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3  Die Wiege der Kindheit

 

 

 

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Die ersten fünfzig Jahre des Buchdrucks bezeichnet man als die incunabula, wörtlich: die Zeit, da die Typographie noch in der Wiege lag. Als dann die Druckerkunst dieser Wiege entwachsen war, nahm die Idee der Kindheit ihren Platz ein, und deren incunabula dauerten rund zweihundert Jahre. Nach dem 16. und 17. Jahrhundert hatte sich die Ansicht allgemein durchgesetzt, daß es eine Kindheit gab und daß sie zur natürlichen Ordnung der Dinge gehörte.

J. Plumb schreibt: »Zusehends wurde das Kind zu einem Gegenstand der Achtung, zu einem besonderen Geschöpf mit andersartigem Wesen und andersartigen Bedürfnissen, das von der Erwachsenenwelt abgesondert und vor ihr geschützt werden mußte.«1)

Absonderung ist hier natürlich das Schlüsselwort. Indem wir Menschen voneinander absondern, schaffen wir Kategorien von Menschen, und die Kinder sind ein historisches Beispiel für eine solche Kategorie. Plumb jedoch sieht die Sache umgekehrt. Die Kinder wurden nicht deshalb von der übrigen Bevölkerung abgesondert, weil man annahm, sie hätten ein »andersartiges Wesen und andersartige Bedürfnisse«. Vielmehr glaubte man, sie hätten ein anderes Wesen und andere Bedürfnisse, weil sie von der übrigen Bevölkerung abgesondert worden waren. Und die Absonderung erfolgte, weil es. in dieser Kultur entscheidend geworden war. Lesen und Schreiben zu lernen und sich in einer Weise auszubilden, wie sie die vom gedruckten Wort geprägte Kultur verlangte.

Natürlich war es nicht von Anfang an klar, welche Folgen Lesen und Schreiben für die Menschen haben würden.

Wie nicht anders zu erwarten, waren die vorherrschenden Deutungen für die Ausbreitung der Lese- und Schreib­fähigkeit naiv, genau so wie unser heutiges Verständnis der Auswirkungen der elektronischen Medien naiv ist. Die Kaufleute zum Beispiel wollten, daß ihre Kinder das ABC lernten, damit sie sich in der Papier­welt des Handels und der Geschäfte zurechtfinden konnten.2 Die Lutheraner wollten Menschen, die sowohl die volkssprachlichen Bibeln als auch die Anklagen gegen die Kirche lesen konnten. Einige Katholiken sahen in den Büchern ein Mittel, den Menschen vermehrt Gehorsam gegenüber der Heiligen Schrift einzu­flößen. Und die Puritaner erblickten im Lesen die wichtigste Waffe gegen »die drei großen Übel der Unwissen­heit, der Gottlosigkeit und des Müßiggangs«.3 Mancher von ihnen bekam, was ihm vorgeschwebt hatte; mancher bekam sehr viel mehr. 

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts begannen die Katholiken, sich von der sozialen Literalität abzukehren, sahen im Lesen eine zersetzende Kraft, untersagten schließlich die Lektüre volkssprachlicher Bibeln und erließen ein Verbot bestimmter Bücher, etwa der des Erasmus. Lesen wurde mit Häresie gleichgesetzt, und unweigerlich folgte aus dieser Deutung der Index. 

Die Protestanten, die zur Häresie neigten und außerdem hofften, die Lese- und Schreibfähigkeit werde zur Vertreibung des Aberglaubens beitragen, machten sich die Möglichkeiten des Buchdrucks weiterhin zunutze und nahmen diese Auffassung auch mit in die Neue Welt hinüber. Gerade im presbyterianischen Schottland begegnet uns das intensivste Interesse an einer schulischen Bildung für alle. Im <First Book of Discipline> des Presbyterianers John Knox aus dem Jahre 1560 wird zum Beispiel — erstmals in der englischen Geschichte — die Forderung nach einem nationalen Erziehungssystem aufgestellt. Als die Presbyterianer auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren, erließen sie eine Gesetzgebung, die in diese Richtung zielte (den Act von 1646) und die sie 1696, als sie wieder an die Macht gelangt waren, erneuerten und stärkten.4

Zu den Folgen der Abkehr der Katholiken vom Buchdruck und des protestantischen Bündnisses mit ihm gehörte eine verblüffende Verschiebung in der intellektuellen Geographie Europas. Während das Bildungs- und Sensibilitätsniveau der mediterranen Länder im Mittelalter höher war als das Nordeuropas, hatte sich dieses Verhältnis gegen Ende des 17. Jahr­hunderts umgekehrt.

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Der Katholizismus blieb eine Religion des Bildes; er setzte die Bilderverehrung fort, verstärkte sie sogar und widmete der prunkvollen Ausstattung seiner Kirchen und Gottesdienste große Aufmerksamkeit. Der Protestantismus dagegen entwickelte sich als Religion des Buches, drängte die Bilderverehrung zurück und wendete sich einer nüchternen Symbolsprache zu. Joseph Kay hat im 19. Jahrhundert bemerkt, man müsse, um die Armen für die Religion zu interessieren, entweder »das Schauspiel ausschmücken«, wie es die Katholiken taten, oder »das Volk erziehen«, wie es die Protestanten taten.5

In bezug auf die Armen mag Kay recht haben, doch wir dürfen nicht übersehen, daß ein lesendes Volk eine Fähigkeit zu begrifflichem Denken entwickelt, die auf einem höheren Abstraktionsniveau angesiedelt ist als die von Analphabeten. Der am Bild orientierte, üppig ausgeschmückte Katholizismus hatte es nicht eigentlich darauf abgesehen, die Armen für irgend etwas zu interessieren; er paßte sich vielmehr einem Publikum aus allen gesellschaftlichen Schichten an, das nach wie vor an eine konkrete, bildhafte Symbol­sprache gewöhnt war. In der Schmucklosigkeit des Protestantismus dagegen drückte sich gleichsam natürlich ein Lebensstil aus, den das Buch mit abstrakten Denkoperationen vertraut gemacht hatte.

Dies bedeutete unter anderem, daß sich die Institution der Kindheit ungleichmäßig entfaltete. Wenn man nämlich die verschlungenen Wege der geschichtlichen Entwicklung genauer untersucht hat, so gelangt man zu einer ziemlich bündigen Formel: Wo die Lese- und Schreibfähigkeit allgemein hoch im Kurs stand, gab es Schulen, und wo es Schulen gab, da entfaltete sich die Vorstellung von der Kindheit sehr rasch. Deshalb auch nahm sie auf den britischen Inseln früher und deutlicher Gestalt an als irgendwo sonst. Schon in der Regierungszeit Heinrichs VIII. forderte William Forrest einen Elementarunterricht. Im Alter von vier Jahren, so schlug er vor, sollten die Kinder zur Schule geschickt werden, »um einige Bildung zu erwerben«, damit sie »Gottes Walten« verstehen lernten.6 Eine ähnliche Idee trug Thomas Starkey vor, der in seinem Dialogue Pfarrbezirks­schulen für alle Kinder unter sieben Jahren anregte.7 In verhältnismäßig kurzer Zeit verwandelten die Engländer ihre Gesellschaft in eine Insel der Schulen.

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Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden den einzelnen Gemeinden Hunderte von Legaten zur Errichtung freier Schulen für die Elementarausbildung der Kinder vermacht.8 Eine Übersicht von W. K. Jordan zeigt, daß es im Jahre 1480 in England 34 Schulen gab; im Jahre 1660 waren es 444, eine auf 4400 Einwohner, anders gesagt: alle zwanzig Kilometer fand sich eine Schule.9

Drei verschiedene Arten von Schulen entwickelten sich nebeneinander: die »kleinen« oder Elementar-Schulen, die im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichteten; die freien Schulen, die Mathematik, englischen Aufsatz und Rhetorik lehrten; und die Grammar Schools, die die Kinder mit Unterricht in englischer Grammatik und klassischen Sprachen auf die Universitäten und die Inns of Court, die Rechtskollegien in London, vorbereiteten.

Shakespeare besuchte eine solche Grammar School in Stratford, und seine Erfahrungen dort (wahrscheinlich hatte er Lylys Lateinische Grammatik lesen müssen) regten ihn zu der berühmten Klage im zweiten Teil seines Dramas Heinrich VI. an:

»Du hast höchst verräterischerweise die Jugend des Reiches verderbet, indem du eine lateinische Schule (grammar school) errichtet ... Es wird dir ins Gesicht bewiesen werden, daß du Leute um dich hast, die zu reden pflegen von Nomen und Verbuni und dergleichen scheußlichen Worten mehr, die kein Christenohr geduldig anhören kann.« (IV, 7, Übersetzung von A.W. v. Schlegel.)

 

Freilich, die meisten Engländer teilten nicht Shakespeares Ansicht, daß die Gründung von Schulen die Jugend des Reiches verderbe. Die Engländer waren sogar nicht einmal abgeneigt, Mädchen zur Schule zu schicken: der freie Unterricht, der in Norwich erteilt wurde, stand Kindern beiderlei Geschlechts offen. Und wenngleich man berücksichtigen muß, daß die Schulbildung hauptsächlich der Mittel- und Oberschicht zugute kam, gibt es doch Zeugnisse dafür, daß selbst unter den Armen einige Frauen lesen konnten.

Aber natürlich sehr viel mehr Männer. Von 204 Männern, die zwischen 1612 und 1614 als Nicht-Vorbestrafte in Middlesex zum Tode verurteilt wurden, plädierten 95 auf das »Vorrecht des Klerus«, was bedeutete, daß sie in der Lage waren, einen Satz aus der Bibel zu lesen, und daher vom Galgen verschont blieben.10

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Lawrence Stone zieht hieraus den Schluß, daß, wenn 47 Prozent der Angehörigen »krimineller Schichten« lesen konnten, der Anteil derer, die lesen konnten, an der männlichen Gesamtbevölkerung noch erheblich höher gewesen sein muß. (Es ist aber auch möglich, daß die »kriminellen Schichten« sehr viel schlauer waren, als Stone ihnen zubilligt, und daß dem Lesenlernen gerade bei ihnen hohe Priorität zukam.)

Jedenfalls sind genaue Angaben über die statistische Verteilung von Lesefähigkeit und Analphabetismus schwer zu ermitteln. Thomas Morus schätzte, daß im Jahre 1533 mehr als die Hälfte der Bevölkerung imstande war, eine englische Bibelübersetzung zu lesen. Die meisten Historiker halten dies für zu hoch gegriffen und gehen für das Jahr 1675 von ungefähr 40 Prozent (der männlichen Bevölkerung) aus. So viel immerhin wissen wir: im Jahre 1642 wurden mehr als 2000 verschiedene Flugschriften und Broschüren veröffentlicht; im Jahre 1645 erschienen mehr als 700 Zeitungen; und die Gesamtzahl der zwischen 1640 und 1660 erschienenen Flugschriften und Zeitungen beläuft sich auf 22.000.11

Es kann sein, daß England um die Mitte des 17. Jahrhunderts »die Gesellschaft mit dem höchsten Anteil an Lese- und Schreibkundigen der bisherigen Geschichte gewesen ist«.12 Mit Sicherheit waren seine politischen Führer zu Beginn des 17. Jahrhunderts des Lesens und Schreibens mächtig. Das gleiche gilt offenbar auch für Frankreich. Der letzte Analphabet, der in England ein hohes Amt innehatte, war der erste Earl of Rutland; in Frankreich war es der Konnetabel Montmorency.13 Obwohl die Entfaltung der Lese- und Schreibfähigkeit (d.h. die Entwicklung der Schulen) in Frankreich hinter der in England zurückblieb, besuchten im Jahre 1627 annähernd 40.000 französische Kinder eine Schule.

All dies brachte einen bemerkenswerten Wandel in der gesellschaftlichen Stellung der Kinder mit sich. Weil die Schule dazu bestimmt war, einen des Lesens und Schreibens kundigen Erwachsenen heranzubilden, wurden die Kinder nicht mehr als kleine Erwachsene wahrgenommen, sondern als etwas völlig anderes — als ungeformte Erwachsene. Im schulischen Lernen erkannte man ein Wesensmerkmal der Kindheit. »Altersklassen ... organisieren sich um Institutionen«, schreibt Aries. Und so wie im 19. Jahrhundert die Adoleszenz durch die Einberufung zur Armee definiert wurde, bestimmte der Schulbesuch im 16. und 17. Jahrhundert die Kindheit.

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Das Wort »Schuljunge« war schließlich gleichbedeutend mit »Kind«. Ivy Pinchbeck und Margaret Hewitt schreiben dazu:

»Während die <Kindheit> unter dem traditionellen [vom Lehrverhältnis geprägten] System praktisch mit sieben Jahren endete ... brachte es die organisierte Schulerziehung mit sich, daß die Phase, in der man die Kinder von den Anforderungen und Verantwortlich­keiten der Erwachsenenwelt fernhielt, verlängert wurde. Tatsächlich war die Kindheit jetzt nicht mehr so sehr eine biologische Notwendigkeit von nur vorübergehender Bedeutung; erstmals wurde sie zu einer Bildungsphase, der man immer mehr Gewicht beimaß.«14

Das heißt aber nichts anderes, als daß die Kindheit hier zur Bezeichnung für eine bestimmte Stufe symbolischer Leistungen wird. Das frühe, »unmündige« Kindesalter (infancy) endete mit dem Erwerb der Sprachbeherrschung. Die Kindheit begann dort, wo sich die Aufgabe stellte, lesen zu lernen. Tatsächlich verwendete man das Wort »Kind« häufig zur Bezeichnung von Erwachsenen, die nicht lesen konnten, die man geistig als Kinder ansah. Wie Plumb berichtet, ging man im 17. Jahrhundert allgemein davon aus, daß sich 

»das Lesen- und Schreibenlernen und die gesamte Schulerziehung entsprechend der Entwicklung des Kindes vollziehen sollten: mit dem Lesen sollte man im Alter von vier oder fünf Jahren beginnen, sodann mit dem Schreiben, und nach und nach sollten anspruchsvollere Gegenstände hinzukommen ..... Die Erziehung wurde einigermaßen starr an das kalendarische Alter der Kinder geknüpft«.15

Aber es dauerte einige Zeit, bis sich diese Korrelation zwischen Kalenderalter und Erziehung entwickelte. Die ersten Versuche, Schüler in Klassen oder verschiedene Stufen einzuteilen, hatten die Lesefähigkeit und nicht das Alter zum Kriterium.16 Die Differenzierung nach dem Alter kam erst später. Wie Aries feststellt, zeugt die Aufgliederung der Schulklasse in eine Hierarchie der Lesekompetenz davon, »daß man sich der Sonderstellung der Kindheit oder der Jugend bewußt geworden ist und sich der Auffassung nicht länger verschließt, daß es innerhalb dieser Kindheit oder auch dieser Jugend wieder bestimmte Kategorien gibt«.17

Aries knüpft hier an ein Grundprinzip sozialer Wahrnehmung an, auf das wir eben schon hingewiesen haben: Wenn irgendeine Gruppe aufgrund eines einzigen Merkmals gebildet wird, dann ist es unvermeidlich, daß auch andere Merkmale wahrgenommen werden.

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Was zunächst nur wie eine Gruppe von Menschen aussieht, denen man das Lesen beibringen muß, wird schließlich zu einem Komplex, an dem man auch viele andere Eigentümlichkeiten wahrnimmt. Indem sich die Kindheit zu einer sozialen und intellektuellen Kategorie entwickelte, wurden die verschiedenen Stufen der Kindheit sichtbar. Zusammenfassend meint Elizabeth Eisenstein: »Als die Schüler auf den Schulen nach neuartigen Gesichtspunkten eingeteilt und mit besonderem, auf die jeweilige Lernstufe abgestimmtem Lehrmaterial in gedruckter Form versehen wurden, entwickelten sich schließlich auch die <Peer-Groups>, die Gruppen der Gleichaltrigen, und es trat eine spezifische <Jugendkultur> in Erscheinung.«18

Was hieraus folgte, war unvermeidlich — zumindest sieht es im nachhinein so aus. Es entstand ein Unterschied zwischen Kinder- und Erwachsenenkleidung. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verlangte die Sitte, daß die Kindheit ihr eigenes Gewand trug.19

An den Gemälden seit dem 16. Jahrhundert lassen sich diese Unterschiede in der Kinderkleidung, aber auch der Wandel in der Art, wie die Erwachsenen die körperliche Erscheinung der Kinder wahrnahmen, sehr deutlich nachweisen; auf ihnen werden die Kinder nämlich nicht mehr als kleine Erwachsene dargestellt. Die Kindersprache beginnt sich von der Erwachsenensprache zu unterscheiden. Wie schon gesagt — in der Zeit vor dem 17. Jahrhundert war eine Sondersprache des Kindes unbekannt. Danach entwickelte sie sich sehr schnell und vielfältig. Auch Bücher über Kinderheilkunde erschienen jetzt immer zahlreicher.

Eines dieser Bücher, das Werk des Thomas Raynald, war so populär, daß es vor 1600 schon sieben Auflagen erlebte und bis 1676 immer wieder gedruckt wurde. Selbst der einfache Akt der Namengebung machte einen Wandel durch, in dem sich die veränderte soziale Stellung der Kinder widerspiegelte. Im Mittelalter war es nicht unüblich, allen Geschwistern denselben Namen zu geben und sie nur durch Beinamen nach der Reihenfolge ihrer Geburt zu unterscheiden. Im 17. Jahrhundert jedoch war diese Sitte verschwunden, und die Eltern gaben jedem Kind einen eigenen Namen, der oft von den Erwartungen bestimmt war, die sie in bezug auf das Kind hegten.20

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Mit einer gewissen Verspätung entwickelte sich auch die Kinderliteratur und trat 1744 in England erstmals in Erscheinung, als der Londoner Verleger John Newberry die Geschichte von Jack dem Riesentöter druckte. Um 1780 hatten sich viele Berufsschriftsteller der Herstellung von Jugendbüchern zugewendet.21

 

Parallel zur Entfaltung der Kindheit nahm die moderne Familie Gestalt an. Das entscheidende Ereignis für die Entstehung der modernen Familie war, wie Aries betont hat, die Erfindung und Ausweitung der formalen Schulerziehung.22 Als es gesellschaftlich notwendig wurde, daß die Kinder eine langwierige Phase formaler Ausbildung absolvierten, veränderte sich auch die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern. Ihre Verantwortung wurde größer und weitete sich aus, indem sie für ihre Kinder Wächter und Verwahrer, Beschützer und Ernährer, Bestrafer und Schiedsrichter in Geschmacks- und Sittenfragen wurden. Eisenstein weist auf einen weiteren Grund für diese Entwicklung hin: 

»Ein nicht endender Strom moralisierender Literatur bahnte sich seinen Weg in die Abgeschiedenheit des Haushalts ... Der <Familie> wurden neue erzieherische und religiöse Funktionen übertragen.«23  

Anders gesagt: als Bücher über jedes erdenkliche Thema nicht nur in der Schule, sondern auch auf dem Marktplatz erhältlich waren, sahen sich die Eltern in die Rolle von Pädagogen und Theologen gedrängt und mit der Aufgabe konfrontiert, aus ihren Kindern gottesfürchtige, gebildete Erwachsene zu machen. Die Familie als Erziehungsinstitution beginnt mit dem Buchdruck, nicht nur weil die Familie gewährleisten mußte, daß die Kinder eine Schulerziehung erhielten, sondern auch, weil sie selbst daheim ergänzende Erziehungsaufgaben übernehmen mußte.

Aber es geschah mit der Familie noch etwas anderes, das sich auf die Vorstellung von der Kindheit auswirkte und nicht übersehen werden sollte. In England, um das offenkundigste Beispiel zu nehmen, bildete sich ein deutlich sichtbares und weiter erstarkendes Bürgertum heraus — Leute, die Geld hatten und auch den Wunsch, es auszugeben. Wie sie das taten, beschreibt F. Duboulay: »Sie investierten es in größere Wohnhäuser mit mehr Räumen, in die man sich ungestört zurückziehen konnte; in Portraits von sich selbst und ihren Familien; und schließlich über Erziehung und Kleidung in ihre Kinder. Das überschüssige Geld machte es möglich, die Kinder als Objekte von Geltungskonsum zu benutzen.«24 (Hervorhebung von mir.)

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Duboulay weist darauf hin, daß die Verbesserung der ökonomischen Lage mit dazu beitrug, die bewußte Wahrnehmung von Kindern zu schärfen und ihnen zu größerer gesellschaftlicher Sichtbarkeit zu verhelfen. Wenn die Knaben, wie wir gesehen haben, als erste als etwas Besonderes wahrgenommen wurden, dann müssen wir auch im Auge behalten, daß es sich um Knaben aus dem Bürgertum handelte. Zweifellos war die Kindheit Ausdruck einer bürgerlichen Idee, zum Teil auch deshalb, weil das Bürgertum sie sich leisten konnte. Es dauerte weitere hundert Jahre, bis diese Idee zu den unteren Klassen durchgedrungen war.

All diese Entwicklungen waren äußere Anzeichen für die Herausbildung einer neuen Kategorie von Individuen - Menschen, die sich anders ausdrückten als die Erwachsenen, die ihre Zeit anders verbrachten, sich anders kleideten, anders lernten und letztlich auch anders dachten. Der alledem zugrunde liegende strukturelle Wandel bestand darin, daß die Erwachsenen mit dem Buchdruck und seiner Dienerin, der Schule, in eine Position gerieten, aus der heraus sie die symbolische Umwelt der Kinder in einem bisher. ungekannten Maß kontrollieren konnten, so daß sie die Bedingungen, unter denen das Kind zum Erwachsenen wurde, gestalten konnten und dies auch tun mußten.

Damit will ich nicht sagen, daß sich die Erwachsenen immer darüber im klaren waren, was sie taten oder warum sie es taten. In erheblichem Grade wurde die Entwicklung durch das Wesen des Buches und der Schule diktiert. Indem die Schulmeister z.B. methodisch komponierte Lehrbücher verfaßten und die Schulklassen nach dem Alter der Schüler einteilten, erfanden sie gleichsam die verschiedenen Stufen der Kindheit. Unsere Begriffe davon, was ein Kind lernen kann oder lernen soll und in welchem Alter, sind zum großen Teil von der Vorstellung eines gestaffelten Lehrplans abgeleitet, d.h. von der Idee, daß auf jeder Stufe bestimmte Bildungsvoraussetzungen erforderlich sind.

»Seit dem 16. Jahrhundert«, so bemerkt Elizabeth Eisenstein, »öffnet das Auswendiglernen einer festen Abfolge wohlunter­schiedener, durch sinnlose Symbole und Laute dargestellter Buchstaben für alle Kinder des Abendlandes das Tor zum Bücherwissen.«25 Elizabeth Eisenstein beschreibt hier den ersten Schritt hin zur Erwachsenheit, die Beherrschung des Alphabets, die, so wurde es beschlossen, irgendwann zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr gelingen sollte.

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Entscheidend aber ist hierbei, daß die Beherrschung des Alphabets und sodann die Beherrschung all der anderen Fertigkeiten und Kenntnisse, die wohldosiert folgen sollte, nicht bloß einen Lehrplan darstellten, sondern geradezu eine Definition der kindlichen Geschichte. Indem sie die Vorstellung von einer Hierarchie des Wissens und der Fertigkeiten entfalteten, erfanden die Erwachsenen die Struktur der kindlichen Entwicklung. J.H. Plumb bemerkt dazu: »Viele Annahmen über die menschliche Natur, die uns heute fast als zeitlos gültig erscheinen, sind während dieser Zeit erst entwickelt worden.«26

Und da der schulische Lehrplan ganz auf die Erfordernisse des Lesen- und Schreibenlernens zugeschnitten war, ist es eigentlich verwunderlich, daß sich Pädagogen so wenig über den Zusammenhang zwischen dem »Wesen der Kindheit« und den vom Buchdruck ausgehenden Formierungstendenzen geäußert haben. So wird z.B. das Kind dadurch langsam zum Erwachsenen, daß es jene Art von Verstand ausbildet, die wir von einem guten Leser erwarten; dazu gehören ein kräftiger Individualismus, die Fähigkeit, logisch und folgerichtig zu denken, die Fähigkeit, gegenüber Symbolen eine distanzierte Haltung einzunehmen, die Fähigkeit, mit einem hohen Grad von Abstraktion umzugehen, und die Fähigkeit, die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben. Und natürlich auch die Fähigkeit, Leistungen auf dem Gebiet der Selbstbeherrschung zu vollbringen. Man übersieht mitunter, daß das Lernen mit Büchern insofern »unnatürlich« ist, als es von den Kindern ein hohes Maß an Konzentration und »Sitzfleisch« verlangt, das ihren Neigungen durchaus zuwiderläuft.

Auch bevor es eine »Kindheit« gab, waren Kinder vermutlich quirliger und energiegeladener als Erwachsene. Einer der Gründe, warum Philippe Ariès die Erfindung der Kindheit bedauert, ist ja gerade, daß sie dazu tendiert, die hohe Lebhaftigkeit der Jugend zu beschränken. In einer Welt ohne Bücher und Schulen boten sich dem kindlichen Überschwang die denkbar besten Entfaltungsmöglichkeiten. In einer Welt der Büchergelehrsamkeit indessen mußte dieser Überschwang streng korrigiert werden. Eigenschaften wie Ruhe, Reglosigkeit, Nachdenklichkeit und einer genauen Regulierung der körperlichen Funktionen wurde nun ein hoher Wert beigemessen.

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Deshalb begannen seit dem 16. Jahrhundert Schulmeister und Eltern damit, den Kindern eine ziemlich strenge Disziplin aufzuerlegen. Die natürlichen Neigungen der Kinder nahm man nicht mehr bloß als Hindernis für das Lernen wahr, sondern geradezu als Anzeichen eines bösen Charakters. Daher galt es, im Interesse einer erfolgreichen Erziehung und auch um der »Seelenläuterung« willen, die »Natur« zu überwinden. Die Fähigkeit zur Selbst­beherrschung und zur Überwindung der eigenen Natur wurde zu einem bestimmenden Merkmal von Erwachsenheit und deshalb auch zu einem zentralen Erziehungsziel, für einige sogar zu dem Erziehungsziel schlechthin. 

»Das kleine Kind, welches in der Wiege liegt, ist sowohl widerspenstig als auch voll der Affektionen«,

schrieben die Puritaner Robert Cleaver und John Dod in ihrem Buch A Godly Form of Household Government von 1621. Und weiter:

»Und auch wenn sein Körper nur klein ist, so besitzt es doch ein missetäterisches Herz und ist ganz dem Bösen zugeneigt ... Wenn man duldet, daß dieser Funke wächst, so wird er überspringen und das ganze Haus niederbrennen. Denn wir wandeln uns und werden gut nicht durch Geburt, sondern durch Erziehung.«27

Ungeachtet der Reaktion Rousseaus auf solche Anschauungen wurden Kinder jahrhundertelang einer Erziehung unterworfen, die sie »gut« machen, d.h. dazu bringen sollte, ihre natürlichen Energien und Bedürfnisse zu unterdrücken. Fraglos hat den Kindern eine derartige Zucht nie zugesagt, und schon 1597 entwarf Shakespeare das eindringliche, unvergeßliche Bild eines Kindes, dem bereits klar ist, daß die Schule nur die Feuerprobe für das Erwachsenenalter ist. In dem berühmten Abschnitt über die Lebensalter in Wie es euch gefällt spricht Shakespeare von dem »weinerlichen Buben, der mit Bündel / und glattem Morgenantlitz, wie die Schnecke / ungern zur Schule kriecht«. (II, 7)

In dem Maße, wie die Selbstbeherrschung zu einem wesentlichen intellektuellen und theologischen Prinzip und zu einem Merkmal von Erwachsenheit wurde, spiegelte sie sich auch in den sexuellen Sitten und Gepflogenheiten wider. Eines der frühesten und einflußreichsten Bücher über diesen Gegenstand sind die 1516 erschienenen Colloquien des Erasmus von Rotterdam. Die Absicht des Autors bestand darin, Verhaltens­anweisungen zu geben, wie die Knaben ihr Triebleben regulieren sollten.

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Man darf in diesem Werk wohl das erste verbreitete weltliche Buch sehen, das sich mit dem Thema des Schamgefühls beschäftigt, auch wenn es nach unseren Maßstäben zunächst nicht diesen Anschein erweckt. Denn Erasmus erörtert Dinge, von denen im 18. Jahrhundert in Kinderbüchern auf keinen Fall mehr die Rede sein durfte. So beschreibt er die fiktive Begegnung zwischen einem Knaben und einer Dirne, wobei der Junge dem Werben der Dirne widersteht und ihr schließlich den Pfad der Tugend weist. 

Auch schildert Erasmus einen jungen Mann, der einem Mädchen den Hof macht, und dann eine Frau, die sich über die Widerspenstigkeit ihres Gemahls beklagt. Mit anderen Worten, das Buch teilt den Kindern etwas über den Umgang mit dem Problem der Sexualität mit. Auf die Gefahr hin, sich für immer zu blamieren, könnte man Erasmus als die Judy Blume seiner Zeit bezeichnen. Aber anders als diese bekannte Autorin vielgelesener Bücher über die Sexualität der Kinder wollte Erasmus Schamgefühle nicht abbauen, im Gegenteil, er wollte die Schamschwelle erhöhen. Wie später John Locke und noch später Freud wußte auch Erasmus, daß das Schamgefühl, unabhängig von seiner religiösen Bedeutung, ein entscheidendes Element im Prozeß der Zivilisation ist. Es ist der Preis, den wir für unsere Siege über die Natur zahlen.

Das Buch und die Welt der Buchgelehrsamkeit stellten einen fast uneingeschränkten Sieg über unsere animalische Natur dar, und zu den Erfordernissen einer des Lesens und Schreibens kundigen Gesellschaft gehörte durchaus ein fein entwickeltes Schamgefühl. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, daß der Buchdruck — indem er die Botschaft von ihrem Absender trennte, indem er abstrakte Gedanken begünstigte, indem er die Unterordnung des Körpers unter den Geist verlangte und die Tugenden der Besinnlichkeit betonte — den Glauben an die Dualität von Geist und Körper verstärkte, der seinerseits eine verächtliche Einstellung zum Körper förderte. Der Buchdruck schenkte uns den körperlosen Geist, aber er hinterließ uns auch das Problem, wie wir unser übriges Wesen kontrollieren sollen. Das Schamgefühl war der Mechanismus, mit dem sich eine solche Kontrolle bewerkstelligen ließ.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gab es eine Theologie des Buches, ein neu erstarkendes, auf der Drucktechnik fußendes Handelssystem und eine neue, aus der Schulbildung erwachsene Vorstellung von der Familie. Sie alle leisteten der Idee allseitiger Selbstbeherrschung Vorschub und drängten darauf, zwischen dem Verhalten in der Öffentlichkeit und in der Privatsphäre eine klare Trennungslinie zu ziehen.

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»Erst sehr allmählich«, schreibt Norbert Elias, »breitet sich dann eine stärkere Scham- und Peinlichkeits­belastung der Geschlechtlichkeit und eine entsprechende Zurückhaltung des Verhaltens mehr oder weniger gleichmäßig über die ganze Gesellschaft hin aus. Und erst dann, wenn die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern wächst, wird das, was wir die <sexuelle Aufklärung> nennen, zu einem <brennenden Problem>.«28  Elias sagt hier, daß die Gesellschaft in dem Maße, wie sich die Vorstellung von Kindheit entwickelte, einen großen Vorrat an Geheimnissen aufhäufte, die den Kindern vorenthalten werden sollten: Geheimnisse über die sexuellen Beziehungen, aber auch über Geld, Gewalt, Krankheit, Tod und gesellschaftliche Haltungen. Es bildeten sich sogar sprachliche Geheimnisse heraus — ein Bestand an Wörtern, die in Anwesenheit von Kindern nicht ausgesprochen werden durften.

Es liegt hierin eine gewisse Paradoxie, denn einerseits zerstörte die entstehende Buchkultur das, was Harold Innis als die »Wissensmonopole« bezeichnet hat. Sie machte theologische, politische und wissenschaftliche Geheimnisse einem breiten Publikum zugänglich, dem sie vorher verschlossen gewesen waren. Indem aber die Buchkultur andererseits die Kinder auf das Bücherwissen einschränkte, sie der Psychologie des nur aus Büchern Lernenden und der Aufsicht von Lehrern und Eltern unterwarf, grenzte sie die Welt des Alltags aus, die den Kindern im Mittelalter ganz und gar vertraut gewesen war. Schließlich wurde die Kenntnis dieser kulturellen Geheimnisse zu einem der herausragenden Merkmale von Erwachsenheit, und bis in die jüngste Zeit hinein bestand einer der wesentlichen Unterschiede zwischen dem Kind und dem Erwachsenen darin, daß dieser im Besitz von Wissen war, das für Kinder als unziemlich erachtet wurde. Wenn die Kinder heranwuchsen. enthüllten wir ihnen diese Geheimnisse Schritt für Schritt, bis hin zur »sexuellen Aufklärung«.

Deshalb verweigerten Lehrer den Kindern schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts den Zugang zu »unanständigen Büchern« und bestraften sie für den Gebrauch schmutziger Worte. Auch hielten sie die Kinder von Glücksspielen ab, die im Mittelalter ein beliebter Zeitvertreib gewesen waren.29

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Und weil man nicht mehr davon ausgehen konnte, daß den Kindern die Geheimnisse des Verhaltens in der Öffentlichkeit, wie es sich für einen Erwachsenen ziemte, bekannt waren, fanden Anstandsbücher weite Verbreitung. Auch hier führte Erasmus das Feld an. In seiner Schrift De civilitate morum puerilium stellte er zur Erbauung der Jungen eine Reihe von Regeln für das Betragen in der Öffentlichkeit auf. »Wende dich beim Ausspucken ab«, sagt er, »damit nicht dein Speichel auf einen anderen fällt. Wenn etwas Eitriges auf den Boden fällt, so tritt darauf, damit es keinen anderen mit Ekel erfüllt. Wenn es dir nicht freisteht, dies zu tun, so fange den Auswurf in einem kleinen Tuch auf. Den Speichel wieder hinunter­zuschlucken ist ebenso unmanierlich wie das Verhalten jener, die bei jedem dritten Wort ausspucken, nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Gewohnheit.«

Was das Schneuzen betrifft, so betont Erasmus: »... sich in die Mütze oder die Kleidung zu schneuzen ist bäurisch ... und es ist auch nicht viel höflicher, die eigene Hand zu Hilfe zu nehmen. Es gehört sich, die Nase mit einem Taschentuch zu reinigen, und zwar indem man sich, wenn achtbarere Leute zugegen sind, abwendet.« (Hervorhebung von Erasmus.)

Erasmus vollbringt hier mehreres gleichzeitig. Zunächst flößt er den Kindern Schamgefühl ein, ohne das sie keinen Zutritt zur Erwachsenenwelt erlangen können. Außerdem weist er ihnen den Status von »Barbaren« zu, denn mit der Idee der Kindheit entwickelte sich, wie bereits gesagt, die Vorstellung, daß Kinder ungeformte Erwachsene sind, die erst zivilisiert und in das Verhalten von Erwachsenen eingeübt werden müssen. So wie das Schulbuch ihnen die Geheimnisse des Wissens enthüllt, so offenbart ihnen das Anstandsbuch die Geheimnisse des Betragens in der Öffentlichkeit.

»Wie Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde brachte«, sagt Erasmus über sein Buch, »so habe ich die Philosophie zu den Spielplätzen und Tischgesellschaften gebracht.« Aber Erasmus war es nicht nur darum zu tun, den Kindern Erwachsenengeheimnisse zu offenbaren. Er schuf zugleich neue Geheimnisse. Man muß wissen, daß sich seine Bücher über das Betragen in der Öffentlichkeit sowohl an Erwachsene als auch an Kinder richteten. Er begründete eine Vorstellung von Erwachsenheit und zugleich eine Vorstellung von Kindheit. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an Barbara Tuchmans Bemerkung über das Kindische im Verhalten des mittelalterlichen Erwachsenen.

Indem nun Buch und Schule das »Kind« hervorbrachten, schufen sie gleichzeitig den modernen Begriff vom Erwachsenen. Und wenn ich weiter unten zu zeigen versuche, daß heute die Kindheit verschwindet, dann will ich damit auch zum Ausdruck bringen, daß eine bestimmte Form von Erwachsenheit ebenfalls unweigerlich zu verschwinden droht.

In dem Maße jedenfalls, wie die Unterschiede zwischen Kindheit und Erwachsenheit zunahmen, entfaltete jede der beiden Sphären eine ihr eigentümliche Symbolwelt, und schließlich galt es als selbstverständlich, daß das Kind an der Sprache und Bildung des Erwachsenen, an seinen Vorlieben und Gelüsten und an seinem gesellschaftlichen Leben nicht teilnahm und nicht teilnehmen konnte. Die Aufgabe des Erwachsenen bestand ja gerade darin, das Kind auf den Umgang mit der Symbolwelt des Erwachsenen vorzubereiten. 

Um 1850 hatten sich die »Jahrhunderte der Kindheit« — so der amerikanische Titel des Buches von Aries — erfüllt; die Kindheit war überall in der westlichen Welt zu einer sozialen Idee und zu einer sozialen Tatsache geworden. Indessen fiel niemandem auf, daß ungefähr in die gleiche Zeit der Anfang vom Ende der Kindheit fällt.

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