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1. Die Verantwortung der Menschheit 
für ihre zukünftige Geschichte

 

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Nach der Zukunft zu fragen, die Zukunft zu erkunden, war bis vor kurzem der Wissenschaft verwehrt. Nur den Propheten und den Dichtern war es gestattet, die unheimliche Schranke zu durchbrechen, die unsere Gegenwart von der Zukunft trennt. Erforschen zu wollen, was in Gottes Hand liegt, galt als ein Frevel. Gewiß sah sich das neuzeitliche Denken mit einer wachsenden Unruhe dazu getrieben, Vorgriffe in die Zukunft zu wagen. 

Die Überzeugung, daß der Mensch seine Geschichte nur zu begreifen und zu meistern vermag, wenn er sie als beständigen Fortschritt versteht, bricht sich seit dem 18. Jahrhundert in immer neuen Anläufen ihre Bahn. Dieser Glaube an den Fortschritt der menschlichen Geschichte ist die verborgene Triebkraft für die Expansion der Naturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Er verwandelt sich bei Marx in eine Theorie der Revolution, die große Staaten von Grund auf umgepflügt und neue Herrschaftssysteme begründet hat; er beherrscht in seiner kapitalistisch-liberalen, von der Faszination durch die Technik bestimmten Gestalt die Vereinigten Staaten. 

Durch ihn sind Rußland und Amerika zu Weltmächten geworden, während die sogenannte »alte Welt« ihre Furcht vor dem Ausgriff in die Zukunft mit dem Verlust der geistigen und politischen Vorherrschaft und ihre reaktionären Tendenzen mit furchtbaren Katastrophen bezahlen mußte. 

Aber die positiven Wissenschaften standen zur Zukunft immer in einem zwiespältigen Verhältnis. Auf der einen Seite haben sie sich vom Fortschrittsglauben in seinen naivsten und unreflektiertesten Formen tragen lassen; auf der anderen Seite wurde die Zukunft nie zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht. Jeder Entwurf einer möglichen Zukunft wurde als »Utopie« betrachtet, und Utopien galten als unwissenschaftlich. Das hat seinen Grund in der Konstitution der positiven Wissenschaften selbst. Die Wissenschaft der Neuzeit versteht sich als objektive Wissenschaft. Um objektiv sein zu können, bedarf die Wissenschaft der Objekte

Nun ist die Zukunft aber dadurch definiert, daß sie alles umfaßt, was noch nicht ist, worüber wir noch nicht verfügen können, und was deshalb auch nicht als Objekt bestimmt werden kann. Deshalb ist eine »objektive Wissen­schaft« im bisherigen Sinne dieses Wortes von der Zukunft prinzipiell nicht möglich. Erkenntnis der Zukunft und »Objektivität« schließen sich wechselseitig aus. Von dieser Regel sind nur solche Aussagen nicht betroffen, die sich mit zwingender Notwendigkeit aus allgemeinen Gesetzen ableiten lassen; hier wird nicht das erkannt, was in Zukunft gilt, sondern das, was zu allen Zeiten gilt und deshalb freilich auch in der Zukunft gelten muß. Wissenschaft ist etwas anderes als Prophetie, und Prophetie darf nicht als Wissenschaft auftreten wollen. Es ist ein Gebot der Vernunft sowohl wie des Stilgefühls, die Wissenschaft von der Prophetie säuberlich zu trennen.

Trotzdem sieht sich die Wissenschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts genötigt, in schroffem Widerspruch zu ihrer gesamten Tradition und zu den Voraussetzungen, auf denen sie bisher beruhte, von den verschieden­artigsten Ansätzen her die Zukunft als einen neuen Bereich ihrer Forschung zu erschließen. Ja es ist sogar unter dem von Ossip K. Flechtheim eingeführten Titel der »Futurologie« eine neue Wissenschaft im Entstehen, die alles zu umspannen versucht, was wir heute schon von der Zukunft glauben wissen zu können. 

  Flechtheim auf detopia  


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Die Feststellung, daß man allen Zukunftsprognosen, auch wenn sie wissenschaftlich begründet sind, mit großer Skepsis begegnen muß, ist trivial. Interessanter ist die Frage, woher es sich erklären mag, daß heute nicht nur Träumer und Phantasten, sondern führende Repräsentanten der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen sich in großer Zahl genötigt sehen, gegen die bisherigen Regeln der Wissenschaft zu verstoßen und nach Methoden zu suchen, die es erlauben, den Spielraum der Möglichkeiten zukünftiger Weltgestaltung zu umreißen. 

Man entwickelt wissenschaftliche Methoden der Prognose; man entwirft neue Planungstheorien; sogar der Ausgriff in die Utopie ist nicht mehr verboten, wenngleich daran festgehalten werden muß, daß sich Wissenschaft nur die methodisch reflektierte, also die selbstkritische oder, wie man auch sagen könnte: die aufgeklärte Utopie erlauben sollte. 

Die besonders bei Naturwissenschaftlern weit verbreitete Verbindung von spezialwissenschaftlicher Methode mit naiven und unwissenschaftlichen Formen utopischen Denkens ist eine gefährliche Kinderkrankheit, die es zu überwinden gilt. Was für ein Zwang ist am Werk, der kritische, in den Reflexionsformen moderner Wissenschaft geschulte Köpfe in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, in England, in Skandinavien und auch bei uns in Deutschland plötzlich veranlaßt, die Tabus zu durchbrechen, die bisher die Integrität der objektiven Erkenntnis gegen das Eindringen von Schwarmgeisterei und ideologischer Verblendung schützen sollten?

Wie kommt es, daß sie gegen jene Grundregel der positiven Wissenschaften verstoßen, die alle Aussagen verbietet, die sich nicht an gegebenen Sachverhalten verifizieren lassen? Was kann einen Wissenschaftler dazu bewegen, sich auf ein Gelände vorzuwagen, von dem er weiß, daß es mit den Methoden der bisherigen Wissenschaft nicht zu erforschen ist?

Der Zwang, die Schranke zur Zukunft zu durchbrechen und damit eine Revolution zu vollziehen, die tiefer greift und größere Folgen haben kann als die Eroberung des Weltraums, ergibt sich aus einer geschichtlichen Lage, die sich schon seit dem 17. Jahrhundert vorbereitet hat, aber erst durch die Konstruktion der Atomwaffen der Öffentlichkeit und der Wissenschaft selbst ins Bewußtsein getreten ist. Die Menschen verfügen heute durch Wissenschaft und Technik über die Macht, das Leben auf dem Erdball zu vernichten. 


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Sie haben also im negativen Sinn die Verfügungsgewalt über ihre eigene Geschichte errungen. Allein schon dadurch, daß es möglich ist, der Geschichte der Menschheit ein Ende zu setzen, hat sich eine qualitative Veränderung der gesamten menschlichen Geschichte vollzogen. Jean Paul Sartre beschreibt diese Veränderung mit folgenden Worten: 

»Für die gesamte Menschheit gilt: wenn sie fortfährt zu leben, wird es nicht einfach deshalb geschehen, weil sie geboren ist, sondern weil sie den Entschluß gefaßt hat, ihr Leben zu verlängern. Es gibt nicht mehr die menschliche Gattung. Die Gemeinschaft, die sich zur Hüterin der Atombombe gemacht hat, steht oberhalb des Reiches der Natur, denn sie trägt die Verantwortung für ihr Leben und ihren Tod; es wird in Zukunft nötig sein, daß sie jeden Tag und jede Minute zum Leben ihre Zustimmung gibt. Das ist es, was wir heute erfahren, in der Angst.«
(<Les temps modernes>, Nr. 1)

Aus diesem Grund sind wir genötigt, den Versuch zu machen, ob es selbstkritischem und kontrolliertem Denken möglich ist, den Vorgriff in die Zukunft zu wagen. Wir sind uns jählings dessen bewußt geworden, daß wir an der Verantwortung für die zukünftige Geschichte der Menschheit beteiligt sind. Wir wissen, wenn wir vor uns selber redlich sind, daß jeder von uns durch sein alltägliches Verhalten dazu beiträgt, wie die Geschichte in Zukunft verlaufen wird: ob sie auf einer neuen Stufe der Erkenntnis und des moralischen Bewußtseins die Erhaltung des Menschengeschlechtes weiterhin möglich macht oder ob sie in eine große Katastrophe führt. 

Eine solche Situation hat es in der bisherigen Geschichte noch nicht gegeben. Sie ist radikal neu und hat in den letzten zwei Jahrzehnten, ohne daß wir recht wußten, wie uns geschah, das Leben jedes Einzelnen spürbar verändert. 

Verantwortliches Denken und Handeln setzt die Bereitschaft voraus, für die Folgen dessen, was man gedacht und getan hat, einzustehen. Wer nicht in der Lage ist, sich über die möglichen Folgen des eigenen Handelns Rechenschaft abzulegen, der ist eben deshalb nicht verantwortungsfähig. 


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Das ist der Grund, weshalb sich auch und gerade kritische Wissenschaftler heute gezwungen sehen, die möglichen Folgen ihrer eigenen Wissenschaft zum Gegenstand methodischer Untersuchung zu machen. Sie wissen, daß es ohne Wissenschaft nicht möglich ist, die wachsende Erdbevölkerung zu ernähren und jene Katastrophen zu verhindern, die eintreten müssen, wenn man den Gang der Dinge sich selbst überläßt. Zugleich aber wissen sie auch, daß eine blindlings betriebene Wissenschaft, die ihre möglichen Folgen nicht bedenkt, auf vielfache Weise die Existenz der Menschheit bedrohen, ja zerstören könnte. Die Menschheit hat heute die Mittel zu einer nahezu totalen Verfügungsgewalt über ihre zukünftige Geschichte in der Hand; sie kann diese Macht nicht wieder loswerden, sondern ist gezwungen, sie noch weiter zu steigern. Aber es fehlt ihr das Wissen, das nötig wäre, um diese Macht recht zu gebrauchen. Wir fahren mit rasender Geschwindigkeit ohne Licht, und dieser Zustand ist weder zu verantworten noch zu ertragen.

Die Intensität, mit der die Wissenschaft selbst nach der Zukunft zu fragen beginnt, ist also durch das Bewußtsein des qualitativen Sprunges hervorgerufen, den die Geschichte der Menschheit heute vollzieht. Wir werden in den folgenden Vorlesungen versuchen müssen, uns diesen qualitativen Sprung unter verschiedenen Perspektiven in seinem eigentümlichen Wesen verständlich zu machen. Aber zunächst gilt es genauer zu begreifen, wie überhaupt ein solcher qualitativer Sprung entstehen kann, und warum er uns nötigt, unser Denken auf die Zukunft zu richten. Wie kommen wir dazu zu behaupten, daß sich die menschliche Geschichte mit einem Schlage qualitativ, das heißt bis in die innersten Strukturen hinein, verwandelt? Auf welchem Weg bricht diese Veränderung sich ihre Bahn?

Man hat den Prozeß, der die gesamte Richtung und die Gangart der menschlichen Geschichte heute verändert, mit einem Namen bezeichnet, der, wie mir scheint, den Kern der Sache trifft: man nennt ihn die wissenschaftliche Revolution. Um zu erläutern, was damit gemeint ist, genügt es fürs erste, einige sehr einfache und fast trivial erscheinende Sachverhalte in Erinnerung zu rufen, von deren Wahrheit sich jeder aus eigener Erfahrung überzeugen kann:


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1. Die Wissenschaft ist heute mit der Technik zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. Das hat zur Folge, daß alles, was gedacht wird, auch gemacht wird. Die abstrakten Experimente des Gedankens werden durch das Instrument der Technik und den Apparat der Industrie binnen weniger Jahre zu gesellschaftlichen Realitäten, die dem alltäglichen Leben von Millionen von Menschen ihr Gepräge geben. Daraus ergibt sich das erste Merkmal des qualitativen Sprunges, nämlich die Rapidität der Veränderungen in der Geschichte.

2. Es gibt keine Sphäre des menschlichen Daseins, die von diesem Wandel nicht ergriffen würde. Es verändern sich nicht nur die Formen der ökonomischen Produktion, die Strukturen der Gesellschaft und die politischen Systeme. Auf dem Wege über die Medizin, die Pharmazeutik und die Biologie durchdringen die Auswirkungen der Wissenschaft die intimsten Bereiche unseres Lebens. Sogar die biologische Konstitution des Menschen wird durch die Einwirkungen der Wissenschaft schon heute auf mannigfaltige Weise verändert. Noch nie hat menschliches Denken und Handeln so tief in die Gestaltung des menschlichen Daseins eingegriffen. Daraus ergibt sich das zweite Merkmal, nämlich die Penetranz der Veränderungen.

3. Die modernen Mittel der Information und Kommunikation machen es möglich, daß politische Entscheidungen, deren Folgen sich früher nur in Jahren und Jahrzehnten gezeigt hätten, binnen weniger Minuten in allen Ländern der Erde bekannt sind und eine entsprechende politische Reaktion auslösen können. Das führt im Bereich der Politik zu einer sprunghaften Expansion der Möglichkeiten menschlicher Macht. Die Schranken, die durch Raum und Zeit der menschlichen Machtausübung in den bisherigen Phasen der Geschichte gezogen waren, sind durch die Interkontinental-Raketen und die modernen Kommunikationsmittel außer Kraft gesetzt. Die Macht ist gleichsam allgegenwärtig geworden. Daraus ergibt sich das dritte Merkmal: die Schrankenlosigkeit der Möglichkeiten von Machtausübung.


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4. Zum Wesen der Macht gehört die Unberechenbarkeit. Niemand kann wissen, welche Errungenschaften der Wissenschaft in wenigen Jahren unser aller Leben plötzlich verändern werden. Niemand kann wissen, ob nicht ein Zwischenfall, ein Umsturz oder auch eine bloße Kopflosigkeit an irgendeinem Fleck der Erde das höchst labile Gleichgewicht des Zustandes, den wir »Frieden« nennen, plötzlich erschüttert und eine unabsehbare Kette von politischen und militärischen Aktionen auslöst. Der Stand der Technik erzwingt, daß in Krisenzeiten die Entscheidung über die Geschicke der Welt in den Händen eines eng begrenzten Kreises von wenigen Individuen liegt. Ein einziger psychischer Kurzschluß kann wegen der Geschwindigkeit und der Totalität der Übertragung von Entscheidungen auf Mechanismen das ganze Gebäude unserer vermeintlichen Sicherheit zum Einsturz bringen. Daraus ergibt sich das vierte Merkmal, nämlich die Labilität der technischen Welt

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Ich werde später zeigen, daß diese Labilität kein vorübergehender Zustand ist, sondern aus strukturellen Gründen permanent die Verfassung der künstlichen Welt, in der wir leben, bestimmt. Diese Situation stellt uns vor neue geistige und moralische Anforderungen, deren sich die ganze Menschheit bewußt werden muß.

Die Rapidität der permanenten Veränderung hatte zur Folge, daß die heute lebenden Menschen in einem Zeitraum von zwanzig Jahren Wandlungen der Lebensverhältnisse und des gesellschaftlichen Bewußtseins durchlaufen haben, die früher mehrere Generationen in Anspruch genommen hätten. Jeder von uns hat am eigenen Leib erfahren, daß eine fortwährende Umstellung der Gewohnheiten, der Denkweisen und der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich ist, wenn man sich in diesem unaufhörlichen Wechsel behaupten will. Daraus ergibt sich eine tiefgreifende Konsequenz. In allen früheren Epochen der Geschichte fanden die Menschen ihren Halt in der überkommenen Sitte und orientierten sich an der Erfahrung. Erfahrung und Sitte waren die Basis des menschlichen Daseins. Aber heute vermögen weder Erfahrung noch Sitte das Leben zu tragen. 


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Die Verhältnisse ändern sich so schnell und so radikal, daß alles, was früher Sitte war, zu der gesellschaftlichen Situation, in der wir heute leben, in Widerspruch gerät, und daß in zwanzig Jahren das, was wir heute für selbstverständlich halten, sinnlos geworden sein kann. Nicht anders steht es um die Erfahrung. Alle Erfahrung wird fortwährend durch neue Entwicklungen überholt und außer Kraft gesetzt. Wenn man sich von den Erfahrungen bestimmen läßt, die man unter den bisherigen Verhältnissen gemacht hat, so urteilt und handelt man falsch; denn die Welt hat sich inzwischen verändert.

Tag für Tag berichten die Zeitungen von Fehlurteilen und von Fehlentscheidungen, die sich daraus erklären, daß die Gesellschaft und ihre politische Führung in ihren Erfahrungen gleichsam steckenbleiben, während die permanente Revolution der technischen Welt ohne Rücksicht auf die Mentalität der Menschen ihren Gang nimmt. Die Erfahrung gibt der Weltorientierung keinen Halt mehr; wer sich auf sie verläßt, geht in die Irre. Wenn aber Sitte und Erfahrung nicht mehr helfen, woher sollen wir dann überhaupt noch wissen, wie wir zu handeln und uns zu verhalten haben?

Hier setzt die Frage nach der Zukunft ein. Wenn sich die Gegenwart so schnell von der Vergangenheit entfernt, daß wir aus der Vergangenheit das, was wir für die Gegenwart brauchen, nicht mehr lernen können, dann läßt sich nur aus einem Vorblick auf die zukünftigen Möglichkeiten erschließen, welchen Weg wir hier und heute einzuschlagen haben. Die Orientierungshilfen, die uns die Erfahrung versagt, müssen dann aus Prognosen und aus Planungen gewonnen werden. Jeder ist dann genötigt, sich ein Bild davon zu machen, mit welchen Entwicklungsmöglichkeiten er zu rechnen hat; denn wenn er seine zukünftigen Möglichkeiten falsch beurteilt, wird er in der Gegenwart Fehler machen, die vielleicht nicht mehr zu korrigieren sind. Die Frage nach der Zukunft ist deshalb heute nicht mehr ein müßiges Spiel utopischer Schwärmer und verstiegener Idealisten; sie ist, wenngleich in wechselndem Maße, für jeden zur Lebensnotwendigkeit geworden. 


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Es ist auch nicht möglich, die Sorge um die Zukunft auf die Wissenschaftler und die Politiker abzuschieben; unsere Zukunft ist eine viel zu ernste Sache, als daß wir sie den bloßen Experten und den sogenannten Praktikern überlassen dürften. Wenn es wahr ist, daß die Menschheit heute die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte trägt, so ist damit zugleich gesagt, daß sie diese Verantwortung nicht an eine kleine Zahl von Professionellen delegieren kann; denn die zukünftige Geschichte der Menschheit wird das Resultat der politischen, gesellschaftlichen und geistigen Bewegungen sein, die sich in der Gesamtheit aller Völker und Rassen vollziehen. 

Nur die Menschheit als Ganzes kann als das Subjekt unserer zukünftigen Geschichte begriffen werden und sich selbst begreifen. Es gilt also, einen Bewußtseinswandel in Gang zu setzen, der alle mündigen Bürger der neuen Welt befähigt, an der Willensbildung zu partizipieren, aus der unsere zukünftige Geschichte hervorgehen wird. Da jeder mithandelt, ob er will oder nicht, so ist auch ein jeder zum Mitdenken verpflichtet. Niemand kann sich der Nötigung entziehen, an der Entzifferung des Rätsels mitzuwirken, das uns gemeinsam aufgegeben ist.

Ein jeder ist zum Mitdenken verpflichtet: 

das ist die einzige Legitimation, durch die ich rechtfertigen kann, daß ich es wage, über unsere großen Zukunfts­aufgaben zu sprechen. Ich verfüge so wenig wie irgend jemand sonst über den universalen wissenschaftlichen Sachverstand, der für die Behandlung dieses Themas erforderlich wäre. Aber ich glaube auch verstanden zu haben, daß sich die Wissenschaft heute die bequeme Beschränkung auf Spezialgebiete, für die man zuständig ist, nicht leisten kann. Ich spreche hier weder als Prophet noch als jener Universalwissenschaftler, den es nicht gibt, sondern als Bürger unseres Staates und unserer Gesellschaft und bin mir bewußt, daß ich mich dabei in genau der gleichen Rolle befinde wie meine Hörer, mögen sie nun Wissenschaftler sein oder nicht. Ich lege Wert darauf, dies ausdrücklich festzustellen, damit nicht der Eindruck entsteht, als wollte ich mit dem, was ich sage, einen falschen Anspruch verbinden.


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Kein einzelner besitzt den Sachverstand für ein Problem, das gleichwohl gelöst werden muß: das Problem unserer gemeinsamen Zukunft. Man hat versucht, diese Schwierigkeit dadurch zu umgehen, daß man die Spezialisten nach ihren Spezialgebieten befragt und die so gewonnenen Informationen zusammen­addiert hat. Eine ganze Reihe von höchst verdienstvollen Büchern ist in den letzten Jahren auf diese Weise entstanden. Sie liefern unentbehrliches Material; aber sie bringen uns der Lösung des Problems nicht näher. Es lohnt sich darüber nachzudenken, warum man mit diesem Verfahren nicht weiterkommt; denn wenn wir uns auf die Methoden einer möglichen Erkenntnis der Zukunft besinnen, lernen wir, unter welchen Voraussetzungen die Gesellschaft der technischen Welt ihrer Verantwortung für die zukünftige Geschichte gerecht werden kann.

Befragt man die Spezialwissenschaftler, mit welchen Entwicklungen in ihren Wissenschaften zu rechnen ist, so erhält man Antworten, die auf dem Weg der Extrapolation aus den zur Zeit erkennbaren Trends abgeleitet werden. Sie setzen dabei, als ob das selbstverständlich wäre, voraus, daß der Frieden erhalten bleibt, daß Staat und Gesellschaft bereit sein werden, die Forschung, mit der die Prognose rechnet, zu finanzieren, und daß eine genügende Zahl von qualifizierten Wissenschaftlern zur Verfügung steht. Stellt man nun, wie es in zahlreichen Büchern geschieht, eine Reihe solcher Prognosen nebeneinander und versucht man, den Aufwand zu kalkulieren, der für die Durchführung dieser Projekte erforderlich wäre, so ergeben sich Summen von astronomischer Höhe. Das zusammengefaßte wirtschaftliche und personelle Potential der großen Industrienationen würde nicht ausreichen, um die Forschungen zu realisieren, auf denen die Mehrzahl der heute diskutierten Zukunftsprognosen beruht. Die Wissenschaften, die bei den futurologischen Prognosen im Vordergrund stehen, sind nicht zuständig für die Frage, unter welchen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen moderne Forschung möglich ist.


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Deshalb wird dieses Problem meistens unterschlagen, obwohl wir erst hier in den Bereich der Realitäten vorstoßen, von denen die Gestaltung der Zukunft abhängen wird. Es ist kein Zweifel, daß nur ein kleiner Bruchteil der Projekte, die wissenschaftlich möglich und wünschenswert wären, durchgeführt werden kann. Es kommt also auf die Auswahl an. Die wirkliche Zukunft ist nicht der Inbegriff alles dessen, was möglich wäre, sondern sie ergibt sich durch die Realisierung jenes kleinen Sektors aus dem Bereich des Möglichen, für den man sich aus mehr oder weniger vernünftigen Gründen entscheidet. 

Wegen der Höhe der erforderlichen Investitionen kann die Auswahl der zu finanzierenden Projekte nur von jenen Instanzen getroffen werden, die legitimiert sind, über die Verteilung der öffentlichen Haushaltsmittel zu befinden. Die Festsetzung der Prioritäten, durch die über unsere Zukunft verfügt wird, ist also keine wissenschaftliche, sondern eine politische Entscheidung. In den Vereinigten Staaten und in Rußland wurden die Prioritätsentscheidungen in den letzten Jahren primär unter militärischen Gesichtspunkten getroffen.

Aus diesen Feststellungen geht hervor, weshalb es prinzipiell unmöglich ist, von den zukünftigen Realitäten ein Bild zu gewinnen, solange man nur die an der Gestaltung der Zukunft beteiligten Wissenschaften befragt. Die moderne Wissenschaft ist zu einem beträchtlichen Teil in eine funktionale Abhängigkeit von Wissenschaftsplanung und -finanzierung geraten, und die Wissenschaftsplanung und -finanzierung wird durch ökonomische, politische und gesellschaftliche Faktoren bestimmt, die im Rücken des wissenschaftlichen Bewußtseins liegen.

Diese so einfache Überlegung erlaubt uns nun, einen methodisch sehr wichtigen Schritt in der Umgrenzung der Möglichkeiten von Zukunftsprognosen zu vollziehen. Wir stellten fest: soweit die Gestaltung der Zukunft durch die Entwicklung der Wissenschaften bestimmt wird, hängt sie von den Prioritäts­entscheidungen der politischen Instanzen ab, die über die Verteilung der verfügbaren finanziellen und personellen Ressourcen zu befinden haben. 

Niemand kann positiv voraussagen, welche Forschungsprojekte die Regierungen der verschiedenen Staaten mit Priorität unterstützen werden. Aber wir wissen negativ, daß nur ein Bruchteil dessen, was wissenschaftlich möglich wäre, realisiert werden kann, und daß die Summe dessen, was geleistet wird, von der Größe des finanziellen und personellen Potentials abhängig ist. Will man den wissenschaftlichen Fortschritt steigern, so muß man den Prozeß der Forschung rationalisieren und sowohl die Summe der bereitzustellenden Mittel wie die Zahl der verfügbaren Wissenschaftler erhöhen. 

Man muß also planen. Jeder Plan ist ein Vorgriff auf die Zukunft; aber das planende Denken hat eine andere Struktur als die objektive Erkenntnis der Wissenschaft. Jede Planung wird nämlich von der Absicht bestimmt, die Sachverhalte, auf die sie sich richtet, selbst hervorzubringen. In diesem Sinn gehört Planung weder in den Bereich der reinen Theorie noch in den Bereich der reinen Praxis; sie bewegt sich auch nicht in irgendeinem undurchsichtigen Zwischengelände, in dem sich Theorie und Praxis unkontrollierbar überschneiden. Planung gehört vielmehr in den noch viel zu wenig erforschten Bereich des dritten großen Grundvermögens der menschlichen Vernunft: sie ist ein Akt der Produktion. Soweit die menschliche Vernunft auf dem Weg der Planung an der Gestaltung unserer Zukunft beteiligt ist, wird die Zukunft durch menschliches Denken und Handeln produziert. 

Der Satz, daß die Menschheit durch die wissenschaftliche Revolution in die Zwangslage versetzt worden ist, die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte bewußt zu übernehmen, bedeutet nichts Geringeres, als daß die Menschheit den Versuch machen muß, ihre eigene Zukunft zu produzieren. Ich werde später Gelegenheit haben, diesen Satz sehr tiefgreifend zu modifizieren — jetzt aber sollten wir ihn in der Gestalt festhalten, wie er dasteht. #

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Georg Picht Mut zur Utopie Die großen Zukunftsaufgaben Zwölf Vorträge 1969