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2  Die Druckerpresse und der neue Erwachsene  

 

 

 

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Es liegt auf der Hand, daß sich in der Erwachsenenwelt ein Wandel vollziehen muß, damit sich eine Idee wie die der Kindheit herausbilden kann. Und dieser Wandel muß nicht nur von großer Tragweite sein, er muß auch eine ganz bestimmte Beschaffenheit aufweisen. Genauer gesagt, er muß eine neue Definition von Erwachsenheit hervorbringen. 

Während des Mittelalters kam es zu einer Reihe sozialer Veränderungen, einige wichtige Erfindungen wurden gemacht, beispielsweise die der mechanischen Uhr, und es gab einige folgenreiche Ereignisse, darunter die Pestepidemien. Aber es geschah nichts, was die Erwachsenen genötigt hätte, ihre Vorstellung von Erwachsenheit zu verändern. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts indessen kam es zu einem solchen Ereignis: der Buchdruck mit beweglichen Lettern wurde erfunden. 

In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie die Druckerpresse eine neue Symbolwelt schuf, die ihrerseits eine neue Vorstellung von Erwachsenheit erforderlich machte. Aus dieser neuen Erwachsenheit waren Kinder per definitionem ausgeschlossen. Indem nun die Kinder aus der Erwachsenenwelt vertrieben wurden, mußte eine andere Welt entworfen werden, die sie bewohnen konnten. Diese andere Welt nannte man Kindheit.

Wenigstens sieben verschiedene Städte behaupten von sich, in ihnen sei die Druckerpresse erfunden worden, und jede von ihnen nennt einen anderen Erfinder. Der Streit liefert als solcher schon ein Beispiel für eine der erstaunlichsten Wirkungen der Druckerpresse: sie steigerte das Streben nach Ruhm und individueller Leistung ganz erheblich.

»Es ist kein Zufall«, schreibt Elizabeth Eisenstein in <The Printing Press As an Agent of Change>, »daß der Buchdruck die erste <Erfindung> ist, die einen Prioritätsstreit mit rivalisierenden Ansprüchen mehrerer Nationen auslöste.«1

Warum kein Zufall? Weil die Möglichkeit, den eigenen Worten und dem eigenen Werk für immer feste Gestalt zu verleihen, eine neue, alles durchdringende Vorstellung von Individualität erzeugte. Die Druckerpresse ist nichts Geringeres als eine Zeitmaschine, ebenso leistungsfähig und merkwürdig wie irgendeine der Apparaturen in den Büchern von H.G. Wells. So wie die mechanische Uhr, die ebenfalls eine machtvolle Zeitmaschine war, fängt auch die Druckerpresse die Zeit ein, bändigt und verwandelt sie — und verändert auf diese Weise das Bewußtsein der Menschheit von sich selbst.

Doch während die Uhr, wie Lewis Mumford behauptet, die Ewigkeit als Maßstab und Zielpunkt mensch­lichen Handelns abschaffte, verhalf ihr die Druckerpresse zu neuem Leben. Der Buchdruck verknüpft die Gegenwart mit dem »Immer«. Er trägt die Identität eines Menschen in unbekannte Gefilde. Mit der Druckerpresse kann sich die Stimme eines Individuums, nicht die einer gesell­schaft­lichen Gruppe, an das »Immer« wenden.

Niemand weiß, wer den Steigbügel, den Langbogen, den Kleiderknopf oder die Brille erfunden hat, denn im Mittelalter war die Frage nach der individuellen Leistung nahezu bedeutungslos. In der Zeit vor der Druckerpresse existierte nicht einmal eine Vorstellung von dem, was wir heute unter einem Schriftsteller verstehen. Die damals herrschende Vorstellung beschreibt sehr genau der hl. Bonaventura, der berichtet, daß es im 13. Jahr­hundert vier Arten des Büchermachens gab:

»Jemand kann die Werke anderer schreiben und dabei nichts hinzufügen und nichts verändern, in diesem Fall nennt man ihn einfach <Abschreiben>. ... Ein zweiter schreibt das Werk eines anderen und fügt Zusätze an, die nicht von ihm stammen; ihn nennt man einen >Kompilator<. ... Wieder ein anderer schreibt sowohl das Werk eines anderen wie auch sein eigenes, aber das Werk des anderen hat Vorrang, und seine Zusätze dienen der Erklärung; ihn nennt man einen >Kommentator<. ... Wieder ein anderer schreibt sowohl sein eigenes Werk wie auch das anderer, aber sein Werk hat Vorrang, während er die anderen nur zur Bestätigung anführt; einen solchen Mann sollte man >Autor< nennen.«2

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Nicht nur, daß der hl. Bonaventura hier nicht von einem originellen Werk im modernen Sinne spricht, er macht auch deutlich, daß er mit Schreiben vor allem den Akt des Niederschreibens der Wörter meint, weshalb denn auch in einer Manuskript-Kultur kein Platz war für den Begriff individueller, persönlicher Autorschaft. Jeder, der schrieb, machte nicht nur Fehler beim Abschreiben, es stand ihm auch frei, den Text zu ergänzen, zu kürzen, zu klären, zu aktualisieren oder in anderer Weise zu überarbeiten, ganz so, wie er es für notwendig hielt. Selbst ein so hoch in Ehren gehaltenes Dokument wie die Magna Charta, die jährlich zweimal in jeder englischen Grafschaft vorgelesen wurde, war 1237 Anlaß zu einer Kontroverse darüber, welche der verschiedenen Fassungen die echte sei.3

Nach der Erfindung des Buchdrucks gewann die Frage, wer was geschrieben hatte, ebenso wie die Frage, wer was getan hatte, an Bedeutung. Die Nachwelt wurde zu einer lebendigen Vorstellung, und welche Namen zu Recht in ihr fortleben konnten, war eine Entscheidung, um die zu kämpfen sich lohnte. Wie man dem letzten Satz von Kapitel 1 entnehmen kann, folge ich der herkömmlichen Auffassung, die Johann Gensfleisch Gutenberg als den Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern nennt, obwohl das früheste datierte Beispiel für diese Drucktechnik, der Mainzer Psalter, von zwei Partnern Gutenbergs, Johann Fust und Peter Schöffer, stammt. 

Aber wem auch immer das Verdienst des Ersten gebührt — Gutenberg, Laurens Coster, Nicolas Jenson, Fust, Schöffer oder noch anderen4 —, eines ist klar: als Gutenberg verkündete, er habe ein Buch hergestellt »ohne die Hilfe von Rohr, Stylus oder Feder, sondern nur durch wunderbaren Einklang, Proportion und Harmonie von Stempeln und Typen«5, da ahnte er nicht, daß er und die übrigen Drucker eine unwiderstehliche revolutionäre Kraft entbanden; daß ihre Höllenmaschinen sozusagen ein Menetekel an die Wand zauberten, welches das Ende des Mittelalters verkündete. Viele Historiker haben auf diese Tatsache hingewiesen.

Besonders prägnant äußert sich dazu Myron Gilmore in The World of Humanism: »Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern brachte die radikalste Umwandlung des geistigen Lebens in der Geschichte des Abendlandes mit sich. ... Ihre Auswirkungen wurden früher oder später in jedem Bereich menschlicher Tätigkeit spürbar.«6

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Wenn wir verstehen wollen, was diese Auswirkungen für die Erfindung und Entfaltung der Kindheit bedeuteten, so können wir den Lehren von Harold Innis einen ersten Anhaltspunkt entnehmen. Innis hat betont, daß Veränderungen innerhalb der Kommunikationstechnik stets drei verschiedene Wirkungen haben: sie verändern die Struktur der Interessen (die Dinge, über die nachgedacht wird), den Charakter der Symbole (die Dinge, mit denen gedacht wird) und das Wesen der Gemeinschaft (die Sphäre, in der sich Gedanken entwickeln).

Um es so einfach wie möglich auszudrücken: jede Maschine ist eine Idee oder eine Anhäufung von Ideen. Aber es sind dies nicht jene Ideen, die den Erfinder dazu gebracht haben, die Maschine überhaupt zu ersinnen. Wir können z.B. nicht wissen, was Gutenberg auf den Gedanken brachte, eine Weinpresse in die Herstellung von Büchern einzubeziehen, aber mit Sicherheit dürfen wir annehmen, daß dahinter nicht die Absicht stand, den Individualismus zu bestärken oder gar die Autorität der katholischen Kirche zu untergraben. 

In gewissem Sinne sind alle Erfinder, um ein Wort Arthur Koestlers zu gebrauchen, Schlafwandler. Vielleicht sollten wir sie sogar als Frankensteins bezeichnen und den gesamten Vorgang als Frankenstein-Syndrom. Jemand erbaut eine Maschine für einen bestimmten, begrenzten Zweck; aber sobald die Maschine dann existiert, entdecken wir — manchmal mit Schrecken, meist mit Unbehagen, immer mit Erstaunen —, daß sie eigene Ideen mitbringt; daß sie durchaus in der Lage ist, nicht nur unsere Gewohnheiten zu verändern, sondern auch, wie Innis zu zeigen versuchte, unsere Denkweise.

Eine Maschine kann uns eine neue Zeitvorstellung vermitteln, wie es die mechanische Uhr getan hat. Sie kann uns eine neue Vorstellung vom Raum und von den Größenverhältnissen vermitteln, wie das Teleskop, oder eine neue Vorstellung von Wissen, wie das Alphabet. Oder von den Möglichkeiten zur Verbesserung der menschlichen Physiologie, wie die Brille. Um es mit James Careys kühner Formulierung zu sagen: Vielleicht stellen wir dann fest, daß sich die Struktur unseres Bewußtseins umgeformt hat, um der veränderten Kommunikationsstruktur zu genügen8; daß wir zu dem geworden sind, was wir geschaffen haben.

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Die Auswirkungen der Technik sind stets unvorhersehbar. Aber sie sind nicht immer unvermeidlich. Häufig schon sind »Frankenstein-Monster« geschaffen worden, haben sich, nachdem sie erwacht waren, kurz umgesehen und erkannt, daß sie zur unrechten Zeit am unrechten Platz waren, und sind dann wieder eingeschlafen. Im frühen 8. Jahrhundert verfügten die Angelsachsen über den Steigbügel, nicht jedoch über das Genie, die ihm innewohnenden Möglichkeiten zu erkennen. Die Franken besaßen sowohl den Steigbügel als auch das Genie Karl Martells und konnten so mit Hilfe des Steigbügels eine neue Kampfform entwickeln und darüber hinaus ein neues gesellschaftliches und ökonomisches System, nämlich den Feudalismus.9

Vielleicht besaßen Chinesen und Koreaner (die schon vor Gutenberg bewegliche Metallschriftzeichen erfunden hatten) ein Genie, das die Möglichkeiten des Buchdrucks erkannte — was sie indessen mit Sicherheit nicht besaßen, waren Lettern, d.h. ein alphabetisches Schriftsystem. Deshalb sank ihr »Monster« in den Schlaf zurück. Warum die Azteken, die das Rad erfanden, seine Anwendungs­möglichkeiten für erschöpft hielten, nachdem sie es für Kinderspielzeuge genutzt hatten, ist immer noch ein Rätsel; aber auch dies ist ein Beispiel dafür, daß eine vorhandene Technik eine Kultur nicht unbedingt mit neuen Ideen erfüllen muß.

Lynn White jr. nimmt noch ein anderes Bild zu Hilfe, wenn er erklärt: »In dem Maße, wie unser Verständnis für die Geschichte der technischen Entwicklung wächst, wird es uns immer klarer, daß ein neuer Einfall nur eine Tür öffnet; er zwingt niemanden zum Eintreten. Die Annahme oder Ablehnung einer Erfindung oder der Umfang, in dem die in ihr schlummernden Möglichkeiten geweckt werden — hängt ebensosehr vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft und der Voraussicht ihrer Führer ab wie von der Natur des Erfindungsgegenstandes selbst.«10

Im Falle von Gutenbergs Druckerpresse wissen wir, daß die europäische Kultur zu ihrer Aufnahme bereit war. Europa besaß nicht nur eine seit zweitausend Jahren bewährte Alphabetschrift, sondern auch eine reichhaltige Handschriftenüberlieferung, d.h. es gab wichtige Texte, die darauf warteten, gedruckt zu werden. Die Europäer wußten, wie man Papier herstellt, und produzierten es seit rund zweihundert Jahren. Zwar konnten weite Schichten der Bevölkerung weder lesen noch schreiben, aber es gab Abschreiber, die anderen diese Fertigkeiten beibringen konnten. 

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Das Aufleben der Wissenschaft im 13. Jahrhundert und die Wiederentdeckung der antiken Weisheit hatten den Appetit auf Bücher angeregt. Und die Zunahme des Handels und das beginnende Zeitalter der Entdeckungen erzeugten ein Bedürfnis nach Neuigkeiten, authentischen Verträgen, Urkunden und verläßlichen, standardisierten Karten.

Wir können also sagen, daß die intellektuelle Situation Europas um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Druckerpresse notwendig machte, und hieraus erklärt sich zweifellos, daß so viele Männer an verschiedenen Orten gleichzeitig an diesem Problem arbeiteten. Das von Lynn White verwendete Bild aufgreifend, könnte man sagen, daß die Druckerpresse eine Tür öffnete, an die die europäische Kultur schon ungeduldig gepocht hatte. Und als sie sich schließlich öffnete, trat die gesamte Kultur mit einem einzigen raschen Schritt über die Schwelle.

Es bedurfte keiner Genies, um die dem Buchdruck innewohnenden Möglichkeiten zu erkennen. Innerhalb von fünfzig Jahren nach seiner Erfindung waren mehr als 8 Millionen Bücher gedruckt. Um 1480 gab es in 110 Städten, verteilt über sechs verschiedene Länder, Buchdruckerwerkstätten, 50 von ihnen allein in Italien. Um 1482 war Venedig die Welthauptstadt des Buchdrucks, und der Venezianer Aldus Manutius war vermutlich der am meisten beschäftigte Drucker der Christenheit. Das Schild draußen vor seinem Laden zeugte ebenso von einem Sinn für Wortspiele wie von seiner geschäftlichen Situation: »Wenn du mit Aldus sprechen willst, beeile dich — die Zeit drückt/druckt.« Die Hälfte von Aldus' Mitarbeitern waren griechische Auswanderer oder Flüchtlinge, so daß bis zu seinem Tode im Jahre 1515 jeder bekannte griechische Autor übersetzt und gedruckt war.11

Um die Zeit, als Aldus starb, ebnete die Druckerpresse auch den Weg für den ersten Journalisten, den ersten literarischen Erpresser und den ersten Massenhersteller von Pornographie — dies alles vereint in der Person des Pietro Aretino.12  

Von niedriger Herkunft und ohne Ausbildung aufgewachsen, hatte Aretino intuitiv begriffen, daß die Druckerpresse ein Instrument öffentlicher Wirksamkeit war — d.h. er erfand die Zeitung, und mit einem gewissen Recht können wir sogar die Entstehung der Bekenntnisliteratur auf ihn zurückführen.

*(d-2015:)  wikipedia  Pietro Aretino  1492-1556 (64)

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Von einigen Ausnahmen abgesehen, etwa den Confessiones des hl. Augustinus, gab es keine literarische Tradition der persönlichen Offenbarung, keine eingeführte »Stimme« oder Sprache, mit der sich private Anschauungen öffentlich zum Ausdruck bringen ließen. Und gewiß gab es keine rhetorischen Formen, um eine große Zahl von Menschen anzusprechen, die nur in der Phantasie vorhanden waren.13  

Ohne sich von irgend jemandem Anleitung zu holen (die ihm auch niemand hätte geben können), ging Aretino unverzüglich daran, eine Flut antiklerikaler Obszönitäten, verleumderischer Geschichten und Artikel, in denen er bestimmte Personen öffentlich angriff oder seine Ansichten kundtat, zu drucken, lauter Ausdrucksformen, die Bestandteil unserer journalistischen Tradition geworden sind und heute noch in Blüte stehen. Seine Erfindung des Sensationsjournalismus und eines Stils, in dem er sich ausdrücken ließ, machten ihn reich und zugleich berühmt. Zu seiner Zeit nannte man ihn die »Geißel der Fürsten«, ein Citizen Kane der Renaissance.

Wenn das Werk Aretinos die trübe Seite einer neuen literarischen Tradition darstellt, die in vertraulichem Ton ein massenhaftes, aber unsichtbares Publikum anspricht, dann steht das Werk Montaignes für deren helle Seite. 

Im Jahre 1533 geboren, als Aretino schon 41 Jahre alt war, erfand Montaigne einen Stil, eine Anredeform, eine Rolle, in denen sich ein unverwechselbarer Einzelner selbstsicher und direkt an seine unsichtbaren Zeitgenossen und ebenso an die Nachwelt wenden konnte. Montaigne erfand den Essay, der für den Individualismus eine ähnliche Bedeutung hat wie die Ballade für das kollektive Bewußtsein — private Geschichte im Unterschied zu öffentlicher Geschichte.

Bei all ihrer Bescheidenheit, ihrem Humor und ihrer hohen Intelligenz feiern Montaignes Schriften nicht die Gemeinschaft, sondern nur ihn selbst — seine Einzigartigkeit, seine Marotten und seine Vorurteile. Als Norman Mailer vierhundert Jahre später die Reklame für mich selbst schrieb, da setzte er nur eine Tradition fort (und verlieh ihr einen passenden Namen), die auf Montaigne zurückgeht — der Schreiber als Propagandist seiner selbst, als jemand, der sich offenbart, der Schriftsteller als Individuum, das im Gegensatz zur Gemeinschaft steht.

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Marshall McLuhan formuliert auf seine typische Art: »Mit der Druckkunst wurde zugleich die Entdeckung gemacht, daß die National­sprache als eine Art Lautsprecheranlage verwendet werden kann.«14 Dabei dachte er nicht nur an Aretino und Montaigne, sondern vor allem an Rabelais, der sich in seiner Selbstinszenierung und Selbststilisierung von niemandem übertreffen ließ. So prahlte Rabelais, von seinem Gargantua seien in zwei Monaten mehr Exemplare verkauft worden als von der Bibel in zehn Jahren.15 

Diese Bemerkung trug ihm den Vorwurf der Gottlosigkeit und Gotteslästerung ein, eine Beschuldigung, die man in neuerer Zeit ebenfalls erhoben hat, als John Lennon behauptete, die Beatles seien einflußreicher als Jesus Christus. Worauf es hier ankommt, ist die Tatsache, daß die handschriftliche oder Manuskript-Kultur der Vorstellung von geistigen Eigentumsrechten und damit von geistiger Individualität entgegenarbeitete. So schreibt Elizabeth Eisenstein: »Die Bedingungen einer handschriftlichen Kultur ... hielten den Narzißmus in Schach.«16 Der Buchdruck setzte ihn in den Stand, sich freizumachen.

Zur gleichen Zeit, als die Druckerpresse bei den Schriftstellern ein gesteigertes, ungehemmtes Selbst­bewußtsein freisetzte, erzeugte sie eine ähnliche Haltung auch bei den Lesern. Denn vor der Erfindung des Buchdrucks spielte sich alle menschliche Kommunikation in einem festen sozialen Kontext ab. Noch da, wo gelesen wurde, folgte man dem Modell der Mündlichkeit, d.h. der Leser sprach die Worte laut aus, und andere hörten ihm zu.17  

Mit dem gedruckten Buch jedoch setzte eine andere Tradition ein: es erschien der isolierte Leser mit seinem privaten Blick. Die Mündlichkeit verstummte, der Leser und seine Reaktion auf das Gelesene sonderten sich aus dem sozialen Kontext ab. Der Leser zog sich in seinen eigenen Kopf zurück, und vom 16. Jahrhundert bis heute haben die Leser in der Regel von den Menschen in ihrer Umgebung vor allem Abwesenheit verlangt oder wenigstens Stille. Beim Lesen verschwören sich Autor und Leser gegen Dasein und Bewußtsein der Gesellschaft. Kurzum, Lesen ist ein anti-sozialer Akt.

So erzeugt der Buchdruck an beiden Enden des Prozesses — in der Produktion wie im Verbrauch — eine Umwelt, in der die Ansprüche der Individualität unwiderstehlich werden. Damit will ich nicht sagen, daß die Druckerpresse den Individualismus erzeugt hat, wohl aber, daß der Individualismus jetzt zu einer regulären, akzeptierten psychischen und psychologischen Struktur wurde. 

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Leo Löwenthal schreibt: »Man könnte fast sagen, daß seit der Renaissance die vorherrschende Philosophie über die menschliche Natur auf die Auffassung gegründet war, daß jedes Individuum ein >Sonderfall< ist, dessen Existenz vor allem in seinen Anstrengungen besteht, seine Persönlichkeit gegen die restriktiven und nivellierenden Forderungen der Gesellschaft zu behaupten.«18

Wenn wir dem Hinweis von Innis folgen, d.h. seiner Erkenntnis, daß eine neue Kommunikationstechnik die Struktur unserer Interessen verändert, dann können wir sagen, daß die Druckerpresse unser Selbst — unsere Persönlichkeit als unverwechselbares Individuum — für uns zu einem Gegenstand des Nachdenkens und Sprechens gemacht hat. Und dieses verstärkte Selbstgefühl war der Keim, aus dem schließlich die Kindheit aufblühte. Freilich entstand die Kindheit nicht über Nacht. Es dauerte fast zweihundert Jahre, bis sie zu einem scheinbar unumstößlichen Bestandteil der abendländischen Zivilisation geworden war.

Aber dazu wäre es nicht gekommen ohne eine Vorstellung davon, daß jedes Individuum aus sich heraus einen Wert besitzt, daß Geist und Leben eines Menschen die Gemeinschaft in einem sehr grundsätzlichen Sinne transzendieren. Denn als die Idee der persönlichen Identität Gestalt annahm, konnte es nicht ausbleiben, daß sie auch für die Kinder Geltung erlangte, dergestalt, daß im 18. Jahrhundert die Bereitschaft, den Tod von Kindern als unvermeidlich, schicksalhaft hinzunehmen (Aries nennt es die Vorstellung von einem »notwendigen Schwund«), kaum noch bestand. Schon im ausgehenden 16. Jahrhundert wurde der Tod eines Kindes zuweilen auf den Grabsteinen der Eltern festgehalten — eine makabre Praxis vielleicht, aber doch ein Hinweis auf das wachsende Gespür dafür, daß das Leben jedes Menschen zählt.

Indes, der Individualismus allein hätte die Institution der Kindheit nicht hervorbringen können, sie bedurfte vielmehr einer Grundlage, die zwingend gebot, die Menschen in unterschiedliche Kategorien einzuteilen. Und noch etwas anderes mußte hinzukommen, das ich, mangels eines besseren Ausdrucks, als >Wissenskluft< bezeichne. Innerhalb von fünfzig Jahren nach der Erfindung des Buchdrucks wurde offensichtlich, daß sich die Kommunikationsumwelt der europäischen Zivilisation auflöste und in veränderter Gestalt neu herausbildete, es tat sich eine Kluft auf zwischen denen, die lesen konnten, und denen, die nicht lesen konnten — diese waren auf ein mittelalterliches Wahrnehmungs- und Interessenniveau beschränkt, während jene in eine Sphäre neuer Tatsachen und Erkenntnisse Eingang fanden. 

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Mit dem Buchdruck vermehrten sich neue Gesprächsgegenstände sehr rasch; aber sie kursierten alle in Büchern oder erschienen zumindest in gedruckter Form. Lewis Mumford beschreibt diese Situation so: »Mehr als jedes andere Mittel hat das gedruckte Buch die Menschen von der Vorherrschaft des Unmittelbaren und Lokalen befreit ... das Gedruckte hinterließ eine stärkere Wirkung als das Ereignis selbst ... Existieren bedeutete im Druck existieren: die übrige Welt trat demgegenüber immer mehr in den Hintergrund. Gelehrsamkeit wurde zur Büchergelehrtheit19  (Hervorhebung von mir.)

Welcher Art war das Wissen in den Büchern? Was konnte man aus ihnen lernen und erfahren? 

Da waren zunächst die Anleitungen für die Praxis: Bücher über Hüttenwesen, Botanik, Sprachwissenschaft, gutes Benehmen und schließlich auch Kinderheilkunde. Das 1544 erschienene Boke of Chyldren von Thomas Phaire gilt allgemein als das erste von einem Engländer verfaßte Werk über Kinderheilkunde. (Ein anderes hatte 1498 schon der Italiener Paolo Bagellardo veröffentlicht.) 

In seinem Buch empfiehlt Phaire den Gebrauch von Beißringen und liefert eine umfassende Liste »schmerzlicher und perikulöser« Kinderkrankheiten, darunter »Hirnabszeß« (wahrscheinlich Hirnhautentzündung), Angstträume, Jucken, blutunterlaufene Augen, Kolik und Magenknurren.20 Das Erscheinen von Büchern über Kinderheilkunde und gutes Benehmen ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Vorstellung von Kindheit schon weniger als hundert Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks Gestalt anzunehmen begann.

Wichtig ist aber vor allem, daß die Druckerpresse eine Entwicklung auslöste, die wir heute als »Wissens­explosion« bezeichnen würden. Um seinen Aufgaben als Erwachsener gerecht zu werden, mußte man über das Gewohnte und Überlieferte hinaus in Welten vorstoßen, von denen man bisher nichts gewußt und nichts geahnt hatte. Denn da gab es ja nicht nur das allgemeine Wissen, wie man es in den praktischen Anleitungen, in verschiedenen Ratgebern und Handbüchern fand — auch die Sphäre des Handels wurde zusehends von bedrucktem Papier bestimmt: von Verträgen, Urkunden, Schuldscheinen und Karten.

(Es überrascht nicht, daß die Kartographen in einer Umwelt, in der das Wissen zur Standardisierung und Reproduzierbarkeit tendierte, dazu übergingen, das »Paradies« wegen dessen allzu Ungewisser Lokalisierung aus ihren Karten auszuschließen.21)

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Tatsächlich wurde so viel und so vielfältiges neues Wissen hervorgebracht, daß das Manuskript des Abschreibers als Buchmodell für die Buchhersteller nicht mehr taugte. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts begannen die Drucker, mit neuen Formaten zu experimentieren, und eine der wichtigsten Neuerungen war die Verwendung von arabischen Zahlen, um die Seiten zu numerieren. Das erste bekannte Beispiel einer solchen Paginierung ist Johann Frobens 1516 gedruckte erste Ausgabe von Erasmus' Neuem Testament.

Eine natürliche Folge der Paginierung waren genauere Register, Anmerkungen und Verweise, die ihrerseits Neuerungen bei den Satzzeichen mit sich brachten und dazu führten, daß die Bücher mehr und mehr mit Zwischenüberschriften versehen, in Abschnitte gegliedert und mit Titelseiten und lebenden Kolumnentiteln ausgestattet wurden. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte das maschinell gefertigte Buch bereits eine typographische Gestalt und ein Aussehen — und natürlich auch Funktionen —, die dem Buch von heute vergleichbar sind. Doch schon früher hatten sich die Drucker Gedanken über die Ästhetik und die Leistungsfähigkeit verschiedener Buchformate gemacht. Bitter beklagte sich der Drucker von Machiavellis Erster Dezennale über einen Raubdruck dieses überaus erfolgreichen Werkes. Er beschrieb die gefälschte Ausgabe als »ein kärgliches Ding ... ganz schlecht geheftet, ohne Rand, auf winzigen Seiten, kein weißes Blatt, weder vorn noch hinten, mit schiefen Buchstaben und Druckfehlern überall«.22

Man sollte hier die von Harold Innis aufgestellte These beachten, daß uns neue Kommunikationstechniken nicht nur neue Dinge liefern, über die nachgedacht wird, sondern auch neue Dinge, mit denen gedacht wird. Die Form des gedruckten Buches erzeugte eine neue Methode, Inhalte zu organisieren, und förderte damit eine neue Methode zur Organisierung des Denkens. 

Die strenge Linearität des gedruckten Buches — der sequentielle Charakter seiner Satz-für-Satz-Darstellung, seine Einteilung in Abschnitte, seine alphabetisch geordneten Register, seine vereinheitlichte Orthographie und Grammatik — begründete Denkgewohnheiten und eine Bewußtseinsstruktur, die der Struktur der Typographie

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eng verwandt waren und die James Joyce ironisch als »ABCED-mindedness« (ABC-Gesinnung + »absent-mindedness« /Geistesabwesenheit) bezeichnet hat. 

Auf diese Auswirkung des Buchdrucks haben sowohl Harold Innis als auch Marshall McLuhan immer wieder hingewiesen; aber auch eine so behutsame Historikerin wie Elizabeth Eisenstein vertritt die Meinung, daß das neue Buchformat und die spezifische Art, in der es Wissen kodifiziert, »dazu beigetragen haben, das Denken aller Leser, gleichgültig, welchem Beruf sie nachgingen, neu zu ordnen«.23

Es kann kaum Zweifel daran geben, daß die Strukturierung des Buches in Kapitel und Abschnitte sich zu einem allgemein akzeptierten Verfahren entwickelte, eine bestimmte Materie zu gliedern: aus der Form, in der das Buch sein Material präsentierte, wurde die logische Struktur des Faches selbst. Eisenstein gibt hierfür ein interessantes Beispiel aus der Rechtswissenschaft. Der mittelalterliche Lehrer des Corpus Juris vermochte weder seinen Schülern noch sich selbst vor Augen zu führen, in welcher Beziehung die einzelnen Bestandteile des Rechts zur Logik des Ganzen standen, weil nur sehr wenige Lehrer das Corpus Juris je als ein Ganzes zu Gesicht bekommen hatten. 

Im Jahre 1533 jedoch begann eine am gedruckten Buch orientierte Generation von Rechtsgelehrten, das gesamte Manuskript neu herauszugeben und dabei die einzelnen Teile neu zu organisieren, es in Abschnitte einzuteilen und die Zitate nachzuweisen. Auf diese Weise machten sie die alte Kompilation als ganze zugänglich, sie sorgten für stilistische Klarheit und innere Schlüssigkeit, was nichts anderes bedeutet, als daß sie ihren Gegenstand neu konzipierten.24

Elizabeth Eisenstein bemerkt: »Die bloße Vorbereitung anhand von unterschiedlich gegliederten Lehrbüchern für den Unterricht in den verschiedenen Disziplinen begünstigte die Überprüfung der hergebrachten Prozeduren und eine Erneuerung des methodischen Vorgehens innerhalb der verschiedenen Gebiete.«25 Mit anderen Worten, der Umstand, daß verschiedene Texte zum selben Gegenstand verfügbar waren, machte es erforderlich, diese Texte in ihrem Aufbau und der Abfolge der einzelnen Abschnitte einander anzugleichen; und indem sie festlegten, was zuerst kam und was zuletzt, schufen die Lehrbuchautoren ihre jeweiligen Fächer neu.

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Gleichzeitig legten die Herausgeber von Büchern im 16. Jahrhundert stärkeres Gewicht auf Klarheit und Logik der Anordnung. »Die ... Doktrin, daß sich jeder Gegenstand topisch behandeln läßt«, schreibt Gerald Strauss, »daß die beste Art der Exposition jene ist, die analytisch vorgeht, wurde von Verlegern und Herausgebern begeistert übernommen.«26  

Was sie sich damit zu eigen machten, war ein Wertmaßstab für die beste Art und Weise, die eigenen Gedanken zu ordnen, eine Wertvorstellung, die aus der Struktur des Buches und der Typographie selbst erwuchs, aber beileibe nicht die einzige, die sich auf diese Weise ergab. In dem Maße, wie die Kalligraphie und damit die idiosynkratische Handschriftlichkeit schwanden, gewann die unpersönliche, reproduzierbare Druckschrift an Autorität. Noch heute besteht — ungeachtet der Individualität der Autoren — die Neigung, dem, was im Druck erscheint, besonderen Glauben zu schenken. Vor allem dort, wo der Hinweis auf einen einzelnen, unverwechselbaren Verfasser fehlt, etwa in Lehrbüchern oder Lexika, ist die Tendenz, die gedruckte Seite als sakrosankten Ausdruck der Autorität aufzufassen, fast übermächtig.

Dies alles besagt, daß die Typographie durchaus kein neutraler Informationsträger war. Sie führte zur Reorganisation der Gegenstände, zu einer verstärkten Betonung von Logik und Klarheit und zu einer bestimmten Haltung gegenüber der Autorität von Wissen. Und sie begründete eine neuartige Wahrnehmung literarischer Formen. Prosa und Poesie z.B. wurden jetzt danach unterschieden, wie die Wörter auf der Druckseite verteilt waren. Und natürlich spielte die Struktur der Druckseite ebenso wie die Reproduzierbarkeit des gedruckten Buches eine entscheidende Rolle nicht nur bei der Entstehung des Essays, sondern auch bei der des Romans. Viele der frühesten Romanautoren, etwa Samuel Richardson, waren selbst Drucker.

Und als Sir Thomas Morus seine <Utopia> schrieb, gewissermaßen unseren ersten Science-fiction-Roman, da arbeitete er auf jeder Stufe eng mit seinem Drucker zusammen. 

All dies deutet darauf hin, daß man die psychologische Wirkung des Überwechselns der Kommunikation vom Ohr zum Auge, vom gesprochenen zum gedruckten Wort schwerlich überschätzen kann. Die eigene Sprache in einer derartig dauerhaften, reproduzierbaren und standardisierten Form zu sehen, erzeugte die denkbar gründlichste Beziehung zu ihr. 

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Heute, in einer Umwelt, die so sehr von geschriebener Sprache geprägt ist, daß wir in ihr gar nicht zurechtkämen, wenn wir nicht lesen könnten, fällt es uns schwer, das Wunderbare und tief Bedeutsame nachzuvollziehen, das dem Lesen im 16. und 17. Jahrhundert anhaftete. Als so mächtig — vielleicht sogar magisch — galt die Fähigkeit zu lesen, daß sie einen Menschen vor dem Galgen retten konnte. So wurden in England einem Dieb nur die Daumen gezeichnet, wenn er einen Satz aus der Bibel lesen konnte; konnte er das nicht, dann war sein Leben verwirkt. »Besagter Paul liest, soll gebrandmarkt werden; besagter William liest nicht, soll gehängt werden« — so steht es in einem Gerichtsurteil von 1613 über zwei Männer, die überführt worden waren, das Haus des Earl of Sussex beraubt zu haben.27

Der Buchdruck machte aus der Volkssprache zum erstenmal ein Massenmedium. Das hatte nicht nur für die Individuen Folgen, sondern auch für ganze Nationen. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß die fixierte, visualisierbare Sprache eine wesentliche Rolle bei der Entstehung des Nationalismus spielte. Tatsächlich entwickelte sich der sprachliche Chauvinismus parallel zur Entwicklung des Buchdrucks: die Idee der »Muttersprache« war ein Produkt der Druckerkunst. Das gleiche gilt für die Idee des Protestantismus. Keine gesellschaftliche Umwälzung ist direkter und offenkundiger mit dem Buchdruck verbunden als die protestantische Reformation. Für diese Behauptung können wir das Zeugnis Martin Luthers selbst anführen, der in der Druckerkunst den höchsten und äußersten Gnadenakt Gottes zur Beförderung der Sache des Evangeliums sah. 

Luthertum und Buch sind untrennbar miteinander verknüpft. Doch bei aller Klugheit, mit der sich Luther gedruckte Streitschriften und Bücher zunutze machte, war selbst er zuweilen von der unerwarteten Macht des Gedruckten bestürzt. In einem Brief an den Papst schreibt er, wie sehr es ihn überrascht habe, daß seine Thesen an so vielen Orten Verbreitung gefunden hätten, seien sie doch ausschließlich für einen kleinen Kreis von Universitätsleuten bestimmt und in einer Sprache abgefaßt gewesen, die der gemeine Mann kaum verstand. Vielleicht hätte sich Luther weniger gewundert, wenn er die Warnung des Sokrates vor dem Schreiben gekannt hätte. Im Phaidros (275e) erklärt Sokrates: »Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.«

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Und hier dachte Sokrates noch gar nicht an das gedruckte Buch, durch das sich sein Problem verhundertfacht. Denn offensichtlich übersah Luther, daß sich gedruckte Bücher herumtragen und verbreiten lassen. Auch wenn seine Thesen im Latein der Akademiker verfaßt waren, ließen sie sich doch leicht in alle Gegenden Deutschlands und in andere Länder transportieren, und ebenso leicht konnten Drucker sie in ihre Volkssprachen übersetzen.

Luther war zweifellos ein eifriger Verfechter des Drucks von volkssprachlichen Schriften und machte sich die Tatsache, daß die geschriebene Rede überall umherschweift »und nicht versteht, zu wem sie reden soll«, zunutze. Er übersetzte die Bibel ins Deutsche, damit das Wort Gottes die denkbar größte Zahl von Menschen erreiche. Es würde hier zu weit führen, die zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen Buchdruck und religiöser Rebellion im einzelnen zu erörtern, man muß sich allerdings klarmachen, daß die Druckerpresse das Wort Gottes jeder Familie auf den Küchentisch brachte, und zwar in einer Sprache, die sie verstehen konnte. Und als Gottes Wort so zugänglich geworden war, waren die Christen nicht länger darauf angewiesen, es sich vom Papsttum deuten zu lassen. Jedenfalls gelangten Millionen von ihnen zu dieser Ansicht. »Das Christentum«, so schreibt Lawrence Stone, »ist eine Religion des Buches, nämlich der Heiligen Schrift, und sobald dieses Buch nicht mehr ein wohlgehütetes Geheimnis war, zu dem nur die Priester Zugang hatten, erzeugte es einen Druck in Richtung auf die Entstehung einer literalen, des Lesens und Schreibens kundigen Gesellschaft.«28

Die Bibel wurde zu einem Instrument, über das man nachdenken konnte, aber auch zu einem Instrument, mit dem man nachdenken konnte. Denn wenn es je einen Fall gegeben hat, in dem ein Medium und eine Botschaft ihrer Tendenz nach genau übereinstimmen, dann die Beziehung zwischen Druckerkunst und Protestantismus. Nicht nur, daß beide Momente die Möglichkeiten individuellen Denkens und Handelns darlegten — die Übersetzung der Bibel in mehrere Sprachen verwandelte auch das Wort Gottes, wie es sich in der lateinischen Bibel des Mittelalters offenbart hatte, in die Worte Gottes. Durch den Druck wurde Gott zum Engländer, zum Deutschen, zum Franzosen, je nachdem, in welcher Volkssprache sein Wort offenbart wurde. Das stärkte den Nationalismus und schwächte die Unantastbarkeit der Heiligen Schrift.

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Die schließliche Verdrängung der Liebe zu Gott durch die Liebe zum Vaterland, die sich vom 18. Jahr­hundert bis in die Gegenwart hinein vollzog, gehört möglicherweise zu den Folgen des Buchdrucks. In den letzten beiden Jahrhunderten etwa haben sich Christen fast ausschließlich durch nationale Interessen dazu hinreißen lassen, Kriege zu führen; Gott konnte sich selbst wehren.

Auch die Verdrängung der mittelalterlichen, aristotelischen Wissenschaft durch die moderne Wissenschaft kann man in erheblichem Maße auf die Druckerpresse zurückführen. Kopernikus wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts geboren, und Andreas Vesalius, Tycho Brahe, Francis Bacon, Galileo Galilei, Johannes Kepler, William Harvey und Descartes kamen alle im 16. Jahrhundert zur Welt; die Fundamente der modernen Wissenschaft wurden also in den ersten hundert Jahren nach der Erfindung der Druckerpresse gelegt. Man gewinnt einen Eindruck von der Dramatik dieses Übergangs vom mittelalterlichen Denken zur modernen Wissenschaft, wenn man einen Blick auf das Jahr 1543 wirft. In diesem Jahr erschien sowohl die Schrift De Revolutionibus von Kopernikus als auch De Fabrica von Vesalius; das erste Werk erneuerte die Astronomie von Grund auf, das zweite die Anatomie. 

Wie kam es dazu, daß die neue Kommunikationsumwelt eine solche Fülle wissenschaftlicher Entdeckungen und wissen­schaftlicher Ideen hervorbrachte?

Zunächst einmal erschloß der Buchdruck nicht nur neue Methoden und Quellen der Datensammlung, sondern er weitete auch die Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern auf den gesamten Kontinent aus. Zweitens brachte die Tendenz zur Standardisierung eine Vereinheitlichung der mathematischen Symbole mit sich, wozu auch die Ersetzung der römischen durch die arabischen Zahlen gerechnet werden muß. So konnte Galilei die Mathematik als »Sprache der Natur« bezeichnen — in der Gewißheit, daß auch andere Wissenschaftler diese Sprache sprechen und verstehen konnten. Außerdem trug die Standardisierung ganz erheblich zur Beseitigung von Unklarheiten in Texten und zur Verringerung von Irrtümern in Diagrammen, Schaubildern, Tabellen und Karten bei. Indem der Druck reproduzierbare visuelle Hilfsmittel zur Verfügung stellte, ließ er die Natur einförmiger und deshalb transparenter erscheinen.

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Der Buchdruck führte durch die Verwendung der Volkssprachen auch zur Popularisierung wissenschaftlicher Vorstellungen. Zwar beharrten einige Wissenschaftler - Harvey zum Beispiel - darauf, lateinisch zu schreiben, andere aber, wie etwa Bacon, bedienten sich eifrig der Volkssprache, um den neuen Geist und die neuen Methoden der wissenschaftlichen Philosophie zu verbreiten. Die Tage der Alchimistengeheimnisse waren gezählt. Die Wissenschaft wurde zur »öffentlichen Angelegenheit«.

Bacons Advancement of Learning, erschienen 1605, ist die erste große wissenschaftliche Abhandlung in englischer Sprache. Ein Jahr später publizierte Galilei in italienischer Sprache eine Streitschrift, die er anscheinend in seinem eigenen Haus druckte; Galilei hatte durchaus Gespür für die Möglichkeiten von volkssprachlichen Druckerzeugnissen als eines Mittels, von sich reden zu machen, und benutzte dieses Mittel auch, um seine Ansprüche auf die Erfindung des Fernrohrs zu bekräftigen. Außerdem stellte die Druckerkunst eine reichhaltige Sammlung nützlicher antiker Texte wieder zur Verfügung, die den mittelalterlichen Gelehrten entweder unbekannt oder unzugänglich gewesen waren. So erschien zum Beispiel im Jahre 1570 die erste englische Euklid-Übersetzung.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts stand nicht nur der Euklid zur Verfügung, auch Astronomie, Anatomie und Physik waren jedem, der lesen konnte, zugänglich. Neue literarische Formen waren verfügbar. Die Bibel war verfügbar. Geschäftsdokumente waren verfügbar. Und verfügbar war auch praktisches Wissen über Maschinen, Landwirtschaft und Medizin. Im Verlauf des Jahrhunderts war eine von Grund auf neue symbolische Umwelt entstanden. Diese Umwelt war erfüllt von neuem Wissen und abstrakter Erfahrung. Sie erforderte neue Fertigkeiten, neue Verhaltensweisen und, vor allem, ein neues Bewußtsein. Individualität, die Fähigkeit zu begrifflichem Denken, geistige Regsamkeit, der Glaube an die Autorität des gedruckten Worts, die Leidenschaft für Klarheit, Folgerichtigkeit und Vernunft — dies alles trat in den Vordergrund, während der von Mündlichkeit bestimmte Verständigungskontext des Mittelalters allmählich verschwand.

Geschehen war dies: Der literatus, der des Lesens und Schreibens kundige Gebildete, war geschaffen worden. Und indem er hervortrat, hatte er die Kinder hinter sich zurückgelassen. Denn im Mittelalter konnte weder jung noch alt lesen, und das Leben aller vollzog sich im Hier und Jetzt, im »Unmittelbaren und Lokalen«, wie es Mumford nannte.

Deshalb bedurfte es auch keiner Vorstellung von Kindheit, denn alle hatten teil an der gleichen Wissens­umwelt und lebten insofern in der gleichen gesellschaftlichen und kulturellen Formation. Als aber die Druckerpresse zur Wirksamkeit gelangt war, da zeigte sich, daß mit ihr eine neue Art von Erwachsenheit auf den Plan getreten war. Seit der Erfindung des Buchdrucks mußte die Erwachsenheit erworben werden. Sie wurde zu einer symbolischen Leistung, war nicht länger Resultat einer biologischen Entwicklung. Seit der Erfindung des Buchdrucks mußten die Kinder Erwachsene erst werden, und dazu mußten sie lesen lernen, die Welt der Typographie betreten. Damit ihnen das gelang, brauchten sie Erziehung. Deshalb erfand die europäische Zivilisation die Schule von neuem. Und damit machte sie aus der Kindheit eine Institution.

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