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17   Das Verschwinden der Kindheit

1988 von Neil Postman

 

Warum haben Bücher so viele Seiten? Machen die gewichtigen Gedanken der Autoren sie erforderlich, oder liegt es an der Ökonomie des Verlagswesens? Stellen Sie sich vor, es bräche eine schwere Papierknappheit aus und alle Bücher müßten auf einen Umfang von höchstens fünfzig Seiten reduziert werden. Könnten die Autoren (zumindest die Sachbuchautoren) das, was sie zu sagen haben, nicht auch auf diesem Raum unterbringen? Vielleicht nicht alle. Aber die meisten doch, jedenfalls mit ein bißchen Übung. Man kann sich ausmalen, welche Chancen eine solche Situation böte — die Buchpreise sänken, die Zahl der Bücher, die wir lesen können, stiege. Das Niveau des Geschriebenen würde sich beträchtlich erhöhen.

In den beiden folgenden Essays habe ich versucht, in möglichst knapper Form darzulegen, was ich in meinen beiden bisher erschienenen Büchern zu sagen hatte. Der erste trägt denselben Titel wie das Buch, das er zusammenfaßt: <Das Verschwinden der Kindheit>. Der zweite, den ich mit <Zukunftsschrott> überschrieben habe, ist eine Zusammenfassung von <Wir amüsieren uns zu Tode>.

 

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Auf den folgenden Seiten werde ich eine beängstigende These aufstellen. Ich werde behaupten, daß unsere Medienumwelt, in deren Mittelpunkt das Fernsehen steht, in Nordamerika zu einem raschen Verschwinden der Kindheit führt, daß es Kindheit am Ende dieses Jahrhunderts wahrscheinlich nicht mehr geben wird und daß dies eine gesellschaftliche Katastrophe von größtem Ausmaß wäre.

Wenn ich meine These entwickelt und begründet habe, werde ich mit dem Schreiben aufhören, denn ich weiß keine Lösung für dieses Problem. Ich will damit nicht sagen, daß es keine Lösung gibt; ich will nur sagen, daß sich mein Beitrag zu einer solchen Lösung darauf beschränkt, das Problem selbst zu markieren.

Ich möchte meine Argumentation mit der Feststellung beginnen, daß die Kindheit ein gesellschaftliches Kunstprodukt ist und nicht etwa eine biologische Kategorie. Unsere Gene enthalten keine Anweisungen darüber, wer ein Kind ist und wer nicht, und auch die Gesetze des Überlebens machen es nicht erforderlich, eine Unterscheidung zwischen der Welt des Erwachsenen und der Welt des Kindes zu treffen.

Wenn wir mit dem Wort »Kinder« eine bestimmte Kategorie von Menschen zwischen sieben und, sagen wir, siebzehn Jahren bezeichnen, die bestimmte Formen von Erziehung, Unterricht und Schutz benötigen, dann läßt sich eine Fülle von Belegen dafür anführen, daß es »Kinder« erst seit weniger als vierhundert Jahren gibt. Und wenn wir das Wort »Kinder« in dem umfassenden Sinne verwenden, in dem man es im allgemeinen begreift, dann ist »Kindheit« kaum älter als hundertfünfzig Jahre. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Die Sitte, den Geburtstag eines Kindes zu feiern, gab es im 18. Jahrhundert in Amerika nicht, und auch die Gepflogenheit, das Alter eines Kindes genau anzugeben, ist noch relativ jung, nicht älter als zweihundert Jahre.

Und ein zweites, wichtigeres Beispiel: Noch um 1890 nahmen die amerikanischen High Schools nur sieben Prozent der Vierzehn- bis Siebzehnjährigen auf. Die übrigen 93 Prozent leisteten, genauso wie viele andere noch erheblich jüngere Kinder, Erwachsenenarbeit, manche von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und in all unseren Großstädten.

Aber es wäre falsch, soziale Tatsachen mit sozialen Ideen zu verwechseln. Die Idee der Kindheit ist eine der großen Erfindungen der Renaissance, vielleicht ihre menschlichste. Zusammen mit der Wissenschaft, dem Nationalstaat und der Religionsfreiheit hat sich die Kindheit als soziales Prinzip und als psychologisches Bedingungsgefüge im 16. Jahrhundert herausgebildet. Bis zu dieser Zeit sah man in sechs oder sieben Jahre alten Kindern keine Wesen, die fundamental anders waren als die Erwachsenen. Die Sprache der Kinder, ihre Kleidung, ihre Spiele, ihre Arbeit und ihre Rechte unterschieden sich nicht von denen der Erwachsenen.

Natürlich erkannte man, daß die Kinder in der Regel kleiner waren als die Erwachsenen, aber das verlieh ihnen keinerlei Sonderstellung; und es gab auch keine speziellen Institutionen für Erziehung und Aufzucht von Kindern. Vor dem 16. Jahrhundert gab es beispielsweise keine Bücher über das Großziehen von Kindern und noch nicht einmal Bücher über die Frau in ihrer Rolle als Mutter.

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An Begräbnisprozessionen, um ein anderes Beispiel zu nennen, nahmen regelmäßig auch Kinder teil, denn niemand hielt es für nötig, sie vor dem Anblick des Todes zu behüten. Es kam auch niemandem in den Sinn, das Bild eines Kindes aufzubewahren, gleichgültig, ob dieses Kind nun heranwuchs und erwachsen wurde oder ob es in jungen Jahren starb. Für die Zeit vor dem 17. Jahrhundert finden sich auch keinerlei Hinweise auf die besondere Sprache oder Redeweise von Kindern, während solche Hinweise später in großer Zahl auftauchen. Wenn man sich auf Gemälden aus dem 13. oder 14. Jahrhundert die Kinder ansieht, stellt man fest, daß sie immer wie kleine Erwachsene dargestellt sind. Von der Körpergröße abgesehen, fehlen ihnen alle äußerlichen Merkmale, die wir mit Kindlichkeit assoziieren, und nie werden sie auf einem Bild allein, also isoliert von den Erwachsenen, dargestellt. Diese Bilder liefern eine durchaus getreue Wiedergabe der psychologischen und sozialen Wahrnehmung von Kindern vor dem 16. Jahrhundert.

Der Historiker J.H. Plumb schreibt dazu: »Sicherlich existierte die Kindheit nicht in einer gesonderten Welt. Kinder spielten die gleichen Spiele wie die Erwachsenen, hatten die gleichen Spielzeuge, hörten die gleichen Märchen. Erwachsene und Kinder lebten zusammen, nicht getrennt voneinander. Bei den derben Dorffestlichkeiten auf Brueghels Gemälden essen und trinken Kinder gemeinsam mit den Erwachsenen — inmitten von berauschten Männern und Frauen, die einander in ungezügelter Gier zu umarmen versuchen. Auch auf den weniger ausschweifenden Bildern von Hochzeiten und Tanzfesten vergnügen sich die Kinder neben den Älteren und tun die gleichen Dinge.«

In ihrem großartigen Buch über das 14. Jahrhundert, Der ferne Spiegel, stellt Barbara Tuchman zusammenfassend fest: »Wenn die Kinder erst einmal sieben Jahre alt geworden waren, begann man sie zu beachten, und sie fingen an, das Leben kleiner Erwachsener zu führen.«

Warum dies so war, läßt sich gar nicht so leicht erklären. Zum einen wurden die meisten Kinder, worauf Barbara Tuchman hinweist, nicht sehr alt; ihre Sterblichkeitsrate war außerordentlich hoch, und erst seit dem späten 14. Jahrhundert wurden Kinder in letztwilligen Verfügungen und Testamenten überhaupt erwähnt — ein Indiz dafür, daß die Erwachsenen nicht erwarteten, sie würden lange auf der Welt bleiben.

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Sicherlich brachten die Erwachsenen auch nicht das emotionale Engagement für die Kinder auf, das wir für normal halten. Außerdem wurden die Kinder vor allem unter dem Aspekt ihrer ökonomischen Nützlichkeit angesehen, an ihrem Charakter und ihrer Intelligenz waren die Erwachsenen weniger interessiert als an ihrer Arbeitskraft. Aber ich glaube, den Hauptgrund für das Fehlen einer Vorstellung von Kindheit findet man in der Kommunikationsumwelt des mittelalterlichen Alltags; da die meisten Menschen nicht lesen konnten und diese Fähigkeit auch nicht benötigten, wurde ein Kind in dem Augenblick zum Erwachsenen — zu einem am Leben vollständig beteiligten Erwachsenen —, in dem es sprechen gelernt hatte.

Da zu allen wichtigen gesellschaftlichen Transaktionen die direkte mündliche Kommunikation gehörte, bildete die Vervollkommnung der Fähigkeit, zu sprechen und zuzuhören — die im allgemeinen im siebten Lebensjahr erreicht wird-, die Scheidelinie zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Deshalb bestimmte die katholische Kirche das Alter von sieben Jahren, in dem der Mensch von dem Unterschied zwischen Gut und Böse wissen kann, als das Alter der Vernunft. Deshalb wurden Kinder, ebenso wie Erwachsene, für Diebstahl oder Mord gehenkt. Und deshalb gab es auch so etwas wie eine Grundschulerziehung im Mittelalter nicht, denn wo die Biologie die kommunikative Kompetenz bestimmt, bedarf es einer solchen Bildung nicht. Mit anderen Worten, es gab keine Stufe zwischen dem Kleinkindalter und dem Erwachsenenalter, weil sie nicht vonnöten war. So blieb es bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts.

Damals ereignete sich etwas Außergewöhnliches, wodurch sich nicht nur das religiöse, ökonomische und politische Gesicht Europas veränderte, sondern auch unsere moderne Idee der Kindheit hervorgebracht wurde. Ich meine die Erfindung der Druckerpresse. Und weil manche von Ihnen in wenigen Minuten glauben werden, ich würde die Macht des Fernsehens übertreiben, möchte ich hier ausdrücklich feststellen, daß im Jahre 1450 wohl niemand die geringste Ahnung davon hatte, daß die Druckerpresse unsere Gesellschaft mit solcher Macht prägen würde, wie es dann tatsächlich geschah.

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Als Gutenberg verkündete, er könne Bücher herstellen »ohne die Hilfe von Rohr, Stylus oder Feder, sondern nur durch wunderbaren Einklang, Proportion und Harmonie von Stempeln und Typen«, da ahnte er nicht, daß seine Erfindung die Autorität der katholischen Kirche untergraben würde. Und doch dauerte es keine achtzig Jahre, bis Martin Luther wirklich behauptete, da Gottes Wort in jedem Hause verfügbar sei, bedürften die Christen nicht länger des Papsttums, um es für sie auszulegen. Und ebensowenig ahnte Gutenberg, daß seine Erfindung eine neue Kategorie von Menschen hervorbringen würde — nämlich die Kinder.

Was Lesen in den beiden Jahrhunderten nach Gutenbergs Erfindung bedeutete, veranschaulicht der Fall zweier Gauner — der eine hieß William, der andere Paul —, die im Jahre 1605 versucht hatten, in das Haus des Earl of Essex einzubrechen. Sie wurden gefaßt und überführt. Und das Urteil, das die hohe Obrigkeit über sie fällte, lautete so: »Besagter Paul liest, soll gebrandmarkt werden; besagter William liest nicht, soll gehängt werden.« Besonders gnädig fiel also auch die Strafe für Paul nicht aus, aber er blieb, anders als William, immerhin am Leben, weil er sich auf das sogenannte »Vorrecht des Klerus« berufen hatte, was bedeutete, daß er wenigstens einen Satz aus einer englischen Bibel lesen konnte. Und diese Fähigkeit allein war nach englischem Recht im 17. Jahrhundert Grund genug, ihn mit dem Galgen zu verschonen.

Der Leser wird mir wohl zustimmen, wenn ich sage, daß keiner von allen Vorschlägen, wie man Menschen zum Lesen motivieren kann, es mit der englischen Methode des 17. Jahrhunderts aufnehmen kann. Von den 203 Männern, die im Jahre 1644 in Norwich wegen Kapitalverbrechen verurteilt wurden, berief sich ungefähr die Hälfte auf das »Vorrecht des Klerus«, ein Hinweis darauf, daß die Engländer zumindest die gebildetste Halunkenschicht der Weltgeschichte hervorzubringen vermochten.

Aber das war nicht alles. Wie bereits angedeutet, war die Kindheit eine Folge der Ausbreitung von Lesen und Schreiben. Und sie entstand, weil sich die europäische Kultur nach der Erfindung des Buchdrucks in weniger als hundert Jahren in eine Lesekultur verwandelte — und damit auch den Begriff der Erwachsenheit neu definierte. Erwachsen konnte nur werden, wer lesen konnte. Um in eine Beziehung zu Gott treten zu können, mußte man natürlich imstande sein, die Bibel zu lesen. Wer sich mit Literatur beschäftigen wollte, mußte Romane und Essays lesen können, beides Literaturformen, die ganz und gar von der Druckerpresse hervorgebracht wurden.

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Unsere frühesten Romanautoren — etwa Richardson und Defoe — waren selbst Drucker. Und als Sir Thomas Morus seine Utopia schrieb, gewissermaßen unseren ersten Science-fiction-Roman, da arbeitete er Hand in Hand mit einem Drucker.

Um sich in den Naturwissenschaften zu schulen, mußte man nicht unbedingt Latein lesen können, seit Anfang des 17. Jahr­hunderts konnte man naturwissenschaftliche Texte auch in der eigenen, der Volkssprache lesen. Sir Francis Bacons The Advancement of Learning, erschienen im Jahre 1605, war die erste wissenschaftliche Abhandlung, die ein Engländer auf englisch lesen konnte. Daneben entdeckten die Europäer aufs neue, was schon Platon über das Lesenlernen gesagt hatte, daß es sich nämlich in jungen Jahren am besten bewerkstelligen läßt. Da das Lesen unter anderem ein unbewußter Reflex ebenso wie ein Akt des Wiedererkennens ist, sollte das gewohnheitsmäßige Lesen in der Phase herausgebildet werden, in der das Gehirn noch mit der Aufgabe beschäftigt ist, die mündliche Sprache zu erwerben. Der Erwachsene, der das Lesen erst lernt, nachdem der mündliche Spracherwerb abgeschlossen ist, wird selten ein gewandter Leser.

Im 16. Jahrhundert bedeutete dies, daß die jungen Menschen von der übrigen Gemeinschaft abgesondert werden mußten, um im Lesen unterrichtet zu werden — oder, um es anders zu formulieren, darin, wie man die Rolle eines Erwachsenen ausfüllt. Vor der Erfindung der Druckerpresse wurden Kinder zu Erwachsenen, indem sie sprechen lernten, wozu jeder Mensch biologisch programmiert ist. Nach der Erfindung der Druckerpresse mußten sich die Kinder die Erwachsenheit erwerben, indem sie sich die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben aneigneten, wozu die Menschen nicht biologisch programmiert sind. Deshalb mußten Schulen geschaffen werden.

Im Mittelalter gab es so etwas wie eine Grundschulerziehung nicht. Im Jahre 1480 gab es beispielsweise in ganz England bloß 34 Schulen. Im Jahre 1660 waren es mehr als 450, alle zwanzig Kilometer eine Schule. Mit der Einrichtung solcher Schulen konnte es nicht ausbleiben, daß man die jungen Leute als eine besondere Kategorie von Menschen ansah, die sich in Geist und Charakter von den Erwachsenen unterschieden. Weil die Schule zur Vorbereitung eines lese- und schreibkundigen Erwachsenen vorgesehen war, sah man in den Heranwachsenden nun keine kleinen Erwachsenen mehr, sondern etwas ganz anderes — ungeformte oder ungebildete Erwachsene.

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Schulisches Lernen und Kindheit wurden nun miteinander gleichgesetzt. Die Kindheit ihrerseits wurde durch das Besuchen einer Schule definiert, und das Wort Schuljunge wurde gleichbedeutend mit Kind.

Kurzum, wir fingen an, die Entwicklung des Menschen als eine Abfolge von Stufen zu sehen und die Kindheit darin als die Brücke zwischen dem Säuglings- und Kleinkindalter auf der einen Seite und dem Erwachsenenalter auf der anderen. Während der vergangenen 350 Jahre haben wir unsere Vorstellung von der Kindheit weiterentwickelt und verfeinert; wir haben Institutionen geschaffen und vervollkommnet, die sich dem Aufziehen und Unterrichten von Kindern widmen; und wir haben unseren Kindern eine Vorzugsstellung eingeräumt, was sich auch darin zeigt, daß wir davon ausgehen, sie hätten ihre besondere Art zu denken, zu sprechen, sich zu kleiden, zu spielen und zu lernen.

Mit alledem, so glaube ich, hat es nun bald ein Ende, zumindest in Amerika. Und zwar deshalb, weil unsere Kommuni­kations­umwelt erneut radikal verändert worden ist, diesmal durch die elektronischen Medien, vor allem durch das Fernsehen. Das Fernsehen birgt in sich ein Veränderungspotential, das dem der Druckerpresse ebenbürtig und vielleicht sogar genauso groß ist wie das des Alphabets selbst. Und ich stelle die Behauptung auf, daß das Fernsehen, unterstützt von anderen Medien, wie Radio, Film und Schallplatte, die Macht hat, das Ende der Kindheit herbeizuführen.

Und so vollzieht sich dieser Wandel: Zunächst einmal ist das Fernsehen im Kern nicht-sprachlich; es stellt Informationen vor allem in visuellen Bildern dar. Obwohl man im Fernsehen auch Sprache hört und diese mitunter sogar Wichtigkeit erlangt, ist es doch so, daß die Leute im wesentlichen fernsehen. Und was sie sehen, sind bewegte, ständig wechselnde Bilder — bis zu 1200 verschiedene in einer Stunde. Die durchschnittliche Länge einer Einstellung in den Sendungen der großen amerikanischen Fernsehgesellschaften liegt bei 3,5 Sekunden; in einem Werbespot liegt sie bei 2,5 Sekunden. Auf analytisches Entschlüsseln kommt es dabei kaum an. Fernsehen in Amerika bedeutet fast ausschließlich Wiedererkennung von Mustern. Ich will damit sagen, daß das Fernsehen als symbolische Form keine besondere Unterweisung oder Anleitung voraussetzt. In Amerika fangen die Kinder mit 18 Monaten an fernzusehen, und mit 36 Monaten fangen sie an, Fernsehbilder zu verstehen und auf sie zu reagieren.

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Sie haben ihre Lieblingsfiguren, singen Erkennungsmelodien, die sie hörten, und verlangen nach den Produkten, deren Reklame sie gesehen haben. Eine vorbereitende Schulung als Voraussetzung zum Fernsehen ist nicht erforderlich. Etwas, das dem Lesebuch in der Schule entspräche, wird vom Fernsehen nicht benötigt- Fernsehen setzt keine Fertigkeiten voraus und fördert auch keine. Deshalb sind Sie heute kein besserer Fernsehzuschauer als vor fünf oder zehn Jahren. Und deshalb gibt es im Fernsehen so etwas wie ein Kinderprogramm in Wirklichkeit nicht. Alles ist für alle da.

Was die symbolische Form angeht, ist Denver genauso schwer oder genauso leicht zu begreifen wie Sesamstraße. Anders als Bücher, die in ihrer syntaktischen und lexikalischen Komplexität deutlich variieren und sich entsprechend den Fähigkeiten des Lesers einstufen lassen, liefert das Fernsehen seine Informationen in einer Form, die für jeden gleichermaßen zugänglich ist. Und deshalb sehen Erwachsene und Kinder häufig dieselben Sendungen. Und für diejenigen, die glauben, Kinder und Erwachsene säßen zumindest zu unterschiedlichen Tageszeiten vor dem Fernseher, möchte ich hinzufügen, daß nach dem Buch Remote Control von Frank Mankiewitz an jedem Tag des Jahres zwei Millionen amerikanische Kinder zwischen 23 Uhr 30 und 2 Uhr morgens fernsehen.

Das Fernsehen löscht also die Trennungslinie zwischen Kindheit und Erwachsenenalter auf doppelte Weise aus — zum einen, weil keine Unterweisung erforderlich ist, um seine Form zu begreifen, und zum anderen, weil es sein Publikum nicht gliedert. Allen teilt es dieselben Informationen mit, gleichzeitig und ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Bildungsniveau oder ein etwaiges früheres Sklavendasein.

Aber es löscht diese Trennungslinie noch auf andere Weise aus. Man könnte sagen, der Hauptunterschied zwischen einem Erwachsenen und einem Kind bestehe darin, daß der Erwachsene von bestimmten geheimnisvollen, widersprüchlichen, gewalttätigen, tragischen Seiten des Lebens weiß, von denen Kinder nach allgemeiner Auffassung noch nichts wissen sollten. Wenn die Kinder dann heranwachsen, enthüllen wir ihnen diese Geheimnisse auf eine Weise, die wir für psychologisch verträglich halten. Deshalb gibt es Kinderliteratur. Das Fernsehen jedoch macht es ganz unmöglich, solche Vorkehrungen zu treffen.

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Weil das Fernsehen in Amerika praktisch rund um die Uhr sendet, verlangt es ständig Nachschub an neuen, interessanten Informationen. Dies bedeutet, daß alle Erwachsenengeheimnisse — gesellschaftliche, sexuelle, medizinische und so weiter — enthüllt werden müssen. Das Fernsehen zwingt die Kultur, alle ihre Geheimnisse zu offenbaren. Auf seiner Suche nach neuen, sensationellen Informationen, mit denen es sein Publikum fesseln will, zapft das Fernsehen jedes bestehende Tabu in der Kultur an: Inzest, Ehescheidung, Promiskuität, Korruption, Ehebruch, Sadismus — alles ist bloß noch Thema für diese oder jene Fernseh-Show. Und dabei verliert natürlich jedes dieser Themen den Charakter eines Erwachsenen­geheimnisses.

Vor einigen Jahren, in einer Sendung mit dem Titel The Vidal Sasoon Show, die inzwischen zum Glück wieder von der Bildfläche verschwunden ist, ist mir ein drastisches Beispiel für das begegnet, wovon ich hier spreche. Vidal Sasoon ist ein bekannter Friseur, und seine TV-Show bestand aus einer Mischung von Kosmetiktips, Ernährungs- und Gesundheitsratschlägen und Populärpsychologie. Kurz vor einer Reklameeinblendung hatte Sasoon gerade noch Zeit, in die Erkennungsmelodie hinein zu verkünden: »Schalten Sie nicht um. Wir sind gleich wieder da, mit einer phantastischen neuen Diät und danach einem kurzen Blick auf den Inzest.«

Unnachgiebig enthüllt und trivialisiert das Fernsehen alles Private und alles, was das Schamgefühl zurückhält. Die Themen des Beichtstuhls und der Psychologenpraxis werden heutzutage auf dem freien Markt erörtert. Sehr bald werden wir und unsere Kinder miterleben dürfen, wie das kommerzielle Fernsehen erste Versuche mit der Präsentation von Nacktheit macht, die wahrscheinlich niemanden schockieren wird, weil die TV-Werbespots schon seit Jahren eine Art von soft-core-Pornographie darbieten, zum Beispiel in der Reklame für Marken-Jeans.

Und da wir gerade bei den Werbespots sind — auch die eine Million Werbespots, die amerikanische Jugendliche in den ersten zwanzig Jahren ihres Lebens sehen, leisten ihren Beitrag zur Offenbarung der Geheimnisse, die früher einmal dem Reich der Erwachsenen vorbehalten waren — vom Vaginalspray über die Lebensversicherung bis zu den Ursachen für Ehekonflikte. Und auch die Beiträge der Fernsehnachrichten sollten wir hier nicht übergehen, jener merkwürdigen Unterhaltungsveranstaltungen, die den jungen Menschen das Versagen und den Wahnsinn von Erwachsenen Tag für Tag vor Augen führen.

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Infolgedessen lassen sich Arglosigkeit und Unschuld der Kindheit nicht mehr aufrechterhalten; aus diesem Grund sind auch bereits die Kinder aus dem Fernsehen verschwunden. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß alle Kinder im Fernsehen als kleine Erwachsene dargestellt werden, genau wie auf den Bildern des 13. und 14. Jahrhunderts? Schauen Sie sich irgendeine Seifenoper, eine Familiensendung oder eine Fortsetzungsserie an, und Sie werden Kinder sehen, die sich in ihrer Sprache, ihrer Kleidung, ihrer Sexualität, ihren Interessen in nichts von den Erwachsenen in derselben Sendung unterscheiden.

Und doch wäre es jetzt, da das Fernsehen die traditionelle Vorstellung von Kindheit nach und nach unsichtbar werden läßt, nicht ganz richtig zu behaupten, das Fernsehen tauche uns nun allesamt unterschiedslos in die Welt der Erwachsenen. Es verwendet vielmehr das Material dieser Erwachsenenwelt, um auf dieser Grundlage einen ganz neuen Menschentyp zu entwerfen. Wir könnten ihn den Kind-Erwachsenen nennen. Aus Gründen, die teils damit zu tun haben, daß das Fernsehen jeden zu erreichen vermag, teils damit, daß seine symbolische Form jedem zugänglich ist, und teils damit, daß seine Grundlage der Kommerz ist, propagiert es viele Einstellungen, die wir mit Kindlichkeit assoziieren — zum Beispiel ein zwanghaftes Verlangen nach unmittelbarer Wunscherfüllung, Achtlosigkeit gegenüber den Folgen des eigenen Handelns, eine ebenso ziel- wie wahllose Vertiefung in den Konsum.

Das Fernsehen scheint eine aus drei Altersgruppen bestehende Bevölkerung zu bevorzugen: am einen Ende das Säuglingsalter, am anderen das Greisenalter, dazwischen eine Gruppe von unbestimmtem Alter, wo jeder zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt ist und es bleibt, bis ihn die Altersschwäche überkommt.

In diesem Zusammenhang möchte ich an einen Werbespot erinnern, in dem es um eine bestimmte Seifenmarke geht. Wir sehen eine Mutter und eine Tochter und sollen nun raten, wer die Mutter und wer die Tochter ist. Ich halte dies für ein aufschlußreiches soziologisches Indiz, denn hier wird uns mitgeteilt, daß es in unserer Kultur für wünschenswert gilt, daß eine Mutter nicht älter aussieht als ihre Tochter oder daß eine Tochter nicht jünger aussieht als ihre Mutter.

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Ob dies nun bedeutet, daß die Kindheit oder daß das Erwachsenenalter verschwindet — beides läuft auf das gleiche hinaus, denn wo es keine klare Vorstellung davon gibt, was es heißt, erwachsen zu sein, gibt es auch keine Vorstellung von Kindheit.

Wie immer man die Verwandlung, die sich da vollzieht, beschreiben will, es ist jedenfalls offenkundig, daß sich Erwachsene und Kinder in ihrem Verhalten, ihren Einstellungen, ihren Wünschen und sogar in ihrer körperlichen Erscheinung immer weniger voneinander unterscheiden lassen. Es gibt zum Beispiel heute kaum noch einen Unterschied zwischen den Verbrechen von Erwachsenen und denen, die von Kindern begangen werden — und in vielen amerikanischen Bundesstaaten werden sie auch auf dieselbe Weise bestraft. Nur ein Indiz: Zwischen 1950 und 1985 hat die Zahl der von Jugendlichen unter 15 Jahren begangenen Delikte, die das FBI als »Schwerverbrechen« einstuft, um 11.000 Prozent zugenommen!

Auch in der Kleidung gibt es kaum Unterschiede. Die Kinderbekleidungsindustrie hat in den letzten fünfzehn Jahren einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht, so daß jene Modeformen, die früher eindeutig als »Kinderkleider« erkennbar waren, heute praktisch verschwunden sind. Elfjährige Jungen tragen auf Geburtstagspartys Anzüge mit Weste, und einundsechzigjährige Männer tragen zum gleichen Anlaß Jeans. Zwölfjährige Mädchen laufen mit Stöckelschuhen herum, zweiundfünfzigjährige Männer mit Turnschuhen. Auf den Straßen von New York und Chicago sieht man erwachsene Frauen mit Söckchen und imitierten Kinderlackschuhen, und auch der Minirock, dieses augenfälligste und peinlichste Beispiel für die Nachahmung einer Kindermode durch die Erwachsenen, ist wieder aufgetaucht.

Ein anderes Beispiel: Kinderspiele, die früher überaus phantasiereich und vielfältig und so ganz und gar ungeeignet für Erwachsene waren, schwinden mehr und mehr. Einrichtungen wie der Little League Baseball und der Peewee Football werden nicht nur von Erwachsenen überwacht, auch in ihrer Organisation und in ihrem emotionalen Stil entsprechen sie ganz dem Profi-Sport. Schnellimbißgerichte, die früher nur für den undifferenzierten Geschmack und die eisernen Mägen von Jugendlichen geeignet schienen, sind heute auch für Erwachsene eine gebräuchliche Kost. Man hat schon vergessen, daß man von Erwachsenen früher einmal annahm, sie hätten in Fragen des Essens einen entwickelteren Geschmack als Kinder; die Werbespots von McDonald's und Burger King zeigen uns, daß dieser Unterschied nicht mehr relevant ist.

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Auch die Sprache von Kindern und Erwachsenen hat sich verändert, so daß die Vorstellung, es könnte Wörter geben, die Erwachsene in Gegenwart von Kindern nicht verwenden sollten, heutzutage ein wenig lächerlich wirkt. Angesichts der unnachgiebigen Enthüllung aller Erwachsenengeheimnisse durch das Fernsehen lassen sich sprachliche Geheimnisse nur schwer bewahren, und es erscheint mir nicht unvorstellbar, daß wir in naher Zukunft wieder bei der Situation des 13. und 14. Jahrhunderts angelangt sind, wo es Wörter, die für junge Ohren untauglich waren, nicht gab.

Selbstverständlich läßt sich mit Hilfe moderner Verhütungsmittel das sexuelle Verlangen von Erwachsenen und Kindern ohne größere Beschränkungen und ohne ernsthaftes Verständnis für seine Bedeutung befriedigen. Hier hat das Fernsehen eine Rolle von enormer Bedeutung übernommen, denn es hält die gesamte Bevölkerung nicht nur in einem Zustand hoher sexueller Spannung, es propagiert auch eine Art von Egalitarismus der sexuellen Erfüllung: Aus einem dunklen, tiefen Erwachsenen­geheimnis wird die Sexualität in ein Produkt verwandelt, das für jeden erhältlich ist, so wie ein Mundwasser oder ein Deodorant.

Ich sollte hier noch erwähnen, daß es eine zusehends stärker werdende Bewegung gibt, die sich für eine Neuformulierung der gesetzlichen Rechte von Kindern im Sinne einer Angleichung an die Rechte der Erwachsenen einsetzt. Ihre Stoßkraft bezieht diese Bewegung, die sich zum Beispiel gegen die Schulpflicht wendet, aus der These, daß der angeblich bevorzugte Status der Kinder in Wirklichkeit nur auf eine Unterdrückung hinausläuft, die ihnen eine umfassende Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vorenthält.

Alles das, so scheint mir, besagt, daß unsere Kultur der Kindheit immer weniger Chancen läßt und ihr immer mehr von ihrer Daseinsberechtigung nimmt. Ich bin nicht so verbohrt anzunehmen, das Fernsehen allein sei für diesen Wandel verantwortlich. Der Niedergang der Familie, der Verlust eines Gefühls von Verwurzelung — in jedem Jahr ziehen 40 Millionen Amerikaner um — und die technologisch bedingte Sinnentleerung weiter Bereiche der Erwachsenenarbeit spielen ebenfalls eine Rolle. Aber das Fernsehen schafft meiner Ansicht nach einen Kommunikationskontext, der dem Gedanken Vorschub leistet, Kindheit sei weder wünschenswert noch notwendig; ja, sogar dem Gedanken, daß wir Kinder gar nicht brauchen.

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Wenn ich vom Ende der Kindheit spreche, meine ich natürlich nicht, daß die Kinder im physischen Sinne verschwinden, wenngleich auch dies geschieht. Schon seit einem Jahrzehnt geht die Geburtenrate in Nordamerika zurück, weshalb jetzt überall im Land Schulen geschlossen werden. Und damit komme ich zum letzten Merkmal des Fernsehens, das erwähnt zu werden verdient: Die Idee der Kindheit umfaßt auch eine Vision der Zukunft. Kinder sind lebende Botschaften, die wir einer Zukunft übermitteln, welche wir selbst nicht mehr erleben werden. Aber das Fernsehen vermag einen Sinn für die Zukunft oder auch einen Sinn für die Vergangenheit nicht mitzuteilen. Es ist ein gegenwartszentriertes, lichtgeschwindes Medium.

Alles, was wir im Fernsehen sehen, erleben wir so, als würde es jetzt geschehen, und deshalb muß man uns — mit Hilfe der Sprache — sagen, daß das Video-Tape, das wir da sehen, schon vor Monaten hergestellt worden ist. Die Grammatik des Fernsehens weist nichts auf, was dem Imperfekt oder dem Futur in der Sprache entspräche. So bläht es die Gegenwart über die Maßen auf und macht aus dem kindlichen Verlangen nach unmittelbarer Wunscherfüllung einen Lebensstil. Und schließlich gelangen wir zu dem, was Christopher Lasch die »Kultur des Narzißmus« nennt — eine Kultur ohne Zukunft, ohne Kinder, in der jeder festgelegt ist auf ein Alter zwischen zwanzig und dreißig.

Wie ich eingangs gesagt habe, halte ich das, was ich hier beschrieben habe, für eine Katastrophe — teils, weil ich den Charme, die Neugier, die geschmeidige Formbarkeit und die Unschuld der Kinder für etwas sehr Wertvolles erachte. Und teils, weil ich glaube, daß Erwachsene erst Kinder gewesen sein müssen, bevor sie erwachsen werden können. Denn sonst bleiben sie ihr Leben lang wie die Kind-Erwachsenen des Fernsehens — ohne Zugehörigkeitsgefühl, unfähig zu dauerhaften Beziehungen, ohne Sinn für Grenzen und ohne Verständnis für die Zukunft. Für eine Katastrophe halte ich es aber vor allem deshalb, weil uns, indem die Fernsehkultur die Grenze zwischen dem Kind und dem Erwachsenen abschafft, indem sie alle Geheimnisse der Gesellschaft abschafft, indem sie unsere Vorstellungen von Zukunft und die Wertschätzung von Selbstbeherrschung und Disziplin untergräbt, anscheinend der Rückfall in eine mittelalterliche Gefühlswelt bevorsteht, aus der uns der Umgang mit Schrift und Buch befreit hatte.

Trotz dem, was ich eingangs gesagt habe, möchte ich nicht mit einer hoffnungslosen Note schließen. Zum Schluß möchte ich vielmehr einen möglicherweise tröstlichen Ausblick bieten: Im 5. Jahrhundert v. Chr. war Athen im Begriff, sich aus einer Kultur der Mündlichkeit in eine Schriftkultur zu verwandeln. Aber der große Lehrer der Athener, Sokrates, fürchtete das geschriebene Wort und verspottete es. Sokrates schrieb bekanntlich keine Bücher, und wären nicht Platon und Xenophon gewesen, so wüßten wir wohl fast nichts über ihn.

In einem seiner bis heute bedeutendsten Gespräche, im Phaidros, behauptet Sokrates, die gesprochene Sprache sei als Form am besten geeignet, ernsthafte Gedanken, anmutige Gedichte und echte Frömmigkeit auszudrücken. Er behauptet weiter, das Schreiben werde schließlich die Merkfähigkeit und die dialektischen Fähigkeiten und den Begriff des Privaten unterminieren. Mit all diesen Prophezeiungen hat er recht behalten. Aber anders als sein Schüler Platon sah er eines nicht: daß nämlich das Schreiben ganz neuartige und wunderbare Möglichkeiten für den Intellekt hervorgebracht hat. Sokrates hatte also zwar recht, aber seine Voraussicht war begrenzt.

Ohne mich mit Sokrates vergleichen zu wollen, möchte ich zum Schluß nur dies noch sagen: Obwohl ich das von mir entworfene Bild für zutreffend halte, hoffe ich aufrichtig, daß meine Voraussicht, wie die des Sokrates, begrenzt ist und daß sich das Fernseh­zeitalter als ein Segen erweisen wird. 

Aber ich bezweifle es.

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