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  Teil 1    Die Erfindung der Kindheit  

1  Als es keine Kinder gab  

 

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Während ich dies schreibe, gehören zwölf- und dreizehnjährige Mädchen zu den bestbezahlten Photo­modellen Amerikas. Anzeigen in allen visuellen Medien präsentieren sie dem Publikum als erfahrene, sexuell aufreizende Erwachsene, die sich in ihrer erotisch geprägten Umgebung durchaus zu Hause fühlen. Wer solche Darbietungen einer weichen Pornographie miterlebt und sich noch nicht völlig an die neue amerikanische Einstellung zu Kindern angepaßt hat, der sehnt sich geradezu zurück nach der Anmut und verführerischen Unschuld von Nabokovs Lolita.

In Groß- und Kleinstädten überall im Lande schwindet der Unterschied zwischen den von Erwachsenen und den von Kindern begangenen Verbrechen, und in vielen Bundesstaaten gleichen sich auch die Strafen immer mehr. Zwischen 1950 und 1979 ist die Zahl der von Kindern und Jugendlichen unter fünfzehn Jahren begangenen schweren Verbrechen um das Hundertzehnfache oder elftausend Prozent gestiegen. Angehörige der älteren Generation mögen sich fragen, wie es zu dieser »Jugenddelinquenz« gekommen ist, und mit Wehmut an jene Zeit zurückdenken, in der man einen Dreizehnjährigen, der auf der Schultoilette eine Zigarette rauchte, noch als »Problemfall« ansah.

Angehörige der älteren Generation werden sich auch erinnern, daß es einmal einen bedeutsamen Unterschied zwischen Kinder- und Erwachsenenkleidung gegeben hat. Im letzten Jahrzehnt hat die Kinder­bekleidungs­industrie einen derart raschen Wandel durchgemacht, daß die »Kinderkleidung« praktisch verschwunden ist.

Wie es scheint, wird eine von Erasmus aufgestellte und dann im 18. Jahrhundert zu voller Wirkung gelangte These — daß nämlich Kinder und Erwachsene unter­schied­licher Kleidung bedürfen — heutzutage sowohl von den Erwachsenen als auch von den Kindern zurückgewiesen.

Wie die Unterschiede in der Kleidung, so verschwinden auch die auf den Straßen unserer Städte einst deutlich sichtbaren Kinderspiele immer mehr. Es scheint, daß wir kaum noch wissen, was ein Kinderspiel ist. So wie man es sich früher vorstellte, benötigt ein Kinderspiel keine Trainer und keine Schiedsrichter und auch keine Zuschauer; es nutzt den Raum und die Mittel, die ihm gerade zur Verfügung stehen, und es wird allein um des Vergnügens willen gespielt. 

Der Jugendfußball jedoch oder der amerikanische Little League Baseball werden nicht nur von Erwachsenen überwacht, diese Aktivitäten orientieren sich auch in jeder Hinsicht am Leistungs- und Spitzensport. Ohne Schiedsrichter geht es nicht. Eine Sportausrüstung wird benötigt. Erwachsene jubeln und johlen von den Zuschauerrängen. 

Aber wann hat man zuletzt Kinder über neun Jahren gesehen, die Reiterkampf oder Hinkel und Hüpf oder Blinde Kuh spielen? 

Peter und Iona Opie, die bedeutenden englischen Historiker des Kinderspiels, haben Hunderte von Spielen ermittelt, die gegenwärtig von amerikanischen Kindern kaum noch gespielt werden. Selbst das Versteckspiel, das schon vor zweitausend Jahren im Athen des Perikles gespielt wurde, ist aus dem Repertoire der selbstorganisierten Kindervergnügungen inzwischen fast völlig verschwunden.1) Mit einem Wort, Kinderspiele sind vom Aussterben bedroht.

Wie die Kindheit selbst eben auch. Wohin man sieht, überall stellt man fest, daß sich das Verhalten, die Sprache, die Einstellungen und die Wünsche — und selbst die äußere Erscheinung — von Erwachsenen und Kindern immer weniger voneinander unterscheiden. Zweifellos erklärt sich hieraus die wachsende Bewegung, die für eine Neubestimmung der Rechte des Kindes und eine Angleichung dieser Rechte an die der Erwachsenen eintritt. (Siehe z.B. das Buch von Richard Farson Menschenrechte für Kinder.) Ihre Schubkraft gewinnt diese Bewegung, die sich unter anderem gegen die Pflichtschule wendet, aus der These, daß der vermeintlich bevorzugte Status der Kinder in Wirklichkeit von einer Unterdrückung geprägt ist, die die Kinder daran hindert, am Leben der Gesellschaft tatsächlich teilzunehmen.

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Das Belegmaterial, das die These vom Verschwinden der Kindheit stützt, werde ich weiter unten im einzelnen erörtern, hier nur so viel: von all den Zeugnissen, die für diese These sprechen, ist keines aufschluß­reicher als die Tatsache, daß die Geschichte der Kindheit inzwischen zu einem wichtigen Zweig des Wissenschafts­betriebes geworden ist. 

Als wollten sie Marshall McLuhans Beobachtung bestätigen, sobald ein gesellschaftliches Kunstprodukt obsolet geworden sei, verwandele es sich in einen Gegenstand Nostalgie und des Nachdenkens, haben Historiker und Gesellschaftskritiker in den letzten beiden Jahrzehnten Dutzende gewichtiger Werke über die Kindheitsgeschichte hervorgebracht, während in der Zeit etwa zwischen 1800 und 1960 nur sehr wenig über dieses Thema geschrieben wurde.2)

Man darf wohl sagen, daß die 1960 in Frankreich erschienene Geschichte der Kindheit von Philippe Ariès diesen Forschungs­bereich schuf und den Boom auslöste. Warum gerade jetzt? Eines läßt sich zumindest feststellen: die besten historischen Darstellungen werden geschrieben, wenn ein Ereignis abgeschlossen ist, wenn eine Periode zu Ende geht, wenn es unwahrscheinlich ist, daß sie einen neuen, kraftvollen Aufschwung erlebt. Die Historiker kommen im allgemeinen nicht zur Hochzeit, sondern zum Begräbnis. In jedem Falle tun sie sich mit einer Autopsie leichter als mit der Berichterstattung über offene Entwicklungsprozesse.

Aber auch wenn ich mich mit der Annahme, das plötzliche Interesse an ihrer Geschichte sei an sich schon ein Anzeichen für das Verblassen der Kindheit, im Irrtum befinden sollte — wir müssen jedenfalls dankbar dafür sein, daß wir nun endlich über Untersuchungen zum Ursprung der Kindheit verfügen. Mit ihrer Hilfe können wir begreifen lernen, warum eine Idee wie die der Kindheit entworfen worden ist, und wir können Mutmaßungen darüber anstellen, warum sie womöglich obsolet wird. Deshalb möchte ich hier zunächst die Geschichte der Kindheit nachzeichnen, so wie sie sich jemandem, der einen großen Teil der verfüg­baren Literatur gründlich gelesen hat, darstellt.

 

Über die Einstellung der Antike zum Kind wissen wir sehr wenig. Die Griechen beispielsweise widmeten der Kindheit als einer besonderen Altersstufe nur geringe Aufmerksamkeit, und das alte Sprichwort, die Griechen hätten für alles ein Wort, gilt nicht für den Begriff des Kindes.

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Ihre Wörter für »Kind« und »Jugendlicher« sind zumindest mehrdeutig und scheinen fast jedermann zwischen dem Säuglings- und dem Greisenalter zu umfassen. Obgleich sich keines ihrer Gemälde erhalten hat, ist es unwahr­scheinlich, daß es die Griechen der Mühe wert erachteten, Kinder auf ihnen darzustellen. Aber immerhin wissen wir, daß sich unter ihren erhalten gebliebenen Statuen keine einzige Darstellung eines Kindes befindet.3) 

Es finden sich in ihrer umfangreichen Literatur Hinweise auf das, was wir als Kinder bezeichnen würden, aber diese Hinweise bleiben undeutlich und vage, so daß man sich kein klares Bild davon machen kann, wie die griechische Auffassung des Kindes tatsächlich beschaffen war. Xenophon etwa berichtet von der Beziehung eines Mannes zu seiner jungen Frau. Sie ist noch keine fünfzehn und so erzogen worden, daß sie »so wenig wie möglich hört und sieht und möglichst wenig Fragen stellt«. Aber da sie gleichzeitig erklärt, ihre Mutter habe ihr gesagt, daß sie, die Fünfzehnjährige, nicht zähle, sondern nur ihr Ehemann, läßt sich nicht eindeutig klären, ob wir hier etwas über die Einstellung der Griechen zu Frauen oder ihre Einstellung zu Kindern erfahren.

Wir wissen indessen, daß es in Griechenland noch bis in die Zeit des Aristoteles keine moralischen und gesetzlichen Beschränkungen der Kindestötung gab. Obwohl Aristoteles der Ansicht war, dieser abscheulichen Praxis sollten Grenzen gezogen werden, erhob er doch keine entschiedenen Einwände dagegen.4) Wir sehen daran, daß sich die griechische Anschauung über den Wert eines Kinderlebens von der unseren drastisch unterschied. Allerdings nicht immer. Herodot erzählt mehrere Geschichten, in denen sich eine modernen Anschauungen eher zugängliche Einstellung andeutet.

In einer dieser Geschichten suchen zehn Korinther ein Haus auf in der Absicht, einen kleinen Knaben zu töten, von dem ein Orakel geweissagt hat, er werde ihre Stadt zerstören, wenn er herangewachsen ist. Als sie zu dem Haus gelangen, gibt die Mutter in dem Glauben, die Männer statteten ihr einen freundlichen Besuch ab, einem von ihnen den Knaben auf den Arm. Der Knabe lächelt und rührt, wie wir sagen würden, die Herzen der Männer, die bald wieder aufbrechen, ohne ihren furchtbaren Auftrag zu erfüllen. Unklar bleibt, wie alt der Junge war, aber offensichtlich war er noch so klein, daß ihn ein Erwachsener auf dem Arm tragen konnte.

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Wäre er acht oder neun Jahre alt gewesen, dann wäre es den Männern vielleicht nicht so schwergefallen, das Vorhaben auszuführen, dessentwegen sie gekommen waren.

Eines jedoch liegt auf der Hand. Auch wenn die Griechen über das Wesen der Kindheit nur undeutliche und verschwommene Vorstellungen hegten (jedenfalls nach unseren Maßstäben), so entwickelten sie doch beträchtlichen Ehrgeiz in Erziehungsfragen.

Der größte Athener Philosoph, Platon, hat sich ausführlich zu diesem Thema geäußert und nicht weniger als drei verschiedene Vorschläge zur richtigen Erziehung der Jugend entwickelt. Außerdem beschäftigen sich einige seiner denkwürdigen Dialoge mit Erziehungsproblemen, etwa der Frage, ob man Tugend und Mut lehren könne oder nicht. (Er ist der Ansicht, das sei möglich.) Es besteht kein Zweifel, daß die Griechen die Idee der Schule erfunden haben. Ihr Wort für Schule bedeutete zugleich Muße und spiegelt so die typisch athenische Überzeugung wider, daß ein zivilisierter Mensch, der Muße hat, seine Zeit ganz natürlich mit Denken und Lernen zubringen wird.

Selbst die harten Spartaner, bei denen es um das, was ihre Nachbarn Denken und Lernen nannten, nicht so gut bestellt war, richteten Schulen ein. Plutarchs Lebensbeschreibung des Lycurgus in den Parallel­biographien großer Griechen und Römer zufolge nahmen die Spartaner siebenjährige Jungen in Klassen auf, wo sie sportlichen Übungen nachgingen und miteinander spielten. Auch Lesen und Schreiben brachte man ihnen bei, »gerade so viel«, berichtet uns Plutarch, »wie ihnen nützlich war«.

Die Athener ihrerseits gründeten bekanntlich eine Vielfalt von Schulen, von denen einige an der Ausbreitung griechischer Kultur in viele Weltgegenden Anteil hatten. Es gab die Gymnasien, die Ephebien, die Rhetorschulen und sogar Elementarschulen, in denen Lesen und Rechnen gelehrt wurden. Und auch wenn die Schüler — etwa an einer Elementarschule — älter waren, als wir es erwarten würden (viele griechische Knaben lernten erst im Jünglingsalter lesen), gilt doch, daß man sich überall, wo es Schulen gibt, auch bis zu einem gewissen Grad der Besonderheit der jungen Menschen bewußt ist.

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Dennoch darf man aus dem Interesse der Griechen für die Schule nicht den Schluß ziehen, daß ihre Konzeption von Kindheit der unseren entsprochen hätte. Nicht nur die Spartaner, deren Disziplinierungs­methoden uns heute als Folter erscheinen, brachten nicht das heutzutage als normal geltende Maß an Einfühlung und Verständnis bei der Erziehung ihrer Kinder auf, das gleiche gilt für die übrigen Griechen. »Das Material, das ich über die Methoden zur Disziplinierung von Kindern gesammelt habe«, stellt Lloyd deMause fest. »veranlaßt mich zu der Überzeugung, daß ein sehr großer Prozentsatz der vor dem 18. Jahrhundert geborenen Kinder — in heutiger Terminologie — >geschlagene Kinder< waren.«5 

DeMause vermutet sogar, daß »hundert Generationen von Müttern« untätig zusahen, wie ihre Babys und Kinder unter vielfältigen Qualen und Unannehmlichkeiten litten, weil diese Mütter (und erst recht die Väter) nicht imstande waren, sich in ein Kind hinein­zuversetzen.6 Wahrscheinlich trifft diese Vermutung zu. 

Gewiß gibt es auch heute noch Eltern, die unfähig sind, gegenüber Kindern Empathie aufzubringen — und das nach vierhundert Jahren der bewußten Wahrnehmung von Kindern. Wenn also Platon im Protagoras empfiehlt, ungehorsame Kinder »mit Drohungen und Schlägen wie ein Stück verzogenes Holz« zurechtzubiegen, dann dürfen wir darin wohl eine erheblich ältere Fassung des traditionellen Ratschlags erkennen: »Die Rute macht aus bösen Kindern gute.« Und wir dürfen auch davon ausgehen, daß den Griechen trotz all ihrer Schulen und trotz ihres Bemühens, den jungen Menschen Tugendhaftigkeit zu vermitteln, der Gedanke an eine Kinderpsychologie oder an eine besondere Pflege und Erziehung der Kinder unverständlich gewesen wäre.

Nach alledem möchte ich aber gerechterweise doch mit der Feststellung schließen, daß uns die Griechen sehr wohl eine Vorahnung von der Idee der Kindheit geschenkt haben. Wie viele Ideen, die wir heute als selbstverständliches Element der Zivilisation betrachten, verdanken wir auch die Vorstellung der Kindheit, jedenfalls in Teilen, den Griechen. Sie haben die Kindheit zwar nicht erfunden, aber sie sind ihrer Idee so nahe gekommen, daß wir, als sie zweitausend Jahre später tatsächlich erfunden wurde, imstande waren, ihre Wurzeln zu erkennen.

Die Römer übernahmen, wie man weiß, die griechische Konzeption der Schulerziehung und entwickelten sogar ein Bewußtsein für die Eigenart der Kindheit, das über die griechischen Vorstellungen hinauswies. Die römische Kunst etwa zeigt »einen ganz außerordentlichen Sinn für Lebensalter, für das kleine und das heranwachsende Kind, wie man ihm in der abendländischen Kunst bis in die Zeit der Renaissance nicht mehr begegnen sollte«.7

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Außerdem begannen sie, einen in moderner Zeit für selbstverständlich gehaltenen Zusammenhang zwischen dem heranwachsenden Kind und der Idee der Scham herzustellen. Es war dies ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Institutionalisierung der Kindheit, und ich werde bei der Erörterung des Niedergangs dieser Institution im mittelalterlichen Europa sowie in der Gegenwart noch ausführlich auf diesen Sachverhalt zu sprechen kommen.

Der entscheidende Punkt hierbei ist dieser: Ohne entwickeltes Schamgefühl kann es Kindheit nicht geben. Es ist das bleibende Verdienst der Römer, daß sie — freilich nicht alle und auch nicht in genügender Zahl — diesen Zusammenhang erfaßt haben. In einem interessanten Abschnitt seiner Ausführungen über Erziehung wirft Quintilian seinen Zeitgenossen ihr schamloses Verhalten in Anwesenheit adliger römischer Kinder vor:

»Wir freuen uns, wenn sie etwas Loses sagen: Worte, die wir nicht einmal aus dem Munde alexandrinischer Zierbengel dulden dürfen, nehmen wir mit Lachen und einem Küßchen hin ... von uns hören sie es, unsere Freundinnen und unsere Schlaf­zimmer­freunde sehen sie, jede Abendgesellschaft dröhnt von unanständigen Liedern, was man auch nur zu nennen sich scheut, ist da zu sehen.«8

Hier haben wir eine ganz und gar moderne Ansicht vor uns, die die Kindheit zum Teil dadurch definiert, daß sie für dieses Lebensalter die Abschirmung vor den Geheimnissen der Erwachsenen und besonders den sexuellen Geheimnissen verlangt. Quintilians Vorwurf an die Erwachsenen, die es versäumen, diese Geheimnisse vor jungen Menschen zu wahren, bietet ein gutes Beispiel für eine Haltung, die Norbert Elias in seinem großen Buch Über den Prozeß der Zivilisation als einen Grundzug zivilisierter Kultur bestimmt und die dazu führt, daß der Sexualtrieb einer strengen Regelung unterworfen wird, daß den Erwachsenen der Zwang auferlegt wird, all ihre Triebäußerungen (und ganz besonders die sexuellen) zu »intimisieren«, und daß gegenüber den jungen Menschen ein »Bann des Schweigens« in bezug auf das Triebleben aufrechterhalten wird.9

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Nun lehrte Quintilian, wie man weiß, die Redekunst, und in dem Werk, durch das wir ihn am besten kennen, stellt er dar, wie ein bedeutender Redner von Kindesbeinen an erzogen werden soll. Deshalb dürfen wir annehmen, daß er mit seinem Gespür für die Eigenart junger Menschen seinen Zeitgenossen weit voraus war. Gleichwohl gibt es eine nachweisbare Verbindungslinie zwischen den Anschauungen Quintilians und dem ersten bekannten Gesetz zum Verbot der Kindestötung. Dieses Gesetz wird erst 374 n.Chr., dreihundert Jahre nach Quintilian, erlassen.10 Aber es stellt eine Erweiterung der Idee dar, daß Kinder Schutz und Pflege, schulische Erziehung und Freiheit von den Geheimnissen der Erwachsenen benötigen. In nachrömischer Zeit jedoch verlieren sich alle diese Ideen.

Jeder halbwegs Gebildete weiß von den Einbrüchen der Barbaren aus dem Norden, vom Zusammenbruch des Römischen Reiches, vom Zurücksinken der antiken Kultur in die Unsichtbarkeit und vom Abstieg Europas in das sogenannte finstere Mittelalter. Unsere Schulbücher berichten einigermaßen ausführlich über diesen Wandlungsprozeß, sie übersehen allerdings häufig vier Punkte, die gerade für die Geschichte der Kindheit besonders wichtig sind. Erstens, es, verschwindet die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, kurz die »Literalität« (literacy). Zweitens, es verschwindet die Erziehung. Drittens, es verschwindet das Schamgefühl. Und viertens, infolge der drei anderen Prozesse kommt es zum Erlöschen der Kindheit. Um diese letzte Folge zu begreifen, müssen wir uns die drei zuerst genannten Entwicklungen eingehender vergegenwärtigen.

Warum die Lese- und Schreibfähigkeit zerfallen ist, scheint zunächst so rätselhaft wie vieles andere in dem Jahrtausend zwischen dem Niedergang Roms und der Erfindung der Druckerpresse. Eine Annäherung an dieses Problem wird aber möglich, wenn man es so stellt, wie es Eric Havelock in seinem Buch Origins of Western Literacy getan hat. »Warum«, so fragt er,

»schrumpfte der Gebrauch des römischen Alphabets nach dem Fall von Rom so sehr zusammen, daß die Masse der Bevölkerung aufhörte, zu lesen und zu schreiben, und sich die soziale Literalität der vorangegangenen Zeit in eine Fachliteralität zurückverwandelte und so das Rad der Geschichte zurückdrehte?«11

Was Havelocks Frage so hilfreich macht, ist die Unterscheidung zwischen »sozialer Literalität« und »Fachliteralität«. 

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Unter sozialer Literalität versteht er Verhältnisse, in denen die meisten Menschen lesen können und dies auch tun. Unter Fachliteralität versteht er Verhältnisse, in denen sich die Lesekunst auf einige wenige beschränkt, die dann eine schriftkundige und deshalb privilegierte Klasse bilden. Mit anderen Worten, wenn wir eine »literale« oder Schrift-Kultur nicht im Hinblick darauf definieren, ob sie über ein Schriftsystem verfügt, sondern unter dem Gesichtspunkt, wie viele Menschen diese Schrift lesen und schreiben können und wie leicht ihnen dies fällt, dann lassen sich in bezug auf die Frage, warum die Literalität verfiel, einige einleuchtende Mutmaßungen anstellen.

Eine von ihnen liefert Havelock selbst, wenn er beschreibt, wie im Laufe des Mittelalters die Schreibstile für die Buchstaben des Alphabets immer vielgestaltiger, die Formen des Buchstaben zunehmend komplizierter und schwerer identifizierbar werden. Die Europäer vergaßen, so scheint es, daß die »Wiedererkennung« — das griechische Wort für »Lesen« — rasch und unmittelbar sein muß, wenn das Lesen eine allgemein geübte Praxis sein soll. Die Formen der Buchstaben müssen sozusagen durchsichtig sein, denn es gehört zu den wunderbaren Eigenschaften der alphabetischen Schrift, daß man über die Buchstaben, wenn man sie einmal erlernt hat, nicht mehr nachzudenken braucht.

Psychologisch gesehen, verschwinden sie und schieben sich nicht mehr als Gegenstand der Überlegung zwischen den Leser und seine Erinnerung an die gesprochene Sprache. Wenn hingegen die Kalligraphie Aufmerksamkeit für sich selbst beansprucht oder zu Mißverständnissen Anlaß gibt, dann geht das entscheidende Moment von Literalität verloren, genauer gesagt: es geht für die Mehrzahl der Menschen verloren. Havelock schreibt: »Kalligraphische Virtuosität jeder Art begünstigt die Fachliteralität und wird von ihr begünstigt, sie ist jedoch der Feind der sozialen Literalität. Das traurige Schicksal des griechischen wie auch des römischen Alphabets während des Mittelalters machen dies hinreichend deutlich.«12

Es kam — um es einfach auszudrücken — in Europa nicht zum Verschwinden des Alphabets, vielmehr schwand die Fähigkeit der Leser, dieses Alphabet zu deuten und zu verstehen. »Tatsächlich kehrte Europa eine Zeitlang zu Leseverhältnissen zurück, die etwa dem in vorgriechischer Zeit in den mesopotamischen Kulturen erreichten Stand entsprachen.«13 

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Eine zweite, der ersten keineswegs widersprechende Erklärung für den Verlust der Literalität besagt, daß die Versorgung mit Papyrus oder Pergament ins Stocken geriet; und wenn nicht dies, so ließ doch die Härte der Lebensverhältnisse nicht zu, viel Energie für ihre Herstellung aufzuwenden. Wir wissen, daß Papier im mittelalterlichen Europa nicht vor dem 13. Jahrhundert aufkam, und damals begannen die Europäer sogleich, es maschinell, also nicht auf die altehrwürdige Weise, mit Hand und Fuß, sondern mit wassergetriebenen Mühlen herzustellen.14

Es ist gewiß kein Zufall, daß die Anfänge der großen mittelalterlichen Universitäten und die damit einher­gehende Herausbildung der Literalität mit der Aufnahme der Papierproduktion zeitlich zusammen­fallen. Insofern leuchtet es auch ein, daß die mehrere hundert Jahre währende Schreibmaterial­knappheit der Befestigung und Entfaltung sozialer Literalität abträglich war.

Wir dürfen auch vermuten, daß die römische Kirche nicht unempfänglich war für die Vorteile der Fachliteralität als eines Mittels,, um eine große, vielfältige Bevölkerung zu kontrollieren, genauer gesagt: ihre Ideen, ihre Organisation und ihre Loyalitäten. Es lag gewiß im Interesse der Kirche, wenn der Zugang zur Literalität beschränkt war und die Geistlichen eine »Schreiberklasse« bildeten, die allein Zutritt zu den theologischen und intellektuellen Geheimnissen hatte.

Aber unabhängig davon, welches die tatsächlichen Gründe waren, es kann kein Zweifel bestehen, daß die soziale Literalität für nahezu tausend Jahre verschwand; und nichts vermittelt einen anschaulicheren Eindruck davon, was dies bedeutet, als das Bild eines mittelalterlichen Lesers, der sich mühsam durch einen Text quält. Mit ganz wenigen Ausnahmen konnten mittelalterliche Leser, gleichgültig, wie alt sie waren, nicht so lesen wie wir heute. Hätte einer von ihnen zugesehen, wie ein moderner Leser eine Seite überfliegt — schweigend, mit rasch dahingleitendem Blick und unbewegten Lippen —, er hätte es wohl für Zauberei gehalten. Der typische Leser des Mittelalters verfuhr etwa so wie heutzutage ein störrischer, Erstkläßler: Wort für Wort vor sich hin murmelnd, um es dann laut auszusprechen, den Finger auf die einzelnen Wörter legend und kaum erwartend, daß eines von ihnen irgendeinen Sinn ergibt.15) Und hier spreche ich von Gelehrten! Die meisten Leute konnten überhaupt nicht lesen. 

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Das bedeutet, daß alle wichtigen sozialen Interaktionen mündlich, im direkten Kontakt von Person zu Person stattfand. Barbara Tuchman schreibt: »Der durchschnittliche Laie gewann seine Bildung nur mit den Ohren, durch öffentliche Predigten, Mysterien­spiele und den Vortrag von belehrenden Balladen und Geschichten.«16)

So kehrte Europa in einen »Naturzustand« der Kommunikation zurück, der vom Sprechen beherrscht und von Gesängen untermalt wird. Während des allergrößten Teils ihrer Geschichte haben die Menschen ihre Angelegenheiten auf diese Art und Weise betrieben und Kultur hervorgebracht. Schließlich sind wir alle, biologisch gesehen, auf Mündlichkeit eingestellte Wesen. Unsere Gene sind für die gesprochene Sprache programmiert. Die Literalität dagegen ist das Ergebnis einer kulturellen Konditionierung.17)

Dem würde Jean-Jacques Rousseau, der vehemente Verteidiger des »edlen Wilden«, gewiß beipflichten, und er würde hinzufügen, daß die Menschen Bücher und Lesen verschmähen müssen, wenn sie in ihrer Lebensweise der Natur so nah wie möglich kommen wollen. Im Emile gibt er uns zu verstehen: »Lesen ist die Geißel der Kindheit, denn Bücher lehren uns, über Dinge zu sprechen, von denen wir nichts verstehen.«

Rousseau hat, wie ich glaube, recht, wenn wir ihn so verstehen, daß das Lesen der permanenten Kindheit ein Ende macht und daß es die Psychologie ebenso wie die Soziologie der Mündlichkeit untergräbt. Weil das Lesen Zutritt zu einer nicht über­wachten, abstrakten Welt des Wissens verschafft, trennt es jene, die lesen können, von denen, die nicht lesen können. Das Lesen ist die »Geißel der Kindheit«, weil es in gewissem Sinne die Erwachsenheit hervorbringt. Literatur jeder Art – und dazu gehören auch Landkarten, Tabellen, Verträge und Urkunden – sammelt und bewahrt wertvolle Geheimnisse. In einer literalen Welt als Erwachsener zu leben bedeutet also, daß man Zugang zu kulturellen Geheimnissen hat, die in nicht-natürlichen Symbolen verschlüsselt sind. In einer literalen Welt müssen Kinder erst zu Erwachsenen werden; in einer nicht-literalen Welt dagegen ist es unnötig, zwischen Kindern und Erwachsenen genau zu unterscheiden, denn es gibt nur wenige Geheimnisse, und die Kultur braucht ihre Angehörigen nicht erst darin zu unterweisen, wie sie selbst zu begreifen ist.

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Deshalb auch hatte, wie Barbara Tuchman bemerkt, das Verhalten aller Altersgruppen im Mittelalter etwas Kindisches an sich.18) In einer mündlichen Welt gibt es vom Erwachsenen keine genau umrissene Vorstellung und noch viel weniger vom Kind. Deshalb findet man in allen Quellen, daß im Mittelalter die Kindheit mit sieben Jahren endete. Warum mit sieben? Weil die Kinder in diesem Alter die Sprache beherrschen. Sie sind fähig, zu sagen und zu verstehen, was die Erwachsenen sagen und verstehen. Sie sind in der Lage, alle Geheimnisse der Zunge kennenzulernen, und dies sind die einzigen Geheimnisse, die sie kennenzulernen brauchen. 

Daraus erklärt sich, warum die katholische Kirche das Alter von sieben Jahren als das Alter der Vernunft bezeichnete, in dem man vom Menschen erwarten durfte, daß er den Unterschied zwischen Gut und Böse kennt. Es erklärt auch, warum sich die Wörter zur Bezeichnung von Jungen bis ins 17. Jahrhundert hinein ebenso auf dreißig-, vierzig- oder fünfzigjährige Männer beziehen konnten, es gab nämlich kein Wort zur Bezeichnung von Jungen zwischen sieben und sechzehn Jahren, weder im Französischen noch im Deutschen, noch im Englischen. Das Wort »Kind« selbst drückte ein Verwandtschaftsverhältnis, keine Altersbestimmung aus.19 Vor allem erklärt die Mündlichkeit des Mittelalters, warum es keine Grundschule gab. Denn wo die Biologie über die Kommunikationsfähigkeit entscheidet, bedarf es solcher Schulen nicht.

Natürlich waren Schulen im Mittelalter nicht unbekannt, manche waren mit der Kirche verbunden, andere waren privat. Aber daß man keinerlei Elementar­unterricht kannte, in dessen Verlauf Lesen und Schreiben gelehrt und die Grundlagen für die weitere Ausbildung gelegt werden, beweist, daß es eine Vorstellung von literaler Erziehung nicht gab. Die mittelalterliche Form des Lernens entspricht der Mündlichkeit; das Lernen vollzieht sich hauptsächlich im Lehr- und Dienstverhältnis, gleicht also dem, was wir als »Lernen in der Praxis« bezeichnen könnten. Soweit es Schulen gab, waren sie charakterisiert durch »das Fehlen abgestufter Lehrprogramme, die Simultaneität des Unterrichts, die Vermischung der Altersstufen und die Schülerfreiheit«.20) Für das mittelalterliche Kind begann der Schulbesuch vielleicht mit zehn Jahren, wahrscheinlich noch später. Der Schüler bezog eine eigene Unterkunft in der Stadt, fern seiner Familie.

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Wahrscheinlich traf er in seiner Klasse Erwachsene aller Altersstufen an, und zwischen diesen und sich selbst nahm er keinen Unterschied wahr. Sicherlich gab es keine feste Korrelation zwischen dem Alter der Schüler und dem, was sie lernten. Die verschiedenen Lektionen wurden ständig wiederholt, denn fortwährend kamen neue Schüler hinzu, die noch nicht gehört hatten, was der Magister bislang vorgetragen hatte. Selbstverständlich waren keine Schülerinnen anwesend, und sobald die Schüler aus der Zucht des Klassenzimmers entlassen waren, waren sie frei, draußen zu tun und zu lassen, was ihnen gefiel.

Mit Sicherheit kann man sagen, daß es in der mittelalterlichen Welt keine Vorstellung von kindlicher Entwicklung gab, keine Vorstellung von Bildungsvoraussetzungen oder einem Lernen in geordneten Schritten, keinen Begriff von Schulausbildung als Vorbereitung auf die Erwachsenenwelt. Zusammenfassend schreibt Aries: 

»Diese mittelalterliche Zivilisation hatte die paideia der Alten vergessen und wußte noch nichts von der Erziehung der Modernen. Dies ist das wesentliche Faktum: sie hatte keine Vorstellung von Erziehung.«21 (Zweite Hervorhebung von mir.)

Und, so muß man hinzufügen, ebensowenig eine Vorstellung von Schamgefühl, zumindest nicht von dem, was ein Moderner darunter versteht. Die Idee des Schamgefühls beruht, wie schon Quintilian wußte, zum Teil auf Geheimnissen. Einer der Hauptunterschiede zwischen dem Erwachsenen und dem Kind, so könnte man sagen, besteht darin, daß der Erwachsene bestimmte Seiten des Lebens – seine Geheimnisse, seine Widersprüche, seine Gewalttätigkeit, seine Tragik – kennt, von denen, wie man meint, das Kind nichts wissen soll und die ihm ohne weiteres zu offenbaren tatsächlich schamlos wäre. In der modernen Welt enthüllen wir den heranwachsenden Kindern diese Geheimnisse nach und nach, so daß sie sie, wie wir annehmen, psychisch verarbeiten können. Aber eine solche Idee kann es erst in einer Kultur geben, in der eine scharfe Trennung zwischen der Erwachsenen- und der Kinderwelt besteht und in der es Institutionen gibt, die diesen Unterschied zum Ausdruck bringen. Die mittelalterliche Welt machte eine solche Unterscheidung nicht und verfügte auch nicht über derartige Institutionen.

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Eingebunden in mündliche Kommunikation, in der gleichen sozialen Sphäre wie die Erwachsenen lebend und nicht eingeengt durch isolierende Institutionen, hatte das Kind im Mittelalterzugang zu fast allen kulturell gebräuchlichen Verhaltensformen. Der siebenjährige Knabe war in jeder Hinsicht ein Mann, ausgenommen seine sexuellen und seine kriegerischen Fähigkeiten.22)  

»Sicherlich«, schreibt J. Plumb, 

»existierte die Kindheit nicht in einer gesonderten Welt. Kinder spielten die gleichen Spiele wie die Erwachsenen, hatten die gleichen Spielzeuge, hörten die gleichen Märchenerzählungen. Erwachsene und Kinder lebten zusammen, nicht getrennt voneinander. Bei den derben Dorffestlichkeiten auf Brueghels Gemälden essen und trinken Kinder gemeinsam mit den Erwachsenen – inmitten von berauschten Männern und Frauen, die einander in ungezügelter Gier zu umarmen versuchen.«23

 

Tatsächlich zeigen Brueghels Gemälde zweierlei: die Unfähigkeit und Weigerung dieser Kultur, irgend etwas vor Kindern zu verheimlichen – was das erste Element des Schamgefühls wäre; und zweitens das Fehlen dessen, was im 16. Jahrhundert unter dem Namen »civilité« bekannt wurde, das zweite Element des Schamgefühls. Manieren und Verhaltensvorschriften, die die jungen Menschen erst erlernen mußten, gab es kaum. Wie dürftig es um diese Art von Verhaltens­regeln im Mittelalter bestellt war, läßt sich heute nur noch schwer begreifen. 

Noch im Jahre 1523 schildert uns Erasmus in seinen Diversoria das Gastzimmer in einer deutschen Herberge so: 

Vielleicht achtzig bis neunzig Leute sitzen beieinander; alle gesellschaftlichen Klassen und alle Altersgruppen sind vertreten. Der eine wäscht seine Kleider und hängt sie zum Trocknen auf den Ofen. Ein anderer reinigt seine Stiefel auf dem Tisch. Alle waschen sich in derselben Schüssel die Hände, aber das Wasser ist schmutzig. Knoblauchdüfte und andere Gerüche steigen auf. Jedermann spuckt, ohne darauf zu achten wohin. Alle schwitzen, denn der Raum ist überheizt. Einige wischen sich die Nase an ihren Kleidern ab und wenden sich dabei nicht ab. Wenn das Essen aufgetragen wird, taucht jeder sein Brot in die gemeinsame Schüssel, beißt ab und tunkt von neuem. Gabeln gibt es nicht. Jeder nimmt das Fleisch mit den Händen aus derselben Schüssel, trinkt Wein aus demselben Pokal und schlürft Suppe aus demselben Napf.24

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Um zu begreifen, wie die Menschen so etwas aushielten, ja, daß sie es nicht einmal wahrnahmen, müssen wir uns, wie Elias schreibt, klar machen, daß sie 

»in einer anderen Beziehung zueinander [standen], als wir; und zwar nicht nur in der Schicht ihres klar und präzise begründeten Bewußtseins, sondern offenbar hatte ihr emotionales Leben eine andere Struktur und einen anderen Charakter«.25

Sie besaßen z.B. nicht die gleiche Vorstellung von Privatsphäre wie wir; gewisse Gerüche und Körperfunktionen empfanden sie nicht als abstoßend; sie scheuten nicht davor zurück, mit den Mündern und Händen anderer in Berührung zu kommen. Wenn man dies bedenkt, kann es nicht überraschen, daß es für das Mittelalter keinerlei Hinweise auf eine Reinlichkeitserziehung während der ersten Lebensmonate eines Säuglings gibt.26

Und man kann erwarten, daß man sich nicht scheute, in Anwesenheit von Kindern über sexuelle Dinge zu sprechen, wie es auch tatsächlich geschah. Die Vorstellung, sexuelle Triebäußerungen zu verbergen, war den Erwachsenen fremd, und der Gedanke, Kinder vor den sexuellen Geheimnissen zu beschützen, war unbekannt. »Ihm [dem Kind] gegenüber erlaubte man sich alles: rohe Redensarten, schmutzige Handlungen und Situationen; sie hatten bald alles gehört, alles gesehen.«27  

Es war im Mittelalter sogar einigermaßen üblich, daß sich Erwachsene mit den Geschlechtsteilen von Kinder amüsierten; es war dies nichts weiter als ein derber Spaß. Ariès schreibt: »Diese Sitte, mit dem Geschlechtsteil des Kindes zu spielen, gehörte zu einer weitverbreiteten Tradition ...«28 Heute stehen auf diese Tradition bis zu dreißig Jahre Gefängnis.

Fehlen der Literalität, Fehlen einer Idee von Erziehung, Abwesenheit von Schamgefühl – dies sind die Gründe dafür, daß es in der Welt des Mittel­alters keine Vorstellung von Kindheit gab. Natürlich müssen wir hier auch die Härte der Lebensumstände und vor allem die hohe Kinder­sterblich­keit berücksichtigen. Zum Teil auch wegen der geringeren Überlebenschancen der Kinder entwickelten die Erwachsenen nicht jene emotionale Beziehung zu ihnen (und konnten es auch nicht), die wir für normal halten. Der vorherrschenden Ansicht zufolge kam es darauf an, so viele Kinder wie möglich zu bekommen, damit immerhin zwei oder drei von ihnen am Leben blieben. Aus diesen Gründen konnten sich die Menschen offenbar nicht darauf einlassen, eine allzu starke Bindung an ihre Kinder aufzubauen.

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Ariès zitiert ein Dokument, in dem von einer verzweifelten Mutter von fünf Kindern die Rede ist, die von ihrer Nachbarin mit den Worten beruhigt wird: »Ehe sie so weit sind, daß sie dir viel Sorgen machen können, wirst du die Hälfte oder vielleicht alle wieder verloren haben.«29

In Testamenten werden Kinder nicht vor dem späten 14. Jahrhundert erwähnt, ein Indiz dafür, daß die Erwachsenen nicht erwarteten, sie würden lange auf der Welt bleiben.30 Wahrscheinlich auch deshalb wurden Kinder in manchen Teilen Europas als geschlechtslose Wesen behandelt. In Italien z. B. wurde im 14. Jahrhundert das Geschlecht eines gestorbenen Kindes nie festgehalten.31 Es wäre aber, glaube ich, falsch, der hohen Kindersterblichkeit allzu großes Gewicht beizumessen, wenn man erklären will, warum es damals keine Idee von Kindheit gab. Von den Menschen, die zwischen 1730 und 1779 in London starben, war die Hälfte weniger als fünf Jahre alt, und dennoch hatte England damals schon die Idee der Kindheit entwickelt.32 Und zwar deshalb, weil, wie ich im nächsten Kapitel zu zeigen versuche, im Laufe des 16. Jahrhunderts eine neue kommunikative Umwelt Gestalt angenommen hatte – als Folge der Erfindung des Buchdrucks und der erneuten Ausbreitung einer sozialen Literalität.

Die Druckerpresse brachte eine neue Definition von Erwachsenheit hervor, die auf dem Lesenkönnen gründete, und entsprechend eine neue Auffassung von Kindheit, die auf dem Nichtlesenkönnen beruhte. Bevor diese neue Umwelt entstand, endete die Kindheit mit sieben Jahren, und es schloß sich sogleich das Erwachsenenalter an. Deshalb auch gab es vor dem 16. Jahrhundert keine Bücher über die Kindererziehung und nur sehr wenige über die Frau in ihrer Rolle als Mutter.33  

Deshalb nahmen die Jugendlichen an den meisten Zeremonien, auch an Beerdigungsprozessionen teil, bestand doch kein Grund, sie vor dem Tode in Schutz zu nehmen. Deshalb auch gab es keine Kinderliteratur. »In der Literatur war die Hauptrolle der Kinder, zu sterben, meist zu ertrinken, zu ersticken oder ... ausgesetzt zu werden.«34 Deshalb gab es keine Bücher über Kinderheilkunde. Deshalb sind die Kinder auf Gemälden regelmäßig als kleine Erwachsene dargestellt, denn sobald sie den Wickeltüchern entwachsen waren, kleideten sie sich genauso wie die Männer und Frauen ihrer sozialen Klasse. Die Sprache der Erwachsenen und der Kinder war die gleiche.

Hinweise auf eine besondere Kindersprache tauchen nicht vor dem 17. Jahrhundert auf, dann allerdings sehr häufig.35 Und deshalb auch ging die Mehrzahl der Kinder nicht zur Schule, denn es gab nichts Wichtiges, was sie dort hätten lernen können; die meisten wurden von zu Hause fortgeschickt, um bei einem Herrn Dienst zu tun oder um als Lehrling zu arbeiten. Kurzum, in der Welt des Mittelalters ist die Kindheit unsichtbar. Barbara Tuchman schreibt: »Von allen Eigenheiten, in denen sich das Mittelalter von der heutigen Zeit unterscheidet, ist keine so auffallend wie das fehlende Interesse an Kindern.«36  

Und dann, ohne daß irgend jemand etwas geahnt hätte, brachte ein Goldschmied aus Mainz mit Hilfe einer alten Weinpresse die Kindheit in die Welt.

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