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4. Der Weg der Kindheit  

 

  

 

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Bevor wir uns jenen Veränderungen in unserer Symbolwelt zuwenden, die zu einer Auflösung der Idee der Kindheit führen, soll kurz der Weg nachgezeichnet werden, den die Kindheit seit dem 17. Jahrhundert genommen hat. Wenn ich vom Verschwinden der Kindheit spreche, dann spreche ich vom Verschwinden einer Idee. Unser Verständnis für diese Idee — und erst recht für ihr Verschwinden — können wir vertiefen, wenn wir uns in Erinnerung rufen, welche Hindernisse ihr auf diesem Weg begegnet sind und welche Einflüsse ihr weitergeholfen haben.

Man darf sich nicht vorstellen, daß die Kindheit aus Gutenbergs Druckerwerkstatt und der Klasse des Schulmeisters vollentwickelt hervorgetreten ist. Zwar waren diese beiden Faktoren, wie ich zu zeigen versucht habe, für die Ausformung der Kindheit in der modernen Welt von wesentlicher Bedeutung. Aber wie alle Ideen, vor allem solche von internationaler Reichweite, hat auch die Idee der Kindheit zu unterschiedlichen Zeiten für unterschiedliche Menschen Unterschiedliches bedeutet. 

Jede Nation, die diese Idee zu begreifen und der eigenen Kultur einzuverleiben versuchte, hat ihr ein spezifisches, der jeweiligen wirtschaftlichen, religiösen und intellektuellen Konstellation entsprechendes Gepräge gegeben. In manchen Fällen wurde auf diese Weise die Idee bereichert, manchmal wurde sie vernachlässigt, und manchmal verarmte sie; an keinem Punkt der Entwicklung aber verschwand sie, obwohl es mitunter fast dazu gekommen wäre.

Die Industrialisierung etwa, die seit dem 18. Jahrhundert in Gang gekommen war, erwies sich ständig als ein mächtiger Feind der Kindheit.

Schriftbeherrschung, Schulbildung und Kindheit entwickelten sich in England bis ins ausgehende 17. Jahr­hundert sehr schnell. Als jedoch die großen Industrie­städte entstanden und der Bedarf nach Fabrik- und Gruben­arbeitern immer mehr wuchs, wurde die Besonderheit der Kinder ihrer Nützlichkeit als billiges Arbeits­kräfte­reservoir untergeordnet. 

»Eine Auswirkung des Industriekapitalismus«, so schreibt Lawrence Stone, »bestand darin, den Straf- und Disziplinierungs­aspekt der Schule hervor­zukehren, in der manche kaum etwas anderes sahen als ein System, um den Willen des Kindes zu brechen und es für die eintönige Arbeit in der Fabrik abzurichten.«1)  

Das trifft gewiß zu, sofern dem Kind überhaupt das Glück beschieden war, eine Schule besuchen zu können. Die englische Gesellschaft legte nämlich während des ganzen 18. und eines Teils des 19. Jahrhunderts im Umgang mit den Kindern der Armen, die sie als Treibstoff für den englischen Industrie­apparat benutzte, eine außerordentliche Härte an den Tag.

»Ich bin Lorenschlepperin in der Gauber-Grube, ich muß die Loren ohne Licht schleppen, und da habe ich Angst. Ich gehe um vier und manchmal um halb vier morgens hin und komme nachmittags um fünf oder halb sechs wieder heraus. Ich lege mich zwischendurch nie schlafen. Manchmal singe ich, wenn ich Licht habe, aber im Dunkeln nicht, dann traue ich mich nicht.« 

So beschreibt um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein achtjähriges Mädchen, Sarah Gooder, ihren Arbeitstag im Bergwerk.2 Sarahs Enthüllungen und die anderer Kinder führten schließlich zu einem gesetzlichen Verbot der Bergwerksarbeit von Kindern — jedenfalls von Kindern unter zehn Jahren.

Ein wenig früher, im Jahre 1814, wurde ein Gesetz erlassen, das zum erstenmal in der englischen Geschichte den Kindesraub zu einem Kriminaldelikt erklärte. Bis dahin war es zwar gesetzwidrig gewesen, einem geraubten Kind seine Kleider wegzunehmen, aber die Handlung selbst, ein Kind zu rauben oder es an Bettler zu verkaufen, war nicht strafbar. Weniger großzügig erwies sich das Gesetz dagegen bei Verbrechen, die von Kindern begangen wurden. Noch 1780 konnten Kinder für jedes der mehr als zweihundert Verbrechen bestraft werden, auf die der Galgen stand.

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In Norwich wurde ein siebenjähriges Mädchen gehängt, weil es einen Unterrock gestohlen hatte, und nach den von dem Presbyterianer George Gordon 1780 in London ausgelösten Unruhen, den <Gordon Riots>, wurden mehrere Kinder öffentlich gehängt. »Nie sah ich Knaben so viel weinen«, sagte George Selwyn, ein Augenzeuge der Hinrichtungen.3

In einem Gerichtsverfahren im Jahre 1761 wurde Ann Martin für schuldig befunden, Kindern, mit denen sie bettelnd über Land zog, die Augen heraus­gerissen zu haben.4 Dafür bekam sie nicht mehr als zwei Jahre im Newgate-Gefängnis, und wahrscheinlich wäre sie straflos ausgegangen, wenn es sich bei den Kindern um ihre eigenen gehandelt hätte. Ihr Vergehen bestand anscheinend darin, fremdes Eigentum beschädigt zu haben.

 

In zahlreichen Büchern, nicht zuletzt in den Romanen von Charles Dickens, wird über die Schreckens­herrschaft berichtet, der man in England vom 18. Jahr­hundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Kinder der Armen unterwarf: über die Arbeitshäuser und Strafanstalten, die Textilfabriken und Gruben, über den Analphabetismus und den Mangel an Schulen. Den Ausdruck »Schreckens­herrschaft« wähle ich mit Bedacht, denn ähnlich wie die Schreckens­herrschaft in Frankreich die Idee der politischen Demokratie nicht zerstört hat und nicht zerstören konnte, so konnte auch die brutale Behandlung der Kinder aus der Unterklasse die Idee der Kindheit nicht zerstören. Zum Glück für die Zukunft war sie aus zäherem Stoff als die Kinder, die nie einen Nutzen von ihr hatten.

Es mehrere Gründe dafür, daß die Kindheit den Heißhunger des industrialisierten England nach Arbeitskräften überstanden hat; dies gelang ihr nicht zuletzt deshalb, weil Bürgertum und Oberklasse in England die Idee der Kindheit am Leben erhielten, förderten und ausweiteten. Einem Kind wie Sarah Gooder brachte das keinen Trost, ihr konnte es völlig gleichgültig sein; nicht aber der Nachwelt und ganz besonders nicht England.

Nachdem sich die mit der Kindheit verbundenen Ideen und Vorstellungen einmal festgesetzt hatten, haben sie England nie mehr verlassen. Es blieb nur der Zugang blockiert, durch den sie eine bestimmte Klasse von Menschen hätten erreichen können. England hat hierfür einen hohen Preis gezahlt — in keinem anderen westlichen Land ist das Klassenbewußtsein bis auf den heutigen Tag so stark verankert wie in der englischen Gesellschaft —, aber schließlich drang die Kindheit und alles, was mit ihr verbunden ist, auch zu den Unterklassen durch.

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Nach 1840 weitete sich z.B. die Elementarschulbildung so rasch aus, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Analphabetismus in allen gesellschaftlichen Klassen, bei Männern und Frauen gleichermaßen verschwunden war.5

Die Kindheit gehörte nicht zu den Ideen, die man bestimmten Teilen der Bevölkerung auf Dauer vorenthalten konnte. Auch wenn es das englische Bürgertum und die Oberklasse womöglich darauf abgesehen hatten, so mußte doch die Entwicklung der Kindheit in anderen Ländern den Lauf der Dinge erheblich beeinflussen. Wie die Idee der Kindheit im 17. Jahrhundert den Ärmelkanal von England nach Europa überquert hatte, kehrte sie im 18. und 19. Jahrhundert von dort nach England zurück. 

Für die meisten Völker auf dem Kontinent war es gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine ausgemachte Sache, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Bildungsmangel und der hohen Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen bestand, und ein Deutscher, der 1824 England besuchte, notierte: »England, in welchem Lande alljährlich mehr Menschen hingerichtet werden als in mehreren anderen Ländern zusammengenommen, duldet es, daß zwei Millionen seiner Bürger in tiefster Unwissenheit herumlaufen.«6  Im Jahre 1833 schätzte die Edinburgh Review, daß das englische Volk, was die Schulbildung anging, unter den europäischen Ländern an letzter Stelle rangierte, die Deutschen hingegen an der ersten.7

Und wenn nicht die Deutschen, dann gewiß die Schotten, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts das ausge­dehnteste Elementar­schulwesen und vielleicht auch das beste Sekundarschulwesen in ganz Europa hatten. Wichtig ist hier aber vor allem, daß die Erfindung der Kindheit eine Idee war, die alle nationalen Schranken überstieg, die zwar gelegentlich aufgehalten wurde und einen Rückschlag erlitt, aber ihren Weg stetig fortsetzte. Die jeweiligen örtlichen Bedingungen beeinflußten ihre äußere Gestalt und ihr Fortkommen, aber nichts konnte sie zum Verschwinden bringen. In Frankreich z.B. kam der Widerstand gegen die soziale Literalität und die allgemeine Schulbildung nicht von einem unmenschlichen Industriekapitalismus, sondern von den Jesuiten, die eine »Protestantisierung« ihrer Religion und Kultur befürchteten. Doch um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Frankreich, was den Bildungsgrad, die schulische Erziehung von Kindern und Jugendlichen und damit auch die Anerkennung der Bedeutung von Kindheit anlangte, mit England gleichgezogen.

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Die ganz Europa erfassende Tendenz zu einer humaneren Auffassung von Kindheit läßt sich zum Teil darauf zurückführen, daß sich Staat und Verwaltung als zunehmend mitverantwortlich für das Wohlergehen der Kinder betrachteten. Man muß diese Tatsache berücksichtigen, weil man in den letzten Jahren massive staatliche Eingriffe in das Leben der Familie scharf kritisiert hat — meiner Ansicht nach zu Recht.

Aber im 18. und 19. Jahrhundert und vor allem in England und dort unter den ärmeren Schichten der Bevölkerung waren die Erwachsenen häufig nicht in der Lage, jenes Maß an Zuneigung und Einfühlung für Kinder aufzubringen, das uns als selbst­verständlich gilt. Es kann durchaus sein, daß, wie deMause vermutet, viele Erwachsene psychisch außerstande waren, Kindern gegenüber zärtliche Gefühle zu hegen.9)  Es kann auch sein, daß die ökonomische Misere solche Gefühle, soweit sie vorhanden waren, erheblich einschränkte.

Es ist jedenfalls bekannt, daß Eltern ihre Kinder sehr häufig nicht nur als Privatbesitz, mit dem sie nach Belieben verfahren konnten, behandelten, sondern auch als Sklaven, deren Wohlergehen für das Überleben der Familie aufs Spiel gesetzt werden durfte. Die Vorstellung, der Staat habe das Recht, als Beschützer der Kinder aufzutreten, war im 18. Jahrhundert etwas fundamental Neues. Dennoch wurde die unumschränkte Autorität der Eltern nach und nach in einem humanen Sinne modifiziert, so daß sich alle sozialen Klassen schließlich genötigt sahen, die Verantwortung für die Erziehung des Kindes gemeinsam mit dem Staat zu tragen.

Warum der Staat dazu tendierte, eine solche Verantwortung zu übernehmen, dafür gibt es mehrere Gründe. Zu ihnen gehört auch ein ganz Europa erfassendes Reform- und Bildungsbewußtsein. Wir dürfen nicht vergessen — das 18. Jahrhundert war das Jahrhundert Goethes, Voltaires, Diderots, Kants, David Humes und Edward Gibbons. Es war auch das Jahrhundert Lockes und Rousseaus. Und im Hinblick auf die Idee der Kindheit konnten die Jesuiten in Frankreich gegen Rousseau ebensowenig ausrichten wie der englische Industrieapparat gegen die Gedanken John Lockes. Damit will ich sagen, daß das geistige Klima des 18. Jahrhunderts — die so genannte Aufklärung — dazu beigetragen hat, die Idee der Kindheit zu entfalten und zu verbreiten.

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Locke z.B. übte mit seinen 1693 erschienenen Gedanken über Erziehung einen gewaltigen Einfluß aus. Wie schon Erasmus vor ihm, erkannte Locke den Zusammenhang zwischen dem Lernen mit Büchern und der Kindheit und empfahl eine Erziehung, die das Kind zwar ebenfalls als ein besonders wertvolles Mittel zu verschiedenen Zwecken ansah, zugleich aber eine sorgfältige Berücksichtigung der geistigen Entwicklung des Kindes und seiner Fähigkeit zur Selbstbeherrschung verlangte. 

Auch Lockes aufgeklärte Ansichten über die Förderung der körperlichen Entwicklung zielten letztlich auf die Bildung der kindlichen Verstandeskräfte. Ein Kind soll einen kräftigen Körper besitzen, so schrieb er, damit es »imstande ist, dem Geist zu gehorchen und dessen Befehle auszuführen«. (Hervorhebung von Locke.) Locke erfaßte auch die Bedeutung des Schamgefühls als eines Mittels zur Aufrechterhaltung des Unterschieds zwischen Kindheit und Erwachsenenalter: »Achtung und Schande sind vor allem anderen die mächtigsten Antriebe für den Geist, wenn er einmal dazu gebracht worden ist, sie zu würdigen. Wenn man die Kinder nur einmal so weit hat, daß sie gutes Ansehen schätzen und Schande und Entehrung fürchten, dann hat man den wahren Grundsatz in sie gelegt.«10

Doch vor allem förderte Locke die Theorie der Kindheit durch seine Idee, der Geist eines Menschen sei bei der Geburt eine leere, unbeschriebene Tafel, eine Tabula rasa. Damit fiel Eltern und Lehrern (und später dem Staat) große Verantwortung für das zu, was schließlich auf dieser Tafel geschrieben stehen würde. Ein unwissendes, schamloses, ungezogenes Kind zeugte von einem Versagen der Erwachsenen, nicht des Kindes. Wie zweihundert Jahre später Freuds Einsicht in die psychische Verdrängung, erzeugte auch Lockes These von der Tabula rasa bei den Eltern ein Schuldgefühl gegenüber der Entwicklung ihrer Kinder und schuf die psychologischen und erkenntnismäßigen Voraussetzungen dafür, daß die sorgfältige Pflege und Erziehung der Kinder zu einer nationalen Aufgabe ersten Ranges wurde, zumindest bei den Handel treibenden Schichten, als deren Sprachrohr man Locke betrachten könnte. 

Und selbst wenn sich Locke eine gleiche Schulbildung für alle Kinder, wie sie später der amerikanische Schulreformer Horace Mann durchsetzte, nicht vorstellen konnte, entwarf er doch ein Lehrlings­ausbildungs­programm zur Erziehung der ärmeren Kinder, deren Verstand immerhin nicht weniger formbar war als der von Kindern aus dem Bürgertum und der Oberschicht.

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Einen starken Einfluß auf die Idee der Kindheit hatte im 18. Jahrhundert natürlich Rousseau. Obwohl Rousseau (im Unterschied zu Locke) anscheinend nicht genau erfaßt hat, warum die Institution der Kindheit entstanden war und wie sie sich erhalten ließ, hat er zwei wesentliche Beiträge zu ihrer Fortentwicklung geleistet. Der erste bestand in der Hervorhebung, daß ein Kind aus sich heraus wertvoll sei und nicht nur als Mittel zu einem Zweck. Hierin unterschied er sich deutlich von Locke, der im Kind jederzeit den potentiellen Staatsbürger und vielleicht sogar den Kaufmann sah. 

Rousseaus Idee war nicht gänzlich originell, denn um die Zeit, in der er schrieb, gab es in Frankreich schon eine gewisse Achtung vor den Besonderheiten der Kindheit und ein Verständnis für ihren eigenständigen Wert. Rousseau selbst zitiert einen alten Adligen, den Louis XV. fragt, ob ihm das 18. Jahrhundert mehr zusage als das 17., und der darauf erwidert: »Sire, ich habe meine Jugend in Ehrfurcht vor den Alten verbracht. Ich sehe mich genötigt, mein Alter in Ehrfurcht vor den Jungen zu verbringen.« 

Aber Rousseaus schriftstellerische Kraft und seine charismatische Persönlichkeit waren so stark, daß sich die Mehrzahl seiner Anhänger schlicht weigerte zu glauben, was Voltaire und andere Gegner Rousseaus enthüllt hatten, nämlich daß er seine eigenen Kinder in Waisenhäuser gesteckt hatte. 

Ungeachtet solcher persönlichen Unzulänglichkeiten weckten Rousseaus Schriften ein Interesse an der Natur des Kindes, das bis heute fortbesteht. Man kann wohl sagen, daß Friedrich Fröbel, Johann Pestalozzi, Maria Montessori, Jean Piaget, Arnold Gesell und A.S. Neill geistige Erben Rousseaus sind. (Fröbel und Pestalozzi haben sich ausdrücklich zu diesem Erbe bekannt.) Ganz gewiß gingen sie alle in ihren Arbeiten von der Annahme aus, daß sich die Psychologie des Kindes grundlegend von der des Erwachsenen unterscheidet und daß sie ihre eigentümlichen, unverwechselbaren Bedingungsgesetze hat.

Rousseaus zweiter wesentlicher Gedanke besagte, daß dem geistigen und psychischen Leben des Kindes nicht deshalb Bedeutung zukommt, weil wir es kennen müssen, um unsere Kinder zu erziehen und auszubilden, sondern weil die Kindheit dasjenige Lebensalter ist, in dem der Mensch dem »Naturzustand« am nächsten steht.

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Rousseau betonte den Wert dieses Naturzustands in einer Weise, wie es nach ihm niemand mehr getan hat, seine geistigen Erben eingeschlossen. Im Emile, seinem berühmten Roman über die ideale Erziehung, gestattet er den Kindern nur die Lektüre eines einzigen Romans, des Robinson Crusoe, und zwar deshalb, weil dieses Buch zeigt, wie der Mensch in einer »natürlichen Umgebung« leben und sie beherrschen kann. Rousseaus fasziniertes Interesse für den Naturzustand und seine damit in Einklang stehende Verachtung für die »Werte der Zivilisation« lenkten das Augenmerk der Öffentlichkeit wie nie zuvor auf die kindlichen Eigenschaften der Spontaneität, Lauterkeit, Stärke und Freude, alles Charakterzüge, die man im Laufe der Zeit immer mehr umhegte und geradezu verherrlichte. 

Die großen Künstler der Romantik versäumten es nicht, die kindliche Lebensfreude als Thema aufzugreifen. Die Dichtung von Wordsworth schildert die Erwachsenen als »gefallene Kinder« und feiert Unschuld und Natürlichkeit der Kinder. Wagners Siegfried wird häufig als die eindrucksvollste Darstellung der Vorzüge des Jünglings­alters beschworen, so z.B. von Aries.11) Und im 18. Jahrhundert malte Gainsborough das romant­ischste und bezauberndste Bild eines Jünglings, das je geschaffen wurde, seinen Blue Boy. 

 

Als die Idee der Kindheit ins 19. und dann ins 20. Jahrhundert vordrang und auch jenseits des Atlantiks, in der Neuen Welt Fuß faßte, da setzte sie sich aus zwei geistigen Komponenten zusammen. Wir können sie als die Lockesche oder protestantische und die Rousseausche oder romantische Auffassung der Kindheit bezeichnen. 

Der protestantischen Anschauung zufolge war das Kind ein ungeformtes Geschöpf, das mit Hilfe von Schreiben und Lesen sowie Bildung, Verstand, Selbst­beherrschung und Schamgefühl zu einem zivilisierten Erwachsenen gemacht werden sollte. Der romantischen Anschauung zufolge war nicht das ungeformte Kind das Problem, sondern der deformierte Erwachsene. Das Kind besitzt Aufrichtigkeit, Verständnis, Neugier und Spontaneität, die durch Schriftbeherrschung, Bildung, Verstand, Selbstbeherrschung und Schamgefühl schließlich abgetötet werden.

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Am deutlichsten tritt der Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen zutage, wenn man die entgegengesetzten Metaphern betrachtet, mit denen Locke und Rousseau die Kindheit versinnbildlichen. Ich glaube, man hat bisher kaum bemerkt, wie genau Lockes Bild vom Geist als einer Tafel den Zusammenhang zwischen Kindheit und Buchdruck veranschaulicht. Nach dieser Vorstellung ist das Kind ein unvollständiges Buch, das in dem Maße der Vollendung entgegengeht, wie die Seiten nach und nach gefüllt werden. Dieser Vorgang hat nichts »Natürliches« oder Biologisches an sich; es handelt sich um einen Prozeß der symbolischen Entwicklung — folgerichtig, gegliedert, an Sprache orientiert. Für Locke wie für die meisten Denker des 18. Jahrhunderts waren Analphabetismus und Kindheit untrennbar miteinander verknüpft, und Erwachsenheit wurde definiert als vollkommene Sprach- und Schriftbeherrschung.

Dagegen argumentierte Rousseau im <Emile>: »Pflanzen werden durch Kultivierung verbessert, der Mensch durch Erziehung.« Hier erscheint das Kind als wilde Pflanze, die durch Bücherwissen kaum zu verbessern ist. Ihr Wachstum ist organisch und natürlich; es kommt allein darauf an, die Kindheit nicht durch krankhafte Einflüsse zu ersticken. Für Rousseau war Erziehung vor allem ein Substraktionsprozeß, für Locke war sie ein Additionsvorgang. Doch bei allen Unterschieden ist beiden Metaphern eines gemeinsam: die Sorge um die Zukunft. 

Locke wünschte, aus der Erziehung möge ein vielseitiges, gedankenreiches Buch hervorgehen; Rousseau hatte den Wunsch, aus der Erziehung möge eine gesunde Pflanze hervorgehen. Es ist wichtig, dies in Erinnerung zu behalten, denn in den Metaphern, mit denen man heutzutage die Kindheit veranschaulicht, geht jene Sorge um die Zukunft zusehends verloren. Weder Locke noch Rousseau wären je auf den Gedanken gekommen, daß es Kindheit ohne zukunftsorientierte Anleitung durch Erwachsene geben könnte.

In Amerika dominierte natürlich für den größten Teil des 19. Jahrhunderts die protestantische Auffassung, auch wenn die romantische nie völlig fehlte. Wir dürfen wohl auch sagen, daß das bedeutendste Buch Amerikas, <Die Abenteuer des Huckleberry Finn> von Mark Twain, trotz des nicht ganz eindeutigen Schlusses für die romantische Auffassung Partei ergreift. Offensichtlich wendet sich Twain gegen die Annahme, Kinder seien in einem anderen als nur oberflächlichen Sinne ungeformt. Und er macht sich über die Behauptung lustig, ihr Charakter ließe sich durch die »Werte« der Gesellschaft erheblich bessern.

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Hucks angeborene Aufrichtigkeit, sein Sinn für Würde, seine Findigkeit und seine seelische Kraft, sein bloßes Interesse am Leben — all dies spricht für die romantische Auffassung der Kindheit und entsprach einer in der Zeit des Bürgerkriegs einsetzenden Tendenz zur Neubestimmung des Wesens der Kindheit.

Wie Lawrence Cremin in <The Transformation of the School> gezeigt hat, reichen die Anfänge der fortschrittlichen Erziehungsbewegung in diese Zeit zurück. Im Jahre 1857 z.B. wurde jene Institution gegründet, die später unter dem Namen National Education Association bekannt wurde, und 1875 wurde ein Grundsatzprogramm für den New Yorker Kinderschutzbund, die New York Society for the Prevention of Cruelty to Children, verkündet.12 (Nachdenklich könnte immerhin die kuriose Tatsache stimmen, daß der amerikanische Tierschutzbund fast ein Jahrzehnt früher, nämlich 1866, gegründet worden war.)

 

Ich möchte hier — trotz Huck Finn — nicht den Eindruck erwecken, als seien die Ideen Lockes von nun an langsam in Mißkredit geraten; das gilt wahrscheinlich nur für die extreme calvinistische Ausformung seiner Anschauungen, der zufolge die Kinder von Natur aus verderbt sind. Die auf Locke zurückgehende Tradition förderte die Bemühungen auf dem Gebiet der Kinderpflege und -erziehung und, vor allem, dem der Sprach­erziehung. Bis auf den heutigen Tag spiegeln sich in Amerika und ganz Europa die Anschauungen Lockes nicht nur in Schulen wider, sondern in nahezu allen Einrichtungen, die sich um Kinder kümmern. 

Allerdings scheint man die Überzeugtheit, mit der zunächst bestimmte Anschauungen vom Wesen der Kindheit vorgetragen wurden, nach und nach in Frage gestellt zu haben. Lockes Ansicht. Kinder seien ungeformte Erwachsene, die es zu zivilisieren gelte, blieb im großen und ganzen unangefochten, es tauchte jedoch die Frage auf, wie sich dies bewerkstelligen lasse, ohne die von Rousseau und der Romantik geschilderten Vorzüge der Kindheit zu beeinträchtigen.

Im Jahre 1890 etwa wurde die <Society for the Study of Child Nature> gegründet, und zu den Fragen, die man auf ihren Sitzungen erörterte, gehörten auch die folgenden:

Soll man Kinder zu unbedingtem Gehorsam zwingen?
Wie kann man dem Kind die wahre Vorstellung von Eigentum vermitteln?
Wieviel Autorität sollen ältere Kinder haben?
Wird die Phantasie des Kindes gehemmt, wenn man es dazu veranlaßt, sich streng an die Wahrheit zu halten?
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Die Menschen, die solche Fragen stellten, waren offensichtlich keine Schüler Rousseaus; es liegt jedoch ebenso auf der Hand, daß sie eine Beeinträchtigung des kindlichen Wachstums durch den Erziehungsprozeß vermeiden wollten; mit anderen Worten, sie akzeptierten die Vorstellung, daß die Kindheit eine Logik und eine Psychologik aufweist, die respektiert werden müssen. 

So war gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Weg für zwei Männer geebnet, deren Werk schließlich die Grundlagen für den theoretischen und begrifflichen Rahmen schuf, in dem sich in unserem Jahrhundert alle Debatten über die Kindheit bewegen. Bemerkenswerterweise haben beide Männer ihr jeweils einflußreichstes Werk im Jahre 1899 publiziert, und jedes von ihnen veranlaßte nachdenkliche Menschen zu der Frage: Wie können wir die Ansprüche der Zivilisation in ein Gleichgewicht mit den Ansprüchen der Natur des Kindes bringen?

Ich spreche hier von Freuds <Traumdeutung> und John Deweys <The School and Society>. Beide Männer und ihre Werke sind zu bekannt, als daß sie vieler Erläuterungen bedürften, aber so viel sei gesagt: zusammengenommen bezeichnen sie eine Synthese und Zusammenfassung der Geschichte, welche die Kindheit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert gehabt hat.

Aus einem wissenschaftlichen Bezugsrahmen heraus behauptete Freud als erster, daß der Geist des Kindes sowohl durch eine unverkennbare Struktur als auch einen spezifischen Gehalt ausgezeichnet ist — daß Kinder z.B. Sexualität kennen und daß sie von Komplexen und Triebregungen durchdrungen sind. Er behauptete ferner, daß die Kinder, um die Reife des Erwachsenen­alters zu erreichen, ihre Triebregungen überwinden und sublimieren müssen. Einerseits also widerspricht er Locke und bestätigt Rousseau: der Geist ist keine Tabula rasa; tatsächlich steht der Geist des Kindes einem »Naturzustand« nahe; bis zu einem gewissen Grade müssen die Ansprüche der Natur beachtet werden, sonst kommt es zu einer dauerhaften Schädigung der Persön­lich­keit.

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Andererseits widerspricht Freud Rousseau und bekräftigt Locke: die frühesten Interaktionen zwischen dem Kind und seinen Eltern bestimmen darüber, zu welcher Art von Erwachsenem das Kind werden wird; durch Vernunft lassen sich die Leiden­schaften beherrschen; Zivilisation ist ohne Verdrängung und Sublimierung nicht möglich.

Ähnlich argumentiert Dewey aus einem philosophischen Bezugsrahmen heraus, daß man die psychischen Bedürfnisse des Kindes unter dem Aspekt betrachten muß, was das Kind ist, nicht was es sein wird. Zu Hause und in der Schule müssen die Erwachsenen fragen: Was braucht das Kind jetzt? Welches Problem muß es jetzt lösen? Nur so wird nach Deweys Ansicht aus dem Kind ein konstruktiver Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben der Gemeinschaft. »Wenn wir uns in die wirklichen Triebe und Bedürfnisse der Kindheit hineinversetzen«, schrieb er, »und nichts weiter als ihre volle Bejahung und ihr Wachstum fordern ..., dann werden sich die Disziplin und die Kultur des Erwachsenenlebens alle zur rechten Zeit einstellen.«14

Freud und Dewey zeichneten das Grundmuster der Kindheit nach, das sich seit dem Aufkommen der Druckerpresse heraus­gebildet hatte: das Kind als Schuljunge oder Schulmädchen, dessen Selbst und dessen Individualität durch Pflege und Erziehung bewahrt werden müssen, dessen Fähigkeiten zur Selbst­beherr­schung, zum Aufschub von Befriedigung und zum logischen Denken erweitert und dessen Kenntnis vom Leben von Erwachsenen überwacht werden müssen. Gleichzeitig jedoch begreifen sie, daß das Kind seine eigenen Entwicklungsregeln besitzt und über Charme, Neugier, Ausgelassenheit verfügt, die man nicht unterdrücken darf, weil dann die Gefahr besteht, daß es das reife Erwachsenenalter nie erreicht.

Die gesamte Kinderpsychologie dieses Jahrhunderts — das Werk etwa von Jean Piaget, Harry Stack Sullivan, Karen Horney, Jerome Brunner oder Lawrence Kohlberg — stellt im Grunde genommen nur einen Kommentar zu diesem Grundmuster der Kindheit dar. Niemand hat bestritten, daß Kinder anders sind als Erwachsene. Niemand hat bestritten, daß Kinder die Erwachsenheit erwerben müssen. Niemand hat bestritten, daß die Verantwortung für das Heranwachsen der Kinder bei den Erwachsenen liegt. Und niemand hat bestritten, daß der Erwachsene in einem gewissen Sinne am ehesten dort er selbst ist und der Zivilisation am nächsten kommt, wo er sich um Pflege und Erziehung der Kinder bemüht.

Wenn wir sagen, wie wir uns ein Kind (und was aus ihm werden soll) wünschen, dann sagen wir, was wir selbst sind. Man könnte sogar behaupten, daß in der abendländischen Zivilisation die Entwicklung von Einfühlsamkeit und Sensibilität jener Entwicklung gefolgt ist, in deren Verlauf die Idee der Kindheit entstanden ist. 

Vierhundert Jahre unserer Geschichte widerlegen die Bemerkung von W.C. Fields, wer Kinder hasse, könne nicht ganz schlecht sein. Aber tun wir diesem großen Komiker kein Unrecht. Sein Ausspruch war als Witz gemeint und bezog seine Pointe aus einer boshaften Ironie. Man fragt sich, wie Fields seinen Witz heute formulieren würde, da die Kindheit unter unseren Augen verschwindet.

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