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2.  Die künstliche Welt

 

 

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Wir sind auf dem ersten Abschnitt unseres Weges zur Formulierung von zwei Thesen gelangt, die auseinander hervorgehen. Die erste These hieß: Die Menschheit wird durch den Prozeß der wissenschaftlichen Revolution in die Zwangslage versetzt, in einem qualitativen Sprung ihres Bewußtseins die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte zu übernehmen. Daraus ergab sich der zweite Satz, von dem ich freilich angekündigt habe, daß er sich später tiefgreifend modifizieren wird. Er besagt, daß die Menschheit auf der gegenwärtigen Stufe ihrer Geschichte zu dem Versuch gezwungen wird, ihre eigene Zukunft zu produzieren. Eine mit den Methoden der Wissenschaft produzierte Welt ist eine »künstliche Welt«. 

So werden wir auf unsere nächste Frage geführt: 
Was ist die Struktur der künstlichen Welt der zukünftigen Geschichte der Menschheit?

Wer Freude daran hat, sich die Zukunft nach Art der science fiction als eine von Robotern beherrschte technische Phantasmagorie vorzustellen, kommt bei der Lektüre der prognostischen Literatur auf seine Kosten. Der Mensch besitzt heute eine nahezu unbeschränkte Macht, aus den Elementen des großen Baukastens der Natur zusammenzubauen, was er will; und er bedient sich dieser Macht mit der Besinnungslosigkeit eines spielenden Kindes. Die modernen Zukunftsromane werden nicht mehr gedichtet, sie werden unmittelbar praktiziert; und das Spiel mit den technischen Möglichkeiten wirkt auf das kollektive Unbewußte der Gesellschaft der wissenschaftlich-technischen Welt wie eine Droge. 

Vielleicht wird man in späteren Zeiten die Wahnzustände, aus denen sich viele der gegenwärtigen Formen des Umganges mit den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Wissenschaft und der Technik erklären, mit jenen religiösen Epidemien vergleichen, die Europa am Ende des Mittelalters schüttelten. Man kann bisweilen den Eindruck haben, als hätte die Expansion der Wissenschaft eine neue Form von Geisteskrankheit erzeugt, die man »dementia rationalis« nennen könnte. Ein nicht geringer Teil der politischen und geistigen Führungsschichten unserer Welt ist von dieser Form des Wahnsinns ergriffen.

Von all dem soll hier nicht die Rede sein. Wir bezeichnen mit dem Namen der künstlichen Welt nicht die artifiziellen Paradiese einer vom Traum ihrer Allmacht berauschten wissenschaftlich-technischen Phantasie, sondern orientieren uns an der sehr nüchternen Tatsache, daß der Bestand der gegenwärtigen und der zukünftigen Menschheit nur in einer künstlichen Welt gesichert werden kann. Das Kernproblem der heutigen Zeit ist nicht die Frage, was möglich, sondern was notwendig ist. 

Die Tragik unserer Zeit ist das Faktum, daß wegen des bedenkenlosen Spiels mit Möglichkeiten fortwährend das Notwendige versäumt wird. Das Maß der Vernunftlosigkeit in der Grundorganisation der neuen Welt wächst proportional zu der Rationalität der partikulären Systeme. Die Bürger der wissenschaftlich-technischen Welt sind offenbar schwerer zur Vernunft zu bringen als die Repräsentanten archaischer Kulturstufen. In beiden Fällen sind die Menschen von Magie und Fetischglauben behext; aber der Bann der technischen Magie ist schwerer zu brechen, weil der technische Mensch unter dem Schein der Rationalität die Fähigkeit verliert, seine eigene Macht von den Gewalten, mit denen er spielt, zu unterscheiden.

Was sind aber die Kriterien der Vernunft? 

Wir gehen von einigen sehr einfachen Voraussetzungen aus: Die Vernunft gebietet, daß wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten darum bemühen müssen, den Bestand des Menschengeschlechtes zu sichern. Die Vernunft gebietet also die Erhaltung des Friedens. Die Vernunft verlangt, daß wir uns anstrengen müssen, die Weltbevölkerung zu ernähren und ihr ein Minimum an Lebensstandard und sozialer Sicherheit zu garantieren.

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Die Vernunft gebietet zu verhindern, daß durch bedenkenlose Eingriffe die biologischen Voraussetzungen für die Erhaltung des menschlichen Lebens auf diesem Erdball zerstört werden. Die Vernunft fordert schließlich, daß die gesellschaftlichen und moralischen Bedingungen ihrer eigenen Existenz, also Freiheit und Menschenwürde, in einer verwilderten Welt immer neu hergestellt und erhalten werden. Mit allen diesen Forderungen stellt sich die Vernunft in schroffen Gegensatz zur Weltentwicklung der letzten Jahrzehnte; sie muß dieser Entwicklung Widerstand leisten. Die These, die jetzt begründet werden soll, besagt darüber hinaus, daß die durch diese Prämissen definierte Vernunft den Aufbau einer künstlichen Welt gebietet.

Die Begriffe »künstliche Welt«, »Zivilisation« und »Technik« sind in Deutschland seit vielen Generationen ideologisch diffamiert worden. Man spielt die Natur, das vermeintlich Ursprüngliche und Echte oder — wie man auch gern sagt — das »Organische« gegen die »sekundären Systeme« aus. Dabei begegnen sich die von den romantischen Impulsen des jungen Marx gespeisten ideologischen Tendenzen in ihrem Affekt gegen die technische Welt auf höchst paradoxe Weise mit reaktionären Strömungen der verschiedensten Herkunft und mit bestimmten Traditionen der Jugendbewegung. 

Der trüben, aber explosiven Mischung, die sich aus diesen Quellen in immer neuen Verbindungen zusammenbraut, ist die nüchterne Erkenntnis der Griechen entgegenzuhalten, daß der Mensch ein Lebewesen ist, das von der Natur so unvollkommen ausgestattet wurde, daß er seit jeher künstlicher Maßnahmen bedurfte, um sich selbst und seine Gattung zu erhalten. Es ist die Natur des Menschen, daß er nur auf künstliche Weise existieren kann. Erst durch die Erzeugung einer künstlichen zweiten Natur versetzt sich der Mensch in die Lage, der Entdeckung seiner wahren Natur als einer unendlichen Aufgabe nachzustreben. 


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Die Künste, die der Mensch erfunden hat, um die Mängel seiner Konstitution zu kompensieren, werden von den Griechen »technai« genannt — dem verdanken wir den Begriff der Technik. Ein großer Teil der griechischen Philosophie ist der Untersuchung des Wesens der Technik gewidmet. Schon im 5. Jahr­hundert vor Christus hat man entdeckt, daß die Technik ihrer Konstitution nach ambivalent ist, weil sie den Menschen, dem sie dient, zugleich der äußersten Gefährdung aussetzt. Wäre die griechische Philosophie besser bekannt, so stünden wir den Problemen der technischen Welt weniger ratlos gegenüber. 

Die Einsicht in die Unentbehrlichkeit und die Einsicht in die Gefährlichkeit der Technik gehören zusammen. Aus der Verbindung dieser beiden Einsichten entspringt die geschichtliche Vernunft in ihrem Gegensatz zur bloßen Rationalität. Heute, so heißt die These, fordert die Vernunft eine gewaltige Expansion der technischen Möglichkeiten des Menschen für ihren notwendigen Gebrauch; nur durch die Bindung an die Gebote der Notwendigkeit kann der Gefahr begegnet werden, daß der Mensch diese selben Möglichkeiten zum Werkzeug seiner Selbstvernichtung macht.

Wir fragen also, welche Maßnahmen erforderlich sind, um das menschliche Dasein auf unserem Erdball zu erhalten. Aus den Antworten, die wir auf diese Frage finden, ergibt sich dann im Umriß die Struktur der künstlichen Welt, in der die zukünftige Menschheit leben wird, falls sie sich nicht vorher durch ihren eigenen Wahnsinn zugrunde richtet. Dabei kommt es zunächst nur darauf an, die ersten Grenzlinien des neuen Kontinentes zu zeichnen. Wir werden später Gelegenheit haben, einige der zunächst nur angedeuteten Probleme etwas genauer zu untersuchen.

Die Basis des menschlichen Lebens ist die Ernährung. Schon jetzt sind zwei Drittel der Menschheit unterernährt. Nach einer Schätzung, die ich nicht nachprüfen konnte, fordert der Hunger in zwanzig Monaten ebenso viele Tote wie der Zweite Weltkrieg, nämlich 55 Millionen. Wenn alle Möglichkeiten zur Geburtenkontrolle, die uns zur Verfügung stehen, auf sinnvolle Weise angewendet werden, kann es vielleicht in einigen Jahrzehnten gelingen, die Bevölkerungs­explosion auf diese Weise einzudämmen.


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Das setzt aber gigantische Investitionen in die Bildungssysteme der Entwicklungsländer und eine politische Revolution des gesamten gegenwärtigen Staaten­systems voraus. Fürs erste müssen wir feststellen, daß die Versuche, das Anwachsen der Erdbevölkerung auf dem Weg über Geburtenkontrolle zu regulieren — so unentbehrlich sie sind —, um 30 Jahre zu spät begonnen wurden. Die Explosion hat sich bereits vollzogen; die dadurch ausgelöste Entwicklung nimmt ihren Lauf. Für die nächste Zukunft steht deshalb, trotz der Unentbehrlichkeit einer zielbewußten Geburtenkontrolle, das Ernährungs­problem im Vordergrund.

Zu seiner Lösung ist zunächst erforderlich, die nutzbaren Böden in allen Teilen der Erde auf eine Weise zu bebauen, die dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft entspricht. Die Landwirtschaft müßte eine wissenschaftlich gesteuerte Produktionsform erhalten; das setzt Methoden der Rationalisierung und der Verwaltung voraus, wie sie bisher nur in der Industrie entwickelt worden sind. Darüber hinaus müßten die riesigen Ödgebiete durch Bewässerung der Wüsten, Züchtung kälteunempfindlicher Getreidesorten und ähnliche Maßnahmen fruchtbar gemacht werden. 

Man kann auch die Ozeane für die menschliche Nahrung besser nutzen, indem man durch schwimmende Fischfabriken die unerschlossenen Schätze der südlichen Meere ausbeutet und in der Fischerei von der Jagd zur Züchtung übergeht. In wachsendem Umfang wird man zur künstlichen Erzeugung von Nahrungsmitteln, durch Proteingewinnung aus Erdöl oder durch Algen- und Hefekulturen, seine Zuflucht nehmen. Aber diese Methoden fallen in absehbarer Zeit quantitativ kaum ins Gewicht. Nur durch gigantische Investitionen und globale Planung kann jene Revolution der Weltökonomie vollzogen und jene Umgestaltung großer Teile der Erdoberfläche in die Wege geleitet werden, die zur Ernährung der Menschheit unerläßlich sind.


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Das Problem der Welternährung wird durch die Krise des Weltwasserhaushaltes erschwert, denn der größte Teil des indirekten Wasserverbrauches dient der Nahrungsmittelerzeugung. Der größte Teil des direkten Wasserverbrauches dient der Industrie; aber ein hoher Prozentsatz der Industrieprodukte dient ebenfalls Ernährungszwecken. Man schätzt, daß der gesamte Wasserbedarf der Welt in den nächsten 20 Jahren auf das Doppelte steigen wird, während das natürliche Wasseraufkommen unverändert bleibt. Die wachsende Differenz zwischen Verbrauch und natürlichem Wasseraufkommen wurde in vielen Teilen der Erde durch Übergriffe auf die Grundwasserreserven ausgeglichen. Das hat schon jetzt in manchen Distrikten der Vereinigten Staaten, aber auch in vielen anderen Ländern eine alarmierende Austrocknung zur Folge. Zentraleuropa ist von der Versteppung bedroht; der Süden von Texas verwandelt sich in eine Wüste. 

Das Problem verschärft sich dadurch, daß das Süßwasser auf der Erde ungleichmäßig verteilt ist. Über ein Drittel des gesamten Süßwasservorkommens befindet sich in Kanada. Vermutlich wird die Wasserverteilung bei der Bildung der Schwerpunkte der Industrialisierung eine immer größere Rolle spielen, denn das Wasser wird immer teurer werden. In einem Teil der Entwicklungsländer ist die Industrialisierung dadurch sehr erschwert, daß nahezu alles verfügbare Wasser für die Erzeugung der Grundnahrungsmittel verbraucht wird. In großem Umfang könnte die Differenz zwischen natürlichem Wasservorkommen und Verbrauch nur durch Meerwasserentsalzung mit Hilfe von Kernenergie ausgeglichen werden. Aber die Wasserfabriken, Pumpanlagen und Tunnelsysteme würden ein Vielfaches der Mittel erfordern, die heute für militärische Zwecke ausgegeben werden. Ein Teil der Staaten wird die Wasserversorgung aus eigener Kraft nicht finanzieren können. Daraus ergeben sich große Probleme für die ökonomische Organisation der künstlichen Welt. Darüber hinaus ist die Wasserversorgung ein Energieproblem von riesigem Ausmaß. 


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Die Energie, die sie verbraucht, gewinnt die technische Welt bisher vor allem durch Ausbeutung der großen, aber begrenzten Reserven an Kohle, Erdöl und Erdgas. Nach einer groben Schätzung werden die Vorräte noch etwa für die Dauer von 200 Jahren reichen. Diese Schätzung beruht auf der Voraussetzung, daß auch in Zukunft die privilegierten Industrienationen monopolistisch über diese Reserven verfügen. Werden die Entwicklungsländer industrialisiert und fordern die hungernden Milliarden am Reichtum der Welt ihren Anteil, so steigt der Weltenergiebedarf sprunghaft an. Entsprechend schneller werden die Reserven verbraucht; in welchem Umfang eine Neuerschließung von »klassischen« Energiequellen möglich sein wird, ist unbekannt. 

Wir setzen unsere Hoffnung auf die Atomenergie; der quantitative Ertrag und die Wirtschaftlichkeit einer Reihe von anderen Verfahren der Energie­gewinnung, an denen die Wissenschaft arbeitet, ist noch nicht abzuschätzen. Man nimmt an, daß in 20 Jahren etwa 4% des Weltenergiebedarfes durch Kernspaltung gedeckt werden können. Erst wenn es gelänge, die höchst komplexen technischen Probleme einer Energieerzeugung durch Kernfusion zu lösen, würde sich die Lage revolutionär verändern. Es ist aber eine offene Frage, ob das jemals möglich sein wird.

Für das Verständnis der Strukturprobleme der künstlichen Welt, die in den nächsten Jahrzehnten gelöst werden müssen, sind Spekulationen über die mögliche Beantwortung von Spezialfragen weniger wichtig als die Einsicht in den untrennbaren Zusammenhang von Energiewirtschaft, Wasserwirtschaft und Ernährungswirtschaft. Schon ein flüchtiger Überblick über die ungleiche Verteilung der Energiereserven, der Wasservorräte und der zur Zeit verfügbaren Anbauflächen auf der Erde macht deutlich, daß keines dieser Probleme auf nationaler Basis zu lösen ist. 

Alle Errungenschaften der Technik bleiben nutzlos, wenn es uns nicht gelingt, den gesellschaftlichen und ökonomischen Unterbau der technischen Systeme so zu rationalisieren, daß eine internationale Kooperation zur gemeinsamen Sicherung der Existenzgrundlagen der gesamten Menschheit möglich wird. Gelingt das nicht, so wird der babylonische Turm, den die hochentwickelten Industrienationen errichtet haben, mit Sicherheit in Kürze zusammenstürzen und dann auch alle Möglichkeiten für die Ernährung der übrigen Menschheit unter sich begraben.


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Wir treffen damit auf das Kernproblem der Organisation der künstlichen Welt. Die Industrienationen werden noch immer von dem Wahn beherrscht, die technische Welt sei eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Tatsächlich stoßen wir schon jetzt infolge der Auswirkungen von Wissenschaft und Technik auf grausame Weise an absolute Schranken des menschlichen Daseins auf dieser Erde. Während die Industrienationen noch immer in dem Traum vom fortwährend wachsenden Wohlstand befangen sind, vollzieht sich schon heute vor unseren Augen die progressive Verelendung eines immer größeren Teiles der Weltbevölkerung. Die Menschheit vermag sich nicht zu ernähren, und selbst die Güter, von denen wir in unserer Jugend noch glauben konnten, sie stünden unbeschränkt zur Verfügung, wie etwa Wasser, reine Luft und Raum, sind heute zur Mangelware geworden und müssen unter staatlicher Aufsicht bewirtschaftet werden. 

Gelingt es nicht, in internationalem Rahmen die Probleme der Nahrungsmittelversorgung, der Wasserversorgung und der Energieversorgung zu lösen, so werden sich auch die übrigen Zukunftserwartungen der wissenschaftlich-technischen Welt nicht erfüllen; denn dann zerbricht die politische und gesellschaftliche Substruktur der großen Industrienationen, von deren Funktionsfähigkeit heute die Erhaltung der gesamten Weltbevölkerung abhängig ist.

Das Fundament der technischen Welt bilden nicht technische, sondern politische und gesellschaftliche Systeme. Die künstliche Welt ist eine von Menschen gemachte und von Menschen in Gang gehaltene Welt. Je mehr Computer wir konstruieren, desto mehr steigen die Anforderungen an die menschliche Verantwortungsfähigkeit und Vernunft. Sind die politischen Strukturen nicht darauf eingerichtet, als Unterbau für die riesigen technischen Systeme zu dienen, die zur Lösung der großen Weltprobleme erforderlich sind, so werden auch die technischen Systeme entweder nicht errichtet werden oder kollabieren.


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Nun stammen aber die politischen Ordnungen, in denen wir leben, aus der vortechnischen Welt. Die Rationalität der Staaten und der Gesellschaftsordnungen hat sich vielfach noch nicht einmal auf das Niveau der primitiven Stufen der technischen Entwicklung erhoben. Die Mentalität der Menschen spiegelt aber stets die Verfassung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, in der sie leben. Deshalb verhalten sich in unserer Welt sogar die Spitzen der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Intelligenz, wenn sie mit politischen und gesellschaftlichen Problemen konfrontiert werden, in hohem Maße irrational. Das gleiche gilt aber auch von den politischen Führungsschichten. 

Mit dem finanziellen und personellen Aufwand, den der Vietnam-Krieg kostet, hätte man Südostasien in ein blühendes Land verwandeln können. Mit den Milliarden, die im Vorderen Orient für Waffenlieferungen verschwendet wurden, hätte man diese Gebiete erschließen und unvorstellbares Elend überwinden können. Die strukturellen Widersprüche zwischen der Leistungsfähigkeit der politischen und gesellschaftlichen Systeme auf der einen, und der technischen Systeme, die wir brauchen, auf der anderen Seite, werden immer größer, und es ist heute schon deutlich sichtbar, wo die Bruchstellen verlaufen, die das Gebäude zum Einsturz bringen könnten.

Welche Bedingungen müßten erfüllt werden, damit die politischen Systeme unseres Erdballs die Konstruktion jener künstlichen Welt zu tragen vermögen, die das Menschengeschlecht zu seiner Erhaltung aufbauen muß? 

1.  Die Investitionen, die in allen Teilen der Welt erforderlich sind, um der wachsenden Erdbevölkerung die Existenz und einen minimalen Lebensstandard zu sichern, erreichen solche Größenordnungen, daß sie nur durch eine Umverteilung des Reichtums der Welt zu realisieren wären. Die Mehrzahl der auf der Erde lebenden Menschen ist überzeugt, daß dieses Ziel nur durch eine Weltrevolution erreicht werden kann. Vernunftgemäß wäre das System unserer nationalen und internationalen Politik erst dann, wenn es der Aufgabe gewachsen wäre, auf friedlichem Wege einen Zustand herbeizuführen, der die Verbreitung von Revolutionskriegen über immer weitere Teile der Welt dadurch verhütet, daß er sie überflüssig macht.

2.  Da keines der großen Weltprobleme im nationalen Rahmen gelöst werden kann, fordert die Vernunft den raschen Ausbau von supranationalen Systemen und einen entsprechenden Abbau der nationalen Souveränitäten. Der gegenwärtigen internationalen Ordnung liegt die Vorstellung zugrunde, es sei vernünftig und naturgemäß, die Erdoberfläche in Parzellen aufzuteilen, die wir als staatliche Territorien bezeichnen, und den Regierungen, die diese Territorien verwalten, die Verfügungsgewalt über ihre Bewohner und Bodenschätze einzuräumen. Dieses Schema der Verwaltung der Erde widerspricht sowohl der Struktur der technischen Systeme wie den elementaren Lebensbedürfnissen unserer Welt. Es läßt sich nicht mit den Prinzipien der Ökonomie in Einklang bringen und steht in unauflösbarem Konflikt mit den Geboten der Gerechtigkeit und Humanität. 

In einer internationalen Sozietät ließen sich ganz andere Formen der politischen Ordnung denken; sie gelten heute insgesamt als utopisch. Technische Utopien werden Jahr für Jahr in atemberaubendem Umfang realisiert. Aber die menschliche Vernunft kapituliert einstweilen vor der Realisierung jener politischen und gesellschaftlichen Utopien, durch deren Ausführung für die technischen Utopien erst der unentbehrliche Unterbau geschaffen würde. Es stellt sich die Frage, wie lange die Welt es sich leisten kann, im Bereich von Wissenschaft und Technik rational und utopisch, aber im Bereich von Politik und Gesellschaft reaktionär und irrational zu denken.

3.  Je mehr sich Wissenschaft und Technik entwickeln, desto mehr steigen auch die intellektuellen und moralischen Anforderungen an die gesamte Erdbevölkerung in allen ihren sozialen Schichten. Zur Zeit sind nicht einmal die Industriestaaten in der Lage, die Bildungssysteme so schnell auszubauen, daß die geistige Entwicklung ihrer Bürger der technischen Entwicklung zu folgen vermag. Noch ernstere Aspekte der Bildungskrise der technischen Welt treten zutage, wenn man sie nicht im nationalen Rahmen, sondern im Weltzusammenhang untersucht. Der Prozentsatz von Menschen mit völlig ungenügender Bildung wird immer größer, weil die Bildungssysteme nicht proportional zum Wachstum der Erdbevölkerung expandiert werden können. Deshalb fehlt vor allem die untere Mittelschicht, von der die gesamte Substruktur der technischen Welt getragen wird.

Keine der Aufgaben, von denen bis jetzt die Rede war, kann gelöst werden, wenn das Weltdefizit an Bildung nicht überwunden wird. Dazu sind aber nicht nur riesige Investitionen erforderlich; es bedarf auch einer Entwicklungshilfe durch Menschen, die alle bisherigen Planungen sprengt. In einer vernunftgemäß organisierten Welt müssen auch die Bildungs­monopole der hochentwickelten Länder aufgebrochen werden.

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Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine sehr einfache Beschreibung der Struktur der technischen Welt, in der wir leben. Die gewaltige Expansion der wissen­schaftlichen und technischen Möglichkeiten, deren Zeugen wir sind, vollzieht sich inmitten eines hochgradig irrationalen Zustandes der politischen und gesellschaftlichen Systeme unserer Welt. Die Wissenschaften, die den Fortschritt tragen, sind den politischen und gesellschaftlichen Problemen gegenüber blind. Die Anstrengungen, die unternommen werden, um der Vernunft auch in der Organisation des menschlichen Zusammen­lebens zum Sieg zu verhelfen, sind mutlos, phantasielos und unzureichend. Aber die großen Weltprobleme lassen sich nicht dadurch zum Verschwinden bringen, daß man vor ihnen die Augen verschließt. Die zentralen Zukunftsaufgaben unserer Welt liegen nicht auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik, sondern auf dem Gebiet der Politik. 

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Georg Picht   Mut zur Utopie   Die großen Zukunftsaufgaben   Zwölf Vorträge 1969 im Piper-Verlag 150 Seiten