem Leben gegenüber sowie anerzogene oder sonstwie erlernte geistig-seelische Verhaltensweisen eine Rolle. Also nicht Vorstellungskraft und Phantasie des Menschen sind an sich bereits »gesundheitsschädigend«; erst der Umgang mit diesen Fähigkeiten entscheidet über ihre physiologischen Wirkungen.

Höchst bemerkenswert aber ist, daß Phantasieprodukte und durch kognitive Prozesse erzeugte Emotionen dieselben Wirkungen auf das autonome Nervensystem ausüben können wie reale Gefahren. Das autonome, das heißt vom Willen unabhängige, nicht absichtlich beeinflußbare Nervensystem ist so autonom also auch nicht: es ist durch gewisse geistige Prozesse sehr wohl beeinflußbar, wenn diese auf dem Umweg über bestimmte Emotionen darauf einwirken.

 

Konditionierungstheorien

Sowohl klassisches als auch operantes Konditionieren können bei der Entwicklung psychosomatischer Störungen mitwirken. BANDURA hält es (nach DAVISON/NEALE) für möglich, daß ursprünglich neutrale Reize, die mehrfach zusammen mit Pollen auftreten, durch klassisches Konditionieren ebenfalls zu Auslösern von Asthmaanfällen werden können, und sich so die Menge der auslösenden Reize um einen neuen Reiz erweitert. Andererseits könnte ein Kind einen Asthmaanfall dazu benutzen, unliebsamen Tätigkeiten aus dem Weg zu gehen (operantes Konditionieren).

Beide Konditionierungshypothesen setzen aber das Vorhandensein körperlicher Symptome bereits voraus und erklären allenfalls ihre Verschlimmerung durch psychische Einflüsse.

153


 Die multifaktorielle Theorie 

Wegen der Mängel und Unvollständigkeiten der beschriebenen Theorien wird seit geraumer Zeit eine multifaktorielle Betrachtungsweise angestrebt, welche in der Integration mehrerer der bereits vorhandenen Theorien besteht.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß es auch psychoanalytische Erklärungsversuche psychosomatischer Störungen gibt. Da jedoch zu den (wenigen) gesicherten Ergebnissen der Psychotherapieforschung die Erkenntnis gehört, daß Psychoanalyse zur Behandlung psychosomatischer Störungen ungeeignet ist (siehe dazu z.B. GRAWE), verzichte ich auf eine Darstellung.

 

2.4 Anmerkungen zu diesem Thema

Es fällt auf, daß in den vorgestellten Theorien als mögliche Ursache psychosomatischer Störungen körperliche und seelische Mißhandlungen in der Kindheit, insbesondere sexueller Mißbrauch, mit keinem Wort erwähnt werden. (Mehr noch: Unter den ca. 2000 Stichwörtern im Anhang von DAVISON/NEALE tauchen diese Begriffe überhaupt nicht auf.) Wir begegnen hier also der gleichen Ignoranz und Verdrängung wie schon weiter oben bei den Ursachen psychischer Störungen. Wer etwas über den Zusammenhang zwischen psychosomatischen Störungen und kindlichen Traumatisierungen erfahren möchte, muß auf die ganz überwiegend von Frauen herausgegebenen Bücher über Kindesmißhandlung und sexuellen Mißbrauch zurückgreifen. Bei ENDERS zum Beispiel findet sich eine Aufzählung von körperlichen und psychischen Symptomen als Folge von sexuellem Mißbrauch in der Kindheit, aus der im folgenden nur die körperlichen Störungen genannt werden:

Lähmungen - Haltungsschwäche - Verspannungen - Hauterkrankungen (z.B. Sonnenallergien) - Asthma - Epilepsie - Ohnmachtsanfälle/Kreislaufschwäche - Migräne/Kopfschmerzen -Verdauungsstörungen - Hormonstörungen (z. B. Scham- und Achselhaare schon bei kleinen Mädchen) - Unterleibsbeschwerden - bestimmte Pilzerkrankungen - psychosomatische Blutungen — Menstruationsstörungen/Ausfluß.

154


Diese Störungen können schon relativ bald nach Beginn der (meist anhaltenden) Mißhandlung, aber auch als Spätfolgen auftreten. Wie unsere Erfahrungen mit dem Systematischen Wiedererleben bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gezeigt haben, die als Kinder sexuell mißbraucht wurden, verschwinden alle diese Symptome durch die Auflösung der entsprechenden Protokolle, was eindeutig auf deren Zusammenhang mit dem Erlebnisgedächtnis hinweist.

 

Doch selbst wenn wir einmal von schweren Formen der Kindesmißhandlungen absehen, so bleiben noch genügend scheinbar harm- und folgenlose, fast oder wirklich alltägliche, oft unbeabsichtigte Beeinträchtigungen der kindlichen Seele (und der des Ungeborenen), die nach unseren Beobachtungen später zu psychosomatischen (und psychischen) Störungen führen, deren Ursache durch Wiedererleben aufgedeckt wurde. Nach der Bearbeitung der betreffenden Protokolle verschwanden die Symptome regelmäßig. (Zu den durch Systematisches Wiedererleben beseitigten Symptomen gehörten unter anderen: chronische Gastritis, chronische Muskelverspannungen, Atlasblockade, spontanes Ausrenken von Wirbeln, chronische Schmerzen verschiedener Art, Migräne und Spannungskopfschmerzen.) 

Das beweist, daß zumindest in vielen Fällen (und in allen von uns behandelten) auch psychosomatische Beschwerden auf Inhalte des Erlebnisgedächtnisses zurückgeführt werden können. Der zugrundeliegende Wirkungsmechanismus ist derselbe wie bei psychischen Störungen: Bei jedem durch situative Ähnlichkeit angestoßenen und meist gar nicht bewußt wahrgenommenen Wiedererleben einer traumatischen (oder auch weniger traumatischen, dafür aber häufig - gleichsam chronisch - aufgetretenen) Situation aus der Kindheit (zum Beispiel die ständige Mißachtung durch Vater oder Mutter, die häufige Demütigung oder Frustration durch ein älteres Geschwister, Mißerfolge, Verspottet- oder Ausgelachtwerden) nimmt der Organismus mehr oder weniger ausgeprägt seinen damaligen Zustand wieder an und erlebt seine psychischen und physischen Reaktionen darauf neuerlich. Dazu gehören auch die Tonuslage des vegetativen Systems und vermutlich auch der Zustand des Immunsystems des Körpers zur damaligen Zeit. 

155


Bedenkt man nun die körperlichen Störungen, die von einem allzu häufig aus dem Gleichgewicht gebrachten autonomen Nervensystem ausgelöst werden können, so findet man im Wiedererleben auf der Basis des Erlebnisgedächtnisses eine plausible und für viele Fälle hinreichende Erklärung psychosomatischer Störungen. Beachtet man dazu noch die Wirkungen eines durch Wiedererleben früherer Störungen neuerlich immer wieder gestörten Immunsystems, so kann man in diesen Fällen die Entstehung einer Vielzahl von chronischen Anfällen von Infektionskrankheiten wie Schnupfen, »Erkältungen«, Grippe, Nebenhöhlenentzündungen und etlichen anderen erklären.

Auch hat sich beim Systematischen Wiedererleben gezeigt, daß manche der vermeintlich psychosomatischen Störungen gar nicht auf psychischen Einflüssen, sondern auf früheren körperlichen Verletzungen beruhen.

Selbst in den wenigen Fällen, in denen der genaue Vermittlungsmechanismus zwischen Wiedererleben eines ganz bestimmten Traumas und einer speziellen körperlichen Störung nicht geklärt werden konnte (was den Betroffenen übrigens höchst gleichgültig war), bleiben doch der Kausalzusammenhang zwischen Trauma und körperlicher Störung und die Bedeutung des Erlebnisgedächtnisses dafür unbestreitbar, was letztlich dadurch erhärtet wurde, daß die Symptome verschwanden. Mit zunehmender Erfahrung und in Anbetracht der Erfolge des Begleiteten Wiedererlebens neige ich daher mehr und mehr dazu, bei jeglicher Erkrankung auch frühere traumatische und (im oben beschriebenen Sinne) chronisch-belastende Erfahrungen als mögliche Ursache mit zu bedenken.

 

Fallbeispiel 18: Chronische Magengeschwüre

Moritz litt seit seiner Kindheit anfallsweise unter auffälligen Magenschmerzen und war mit 16 Jahren erstmals wegen eines Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwürs in stationärer Behandlung. Während seiner Wehrdienstzeit im 21. Lebensjahr blühten die Magengeschwüre wieder auf. Im Lazarett wurde ihm eine teilweise Entfernung des Magens empfohlen, die jedoch auf Rat eines mit der Familie befreundeten Arztes unterblieb. Auch während seines Studiums traten in Streßsituationen die Magengeschwüre immer wieder auf, im Berufsleben dann oft zweimal jährlich, und zwar im späten Frühjahr und im Spätherbst, Zeiten hoher beruflicher Beanspruchung. Jahrelange ärztliche Behandlungen blieben erfolglos.

156


Mit 34 Jahren kommt Moritz zu mir. In der Therapie gelangen wir bald in die Zeit vor seiner Geburt. Moritz ist das uneheliche, ungewollte Kind einer noch in Berufsausbildung stehenden Mutter und eines ebenfalls noch studierenden Vaters, eines angehenden Theologen. Moritz hört als Ungeborener Gespräche seiner Eltern, die sich um die mit der Schwangerschaft verbundenen gesellschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten drehen und darum, daß seine Eltern ihn nicht wollen. Er spürt sehr genau, daß es dabei um ihn geht und daß die Situation für ihn bedrohlich ist. Und dabei fühlt er erstmals seinen Magen »wie einen Stein«. Seine Mutter, eine Leistungssportlerin, betreibt bis weit in die Schwangerschaft hinein intensiv Geräteturnen, vielleicht in der Hoffnung, das Kind dadurch zu verlieren. Moritz fühlt sich dabei oftmals heftig herumgeschleudert und reagiert auf diese ihm höchst unangenehme, »unnatürliche« Wahrnehmung, auf die er durch kein genetisches Programm vorbereitet ist und die er als lebensbedrohend empfinden muß, wiederum mit Magenschmerzen. Nach Auflösung der betreffenden Protokolle traten die Magengeschwüre nicht mehr auf.

 

Die Erklärung dieser psychosomatischen Störung ist folgende:

Der Magen-Darm-Trakt ist bei vielen Menschen ein Organ, das bei Angst (und Ärger) heftig reagiert. Diese Reaktion ist so weit verbreitet, daß sie als »natürlich« und genetisch programmiert angesehen werden kann, ohne daß ihr Grund hier genauer untersucht werden müßte. Wird diese Reaktion durch eine oft wiederholte oder lang anhaltende starke Bedrohung häufig und intensiv ausgelöst, so ist durchaus möglich, daß dadurch Magenschmerzen hervorgerufen werden. Keineswegs normal aber ist es, wenn ein Mensch auf Schul- oder Berufsstreß so heftig wie auf eine lebensbedrohende Situation reagiert und dadurch schließlich sogar Magengeschwüre entwickelt. Wenn er dagegen jedesmal in einer Streßsituation seine frühere Todesangst (unbewußt) wiedererlebt und mit ihr die heftigen Reaktionen des autonomen Nervensystems, dann ist durchaus einleuchtend, daß dies schließlich zu Magengeschwüren führen kann. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, daß Moritz nach Auflösung der Protokolle beschwerdefrei war, obwohl der Berufsstreß derselbe blieb.

157


Fallbeispiel 19: Eine atypische Trigeminusneuralgie

 

Margret, 38 Jahre, hat mein Buch über den langanhaltenden sexuellen Mißbrauch eines Kindes in einer einzigen Nacht durchgelesen, glaubt plötzlich zu wissen, daß sie ebenfalls mißbraucht wurde, und ruft mich am nächsten Morgen an. Über ihre Lebensgeschichte, die von frühen Traumatisierungen geprägt ist, muß ich schweigen.

Margret leidet seit vielen Jahren immer wieder unter Depressionen, hat starke Selbstbestrafungstendenzen und Anfälle von Todessehnsucht: »Ich hatte oft das Gefühl, ich sollte gar nicht leben.« (Während der Therapie erlebte Margret dann eine Szene aus ihrer Kindheit wieder, in der ihre Großmutter zu ihr sagte: »Du Satansbraten, du solltest eigentlich gar nicht leben!« - Siehe dazu die Erläuterungen auf Seite 134 f.)

Seit der Kindheit litt Margret unter Mittelohrentzündungen, Zahn- und Kieferkrankheiten in verschiedenen Variationen, jedoch alle auf der rechten Gesichtshälfte, darunter eine Furunkulose im rechten Ohr. Sie hat ein auffallend kräftiges, gesundes und schönes Gebiß, abgesehen vom Fehlen dreier Backenzähne im rechten Oberkiefer. Vor vierzehn Jahren wurde sie an einer Kie-ferfistel (wieder rechts!) operiert und leidet seither unter rechtsseitiger Trigeminusneuralgie (eine der schmerzhaftesten Störungen, die es gibt), die als atypisch diagnostiziert wurde. Im Laufe der Jahre wurde sie nacheinander in den Schmerzambulanzen von vier deutschen Universitätskliniken behandelt und schließlich nach zweijähriger Behandlung an einer weiteren Universitätsklinik aufgegeben. Sie müsse sich damit abfinden, mit diesen Schmerzen zu leben, wurde ihr gesagt. Durch hohe Dosen von Schmerzmitteln, Psychopharmaka und Antibiotoka über viele Jahre hinweg ist ihr Immunsystem schwer geschädigt; sie ist Inhaberin eines Schwerbeschädigtenausweises.

158


In der Therapie wiedererlebt sie bald einen Abtreibungsversuch mit einem spitzen Gegenstand, bei dem sie mehrfach im Bereich des rechten Oberkiefers, hinter dem rechten Ohr und am rechten Stirnbein durchbohrt wurde. Die Schmerzen dabei seien — so Margret - weit heftiger gewesen als ihre Trigeminusschmerzen.

Leider mußte die Therapie wegen eines Umzugs aus zwingenden familiären Gründen vorzeitig abgebrochen werden. Das Protokoll war damals noch nicht aufgelöst und die chronischen Schmerzen noch nicht verschwunden, aber erheblich geringer geworden. (Margrets Vermutung, in der Kindheit sexuell mißbraucht worden zu sein, hat sich übrigens während der Behandlung bestätigt; der Täter war - zu ihrer großen Überraschung -ihr Onkel.)

Dieses Beispiel zeigt, daß Depressionen und psychisches Leid auf einem pränatalen traumatischen Erlebnis basieren können und wie dessen Wirkung durch einen einzigen treffenden (wenngleich mißverstandenen) Satz verstärkt werden kann. Es zeigt ferner, daß eine vermeintlich psychosomatische Störung auf einer sehr frühen körperlichen Verletzung beruhen kann, die normalerweise natürlich unerkannt bleibt. Und schließlich zeigt das Beispiel ein weiteres Mal, daß ein früheres Trauma lange Zeit relativ unwirksam sein kann (abgesehen von den allerdings nicht unbeträchtlichen Erkrankungen in der rechten Gesichtshälfte), bis ein Erlebnis (die Operation der Kieferfistel), das mit dem Ursprungstrauma starke Ähnlichkeit hat, zu einer anhaltenden und äußerst schmerzhaften Erkrankung führt, die als fast ständiges neuerliches Wiedererleben des Ursprungstraumas gedeutet werden kann.

 

Fallbeispiel 20: Eine »Konversionsnettrose«

Die Geschichte von Katja (24 Jahre) ist ein komplexes Drama mit vielen Traumatisierungen, nicht zuletzt durch die schwer belastete Beziehung Katjas zu ihren Eltern. Doch diese ist jetzt nicht mein eigentliches Thema, wenngleich sie von besonderer Tragik ist und alles andere noch schlimmer gemacht hat.

Das Drama begann eigentlich mit der Geburt Katjas älterer Schwester, die für die Mutter so qualvoll verlief, daß sie sich von den Schrecken noch nicht recht erholt hatte, als sie neuerlich schwanger wurde. Die Schwangerschaft endete schon sehr früh mit einer Fehlgeburt, einem neuerlichen Trauma für die Mutter.

159


Auch dieses hatte sie noch nicht verwunden, als sie mit Katja schwanger wurde. Für Mutter und Kind begann eine leidvolle Zeit. Die Mutter befürchtete vermutlich eine weitere Fehlgeburt, war depressiv und litt unter anhaltenden starken Schwangerschaftsbeschwerden. Aus den Rückführungen wissen wir, daß Katja tatsächlich schon in den ersten Wochen um ihr Leben bangen mußte: »Ich krieg' wenig Luft, ich hab' nicht viel zum Leben ... es macht mir angst, daß es vielleicht nicht reicht ... ich kann aber nicht so viel Angst haben, sonst brauch' ich noch mehr Luft, deswegen muß ich die Angst zurückhalten, dann halt' ich's aus.« Das Ungeborene entwickelt sehr rasch ein uns inzwischen wohlvertrautes Verhaltensmuster, um diese Angst zu dämpfen und erträglich zu machen: Katja verspannt ihren Körper (»Ich mache mich fest, sonst halte ich es nicht aus ... Lieber mache ich mich fest, das ist nicht so anstrengend ... Wenn ich locker mache, dann hab' ich Angst.«).

Die Angst der Mutter vor der Geburt ist extrem; sie spricht darüber mit dem Vater, und das Kind hört die Gespräche mit, bei denen auch die Geburt der Schwester erwähnt wird. (»Karins Geburt - das hab' ich gehört - die war nicht gut ... bald ist meine Geburt ... das hab' ich gehört ... die Mama hat dann Angst - es wird dann enger hier. Ich weiß das nicht, was das ist, meine Geburt - ich will keine Geburt, ich hab' da Angst vor, ich weiß nicht warum, aber ich hab' die Angst überall. Nur die Karin, die ist lustig, die klopft auf mich und lacht und sagt, daß ich da bald raus muß. Die findet das wohl witzig.« Begleiterin: »Die freut sich auf dich!« - »Dann muß ich ja da raus? Hmm ... ach, das ist die Geburt!«)

Die Familie wohnt inzwischen im Ausland. Aus lauter Angst sucht die Mutter eine Klinik auf, in der die Frauen unter Narkose entbinden können. Während dieser Narkose spürt Katja eine starke Müdigkeit und Angst, »wie es weitergehen soll, weil die Mama nicht da ist. Die Mama ist einfach gar nicht da, aber ich kann das doch alleine nicht!«

Katja nimmt die Wehen als »Wellen« wahr, aber weder die narkotisierte Mutter noch die kleine Katja, die sich sehr müde und wie gelähmt fühlt, können »mit den Wellen mitgehen«. »Sie sagen, daß ich da raus soll, aber ich weiß nicht, wie das ohne die Mama gehen soll. Ich bin so müde, ich häng' hier nur so ... aber ich bin fest, ich bin irgendwie eingeklemmt. - Und jetzt hab' ich Luft am Kopf ... es drückt mich schon dahin - ich glaub', es muß mich jemand rausziehen oder rausschieben ... ich kann gar nichts machen ... ich glaub', wir können das erst machen, wenn die Mama wieder da ist.«

160


In der etwas dramatischen Endphase der Geburt (»mein Hals ist gestaucht und abgeknickt, mein Körper erdrückt mich«) zieht die Hebamme die kleine Katja am Kopf heraus, dreht dabei den Kopf unsanft nach rechts und renkt ihr einen Halswirbel aus.

In der Therapie waren viele Anläufe und damit auch viele Sitzungen nötig, um das gesamte Geburtsgeschehen aufzulösen. So dramatisch wie der Säugling es damals empfunden hat, geboren zu werden, so dramatisch verliefen auch die Rückführungen; Katja erlebte jedesmal eine fürchterliche Panik, wenn wir der Geburt nahekamen, und stieg deshalb immer wieder aus. Die Schreie der kleinen Katja hallten durch das ganze Haus: »Au, au! Sie reißen mir den Kopf ab! Mein Hals bricht ab! Sie brechen mir den Hals! Ich hab' Angst um meinen Kopf!«

In der ersten Zeit nach der Geburt hat Katja immer wieder das Gefühl, der Kopf sitze nicht richtig auf dem Körper und falle herunter.

Die Traumatisierung geht nach der Geburt weiter, jede Bewegung, jedes Füttern, Wickeln, Baden ... alles verursacht ihr Schmerzen. Dennoch ist Katja ein stiller und für die Schwestern angenehmer Säugling: Die Mutter bekommt wegen ihrer anhaltenden Depression Valium, das sich durch die Muttermilch auch auf das Kind auswirkt. Die Schwestern nennen den Säugling daher »Miss Valium«. Der Säugling aber empfindet die ständige »künstliche« Müdigkeit als äußerst unangenehm - Katja wird sie später jahrelang wiedererleben und darunter leiden.

Dann verheilte der Geburtsschaden, und Katja spürte 19 Jahre lang nichts mehr davon. (Latent aber ist ein solches Trauma immer vorhanden, wie sich auch in diesem Fall gezeigt hat.) Allerdings hatte sie eine ganze Reihe anderer Symptome entwickelt:

Seit dem 6. Lebensjahr ein stark juckendes Hautekzem an den Händen, später periodisch auftretende Depressionen, Lern- und Leistungsstörungen, Eßstörungen und schwere Beziehungs-störungen (dependente Persönlichkeitsstörung).

Inzwischen hatte sie das Abitur gemacht und verbrachte danach ein Jahr lang als Au-pair-Mädchen im Ausland (in der Stadt ihrer Geburt), wo sie sich mit einem jungen Mann anfreundete. An einem Abend kam es zu einer Eifersuchtsszene, während der Katja von ihrem Freund heftig auf die linke Backe geschlagen wurde.

161


Ihr Kopf wurde dabei mit großer Wucht nach rechts geschleudert. (Wie sich später in den Rückführungssitzungen herausstellte, wurde dabei der oberste Halswirbel [Atlas] blockiert, genauso wie es bei Katjas Geburt geschehen war. Solche Wirbelblockierungen leichterer Art heilen normalerweise von selbst — »das renkt sich wieder ein«. Hier aber löste die Ohrfeige das erstmalige Wiedererleben des Geburtstraumas aus, und damit begann ein katastrophales Leiden.) 

Neben dem psychischen Schock verspürte Katja bald eine extreme, krankhafte Müdigkeit und dadurch ein dauerndes Schlafbedürfnis. Der Schlaf brachte ihr jedoch keine Erholung. »Ich war tage-, ja wochenlang zu nichts fähig.« (Katja unterscheidet immer zwischen einer »guten, angenehmen Müdigkeit«, über die sie sich abends richtig freut, und der unangenehmen künstlichen »Valiummüdigkeit«, die belastend ist und die von einem schweren »Valiumschlaf« gefolgt wird, der keine Erholung bringt.) Nach zwei Wochen traten dazu noch rechtsseitige Kopfschmerzen auf. Ein halbes Jahr später hatte sich der Schmerz auf den Nacken und die Schultern ausgebreitet, nach und nach griffen sie auf die ganze rechte Körperhälfte über und erreichten nach etwa drei Jahren das rechte Bein.

Ein dreiviertel Jahr nach der Ohrfeige wurde von einem Chiro-therapeuten entdeckt, daß Katja eine »Atlasblockade« hatte, eine Verklemmung des obersten Halswirbels, die zahlreiche Funktionsstörungen auslösen kann, darunter auch die charakteristischen halbseitigen Körperschmerzen (siehe dazu z. B. WOLFF). Die Verklemmung wurde behoben. Da aber die Schmerzen schon am nächsten Tag wieder auftraten, glaubte Katja nicht, daß sie von der Blockierung herrührten. An die Möglichkeit einer neuerlichen Blockade in der folgenden Nacht hatte sie nicht gedacht;

eine Kontrolluntersuchung war verhängnisvollerweise nicht verabredet worden, und so blieb die Ursache weiterhin im dunkeln. Erst drei Jahre später wurde bei der Behandlung durch Systematisches Wiedererleben der ursächliche Zusammenhang zwischen ihren Beschwerden und der Blockierung des Atlaswirbels erkannt, die im Laufe der Zeit immer häufiger auftrat. Im Grunde handelte es sich hier um ein (Folge-)Symptom einer Posttraumatischen Belastungsstörung, das vermutlich durch nächtliche Alpträume ausgelöst wurde. Dafür spricht auch, daß während der Therapiezeit das Ausrenken bevorzugt an den dazugehörigen »Gedenktagen« erfolgte: am Donnerstag (dem Wochentag ihrer Geburt) und am Sonnabend (dem Wochentag der Ohrfeige).

162


Damit wird auch der gesamte Wirkungsmechanismus und der sich entwickelnde Teufelskreis klar: Das schwere Geburtstrauma ruhte latent bis zu der verhängnisvollen Ohrfeige, die zum situativen Anstoß des erstmaligen Wiedererlebens wurde. (Bezeichnend ist, daß Katja unmittelbar danach auch die für ihre postnatale Zeit typische Müdigkeit wiedererlebte.) 

Das erste Wiedererleben eines alten Traumas aber ist wie das Freilegen eines lange verschütteten und vergessenen Schachtes: Das Trauma wird wieder zugänglich und kann fortan leichter wiedererlebt werden, und jedes neuerliche Wiedererleben macht das nächste noch leichter. Schließlich wurden schon die einschlägigen Gedenktage zu Anstößen des Wiedererlebens in einem Alptraum, und jedes führte wieder zu einer Blockade des Atlaswirbels. 

Damit aber bin ich dem Geschehen schon weit vorausgeeilt. Nach der Au-pair-Zeit und einem Krankenhauspraktikum begann Katja eine Krankengymnastik-Ausbildung. Im Laufe des ersten Ausbildungsjahres wurden Katjas Symptome durch die Belastungen, von denen sie sich zunehmend überfordert fühlte, kontinuierlich schlimmer, schließlich stand die ganze rechte Körperhälfte Tag und Nacht unter Schmerzen, insbesondere die Kopfschmerzen waren schier unerträglich geworden. (Katja: »Es wäre himmlisch, wenn sie jetzt nur so schwach wären wie am Anfang der Schmerzzeit!«) 

Katja verliert ihren Lebensmut, sie fühlt sich nicht nur unfähig, zu lernen und ihre Ausbildung fortzusetzen, sondern überhaupt außerstande, ihr Leben zu bewältigen. Sie steht vor dem Zusammenbruch. Eine gründliche Untersuchung in einem Großklinikum (u.a. EKG, EGG, Kernspintomogramm) ergab keinerlei Befund. Katja mußte ihre Ausbildung unterbrechen und begab sich zunächst in stationäre Behandlung in eine psychosomatische Klinik. Die Aufnahmediagnose lautete: »Konversionsneurose mit rechtsseitigen Kopf- und Rückenschmerzen«. 

Während des zwölfwöchigen Klinikaufenthalts schien ihr das Leben erträglich; es gab keine Anforderungen, sie mußte nichts leisten, sie wurde versorgt ... Allerdings beneidete sie viele ihrer Mitpatienten, die von starken Ängsten geplagt wurden: »Lieber hätte ich Ängste als solche schlimmen Schmerzen Tag und Nacht!« (Damals wußte sie noch nicht, daß sie schon als Embryo ihre Ängste gegen körperliche Verspannungen eingetauscht hatte.)

163


Nach Durchführung eines »mehrdimensionalen psychosomatischen Behandlungsprogramms« wurde Katja mit dem Bescheid entlassen: »Bei der zugrundeliegenden tiefsitzenden Problematik, die bei uns nur in Ansätzen bearbeitet werden konnte, erscheint uns auf Dauer eine längerfristige psychoanalytische Behandlung erforderlich.«

Sobald sie wieder im Leben stand, war Katja so hilflos wie zuvor. Es blieb ihr noch ein halbes Jahr bis zur Wiederaufnahme der Krankengymnastik-Ausbildung, das sie zu fast täglichen Sitzungen mit Systematischem Wiedererleben nutzte. Ihren Zustand zu Beginn der Therapie beschrieb Katja damals so: »Ich finde mein Dasein so unerträglich! Ich weiß nicht, wie ich morgen und übermorgen überstehen soll! Ich würde am liebsten mein Bein wegwerfen und die rechte Körperhälfte abschlagen! Ich fühle mich lebensunfähig.«

In diesem ersten Therapieabschnitt wurde ein großer Teil der Traumatisierungen, die Katja erfahren hatte, aufgedeckt und behoben, wobei sie sich tendenziell von ihrem 20. Lebensjahr an rückwärts bewegte, so daß wir an das gesamte Geburtsgeschehen, das schwerste Trauma ihres Lebens, erst im zweiten Abschnitt herankamen. Von Beginn der Therapie an besserte sich ihr Zustand allmählich: die Eßstörungen, die Beziehungsstörungen, die Lernstörungen und die Depressionen verschwanden. Nach diesem halben Jahr konnte Katja trotz der zunächst weiter bestehenden Müdigkeit und Schmerzen, trotz immer wieder auftretender Ekzeme an den Händen und wiederholter Atlasblockierungen ihre Ausbildung fortsetzen.

Der zweite Abschnitt der Therapie fand während der Ausbildung statt, einmal monatlich an einem Wochenende mit durchschnittlich vier Sitzungen. Jetzt endlich konnte damit begonnen werden, ihr Geburtstrauma zu bearbeiten. Dabei ließen nicht nur ihre Schmerzen nach, auch die nächtlichen Blockierungen wurden seltener. Schließlich war Katja in der Lage, alle Anforderungen des Alltags zu meistern und ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Sie hat begonnen, in ihrem Beruf zu arbeiten; die Schmerzen lassen mehr und mehr nach. »Meine Schmerzen sind so herabgesetzt, daß ich damit leben kann. Ich verstehe sie jetzt und weiß, daß noch einige Zeit vergehen muß, bis die strukturellen Veränderungen, die durch jahrelange Verkrampfungen entstanden sind, sich zurückgebildet haben.«

Katja steht nun im dritten Therapieabschnitt. Hier werden in wöchentlich einer Sitzung zum einen die restlichen schwächeren Traumatisierungen bearbeitet, die Katja im familiären Alltag erfahren hat, insbesondere die »schleichende« Traumatisierung durch die als beständige Einengung empfundene Erziehung, zum anderen die schwere vorgeburtliche Zeit, die erst jetzt massiv bei ihr »hochkommt«.

*

Katja hat nun schon einzelne ganz schmerzfreie Tage. Ihr letzter Stimmungsbericht lautet: »Zur Zeit hab' ich wirklich und endlich Spaß am Leben. Ich bin nicht nur lebensfähig geworden, sondern genieße das Leben in vollen Zügen!«

164-165

 

 

Ende

  ^^^^