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9  Sechs Fragen 

 

 

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Schon zu Beginn dieses Buches habe ich erklärt, daß ich angesichts des Verschwindens der Kindheit keine »Lösungen« anzubieten habe, und deshalb möchte ich den Text mit einigen Fragen beschließen, die vielleicht auch dem Leser interessant erscheinen. Jede dieser Fragen tauchte irgendwann im Laufe meiner Beschäftigung mit diesen Problemen auf und hat mich dann nicht mehr losgelassen. 

An dieser Stelle nun möchte ich mich ihrer (wenigstens für den Augenblick) entledigen, d.h. ich habe versucht, sie mit Antworten zu versehen. Auch wenn die Leser andere Antworten vorziehen sollten, wäre mir das eine erfreuliche Bestätigung dafür, daß jedenfalls die Fragen selbst wichtig sind.

 

1  Wurde die Kindheit entdeckt oder erfunden?  

Dieses Buch hebt an mit der Feststellung, die Kindheit sei ein gesellschaftliches Kunstprodukt und keine biologische Notwendigkeit. Leser, die sich in der Kinderpsychologie auskennen, werden diese These bestenfalls für problematisch und schlimmstenfalls für falsch halten. Unter Berufung auf Forscher wie Freud, Erik Erikson, Arnold Gesell und insbesondere Jean Piaget geht man gemeinhin davon aus, daß die kindliche Entwicklung von biologischen Imperativen gelenkt wird. Jean Piaget bezeichnet seine Untersuchungen geradezu als »genetische Erkenntnistheorie« und will damit zum Ausdruck bringen, daß die intellektuelle Geschichte des Kindes von Stufe zu Stufe einem genetischen Prinzip folgt. Ich habe diese Interpretation nicht aufgegriffen, weil sie für die hier erörterten Probleme größtenteils irrelevant ist.

Tatsächlich hat es die Idee der Kindheit als sozialer Struktur im Mittelalter nicht gegeben, sie entstand im 16. Jahrhundert und ist heute im Begriff, wieder zu verschwinden. Wenn allerdings Piaget recht hat, dann wurde die Kindheit durch die Kultur des gedruckten Wortes nicht erfunden, sondern bloß entdeckt, und die Informationsumwelt von heute wird die Kindheit nicht zum Verschwinden bringen, sondern allenfalls in den Hintergrund drängen.

Meiner Ansicht nach sind die Studien Piagets durch seinen im wesentlichen unhistorischen Ansatz beschränkt. Zu wenig Aufmerk­samkeit hat er dem Umstand geschenkt, daß die von ihm an Kindern beobachteten Verhaltensweisen in früheren Zeiten möglicherweise gar nicht vorkamen oder zumindest ganz anders beschaffen waren. Trotzdem hoffe ich im stillen, daß er recht hat. Denn dann hätten wir Grund zu der Hoffnung, daß sich die Kindheit, sofern auch nur die geringste Chance dazu besteht, in ihrer Existenz behauptet. Denn »Mutter Natur« läßt sich, wie man sagt, nicht zum Narren halten, jedenfalls nicht auf Dauer. 

Wenn aber die Kindheit, wie ich vermute, einzig und allein ein Produkt der Kultur ist, dann müßte zunächst eine tiefgreifende Umstrukturierung der kommunikativen Umwelt erfolgen, bevor sie erneut in Erscheinung treten kann. Und dazu wird es vielleicht nie kommen. Wir müssen deshalb mit der Möglichkeit rechnen, daß die Kindheit ein zeitweiliger »Irrweg« innerhalb der Kultur­geschichte ist — so wie die Pferdekutsche oder das schwarze Geschnörkel auf weißen Buchseiten.

Ich möchte mich hier mit der folgenden Formulierung begnügen und hoffe, daß die künftige Forschung sie bestätigen wird: Die Kindheit läßt sich mit dem Erlernen von Sprache vergleichen. Sie besitzt eine biologische Grundlage, nimmt jedoch keine reale Gestalt an, solange es keine gesellschaftliche Umwelt gibt, die diese bestimmte Entwicklung auslöst und fördert; solange es kein Bedürfnis danach gibt, daß die Kindheit sich entwickelt. Wenn eine Kultur von einem Medium dominiert wird, das die Absonderung der Kinder verlangt, damit sie unnatürliche, spezialisierte und hochkomplexe Fertigkeiten und Verhaltensweisen erlernen, dann entsteht notwendigerweise auch eine deutlich umrissene Form von Kindheit. Wenn die Kommunikationsbedürfnisse einer Kultur die langfristige Absonderung der Kinder nicht erfordern, dann bleibt die Kindheit stumm.

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2 Kündigt sich im Verfall der Kindheit ein allgemeiner Verfall der amerikanischen Kultur an?

Amerika ist die erste und derzeit noch die einzige Kultur, die ganz unter der Herrschaft der Technik des 20. Jahrhunderts lebt. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die Amerikaner bereit, ihre Landschaft, ihre Städte, ihr Geschäftsleben, ihr Familienleben und ihr Denken den Erfordernissen dessen anzupassen, was sie gern als den »technischen Fortschritt« bezeichnen. Daher kann man wohl sagen, daß sich Amerika heute mitten in seinem »Dritten Großen Experiment« befindet, und dessen Ausgang steht keineswegs fest.

Das »Erste Große Experiment« — Thomas Paine nannte es eine »Revolution der Prinzipien und der Praxis des Regierens« — begann im späten 18. Jahr­hundert und stellte die Frage: Ist die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung eine Idee, auf der man ein politisches System errichten kann? 

Das »Zweite Große Experiment« begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts; es war gesellschaftlicher Art und stellte die Frage: Kann ein Gemisch verschiedenster Volksgruppen aus allen Teilen der Welt, jede mit einer eigenen Sprache, eigenen Traditionen und eigenen Gewohnheiten versehen, zu einer Kultur zusammengeschweißt werden? Man darf wohl sagen, daß beide Experimente, von gewissen Fehlschlägen abgesehen, relativ erfolgreich verlaufen sind und von der übrigen Welt mit Staunen und Neid beobachtet wurden.

Das »Dritte Große Experiment« begann am Anfang dieses Jahrhunderts und stellt die Frage: Kann eine Kultur humane Wert­vorstellungen bewahren und neue hervorbringen, wenn sie zuläßt, daß die moderne Technik den denkbar größten Einfluß auf ihr Schicksal gewinnt? 

Aldous Huxley und George Orwell haben ihre Antwort hierauf gegeben, sie lautet: »Nein.« Lewis Mumford hat seine Antwort ebenfalls gegeben: »Wahrscheinlich nicht.« Im gleichen Sinne hat sich Norbert Wiener geäußert.

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Jacques Ellul gibt seine Antwort in fast alljährlich erscheinenden Berichten, und sie enthalten ein geradezu schallendes »Nein«. Zu denen, die auf die eine oder andere Weise mit »Ja« antworten, gehören Buckminster Fuller, Alvin Toffler, Melvin Kranzberg, Samuel Florman und Isaac Asimov, wobei der letztere sich einigermaßen freudetrunken über die Errungenschaften und Möglichkeiten der Technik gebärdet. 

Offenbar ist die Frage noch offen, und es ist zulässig, Mutmaßungen über sie anzustellen. Daß man die Technik selbst zu einem Gott erhoben hat, daß der politische Prozeß viel von seiner Würde verloren hat, daß die Mentalität der Erwachsenen zusehends verkümmert und daß die Kindheit verblaßt — all dies sind betrübliche Anzeichen. Die übrige Welt verfolgt aufmerksam, ob es Amerika gelingt, die Zerstückelung seiner eigenen Vergangenheit zu überleben, und wird daraus Schlußfolgerungen für die eigenen Pläne ziehen.

Aber Amerika hat noch nicht angefangen nachzudenken. Der Schock der modernen Technik hat unsere Gehirne gelähmt, und wir beginnen eben erst, die geistige und soziale Trümmerlandschaft in Augenschein zu nehmen, die uns unsere Technik beschert hat. Doch nicht allen hat es die Sprache verschlagen. Man denke etwa an die scharfe Kritik, die Ralph Nader schon 1965 in seinem Buch <Unsafe at Any Speed> an einem zentralen Element unserer technischen Welt geübt hat. Sie kam zwar erst, nachdem die Amerikaner zugelassen hatten, daß das Auto ihre Landschaft, ihre Städte und ihr gesellschaftliches Leben veränderte, aber immerhin, sie kam. 

Und andere Kritiken und Landkarten des von uns eingeschlagenen Weges folgten ihr (oder gingen ihr sogar, ziemlich umbemerkt, voraus): McLuhans Buch <Die magischen Kanäle>, Jacques Elluls <The Technological Society>, Norbert Wieners <Mensch und Menschenmaschine>, Joseph Weizenbaums <Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft<, Lewis Mumfords <Mythos der Maschine, Kenneth Bouldings <The Meaning ofthe Twentieth Century>, Daniel Boorstins <Das Image>, um nur einige zu nennen.

Wenn solche Bücher — und andere, die noch kommen werden — den Amerikanern zu mehr Nachdenklichkeit und Distanz verhelfen und ihnen Hinweise dafür an die Hand geben könnten, wie sie die Technik ihren Zielen dienstbar machen können (statt daß das Umgekehrte geschieht), dann besteht Grund zu der Hoffnung, daß die ersten Symptome einer kulturellen Desintegration keinen dauerhaften Verfall anzeigen.

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Was die Kindheit betrifft, so glaube ich, daß sie auf lange Sicht ein Opfer des Geschehens sein wird. 

Die Elektrizität führt jene Informationsumwelt, aus der die Kindheit hervorgegangen ist, ad absurdum. Aber wenn wir die Kindheit verlieren, so müssen wir doch nicht alles verlieren. Auch die Druckerpresse hat schließlich den Zusammenhalt einer weltumspannenden Religions­gemeinschaft gesprengt, hat die Intimität und Poesie mündlicher Überlieferung zerstört, regionale Loyalitätsbeziehungen untergraben und ein erbarmungslos unpersönliches Industriesystem hervorgebracht.

Und doch hat die abendländische Zivilisation einige ihrer humanen Wertvorstellungen über diesen Bruch hinweggerettet und war fähig, neue auszuprägen, nicht zuletzt diejenigen, die mit der Erziehung der Kinder verknüpft sind. Jetzt, da sich der erste Schock über das, worauf wir uns eingelassen haben, langsam legt, können wir uns durch vermehrte Denkanstrengungen immer noch in eine bessere Lage bringen, so daß wir am Ende für etwas einstehen, das zu retten sich lohnt.

 

3  Inwiefern tragen die »moralische Mehrheit« und andere Fundamentalisten-Gruppen zur Bewahrung der Kindheit bei?

Wenn man es in den fünfziger Jahren einmal wagte, darauf hinzuweisen, daß die Kommunistische Partei in irgendeiner Frage eine gute Idee entwickelt habe, dann mußte man sich — wie ältere Leser vielleicht bestätigen können — auf den Vorwurf gefaßt machen, man sei ein »Trittbrettfahrer« der Partei oder, schlimmer noch, ein eingeschriebenes Mitglied. In bestimmten Kreisen trifft man heute auf eine ähnliche Einstellung hinsichtlich der orthodox protestantischen Fundamentalisten-Bewegung. Wer verlauten läßt, daß er mit der fundamentalistischen Position in irgendeinem Punkt übereinstimmt, der weckt sogleich den Verdacht, er habe der liberalen Tradition den Rücken gekehrt. 

Um mich von Anfang an gegen solche Anwürfe zu wappnen, betone ich, daß ich die Wiederbelebung des Fundamentalismus für potentiell gefährlich halte, weil diese Bewegung durch religiöse Bigotterie und eine Vorliebe für autoritäre politische Lösungen geprägt ist.

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Außerdem habe ich den Eindruck, daß viele fundamentalistischen Christen ihr Land mehr lieben als Gott und daß nichts sie so glücklich macht wie das, was ihren Herrn verzweifeln ließe: die Erweiterung der Arsenale ihres Landes um neue Vernichtungs­waffen.

Und doch hat die »moralische Mehrheit«, wie schon gesagt, genauer als jede andere Gruppe des politischen Gemeinwesens erkannt, welche Folgen die neue Informationsumwelt für die Kinder gehabt hat. Die Versuche dieser Bewegung, wirtschaftliche Boykottmaßnahmen gegen die Sponsoren bestimmter Fernsehsendungen zu organisieren, ihre Versuche, Zurückhaltung gegenüber der Sexualität zu propagieren, ihre Bemühungen, Schulen einzurichten, die auf der Wahrung strenger Verkehrsformen beharren, sind Beispiele für ein aktives, auf die Erhaltung der Kindheit zielendes Programm. 

Keiner dieser Versuche wird dieses Ziel tatsächlich erreichen, denn sie sind allzu beschränkt, kommen zu spät und stellen sich dem Problem einer umstrukturierten Informationsumwelt im Grunde gar nicht. Dennoch halte ich diese Bemühungen für begrüßenswert, und — wer weiß? — vielleicht tragen sie dazu bei, die Auflösung der Kindheit zu verlangsamen, so daß wir genügend Zeit haben, uns darauf einzustellen, daß sie einmal nicht mehr da sein wird.

Die liberale Tradition (oder der weltliche Humanismus, wie ihn die »moralische Mehrheit« verächtlich nennt) hat in diesen Angelegenheiten jämmerlich wenig zu bieten gehabt. So konnte es geschehen, daß die liberalen Verfechter der bürgerlichen Freiheit, die sich den Boykottaufrufen gegen die Fernseh-Sponsoren widersetzten, schließlich den merkwürdigen Standpunkt einnahmen, es sei besser, wenn die moralischen Maßstäbe von Procter & Gamble die Fernsehinhalte bestimmten, als wenn die der Königin Victoria dies täten. 

Soweit eine politische Philosophie den kulturellen Wandel beeinflussen kann, hat die liberale Tradition mit ihrer bereitwilligen Aufnahme all dessen, was modern ist, und ihrer Ablehnung all dessen, was »die Uhr zurückstellt«, den Niedergang der Kindheit jedenfalls eher begünstigt. Aber in mancher Hinsicht geht diese Uhr einfach falsch, und die »moralische Mehrheit« könnte uns daran erinnern, daß es einmal eine Welt gab, die Kinder gastfreundlich aufnahm und eine tiefe Verantwortung für ihre Zukunft empfand. Auch wenn wir die Arroganz der »moralischen Mehrheit« mißbilligen, ist es meiner Meinung nach doch zulässig, daß wir uns einige ihrer Ermahnungen zunutze machen.

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4  Gibt es Kommunikationstechniken, die das gesellschaftliche Bedürfnis nach Kindheit zu stützen vermögen?

Die einzige Technologie, die diese Fähigkeit besitzt, ist der Computer. Um einen Computer zu programmieren, muß man vor allem eine Sprache erlernen. Man muß also über komplexe analytische Fertigkeiten verfügen, die einer besonderen Ausbildung bedürfen, ähnlich denen, die von einem erfahrenen Leser oder Schreiber verlangt werden. Sollte man es in Zukunft für notwendig erachten, daß jeder weiß, wie Computer funktionieren, wie sie die Welt ihrer spezifischen Perspektive unterwerfen, wie sie unseren Begriff von Urteilskraft verändern — sollte man also in Zukunft eine allgemein verbreitete Computer-Literalität für geboten halten, dann ist es denkbar, daß die schulische Ausbildung der Kinder an Bedeutung noch gewinnt und daß eine von der Erwachsenenkultur unterschiedene Jugendkultur weiterhin bestehenbleibt. Eine solche Entwicklung würde freilich von zahlreichen Faktoren abhängen. 

Die potentiellen Effekte eines Mediums können sehr wohl durch die Art seiner Verwendung ausgeschaltet werden. Von seinem Wesen her verfügt z.B. das Radio über die Möglichkeit, Kraft und Poesie des gesprochenen Worts hervorzuheben und zu vertiefen, und in manchen Teilen der Welt wird das Radio tatsächlich in diesem Sinne genutzt. In Amerika aber ist es, teils infolge der Konkurrenz mit dem Fernsehen, zu einem bloßen Anhängsel der Musikindustrie geworden. Und so kommt es, daß eine artikulierte, entfaltete Sprache im Radio praktisch keinen Platz hat (wenn man einmal von der großartigen Ausnahme des National Public Radio absieht). 

Es muß also nicht unbedingt dahin kommen, daß der Computer bei der Masse der Bevölkerung die Fähigkeit zu folgerichtigem, logischem und komplexem Denken fördert. Gewissen ökonomischen und politischen Interessen ist mehr damit gedient, wenn sich der größte Teil einer die Schrift allenfalls halbwegs beherrschenden Bevölkerung mit visuellen Computerspielen unterhält, wenn die Menschen Computer benutzen und von ihnen benutzt werden, ohne daß sie etwas davon verstehen. Der Computer bliebe dann etwas Geheimnisvolles und stünde weiterhin unter der Kontrolle einer bürokratischen Elite. Eine schulische Ausbildung der Kinder wäre nicht vonnöten, und die Kindheit könnte auf ihrem Weg in die Vergessenheit ungehindert weitergehen.

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5  Gibt es soziale Institutionen, die stark genug und engagiert genug sind, um sich dem Niedergang der Kindheit zu widersetzen?

Es gibt nur zwei Institutionen, die hieran ein Interesse haben: die Familie und die Schule. Wie schon gesagt, ist die Familie in ihrer Struktur und ihrer Autorität heute dadurch erheblich geschwächt, daß die Eltern die Kontrolle über die Informationsumwelt der Kinder verloren haben. Margaret Mead hat das Fernsehen einmal als den »zweiten Elternteil« bezeichnet; sie meinte damit zweifellos, daß Kinder heute in der Tat mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen als mit ihren Vätern. In diesem Sinne müßte man die Väter sogar als den vierten oder fünften Elternteil ansehen, weit abgeschlagen hinter Fernsehen, Schallplatten, Radio und Kino. 

Offenbar ermuntert durch solche Tendenzen hatte die Firma Bell Telephone die Unverfrorenheit, Vätern vorzuschlagen, für ihre Kinder den Telephon-Service »Wähl dir eine Geschichte« zu benutzen, statt ihnen selbst eine Geschichte zu erzählen. Es ist jedenfalls klar, daß die Medien die Rolle der Familie bei der Ausformung der Wertvorstellungen und Wahrnehmungsweisen von Kindern eingeschnürt haben.

Zudem und möglicherweise aufgrund der verstärkten Einflußnahme der Medien haben viele Eltern das Vertrauen in ihre Fähigkeit, Kinder zu erziehen, verloren; sie halten ihr Wissen und ihre Ansichten in Erziehungsfragen nicht mehr für zuverlässig. Das hat nicht nur zur Folge, daß sie sich dem Einfluß der Medien nicht widersetzen, sondern auch, daß sie sich zunehmend an Experten wenden, die angeblich wissen, was für die Kinder am besten ist. So dringen Psychologen, Sozialarbeiter, Erziehungsberater, Lehrer und andere Vertreter einer institutionellen Perspektive in immer weitere Bereiche der elterlichen Autorität vor, und zwar meist auf Einladung.

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Dadurch gehen Intimität, Bindung und Loyalität, die traditionellen Merkmale der Eltern-Kind-Beziehung, immer mehr verloren. Zuweilen wird heute sogar die Auffassung vertreten, die Eltern-Kind-Beziehung sei ihrem Wesen nach neurotisch, und Institutionen seien eher in der Lage, für das Wohl der Kinder zu sorgen, als deren Familien.

Noch verheerender für die prägende Kraft der Familie ist die Bewegung zur Befreiung der Frau. Um hier nicht mißverstanden zu werden, möchte ich vorab klarstellen, daß die Befreiung der Frauen aus ihren begrenzten gesellschaftlichen Rollen eine der wirklich humanen Auswirkungen der technologischen Revolution ist und die volle Unterstützung aufgeklärter Menschen verdient. 

Es läßt sich aber auch nicht leugnen, daß die traditionellen Formen der Kindererziehung an Bedeutung und Kraft einbüßen, wenn die Frauen sich ihren Platz im Geschäftsleben, in den Künsten, in der Industrie oder in den freien Berufen suchen. Denn sosehr man die Beschränkung ihrer Rolle auf die Aufgaben der Kindererziehung kritisieren mag — es ist doch eine Tatsache, daß die Kindheit in der Vergangenheit unter der Obhut der Frauen — und nur der Frauen — stand, die sie formten und beschützten. Es ist unwahrscheinlich, daß Männer eine ähnliche Rolle, wie die Frauen sie gespielt haben, übernehmen werden, auch wenn dies noch so vernünftig wäre. 

Wenn sich nun beide Eltern der Welt außerhalb der Familie zuwenden, werden die Kinder zu einer Belastung, und die Ansicht, die Kindheit solle so früh wie möglich enden, gewinnt immer mehr an Boden. Aus alledem darf man schließen, daß die amerikanische Familie der Verkürzung und Auflösung der Kindheit — sofern die gesellschaftlichen Trends nicht eine Wendung um hundertachtzig Grad machen — keinen aussichtsreichen Widerstand entgegensetzen wird.

Die Schule nun ist die einzige uns verbliebene öffentliche Einrichtung, die auf der Annahme ruht, daß es wichtige Unterschiede zwischen Kindheit und Erwachsenheit gibt und daß die Erwachsenen den Kindern etwas Sinnvolles zu vermitteln haben. Aus diesem Grund gibt es immer noch Optimisten, die Bücher schreiben, in denen sie Pädagogen praktische Ratschläge erteilen. Aber der Autoritätsverfall der Schulen ist unverkennbar, und inmitten einer radikal veränderten Kommunikationsstruktur sind sie (um Marshall McLuhan zu zitieren) eher Haftanstalten als Bildungsanstalten.

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Bei den Pädagogen breitet sich Verwirrung aus, weil sie nicht mehr recht wissen, was man von ihnen als Lehrer erwartet. Wo es z.B. schwieriger wird, Kindern Lesen und Schreiben beizubringen, verlieren selbst die Pädagogen ihre Begeisterung für diese einst so ehrenvolle Aufgabe und stellen sich die Frage, ob man solchen Unterricht nicht ganz abschaffen sollte. Oder ein anderes, nicht minder deprimierendes Beispiel: An einigen Schulen belastet man Kinder schon im Alter von elf und zwölf Jahren mit einem sogenannten »Karriere-Training« - auch dies ein deutliches Symptom für das Wiederaufleben des »kleinen Erwachsenen«. Es ist offenkundig, daß die Schule gesellschaftliche Trends eher reflektiert als aktiv dirigiert und daß sie kaum in der Lage ist, sich ihnen zu widersetzen.

Dennoch wird sich die Schule als eine .Hervorbringung der Schriftkultur nicht so ohne weiteres dem Angriff auf ihren Ursprung beugen. In der einen oder anderen Weise und unabhängig davon, wie schwach ihre Kräfte sind, wird die Schule das letzte Bollwerk gegen das Verschwinden der Kindheit sein. Es versteht sich von selbst, daß dieser Widerstand in absehbarer Zeit, wenn alle Lehrer und alle Angehörigen der Schulverwaltung selbst zu Geschöpfen des Fernsehzeitalters geworden sind, nicht nur alle ihm etwa noch verbliebene Kraft verlieren wird, sondern daß dann auch niemand mehr weiß, wogegen er sich richtete.

 

6  Ist der einzelne gegenüber der sich abzeichnenden Entwicklung ohnmächtig?

Die Antwort auf diese Frage lautet meiner Ansicht nach: »Nein.« Der einzelne kann sich dieser Entwicklung durchaus widersetzen, doch wie jeder Widerstand, so fordert auch dieser seinen Preis. Genauer gesagt, dieser Widerstand bringt es mit sich, daß man das Elterndasein selbst als einen Akt der Rebellion gegen die amerikanische Kultur auffassen muß. 

Allein schon daß Eltern verheiratet bleiben, ist ein Akt des Ungehorsams, ein Affront gegen den »Geist« einer Wegwerfkultur, in der Kontinuität kaum etwas bedeutet. Es ist auch höchst unamerikanisch, wenn man in direkter Nähe zur erweiterten Familie bleibt, so daß die Kinder täglich die Bedeutung von Verwandtschaft, den Respekt gegenüber älteren Menschen und die Verantwortung für sie erfahren können.

Und wer darauf drängt, daß die eigenen Kinder lernen, den Wunsch nach unmittelbarer Bedürfnis­befried­igung zu disziplinieren, in ihrer Sexualität Mäßigung und in Gesittung, Sprache und Stil Zurückhaltung zu üben, der gerät in einen Gegensatz zu fast allen Trends der amerikanischen Gesellschaft. Darauf zu achten, daß die eigenen Kinder durch Anstrengung zu einer entwickelten Schriftbeherrschung gelangen, ist außerordentlich zeitaufwendig und sogar kostspielig. 

Nichts aber ist aufrührerischer als der Versuch, die Einwirkung der Medien auf die eigenen Kinder zu kontrollieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu tun. Die erste besteht darin, das Ausmaß, in dem Kinder Medien ausgesetzt sind, zu begrenzen. Die zweite besteht darin, sorgfältig zu verfolgen, welchen Inhalten sie ausgesetzt sind, und dies durch eine fortlaufende kritische Auseinandersetzung mit den dabei zum Ausdruck kommenden Themen und Werten zu begleiten. Beides ist schwierig zu bewerkstelligen und erfordert ein Maß an Aufmerksamkeit, das die meisten Eltern für die Kindererziehung nicht aufzubringen bereit sind.

Dennoch, es gibt Eltern, die sich darauf eingelassen haben, all dies zu tun, die den »Anweisungen« ihrer Kultur trotzen. Diese Eltern verhelfen ihren Kindern nicht nur zu einer wirklichen Kindheit, sie schaffen gleichzeitig auch eine Art von intellektueller Elite. Auf kurze Sicht nämlich werden Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, gewiß größere Chancen im Geschäftsleben, in den freien Berufen und sogar in den Medien selbst haben. 

Und was läßt sich über die längerfristige Entwicklung sagen?  

Wohl nur dieses: Eltern, die sich dem Zeitgeist widersetzen, tragen zur Entstehung eines »Kloster-Effekts« bei, denn sie helfen mit, die Tradition der Humanität wachzuhalten. Es ist nicht vorstellbar, daß unsere Kultur vergißt, daß sie Kinder braucht. Aber daß Kinder eine Kindheit brauchen, hat sie schon halbwegs vergessen. Jene, die sich weigern, zu vergessen, leisten einen kostbaren Dienst.

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 Ende 

 

 

 

 

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