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Teil 1

 

 Drei Frauen

 

 

  1. 

9-21

Der »Rhein-Pavillon« bei Königswinter ist ein idyllisch gelegenes Ausflugslokal. Alte Bäume säumen das Ufer, so daß man die gleich daneben ablegenden Fähren, die die Ausflügler hinüber zur Bonner Seite bringen, nur durch dichtes Laub erspähen kann. Im Sommer herrscht täglich Trubel; der schattige Biergarten ist beliebt bei Radfahrern und Spaziergängern. Nur im Herbst und im Winter wirkt er düster und verloren, wenn blasses Licht aus den Fenstern des flachgedeckten Wirtshäuschens fällt und der Wind das Laub über die leeren grüngestrichenen Eisenstühle und -tische fegt.

Für den 7. Juli 1977 meldet der Wetterbericht hohe Temperaturen und zunehmende Schwüle am Nachmittag. Die junge Frau von Anfang Dreißig, die langsam den Rheinuferweg in Richtung des Biergartens entlanggeht, fühlt sich schlecht. Ihr ist nicht zumute nach Reden oder Kaffeetrinken. Sie kommt gerade vom Zahnarzt und ist von den vielen Spritzen noch völlig benommen. Wegen der Korrektur ihres Gebisses ist sie seit längerem in Behandlung, und sie glaubt, ihr Gesicht sei verquollen und durch Zahnlücken entstellt. Aber sie muß das jetzt hinter sich bringen, weil es in Kanada, wohin sie in Kürze endgültig auswandern will, solche Kranken­versicherungen wie in Deutschland nicht gibt.

Auch sonst geht es ihr nicht gut. Sie ist zernagt von Selbstzweifeln, nicht selten depressiv und war deshalb wiederholt in psychiatrischer Behandlung. Dabei hat sie immer Erfolg bei Männern gehabt, denn sie ist hübsch und grazil, sehr mädchenhaft, was ihre hohe Stimme, unter der sie schon immer gelitten hat, noch unterstreicht.

Seit zwei Jahren arbeitet sie als Übersetzerin bei der amerikanischen Botschaft, aber nur mit halbem Herzen, als Übergangsbeschäftigung.

So elend sie sich an diesem Tag fühlt, will sie doch ihre Verabredung nicht platzen lassen und nähert sich dem Biergarten. Ihr Bekannter ist noch nicht da. Ein merkwürdiger Mensch, dieser Becker. Vor einigen Wochen hatte er sie angesprochen, als sie vor dem Schaufenster eines Juwelierladens in Köln stand. Sie betrachtete die Auslagen. Da sagte plötzlich eine Männerstimme hinter ihr, Schmuck allein helfe auch nicht, den Menschen, den man liebt, zu behalten. Sie drehte sich um. »Da stand«, so sagt sie später vor Gericht, »Herr Becker und wirkte sehr traurig. Er erzählte, daß er gerade in Mexiko gewesen sei und seiner Freundin für 1000 Mark Schmuck mitgebracht habe, aber sie hätte ihn trotzdem verlassen.« 

Sie kommen ins Gespräch, und seither treffen sie sich ab und zu. Aber es ist kein Vergnügen. Becker trinkt viel zuviel und zittert ständig, wenn er mit ihr spricht. Er ist einige Jahre jünger als sie, schüchtern und verklemmt, und wenn er sie zum Essen einlädt, rührt er kaum etwas von den Speisen an. Einmal hat er einen Weinkrampf bekommen und gestammelt, er wolle heiraten und Kinder haben. Sie hat Mitleid mit ihm. Sie hat oft Mitleid. Mit Tieren, mit Menschen. Denkt immer, sie müsse etwas geben, sich für irgend etwas entschuldigen, vor allem jenen Männern gegenüber, von denen sie geliebt sein will. Das hat schon zu mancher Katastrophe in ihrem Leben geführt.

In Berthold Becker ist sie nicht verliebt. Er ist ein unglückseliges menschliches Wrack, dem gegenüber sie sich eher wie eine Krankenschwester fühlt und verhält. Einmal wollte sie ihm sogar zu einer Frau verhelfen und brachte ihn mit einer Kollegin zusammen. Aber das Ganze endete mit einer bösen Abfuhr für ihn. Sie betritt den Biergarten und findet einen freien Tisch. Sie ist erschöpft und verschwitzt.

Da sieht sie plötzlich einen Mann auf sich zukommen. Er spricht sie an, stellt sich als Kollege von Becker vor, der sich leider entschuldigen lasse, denn es gehe ihm sehr schlecht.

Die junge Frau hört ihm kaum zu, denn der Mann, der vor ihr steht, ist der Mann ihrer Träume. Er verkörpert einfach alles, was sie sich je gewünscht hatte. »Er sah hinreißend aus, war sehr intelligent und hatte eine starke sexuelle Ausstrahlung«, so schildert sie ihn später. »Ich wäre am liebsten in den Boden versunken. Ich sah doch so schrecklich aus an diesem Tag und fühlte mich so elend.«

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Gabriele K. 
1996 
vor dem Rhein-Pavillon 

 

 

 

Er scheint das alles nicht zu bemerken, ist liebenswürdig und charmant und lädt sie zum Essen ein. So hat sie sich ihren Traummann immer vorgestellt: blonde Haare, blaue Augen, groß und breitschultrig; als Vergleich fällt ihr nur noch Robert Redford ein. Und dieser Mann will mit ihr ausgehen!

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Da bekommt sie Angst. Ein so gutaussehender Mann kann nur Unglück bringen, denn er wird sicher von sehr vielen Frauen begehrt. Sie sagt, sie könne wegen ihrer Zahnprobleme nichts essen, und hofft, das wäre Ausrede genug. Aber er läßt das nicht gelten und schlägt ein chinesisches Restaurant vor, Reis sei weich, den könne sie sicher essen. Sie ist bezaubert von seiner Fürsorglichkeit und geht mit.

Mit dieser Begegnung beginnt Gabriele K.s tiefste und leidenschaftlichste Liebe und zugleich die größte Tragödie ihres Lebens. An diesem Nachmittag ist sie in eine wohlvorbereitete Falle gelaufen. Denn Becker heißt gar nicht Becker und ist auch nicht Mathematiker, wie er behauptet hat. Seinen wahren Namen kennt sie bis heute nicht. »Becker« ist DDR-Agent, wenngleich ein unfähiger, und ein hochgradig neurotischer Alkoholiker. Die Zentrale wird ihn nach diesem Einsatz endgültig abziehen. 

Bei diesem seinem letzten Auftrag hat er die Aufgabe, die Bekanntschaft mit der jungen Frau zu suchen, um die Stafette dann zu übergeben: an den Mann, der sich Gabriele K. soeben als »Frank Dietzel«, Physiker und Mitarbeiter eines westdeutschen Friedens­forschungs­instituts, vorgestellt hat. In Wahrheit ist auch er ein ganz anderer: Rudolf Hack* ist promovierter Chemiker aus Rostock und steht im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Gabriele K. ist lediglich das raffiniert ausgespähte Objekt für ein Liebeskommando, das ihm von seinem Auftraggeber, der »Hauptverwaltung Aufklärung« (HVA), erteilt worden war.

 

2.

 

Die Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf ist eines jener öffentlichen Gebäude, dessen Entstehungszeit man sofort an seiner charakterlosen Fassade und tristen Atmosphäre erkennen kann. Die Bauarbeiten begannen 1965, drei Jahre später wurde das Gefängnis in Betrieb genommen. Hier sitzen mehr als 1000 Gefangene ein, darunter auch Untersuchungshäftlinge, die auf ihren Prozeß vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf warten. Verwaltet und überwacht werden die Insassen von 550 Mitarbeitern.

* Name geändert

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In den langen Gängen der Haftanstalt, deren Wände durch eine endlose Reihe verriegelter Zellentüren unterbrochen werden, riecht es wie seit Jahren nach Suppe und Bohnerwachs. Wenn sich die Gefangenen in den Zellen rufend von Fenster zu Fenster verständigen, hallen ihre Stimmen hier drinnen wider. Die offenen Flure zwischen den Zellenstockwerken sind mit Netzen abgehängt, damit sich mögliche Selbstmörder darin verfangen und nicht auf dem Zementboden des Erdgeschosses aufschlagen.

In einer der Zellen sitzt seit vier Monaten eine junge Frau. Sie ist 31 Jahre alt und wird völlig isoliert von den anderen Gefangenen in strenger Einzelhaft gehalten. Kein Aufschluß, kein Hofgang mit anderen Gefangenen, kein Friseur, noch nicht einmal zum Gefängnisgottesdienst darf sie gehen. Genau seit Mitternacht des 4. Mai 1977 sitzt sie hier ein. Am Morgen dieses Tages hatte man sie in ihrem Büro im Bonner Bundeskanzleramt verhaftet. Als sie mit den beiden Beamten, die sie festnahmen, das Büro verließ, standen an den Wänden des sonst so stillen, teppichbodenbelegten Flures bewaffnete Bundesgrenz­schutzbeamte mit Schäferhunden Spalier. Auch auf dem Gelände befanden sich überall Uniformierte. Sie ging, von den beiden Männern eskortiert, am Kanzlerbüro vorbei die Treppe hinab nach draußen. Sie stiegen in ein Auto, das sie zum BKA fuhr. Und dort begann man sofort mit dem Verhör.

Dreizehn Stunden nach ihrer Festnahme wurde die junge Frau in das Gefängnis Köln-Ossendorf eingeliefert. Sie hatte nicht geweint und war auch nicht aggressiv. Eine Ausnahme bei Neuzugängen. Sie hatte nur stumm ausgeführt, was man ihr befahl.

Seither wird sie jeden Morgen um acht Uhr von zwei Beamten in einem gepanzerten Wagen abgeholt, zum BKA-Quartier nach Bad Godesberg gefahren und dort stundenlang verhört. Ein ganzes Jahr lang wird das so gehen. Im Vernehmungsraum stapeln sich Dutzende von Aktenordnern. Seite um Seite blättern die Beamten vor ihr auf, sie wird befragt, unterbrochen und wieder befragt. Mittags bekommt sie ein warmes Essen, danach geht es weiter. Gegen Abend bringen die Beamten sie wieder zurück ins Gefängnis.

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Natürlich ist die schöne Frau mit dem schulterlangen mittelblonden Haar und der sanften Stimme Tages­gespräch, nicht nur beim BKA. Und noch viele Jahre später wird nicht nur der Gerichtswachtmeister Sch., der während ihres Verfahrens Dienst tat, sondern auch ein damals leitender Beamter des Verfassungs­schutzes einen zärtlichen Glanz in den Augen haben, wenn sie über den »Fall« dieser jungen Frau erzählen.

Aber es gibt auch andere Reaktionen, geprägt von aggressiver, feindseliger Verachtung gegen sie als Frau. Ein Wärter, der sie einmal in die Zelle eines Gefangenenwagens einweist, sagt: »Hier, Frau S., Zelle sechs. Das paßt doch zu Ihnen, nicht wahr?«

Seit Karin S. in Haft ist, besucht ihre Mutter sie einmal im Monat für eine Stunde. Sie reist dafür extra aus Hamburg an. Sie dürfen nur unter der Bedingung miteinander sprechen, daß sie nicht ein einziges Wort über den Grund der Verhaftung wechseln. Ein Beamter, der während des Gesprächs im Besucherraum des Gefängnisses neben den beiden Frauen sitzt, unterbricht sofort jeden möglichen Anlauf dazu. So kann die Tochter nichts von den Dingen erklären, die die Mutter nur in dürrem Amtsdeutsch vom BKA erfahren hat und die sie fast verzweifeln lassen. Als sie in ihrer Not ihre Schwester anrief, um Beistand zu finden und Trost, hatte die nur geantwortet: »Im Krieg hätte man Frauen wie deine Tochter an die Wand gestellt!«

Karin S. ist wegen ihrer Liebe ins Gefängnis gekommen, das sagt sie den Beamten immer wieder. Die grinsen nur, stoßen sich an, wenn einer von ihnen zum hundertsten Mal sagt: »Schau, man muß nur den Namen Herbert fallenlassen, da kriegt sie sofort Herzchen in die Augen!« Ja, wegen Herbert ist sie hier. Aber sie hat keinerlei Gefühle von Zorn oder Haß gegen ihn, nur diese unendliche Sehnsucht und die bange Angst davor, daß sie ihn durch ihre Aussagen vor den BKA-Beamten nicht am Ende doch verraten hat. Das wäre das Allerschlimmste, was sie sich und ihm antun könnte.

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Und noch etwas erfüllt sie mit Schrecken. Sie soll im Verfahren gegen eine Frau aussagen, die jahrelang aus Liebe für den gleichen Mann spionierte wie sie selbst. Daß sie ihr einmal begegnen würde, hätte sie nicht gedacht. Bisher kennt sie nicht einmal ein Foto von ihr. Herbert hatte ihr schon früh von seiner ersten Frau Gerda erzählt, mit der er noch verheiratet war, als sie beide sich kennenlernten.

Was er ihr aber verheimlichte: Gerda stellte sich im Mai 1973 und legte ein umfassendes Geständnis ab. Kurz davor hatte sie Herbert noch angerufen, um ihn zu warnen, indem sie ein Codewort aussprach, das bedeutete: »Bringe dich in Sicherheit!« So setzte sich Herbert in letzter Sekunde in die DDR ab, bevor die westdeutschen Behörden ihn fassen konnten. Es lagen also nur drei Monate zwischen dem Zeitpunkt seiner Flucht nach Ostberlin und seiner ersten Begegnung mit Karin S. an einem Strand des Schwarzen Meeres in Bulgarien.

Vier Jahre später wird Gerda der Prozeß wegen geheimdienstlicher Tätigkeit gemacht. Und das Gericht will Karin S. zwingen, in diesem Verfahren auszusagen. Die BKA-Beamten drohen, sie werde zwangsvorgeführt, wenn sie nicht freiwillig dazu bereit sei.

Sicherlich hofft man, daß sie ihre Vorgängerin belasten wird, zum Beispiel aussagt, was Herbert ihr an intimen Einzelheiten über jene Szenen einer an ihrem Ende äußerst unglücklichen Ehe erzählt hatte. Wahrscheinlich erwartet das Gericht Details über Umfang und Art des Materials, das Gerda über Jahre hinweg aus dem Auswärtigen Amt geschmuggelt hatte. Tatsächlich hatte Herbert ihr seine erste Frau oft als Beispiel erfolgreicher Spionage hingestellt, voller Hochachtung von der phantastischen Quantität und Qualität der Geheimdokumente gesprochen, die sie ihm als Kurier übergab. Besonders hob er die unglaubliche Kaltblütigkeit hervor, mit der sie über all die Jahre zu Werke gegangen war. Wenn er davon sprach, so nicht unbedingt im Tonfall des Vorwurfs, aber es war klar: Karin sollte mehr Leistung bringen und vor allem nicht wegen jedes Blattes, das sie heimbrachte, beinahe vor Angst sterben.

In Kürze muß sie Gerda O. im Gerichtssaal gegenüberstehen. Sie will diese Frau keinesfalls in irgendeiner Hinsicht belasten. Davor fürchtet sie sich am meisten bei ihrem Auftritt als Zeugin.

 

*

15


3.

 

 

Dem gut erhaltenen wilhelminischen Gebäude des Düsseldorfer Oberlandesgerichts mit seinem herrschaftlichen Treppenhaus und den herrlichen alten Holztüren sieht man nicht an, daß es einen unterirdischen Fremdkörper aus Beton enthält: den berühmten A 01, einen abhörsicheren Gerichtssaal, der speziell für das Verfahren gegen den Spion im Kanzleramt Günter Guillaume im Jahr 1975 gebaut worden war. Über diese wohl spektakulärste Spionageaffäre der westdeutschen Nachkriegsgeschichte war der damalige Kanzler Willy Brandt gestürzt.

Auf den Treppen, die zu diesem Gerichtssaal hinunterführen, auf dem in sattem Grün gestrichenen Gang davor und in dem kleinen, von Zigaretten verräucherten Raum, der Tischchen mit Schreibmaschinen und Telefonen für die Leute von der Presse enthält, drängten sich damals Journalisten aus aller Welt.

Am 23. September 1977 hat der Gerichtswachtmeister nicht viele Umstände mit den Zeitungsleuten. Es sind nur wenige Journalisten gekommen, obwohl auch an diesem Freitagmorgen das Urteil in einem Spionagefall von großer politischer Brisanz ansteht. Aber vielleicht absorbieren die Ereignisse, die man später unter dem Begriff »deutscher Herbst« zusammenfassen wird, die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit, bündelt die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch ein Kommando der RAF am 5. September so viel an gesellschaftlicher Explosivkraft, daß einfach kein Interesse mehr übrigbleibt für das Verfahren Aktenzeichen V-4/77 (8) gegen die 33jährige Gerda O.

Gerda O. betritt den Gerichtssaal sehr ruhig und gefaßt. Sie ahnt, was auf sie zukommt, und hat alles genau mit ihrem Mann abgesprochen, mit dem sie in Spanien wohnt. Und sie weiß es wohl zu schätzen, daß sie die vier Jahre, die zwischen ihrem freiwilligen Geständnis und dem Beginn des Verfahrens lagen, auf freiem Fuß leben durfte. Aber natürlich fürchtet sie sich vor dem Urteil, vor dem Gefängnis.

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Wie auch immer das Urteil lautet, sie will die Haft sofort antreten, auch wenn man ihr die Wahl für den Termin ihres Haftantritts überlassen sollte. Sie weiß, daß sie gleich einem sehr wohlwollenden Richter gegenüberstehen wird. Der Gerichtsvorsitzende W. ist zwar bekannt für sein strenges Urteil, gilt aber auch als gerecht. Viele Pluspunkte hat sie dadurch gesammelt, daß sie sich damals freiwillig stellte. Zwei Dinge allerdings kreidet man ihr übel an: Zum einen, daß sie Herbert gewarnt hat, bevor sie sich stellte, und dessen Flucht in die DDR die westdeutsche Spionageabwehr um eine längst überfällige Erfolgsmeldung brachte. 

Der Verfassungsschutz macht seit Jahren keine gute Figur gegenüber dem DDR-Geheimdienst, den man einen der besten der Welt nennt. Zum anderen hat sie durch ihre Warnung indirekt einen Nachfolgefall zu verantworten. Das macht sie unglaublich wütend, der Anblick der verzweifelten Frau, die neulich als ihre »Nachfolgerin« in den Zeugenstand gerufen wurde, geht ihr immer noch nach. Der Antrag der Staatsanwaltschaft lautet auf fünf Jahre Freiheitsentzug.

Der Gerichtssaal ist nur spärlich besetzt. Man erhebt sich. Richter, Staatsanwalt und Beisitzer betreten den Raum. Endlich, nach den üblichen Präliminarien, verliest der Vorsitzende das Urteil: drei Jahre Gefängnis wegen geheimdienstlicher Tätigkeit. Es hätte viel schlimmer kommen können, aber es ist schlimm genug. Drei Jahre, genausoviel, wie ihr Kind an Jahren zählt. Würde sie es zwischendurch einmal sehen können? Zwar kann sie damit rechnen, daß sie nach zwei Jahren freikommt. Aber wird der Sohn sie dann überhaupt wiedererkennen?

Die Worte von Richter W, die beinahe einer Tröstung gleichkommen, zeigen, daß er die Reue der ehemaligen Spionin zu schätzen weiß. In seinem Schlußwort sagt er: Für die Angeklagte Gerda O. spreche, daß sie, nachdem sie sich einmal zur Offenbarung entschlossen habe, diesen Weg unbeirrt und konsequent weitergegangen sei. Das milde Urteil trage dem Rechnung: »Diese Angeklagte hat ihren Frieden mit der Bundesrepublik Deutschland gemacht.«

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Der damalige Innenminister Werner Maihofer hatte kurz zuvor östliche Agenten und Agentinnen wiederholt aufgefordert, sich zu stellen. Für ein solches Verhalten stellte der Minister den Betroffenen Strafmilderung in Aussicht. Die relativ geringe Strafe für Gerda O. soll beweisen, daß dieses Versprechen ernst gemeint sei, und ist insofern auch »politisch« gemeint. Doch sowohl Appell wie Urteil werden niemals Wirkung zeigen. Gerda O. wird die einzige Spionin aus Liebe bleiben, die sich jemals freiwillig gestellt hat.

Am Ende der Sitzung fragt Gerda O. den Vertreter des Generalbundesanwalts, ob sie die Strafe in der kommenden Woche antreten könne. Sie will es hinter sich bringen.

Gerda O. ist inzwischen mit dem Mann verheiratet, dem sie sich im Mai 1973 in Warschau anvertraut hatte. Damals war sie am Ende ihrer Kraft, psychisch völlig zerrüttet von der ewigen Angst, enttarnt zu werden, zermürbt von der unglückseligen Beziehung zu Herbert Schröter. Jener Mann hatte ihr gut zugeredet, ihr geholfen, sich zu stellen, und er hatte die Wege dafür geebnet, die Bedingungen mit den westdeutschen Behörden ausgehandelt. Er ist Journalist und kennt sich in der Materie aus.

Nach den wochenlangen Verhören durfte sie zu ihm nach Spanien ziehen und sich endlich erfüllen, was ihr Herbert und die Zentrale in Ostberlin immer strikt untersagt hatten: Sie bekam ein Kind. Kaum jemand verstand das. Sie hatte Furchtbares hinter sich, das Gefängnis noch vor sich und doch nichts Besseres zu tun, als ein Kind in die Welt zu setzen. Aber gerade das hält sie jetzt am Leben, es ist der Beweis, daß es weitergeht. Sie hat dem Dreijährigen ganz offen erklärt, wohin die Mama geht und warum. Daß sie ins Gefängnis muß, weil sie etwas falsch gemacht hat. Sie würde ihm Briefe schreiben, ihm Bilder malen.

In zwei Jahren, nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe, wird sie wieder frei sein, wenn alles wie geplant verläuft. Sie hat sich fest vorgenommen, die Zeit bis dahin nicht einfach verstreichen zu lassen. Sie will ein Fernstudium beginnen, das Abitur nachholen.

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Gerda 
mit ihrem Sohn 
in Spanien 1977, 
kurz bevor sie ihre Haft antritt

 

Eines quält sie nach wie vor, obwohl sie es schon seit vier Monaten weiß: daß Herbert, ihr ehemaliger Instrukteur und Ehemann, nur zwölf Wochen, nachdem er sich mit ihrer Hilfe in Sicherheit bringen konnte, bereits sein nächstes Opfer an der Angel hatte. Natürlich hatte Gerda geglaubt, er wäre nach ihrer Offenbarung vor den westdeutschen Behörden »verbrannt«, wie es im Geheimdienstjargon heißt. Sie hatte seinen Namen genannt, Fotos von ihm gezeigt und rückhaltlos ausgesagt, was sie über ihn wußte. Immerhin waren sie neun Jahre zusammengewesen und fünf davon miteinander verheiratet. Sie war sich absolut sicher gewesen, daß die Ostberliner Zentrale das Sicherheitsrisiko nun für viel zu hoch einschätzte, um Herbert noch einmal zu einem neuen Einsatz zu schicken. Und nur drei Monate später...

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Im Gefängnis, 1978

 

Menschlich hält Gerda schon lange nichts mehr von ihm. Nur mit Grauen erinnert sie sich an die letzten Jahre ihrer Ehe. Aber ihn verraten, ihn ins Gefängnis bringen, das hatte sie dann doch nicht gewollt. Jetzt beginnt sie es zu bereuen. Vor allem seit sie jene Frau vor Gericht gesehen hat, die — einem Zusammenbruch nahe — nur unter Tränen sprechen konnte. Die scheint ihn immer noch zu lieben, obwohl sie nicht zuletzt seinetwegen im Gefängnis sitzt und obwohl er sie offenbar oft damit gequält hatte, um wieviel kaltblütiger, gerissener und erfolgreicher ihre Vorgängerin gewesen sei. Auf die bohrenden Fragen des Staatsanwalts hin hatte Karin S. darüber gesprochen und wahrscheinlich gar nicht gemerkt, daß sie Gerda damit vielleicht belastete. Dennoch: Ihr tut diese Frau sehr leid. Das sagt sie auch dem Beamten, der die völlig erschöpfte Karin nach ihrer Zeugenaussage abführt. Sie kennt die raffinierten Methoden Herberts, und sie hat gesehen, wie wenig selbstsicher und wie zerstört diese Frau ist. Er verfügt über eine unglaubliche Bauernschläue und hat ein einzigartiges Gespür, wenn es gilt, eine Frau zur Spionage zu verführen.

 

Gerda O.
1996 in Spanien, 
wo sie noch immer lebt

Sie selber ist mit Herbert und der ganzen Sache fertig, so glaubt sie. Noch weiß sie nicht, daß sie diesem Teil ihres Lebens vielleicht für immer verfallen ist. Manche werden ihr noch zwanzig Jahre später nachsagen, sie reise mit ihrer Lebensgeschichte geradezu von Auftritt zu Auftritt, lasse sich für Geld in den Medien herumreichen. Vielleicht ist es eine Art Sucht, das Beichtbekenntnis auf der Bühne öffentlicher Selbstdarstellung zu wiederholen. Vielleicht ist es die nie heilende Wunde, die immer wieder aufbricht und die Gerda beinahe masochistisch immer wieder einem Publikum präsentieren will.

Nichts ist offenbar wirklich zum Abschluß gekommen, als Gerda O. zwei Jahre später tatsächlich vorzeitig entlassen wird und nach Spanien zu Mann und Kind heimkehrt.

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