Olaf Start

Olaf Liedtke  

Der Fäkalien Radikalo  

Libretto für eine panoptische Operette 
über die Wut in den großen Städten 
in drei Akten 
59 Seiten (A4)

 

PERSONEN:

JANA MÜLLER ......... Untermieterin bei Peter und Kalle

THOMAS HÜBCHEN ...... Sekretär des Herrn von Schramm

PETER ............... Hauptmieter und resignierter Intellektueller

KALLE ............... Hauptmieter und leidenschaftlicher Kiffer

VON SCHRAMM ......... Aufsichtsratsvorsitzender der Kruppsch Krappsch & Co. AG

VON KOHLEN-REIBACH .. deren Hauptaktionär 

EIN ENGEL ........... weiblichen Geschlechts 

 

WEITERE PERSONEN (in der Reihenfolge ihres ersten Auftritts): 

Passanten auf der Straße, Prostituierte, speziell zwei Dominas, ein alter Mann, ein Märchenprinz, Versammlungsteilnehmer, zwei Polizisten, Arbeiter, ein Vorarbeiter, ein polnischer Gastarbeiter, der letzte Agitator, Sicherheitsbeamte, ein Ansager, ein politischer Redner, eine Trauergesellschaft. Desweiteren eine Lautsprecher- und eine Radioreporterstimme.

ORTE DER HANDLUNG: Ein Badezimmer, eine Straße, ein Bordell, ein Friedhof, Hübchens Büro und die Chefetage der Kruppsch Krappsch & Co. AG.

 

1


PROLOG 

(statt einer Ouvertüre, gesprochen von Jana und Hübchen)

 

Chaos lag getaucht in Finsternis
Und Wellenstürme brachen sich im Nirgendwo
Ein Punkt nur war das Kantsche Ding an sich.
Die Götter schnarchten irgendwo

Da plötzlich donnerte Posaunenklang
Und Licht erstrahlte, tausend Sonnen hell
Es war mit einemmal die Zeit heran
Das sich Bewegung zu dem Stoff gesell'

Und Form um Form entsprang dem neuen Bund
Kaum daß er war so recht vollzogen
Erfüllte den Raum die belebende Kund»
Vom kosmischen Liebeswogen

Die Welt erklang in reinsten Tönen
In wilden Farben prangte die Unendlichkeit
Den Göttern entrang sich ein gähnendes Stöhnen
Sie erwachten inmitten der Herrlichkeit

Ei der Daus, da sind wir wieder
Wie war die Zeit doch lang
So sprachen sie und kamen nieder
Der Tanz um's gold'ne Kalb begann

Und ganz betäubt vom Wirbelwind
Vom hüpfen und vom springen
Blieb für das arme Menschenkind
Nicht ein Moment sich zu besinnen

So reflektiert es seine Lage
Aus Mangel an Gelegenheit 
Auch heut' noch als 'ne künstlerische Frage 
Für Kunst hat's gerad' noch etwas Zeit

Drum Vorhang auf, das Spiel beginne
Beachtet wie das Schicksal uns erwischte
Das lehrreich euch die Zeit verrinne
Kommt von der Straße in diese Geschichte

 

2-3


ERSTER AKT

Erste Szene

(Das Badezimmer mit Wanne, Waschbecken, Wasserklosett und einem Fenster. Kalle in der Wanne liegend.)

PETER: (Herein, macht Anstalten zu pinkeln.)

KALLE: Wenn ich tot bin werden die Vögel auf mein Grab scheißen, aber es wird mir kein Glück mehr bringen.

PETER: (Pinkelt.)

KALLE: Es kann die Leichen, die bleichen, das Glück der Vogelkacke nicht erreichen.

PETER: (Schließt seinen Hosenschlitz.)

KALLE: Tut dich das nicht erweichen?

PETER: Ich bin gerührt, verführt, getutet. (Beginnt sich die Zähne zu putzen.)

KALLE: (interessiert) Warum putzt du dir eigentlich nach dem Pissen die Zähne?

PETER: Blöde Frage. Weil's hygienisch ist. (Stellt die Zahnbürste weg und wäscht sich die Hände.)

KALLE: Gehe ich recht in der Annahme, daß eine neue, großartige Theorie dein Verhältnis zur Wirklichkeit trübt?

PETER: Ich bin dem faschistoiden Element der städtischen Verkehrsampel auf der Spur.

KALLE: Ah .... ja. Verschone mich damit.

PETER: (unbeeindruckt) Rot, Verbot jeglicher individueller Bewegung. Gelb, Achtung für das vereinheitlichte Ego. Grün, freie Fahrt für Blindgänger. Die Trinität: Diktatur.

KALLE: Puh, wie tiefsinnig. Ich bin geplättet.

- 4


PETER: Die Ampelregulierung reduziert das Bewußtsein auf motorische Reflexe. Das Signal ersetzt die Beachtung des artverwandten Subjekts. Indem die Sinnlichkeit der Regulierung unterworfen wird, wird sie entmenschlicht.

KALLE: (Absolut übertreibend.) Ich fasse es nicht!

PETER: Ach, leck' mich. (Will zur Tür hinaus, eine Frau stolpert ihm entgegen.) Hoppla.

KALLE: Hallo!

JANA: (Nachdem sie zum Stehen gekommen ist.) Ich heiße Jana Müller, habe eine unglückliche Liebe hinter mir und komme wegen des freien Zimmers.

KALLE: (Gemeinsam mit Peter.) Ach so.

JANA: Ich habe heute morgen mit einem Peter telefoniert......

KALLE: Darf ich vorstellen: Peter Petrowowitsch, der Welt berühmtester Ampelanarchist.

PETER: Kalle Knallkopp, Guano-Poet.

JANA: ..... die Wohnungstür stand offen ......

KALLE: Die ständig wechselnden Phasen im Kopf des jungen Mannes.

PETER: Die viele Vogelschei....

JANA: (genervt) Darf ich das Zimmer sehen?

PETER: Na klar. Die letzte Tür, hinten links.

JANA: (Wartet einen Moment.) O.K. (Geht ab.)

PETER: Jedenfalls ist sie die Inkarnation der endgültigen Vernichtung des humanistischen Idealismus.

KALLE: Sie?

PETER: Die Verkehrsampel.

KALLE: Ich ersäufe mich.

- 5


PETER: Regeln galten einmal als Hilfe bei der Suche nach neuem. Ihrer Anwendung folgte eine Lösung. Heute schließt die zur Regel gewordene Regulierung die Lösung geradezu aus. Signal, Reflex und dazwischen kein Platz mehr für einen klaren Gedanken.

KALLE: Ade, du schnöde Welt. (Taucht in der Wanne unter.)

PETER: (Setzt sich auf den Wannenrand und kratzt sich am Kopf.)

JANA: (herein) Es ist schön. Ich würde es nehmen.

PETER: Einverstanden. Wann wirst du einziehen?

JANA: Morgen?

PETER: O.K. Morgen. (Schweigen, Peter kratzt sich am Kopf.)

JANA: Dürfte ich mal die Toilette benutzen?

PETER: Na klar.

JANA: (Nach kurzer Pause.) Ich meinte heute noch.

PETER: Sitzt keiner drauf.

JANA: Oje. Alleine bitte.

PETER: Ach so. (Geht ab.)

JANA: (Will sich auf die Toilette setzen.)

KALLE: (Aus der Wanne auftauchend.) Völker, seht die Signale .....

JANA: (Nach kurzem erschrecken.) Himmel hilf.

KALLE: 'Tschuldigung. Nimmst du das Zimmer?

JANA: Shit, was denkst du? Das ich's mir aussuchen kann? 

 

6


Zweite Szene

(Belebte Straße. Fußgänger und allerlei Gefährte.)

DIE MENGE: Brumm, brumm. Hup, hup. (Etc. Der übliche Straßenlärm.)

JANA: (Aus der verstummenden Menge hervortretend, singt.)

Ein Tritt auf den Fuß 
Ein Stoß im Gedränge 
War das ein Gruß

Ein Schritt heraus aus der Menge 
Ist sie nur ein Gefühl 
Das ich hab' im Gewühl

Wenn das Fernweh mich packt 
Was ist die Liebe in der Stadt?

MENSCHEN AUS DER MENGE: Eh, du Blödmann - Schwachkopf - Toppsau - Hast du Klöße auf den Augen? - Schnauze!

JANA: (singt)

Ist sie ein Traum von weither
Nur als Schatten zu sehen
Nur ein Augenblick mehr
Um dann weiter zu gehen
Ist sie nur Illusion
Ein verklingender Ton
Eine Herzschlagfrequenz 
      Die keine Empfangsstation hat
Was ist die Liebe in der Stadt?

MENSCHEN AUS DER MENGE: Schwuchtel - Wichser - Fick dich - Mach's dir selber - Na, hören sie mal!

7


HÜBCHEN: (Aus der Menge heraustretend.) Ruhe! 
(Zu Jana.) Sie haben da ein sehr schönes Lied gesungen. Ich bin ganz hin und weg. Darf ich sie vielleicht zu einem Kaffee ......

JANA: Oh, Mann! Hat man denn nirgends seine Ruhe? (Geht ab.)

HÜBCHEN: (Bleibt verdattert stehen. Ein Gefährt heran, darin von Schramm und Chauffeur.)

VON SCHRAMM: Hübchen! Was machen sie denn hier?
Bißchen die Beine vertreten? Frische Luft
schnappen? Und überhaupt, was zieh'n sie denn
für ein Gesicht?

HÜBCHEN: Ach, die Krise, Herr von Schramm.

VON SCHRAMM: Krise, Krise! Hören sie auf Hübchen! Ich kann's nicht mehr hören! Steigen sie ein. Ich nehme sie mit ins Büro. Der alte Reibach will einen positiven Bericht ausgearbeitet haben. Zum kotzen. (Nachdem Hübchen
eingestiegen ist zum Chauffeur.) Geben sie Gas, Mann. (Alle ab.)

 

Dritte Szene

(Das Bordell. Locker bekleidete Damen, zwei Dominas. Hübchen und von Schramm in Kissen fletzend, während des Dialoges Champagner trinkend.)

 

VON SCHRAMM: Hübchen, hören sie! Sie wissen so gut wie ich, daß sie sechzig Prozent des Warensortiments eines durchschnittlichen Kaufhauses unbesehen auf den Schrott karren könnten, ohne daß dadurch der Lebensstandart auch nur einen Deut sinken würde. Wahrscheinlich würde er sogar steigen. Das Zeug ist Scheiße, so wie es vom Fließband kommt. Einzig der Umsatz, der zwischen Fabrik und Müllhalde liegt, rechtfertigt seine Existenz. 

8


HÜBCHEN: Das Schlimme ist, der Absatz stockt. Der Umsatz bleibt aus.

VON SCHRAMM: Jetzt erzählen sie mir bloß nicht, die Leute hätten gemerkt, daß sie beschissen werden.

HÜBCHEN: Das will ich ja gar nicht. Aber die Krise ist trotzdem da.

VON SCHRAMM: Krise, Krise! Hören sie auf, Hübchen! Seit meinem ersten Managementvertrag höre ich das. Krise! Das ich nicht lache. Wovor fürchten die sich denn alle, zum Himmelarsch? Vor 'ner Revolution? Das ist ja zum schreien! Wann hat je eine Revolution der Industrie geschadet?

HÜBCHEN: Aber die Eigentumsverhältnisse!

VON SCHRAMM: Hübchen, wollen sie mich verarschen? Es ist mir doch piepegal, ob ich 'ner Aktiengesellschaft Vorsitze oder 'nem Staatsbetrieb. Revolution! Zum schreien. Soll ich ihnen sagen, was eine Revolution wäre? Wenn sie in Berlin aus dem Haus treten und sich einen genießbaren Apfel vom Baum pflücken könnten. Das wäre Revolution.

HÜBCHEN: Es würde den Umsatz ausschließen.

VON SCHRAMM: Eben. Der Sündenfall im marktwirtschaftlichen Paradies.

HÜBCHEN: Sie verblüffen mich.

VON SCHRAMM: Und soll ich ihnen noch was sagen? Unsere psychoanalytisch verordneten Prügelstrafen in diesem Etablissement gehen mir gewaltig auf die Nerven. (Die zwei Dominas treten heran.)

- 9


HÜBCHEN: Aber gerade höhere Positionen verlangen, daß diejenigen, die sie innehaben, ihr devotes Unbewußtsein in regelmäßigen Abständen ausleben.

DIE DOMINAS: (Knallen mit den Peitschen.)

VON SCHRAMM: Hören sie auf, Hübchen! Das ist doch alles Blödsinn. Soll ich ihnen sagen, wonach es mich verlangt? (singt)

In meiner Brust da ist ein Sehnen
Nach einer netten, kuschligen Person
Nach einer kleinen, fetten Schönen
In einem Federbett in ländlicher Pension 
Ja ein Hürchen wünsch' ich sehnlichst
Das sich für Geld noch ordentlich bewegt 
 
   und es genießt
Und wenn der alte Bock dann müd9 ist
Mit ihren Brüsten ihm die Augen schließt

DIE DOMINAS: (Knallen mit den Peitschen.)

VON SCHRAMM: (singt)

Tröstlich war's einst für den Krieger
Kehrt' er zurück aus blödsinnigster Schlacht
Das da ein Weib war, daß mit seinem Fleisch
Ihm den Himmel wieder blau gemacht

Heut' kämpft das Weib in eigener Mission
Und wenn sie bläst, dann nur zum Marsch
Der Mann bleibt trostlos auf der Strecke
Sein Himmel ist ein blauer Arsch

DIE DOMINAS: (Knallen mit den Peitschen.)

- 10


Vierte Szene

(Der Friedhof, Tag. Kreuze und Grabsteine. Auf einem von diesen sitzend der Engel. Zwei Bänke, auf der einen ein schlafender Alter, auf der anderen Jana mit einem Buch.)

 

DER ENGEL: (Sich nebenbei die Fußnägel rot lackierend.) Scheint nicht gerade interessant zu sein, was du da liest.

JANA: Der Märchenprinz ist gekommen und sie leben glücklich bis an ihr Ende.

DER ENGEL: Das ist doch rührend.

JANA: Aber sehr selten. Sag' mal, findest du es nicht ein bißchen pietätlos, sich an diesem Ort die Zehnägel zu färben?

DER ENGEL: (Pustet auf eine fertig bemalte Zehe.) 
Das ist ja witzig, daß ausgerechnet du mich das fragst. Schließlich bin ich deine Einbildung. Aber wenn ich mich dir deuten soll, so würde ich vermuten, daß du seit langem kein Rendezvous mehr hattest.

JANA: Stimmt. Leider.

DER ENGEL: Und was machst du so, den lieben, langen Tag?

JANA: Ich bin von einem Mann zu zweien von der gleichen Sorte gezogen.

DER ENGEL: (Pfeift anerkennend.) Klingt aufregend.

JANA: (Lacht kurz auf.) 
Oh ja, es ist ungeheuer aufregend. Ich habe zwei Prachtexemplare erwischt. Peter revolutioniert theoretisch alles, von der Gesellschaft bis zum Erbseneintopf, und Kalle ist bekifft seit ich ihn kenne.

- 11


DER ENGEL: Du hast früher Blumenkränze geflochten und getrocknet. Auch keine weltbewegende Tätigkeit, wie ich fand.

JANA: Wenn du das weißt, dann weißt du auch, daß ich seit langem damit aufgehört habe.

DER ENGEL: (Pustet auf die nächste Zehe.) Ich schätze, du hast was anderes angefangen.

JANA: Vieles. Aber alles ging irgendwann, irgendwie in die Hose.

 

DER ENGEL: Oder in den Rock. In modischen Sachen habe ich mir viel von dir abgeguckt. Aber lassen wir das. Schließlich hast du ein Problem und nicht ich. Wir Geister sind ja manchmal hellsichtig. Und musisch außerdem.
Hör' zu, ich sing' dir was bedeutsames.
(singt)

Du bist du
Und du bist traurig
Ich bin ich
Und gar nicht schau'rig
Denn ich bin

Dein schöner Geist
Was schon ein Blick
Auf mich beweist
Und nur für dich

Will ich ein Lichtblick sein
Öffne dein Herz
Laß die Sonne herein
Hiermit hast du 
Meinen Segen 
Für's verlieben
Und zum Bomben legen

(Kurze Pause, Prüfung der Fußnägel.) 
Siehst du und der Lack ist auch getrocknet. 
Steht auf, geht zu Jana und gibt ihr einen Kuß.)

Auch wenn es aus meinem Munde etwas komisch
klingt, ich mag dich gern.

- 12


JANA: Und was machst du jetzt?

DER ENGEL: Oh, ich? Ich habe eine Verabredung mit dem Traum von diesem Mann.
 (Zeigt auf den Schläfer, ein Märchenprinz betritt die Szene.) 
Wir hatten in letzter Zeit viel Gelegenheit uns näher kennenzulernen. (Bemerkt den Prinzen.) Da ist er schon. Er ist ausgesprochen akzeptabel. Denk' mal drüber nach. (Nimmt den Prinzen am Arm.) Bis später. (Beide ab.)

 

Fünfte Szene

(Hübchens Büro. Ein Schreibtisch, ein Computerbildschirm darauf, ein Stuhl.)

 

HÜBCHEN: (singt)

Oh, welcher Ochs» erfand nur Bleistift und Papier
Reicht mir den Schuft, daß ich ihn massakrier

Den ganzen Tag versaut er mir
Schickt nur den Typ durch meine Tür

Und ich schwöre euch, er kommt nicht mehr heraus
Ich blas' ihm seine Lebenslampen aus

Ich stell' ihn an den Marterpfahl
Und prügle ihn mit diesem ...... 
(Da er nichts anderes findet.)
                                ..... Kugelschreiberfutteral

Ergötze mich an seiner Qual
Und schlag ihn danach mit was andrem tot
Den hirnverbrannten Idiot

- 13


Aus dem Weg, Computer, ich seh' rot
Der dusslige von Schramm will 'nen Report
Lange dauert's nicht mehr, dann begeh' ich
einen Mord

 

VON SCHRAMM: (Nur mit dem Kopf herein.) Hübchen, arbeiten sie?

HÜBCHEN: Natürlich, Herr von Schramm.

VON SCHRAMM: Ich hörte seltsame Geräusche aus ihrem Büro. Mir schien es, als würde mein Name genannt.

HÜBCHEN: Gerade probte ich ihren Auftritt.

VON SCHRAMM: (Indem er vollständig herein tritt.) Was für einen Auftritt?

HÜBCHEN: Ihren Auftritt vor dem Hauptaktionär, Herrn von Kohlen Reibach.

VON SCHRAMM: Vor dem trete ich auf? Ich dachte, der tritt endlich ab. Ich meine seine Anteile. An Hölderlin, wenn; ich mich recht erinnere. Wozu sonst haben wir ihm die Bilanzen aufgefrischt?

HÜBCHEN: Das ist es eben. Unter den, von uns geschaffenen, Voraussetzungen erscheint ihm die Lage nun wieder viel zu positiv für einen Ausstieg aus dem Geschäft. Mit der Morgenpost erhielt ich ein Schreiben, in welchem Herr von Kohlen Reibach den Aufsichtsrat zum ersten des kommenden Monats zur Sitzung einberuft.

VON SCHRAMM: Prost, Mahlzeit. Hübchen, es kotzt mich an. Haben sie heute abend auch Termin?

HÜBCHEN: Ja, Herr von Schramm.

VON SCHRAMM: Gut, dann unterhalten wir uns später. (Geht ab.)

HÜBCHEN: Wohin ist der Gedanke
An Rache und an Meuchelmord
Er traf auf eine Schranke
Sprang hinüber und ist fort.

- 14


Sechste Szene

(Das Badezimmer.)

 

JANA: (Liegt in der Wanne und summt eine Melodie.)

KALLE: (herein) 'Tschuldigung. Nur kurz pipi.

JANA: (Stöhnt und verdreht die Augen. Der Badegenuß ist dahin.)

KALLE: (Pinkelt im stehen.)

JANA: Wie oft habe ich dir eigentlich schon den Zusammenhang zwischen einer eingesauten Toilette und einem stehenden Pisser erklärt?

KALLE: Keine Ahnung. Ich habe keinen Ständer und finde sie nicht eingesaut.

JANA: Weil ich sie sauber mache. Und das brauchte ich nur halb so oft, wenn du dich beim pissen setzen würdest.

KALLE: Wir machen sie sauber. Schließlich haben wir 'nen Plan.

JANA: Alle zwei Monate einmal! Das reicht nicht bei drei Leuten.

KALLE: Bis jetzt hat es gereicht. Aber es steht dir frei, bei Peter eine Neuabstimmung des Plans zu beantragen.

JANA: Setz' dich doch einfach beim pissen.

KALLE: (Zu einem Vortrag ausholend.) Mein Arsch hat keine Augen.....

JANA: Aber ich.

KALLE: ..... und das da ist ein Scheißhaus und keine Suppenterrine .....

- 15


JANA: Erspar mir deine kulinarischen Metaphern.

KALLE: ...... und wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß es beim pissen nicht spritzt, dann hätte er mir einen längeren Schwanz gegeben ....

JANA: Wie bitte?

KALLE: ..... einen, der bis hinab in's Becken reicht.

JANA: Tu' mir den Gefallen und verschwinde.

PETER: (herein) 'Tschuldigung, aber es ist ganz dringend. Mir rumort's gleich zu den Ohren raus.

JANA: (aufbrausend) Seit ich hier wohne, möchte ich nichts weiter, als einmal in der Woche ungestört ein Bad nehmen. Warum geht das nicht? Warum kannst du deine Arschbacken nicht noch eine viertel Stunde zusammenkneifen?

PETER: Na sag' mal. Wenn mein Darm das Verlangen, sich zu entleeren, azyklisch verspürt, finde ich es ausgesprochen totalitär von dir, ihm das verbieten zu wollen. Die Regulierung des Stuhlgangs ist der erste diktatorische Eingriff in die Freiheit des Individuums.

JANA: (Außer sich aus der Wanne empor schnellend.) Oh, ihr gottverfluchten Linken! Sobald es um eure eigenen Schwänze und Ärsche geht, seid ihr die reaktionärsten Arschlöcher, die sich nur denken lassen! Göttliche Schwanzlängen und Freudscher Dünnschiß! Sonst nichts.

KALLE: Ich geh' dann mal. (Geht ab.)

- 16


JANA: (zu Peter) Freiheit! Das ist dein Bedürfnis, mich mit deinem Gestank auszuräuchern, gegen meinen Wunsch, dir möge der Arsch platzen. Freiheit heißt immer, sie dem anderen nehmen. Deine Freiheit gegen meine. Und das in alle Ewigkeit.

PETER: Nur solange, bis wir Geld für ein seperates Klo haben.

JANA: Ich sag's ja. Bis in alle Ewigkeit. Mach' wenigstens das Fenster auf. 

 

 

Siebente Szene

(Chefetage der Kruppsch Krappsch & Co. AG. Ein Versammlungsstisch, Stühle darum, abseits eine Couchecke. Die Versammlungsteilnehmer stehen herum. Von Schramm und Hübchen, zurückgezogen von der Gruppe.)

 

VON SCHRAMM: Also Hübchen, was soll ich dem alten Reibach erzählen?

HÜBCHEN: Ich habe ein Papier ausgearbeitet, das die derzeitige Situation beschreibt und, ihren Intuitionen folgend, einige Ansätze zur Reformierung enthält. (Reicht ihm ein Schriftstück.)

VON SCHRAMM: Zeigen sie her. (liest) Hübchen, hören sie endlich damit auf, mir schriftlich wiederzukäuen, was ich ihnen nachts im Puff erzähle. Ich kann dem alten Reibach nicht ständig den selben Mist präsentieren. Machen sie sich selbst einen Kopf. Und zwar schleunigst. Der Alte wird gleich hier sein.

VON KOHLEN REIBACH: (herein) Tag, meine Herren.

DIE VERSAMMELTEN: Guten Tag, Herr von Kohlen Reibach. (Allgemeine Begrüßung, Hände schütteln etc.) 

- 17


VON KOHLEN REIBACH: Herr von Schramm, wie steht's? Ich denke wir können beginnen.

HÜBCHEN: Dürfte ich noch mal kurz die Toilette ......

VON KOHLEN REIBACH: Machen sie's kurz, Hübchen. Machen sie's kurz.

HÜBCHEN: (im abgehen) Oh, stiller, abgeklärter Ort
Nimm den Druck aus meinen Därmen fort.

VON KOHLEN REIBACH: Meine Herren, lassen sie uns
trotz des notgedrungenen Ausfalls anfangen.
Ich bitte Platz zu nehmen. (Man setzt sich um
den Versammlungstisch.) Berichte.

ERSTER VERSAMMLUNGSTEILNEHMER: Die Rechenschaftslegung der Finanzverwaltung weist im letzten Quartal......

VON KOHLEN REIBACH: Bekannt.

ZWEITER VERSAMMLUNGSTEILNEHMER: Was die Lage der Auslandsunternehmungen betrifft, so entspricht sie im großen und ganzen......

VON KOHLEN REIBACH: Bekannt.

DRITTER VERSAMMLUNGSTEILNEHMER: Der Auftragseingang ist in seiner Tendenz "zu unserem bedauern....

VON KOHLEN REIBACH: Bekannt! Bekannt! Bekannt! Vorschläge, meine Herren.

DIE VERSAMMELTEN: (schweigen)

VON KOHLEN REIBACH: Vorschläge.

DIE VERSAMMELTEN: (Hüsteln, schnauzen, Füße scharren.)

VON KOHLEN REIBACH: Vorschläge!

- 18


HÜBCHEN: (Herein, springt auf den Tisch, singt.)

Woodruff forschte einst mit einem Infusorium
Dem er tagtäglich neue Nährstofflösung gab
Das Tierchen teilte sich, man höre von dem
Kuriosum
Enorm, doch weder Urahn noch Verwandtschaft
starb

Der Forscher dachte sich, was sind das für Manierchen
Und er erneuerte nicht mehr das Lebenselement
Schlimm erging's da den Pantoffeltierchen
Außer Leichen blieb nichts übrig von
Woodruffs Exp'riment 1)

Daraus folgende Erkenntnis erweitert unser Wissen
Immer in der selben Brühe hat sich der
Volksstamm totgeschissen

Es lebten einst die Dinosaurier
Im längst verfloss'nen Mesozoikum
Die waren fast ausschließlich Vegetarier
Und groß und schwer und eben drum
Galt für sie der Grundsatz, wer viel frißt

Und obendrein nur Grünes, das kommt noch dazu
Der erzeugt durch die Verdauung auch viel
Mist
Er scheißt zwar ökologisch, doch sich selber
trotzdem zu

Was blieb von den Reptilien?
Fossilien!

 

1) Die Begebenheit ist entnommen aus Sigmund Freuds "Jenseits des Lustprinzips", erschienen unter anderem in der Sammlung "Sigmund Freud, Essays", Berlin 1988, 3. Bd., S. 53.

- 19


Da ist das Fazit sonnenklar und macht uns doch perplex
Wer viel Scheiße produziert, der geht am
Ende ex'
Die Menschen nun sind weiter nichts als Handelsware
Es ist der Markt, der sie zu einer solchen
macht
Sie rackern von der Wiege bis zur Bahre
Solang' bis irgendwann der Weltmarkt kracht
Dann schlagen, bomben, kriegen sie sich
nieder
Auf das die Konjunktur sich neu belebt
Das wiederholt sich überall und immer wieder
Bis uns're Wirtschaft eines Tages vor ihrer
letzten Pleite steht
Damit ist das Problem dann klar, sie ahnen's
sicher schon
Die Menschheit scheißt sich zu, durch ihre
Überproduktion 

 

DIE VERSAMMELTEN: (schweigen)
HÜBCHEN: (Steigt verlegen vom Tische)
DIE VERSAMMELTEN: (Hüsteln, Kugelschreiberklappern, Papierrascheln,, vereinzelt) Ja, ja. So, so.

VON KOHLEN REIBACH: Ihr Vortrag hat mich inspiriert. (Zu den Versammelten) Meine Herren, ich danke ihnen für ihr kommen. Sie können gehen. Schönen Tag.

DIE VERSAMMELTEN: Auf wiedersehen, Herr von Kohlen Reibach. (Allgemeine Verabschiedung, Hände schütteln etc.)

VON KOHLEN REIBACH: Herr von Schramm! Sie und ihr Sekretär bleiben bitte noch. (Nachdem die letzten Versammlungsteilnehmer abgegangen
sind.) Machen wir es uns bequem. Kognak?

- 20


VON SCHRAMM: (Gemeinsam mit Hübchen.) Danke. (Sie nehmen in der Couchecke Platz.)

VON KOHLEN REIBACH: (Während er den Schnaps verteilt.) Auch ich denke seit einiger Zeit über gewisse historische Zusammenhänge nach. Wohin, so frage ich mich zum Beispiel, ist die Idee des Humanismus verschwunden? Jener großartige Gedanke einer, alle Grenzen überwindenden, Brüderlichkeit? Erblüht über den europäischen Schlachtfeldern, erstarb das Ideal der Menschenliebe in den ökonomischen Plattitüden einer durch und durch verweichlichten Dienstleistungsgesellschaft. Deutscher Stahl schuf Geist, deutsches Geld schaffte ihn wieder ab. 

Meine Herren, ich weiß, daß die Lage nicht so rosig ist, wie sie sie mir in ihren letzten Berichten geschildert haben. Ich wollte verkaufen und mich zur Ruhe setzen. Doch ist, wie ich erkannte, Untätigkeit in schwierigen Situationen nicht meine Eigenart. Bevor ich mich aus dem Geschäftsleben zurückziehe, werde ich dieses Unternehmen auf eine solide Basis stellen. Die Kruppsch Krappsch & Co. AG wird wieder sein, was sie einst war: Führend! Nur ein gesunder Körper erzeugt gesundes Gedankengut. Ich, zum Beispiel, reite und spiele Tennis mit meinen Erben. Und was mir dabei vorschwebt ist eine Neukonsolidierung des Rechtsstaates unter radikalem Druck.

HÜBCHEN: Sie meinen Bürgerkrieg?

VON SCHRAMM: Quatsch, Hübchen. Die Rede ist von lebendiger Demokratie.

VON KOHLEN REIBACH: Sie sagen es, von Schramm. Wiederbelebung der Demokratie und des Humanismus, im ideellen versteht sich, darum geht es. Ich sehe sie begreifen. Und apropos: Wie heißt doch gleich der werte Abgeordnete, der meint, Subventionskürzungen bekämen unserem Unternehmen gut? Meine Herren, kümmern sie sich mal. Schönen Tag noch.

 

 

- 21-22


ZWEITER AKT

 

Erste Szene  (Das Badezimmer.)

PETER: (Sitzt auf dem Wannenrand und putzt sich die Zähne. Daher im ironischen Sinne mit Schaum vor dem Mund.) Und was ist das nun eigentlich für ein Typ, der heute vorbeikommen will?

JANA: (Eingewickelt in ein Handtuch, sich im Verschönern unterbrechend, schwärmerisch.) Er 
sprach mich auf der Straße an
In einem singend melancholischen Moment.
Ich gab ihm einen Korb, denn schließlich ist
ein Mann
Triebbehaftet, solang' man ihn nicht kennt.
Dann kam ein Tag, ich saß allein am Tisch vor
einem Eckcafe, genoß auf meiner Haut die 
letzten Sonnenstrahlen,
da stand er plötzlich wieder vor mir, mit Au-
gen, die wie der November waren.
Was kann ich dafür, so etwas zieht mich nun
mal an.
Ich hab' 'ne Schwäche für den Trübsinn des
Novembers, für die ich schlicht nichts kann.

(singt)

Ein Blick in ein Gesicht
Ein paar Worte die man spricht
Und darüber erkennt
Das da nichts ist, was einen trennt
Das von beiden ein jeder
Noch den Traum in sich hat
Das ist die Liebe in der Stadt
Finde ich jedenfalls.

- 23


PETER: Dich scheint's ja mächtig erwischt zu haben.

JANA: (ulkend) Eifersüchtig? 

PETER: Bitte keine Unterstellung bourgeoiser Gefühlsregungen. Mich interessiert dein Verhältnis ausschließlich in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen.

JANA: Ach, ihr armen Utopisten, die ihr in trock'ner Theorie nur lebt, wie sehr doch gleicht ihr früh vergreisten Kindern.

PETER: Nichts ist dem Betrachter widerlicher, als junges, aufgeblas'nes Glück.

JANA: Ihn widert's an, weil er's nicht kennt.

PETER: Zu gut kennt er's, hat's an die tausend' Mal gesehen.

JANA: Gesehen wohl, doch nie gespürt.

KALLE: (Mit Hübchen herein.) Dein Besuch ist da.

JANA: Oh, schon!

HÜBCHEN: Jana.

JANA: Thomas.

PETER: (Zu Kalle.) Rührt dich diese altbackene Poesie gestammelter Namen?

KALLE: Mir drückt's das Wasser aus den Poren. Ich muß mal. 
(Nimmt sich einen Trichter, dessen Ausfluß mit einem Schlauch verlängert ist, und pinkelt durch diesen im stehen. 
Währenddessen:)

HÜBCHEN: (Reicht Jana einen Blumenstrauß.)

JANA: Für mich?

HüBCHEN: Für dich.

JANA: Wie lieb von dir.

PETER: Und was sagst du zu dieser impertinenten Ignoranz der Umwelt gegenüber?

- 24


KALLE: (Zuckt mit den Schultern.) Ph.

JANA: Entschuldige Thomas, aber du bist zu früh
dran. In einer viertel Stunde bin ich fertig.
(Drückt ihm die Blumen wieder in die Hand.)

HÜBCHEN: (Während er von Jana zur Tür hinaus geschoben wird, mit Blick auf Kalle.) Sag' mal, ist der pervers? Ich meine, was tut er da?

JANA: Er übt den Kompromiß. Kümmer' dich nicht darum. (Hübchen ab. Zu Peter und Kalle.) So. Und ihr beiden jetzt auch raus hier. Unterhaltet Thomas ein bißchen. Seid nett zu ihm. Kocht ihm Kaffee. Stellt die Blumen ins Wasser.

KALLE: (Der unterdessen den Trichterschlauch am Waschbecken ausgewaschen hat.) Blast ihm Sahne in den Arsch.

JANA: (Durchaus nicht beleidigt.) Ach, Kalle. Benehmt euch einfach einmal wie zwei zivilisierte Menschen.

PETER: (Kalle am Arm greifend.) Kommt 
mit mir liebe Tante
Bewegt die ausgetret'nen Latschen
Die Braut soll sich zu Ende schmücken
Derweil wir mit dem Freier tratschen.

 

Zweite Szene

(Das Bordell. Die zwei Dominas und weitere Prostituierte gelangweilt in den Kissen fletzend.)

VON SCHRAMM: (herein) Abend, die Damen.
EINE PROSTITUIERTE: Kundschaft.
EINE ZWEITE PROSTITUIERTE: Der olle Rammel-Schramm.

- 25


EINE DRITTE PROSTITUIERTE: (Erhebt sich und empfängt von Schramm.) Guten Abend, Herr von Schramm. Sie wünschen wie immer?

VON SCHRAMM: Gewiß, gewiß, wie immer. (Läßt sich zwischen den beiden Dominas in die Kissen fallen.)

ERSTE DOMINA: Hi, Schrammi.

ZWEITE DOMINA: Wie geht's dir, Süßer?

VON SCHRAMM: Ich fühle mich auf seltsame Weise zerrissen. Als wäre ich in zwei Hälften zerfallen. War Hübchen hier?

ERSTE DOMINA: Nur kurz, um zwei Kolleginnen auf einen Bummel einzuladen.

VON SCHRAMM: Seit er an diesem speziellen Auftrag arbeitet, bekomme ich ihn kaum noch zu Gesicht. Er fehlt mir.

ZWEITE DOMINA: Ach, Schrämmchen, sei nicht bekümmert. Der kommt schon wieder. Und dann bist du wieder ganz. Soll ich ein bißchen auf dir reiten?

ERSTE DOMINA: Au ja. Und ich versohle dir dabei den Hintern, nicht wahr?

VON SCHRAMM: Warum nicht? Bedrückend ist's mir eh' zumut'. 
(Läßt sich auf alle Viere nieder. Zur ersten Domina.) 
Aber das mit der Prügelei lassen wir. Ich möchte lieber etwas Erbauliches hören. Ist das möglich?

ERSTE DOMINA: Wenn's unbedingt sein muß. Kein Problem.

ZWEITE DOMINA: (Setzt sich auf von Schramms Rücken.) Also vorwärts!

- 26


ERSTE DOMINA: (singt)

Hopp, mein Pferdchen, galoppier'
Sei ein wildes, ungezognes Tier 
Dem's feurig in den Lenden brennt 
Das weder Zaum noch Sattel kennt

Und nur gepeitscht wird von dem eignen Willen
Sich jede Lust im Hier und Heute zu erfüllen
Das unbeherrscht dem Leben frönt
Sich nie erniedrigt, nie gewöhnt

Und sich ein letztes Mal mit Stolz erhebt
Wenn es dereinst an's Sterben geht

VON KOHLEN REIBACH: (herein) Ah, von Schramm! Hier finde ich sie! Wie steht's? Kommen sie in der Vertretung unserer Interessen voran?

DIE DRITTE PROSTITUIERTE: (Mit einer Flasche Champagner und drei Gläsern auf einem Tablett heran.) Pardon. Ich mußte erst in den Keller, Nachschub holen.

VON SCHRAMM: Guten Abend, Herr von Kohlen Reibach. (Zur dritten Prostituierten.) Stellen sie's beiseite.

VON KOHLEN REIBACH: Aber schenken sie mir vorher ein Glas ein.

ZWEITE DOMINA: (Noch immer auf von Schramms Rücken sitzend.) Mir auch.

VON SCHRAMM: Mein Sekretär arbeitet rund um die Uhr an der Sache.

VON KOHLEN REIBACH: Das freut mich zu hören. Wissen sie was unser spezieller Freund vorhat? Er kandidiert für den Landesvorsitz. Können sie sich vorstellen, was passiert, wenn der sich durchsetzt?

VON SCHRAMM: Prost, Mahlzeit.

VON KOHLEN REIBACH: Sie sagen es. (Zur zweiten Domina.) Prosit. (Nippt vom Schampus.)

ZWEITE DOMINA: Prost. (Nippt ebenfalls.)

- 27


VON KOHLEN REIBACH: (Geht in die Hocke, vertraulich zu von Schramm.) Gestatten sie mir eine persönliche Frage. Bringt ihnen das was?

VON SCHRAMM: Mitunter bewirkt es ein Gefühl der Ungezwungenheit.

VON KOHLEN REIBACH: Ungezwungenheit. Aha. Na gut. (Erhebt sich.) Also sehen sie zu, daß sie die Angelegenheit so schnell wie möglich über die Bühne bringen.

VON SCHRAMM: Sie können sich darauf verlassen. Für Hübchen lege ich meine Hand ins Feuer.

VON KOHLEN REIBACH: (Von Schramm von oben herab betrachtend, während sich die zweite Domina auf seinem Rücken in Positur wirft.) Hm. Ungezwungenheit. Na meinetwegen. Ich verlasse mich auf sie. Schönen Abend noch. (Geht ab.)

VON SCHRAMM: Ihnen gleichfalls. (Zur zweiten Domina.) Ich würde mich jetzt gern erheben.

 

Dritte Szene

(Die Straße, Nacht. Passanten, Jana und Hübchen Arm in Arm. Peter und Kalle in Begleitung von zwei Prostituierten.)

ERSTE PROSTITUIERTE: (Zu Kalle.) Nun sei doch nicht so ein Stockfisch. Freu' dich darüber, daß der verliebte Kerl so nett war, mich dir zu spendieren.

JANA: (Zu Hübchen.) Ach, wie wunderschön kann doch das Leben sein.

KALLE: (Zur ersten Prostituierten.) Ich bin kein Stockfisch. Ich muß nur gerade über etwas nachdenken.

HÜBCHEN: (Zu Jana.) Bin ich bei dir, erscheint mir alles so herrlich unkompliziert.

- 28


ERSTE PROSTITUIERTE: (Zu Kalle.) Das ist aber langweilig.

ZWEITE PROSTITUIERTE: (Zur ersten.) Stimmt. Das ist stinklangweilig.

JANA: (Zu Hübchen.) Du und ich und diese Sommernacht. Was soll da kompliziert sein?

ERSTE PROSTITUIERTE: (Zu Kalle.) Sag' mir wenigstens was du denkst. Ist's was über mich?

HÜBCHEN: (Zu Jana.) Ja wenn wir allein auf dieser Erde wären.

KALLE: (Zur ersten Prostituierten.) Vernasch' ich dich, so ist es meine Henkersmahlzeit.

ERSTE PROSTITUIERTE: Hilfe, der spinnt!

JANA: (Zu Hübchen.) Was braucht es mehr, als ein Dach überm Kopf und Kartoffeln im Topf.

ZWEITE PROSTITUIERTE: (Zur ersten.) Stell dir vor, meiner denkt auch. Er sagt ich sei sein Judaslohn.

HUBCHEN: (Einfach in den Raum.) Ja war' die Welt nur eine klare Suppe.

ERSTE PROSTITUIERTE: (Zur zweiten.) Puh, da kriegt man ja Kopfschmerzen von.

ZWEITE PROSTITUIERTE: Genau. Und wenn sich das bei der Kundschaft rumspricht, daß man in unserer Begleitung Kopfschmerzen bekommt, dann bleibt die Kundschaft aus und unser Umsatz sinkt.

ERSTE PROSTITUIERTE: So is' es. Da braucht man gar nicht drüber nachzudenken.

ZWEITE PROSTITUIERTE: Aber so nah ist die Pleite nicht. Wir haben immerhin Berufserfahrung.

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ERSTE PROSTITUIERTE: Eben. Wir verstehen was von der männlichen Psychologie. (Gemeinsam mit ihrer Kollegin.) 
Paßt auf, ihr verschlafenen Säcke! 
(Während des folgenden Gesangs ziehen die Passanten Schnapspullen aus Tüten und Jackentaschen, plündern einen Laden und sind überhaupt sehr ausgelassen. Die Prostituierten singen.)

Juchei, die Sonne hat sich aufgemacht
Die andre Hälfte dieser Erde zu erhellen
Hört wie es grausig aus den Kneipen lacht
Es naht die Zeit der finsteren Gesellen 

KALLE: Pfeift auf Anstand und Moral

DIE PROSTITUIERTEN: Hauptsache Geld ist in den Taschen

KALLE: Schließlich lebt man nur einmal

DIE PROSTITUIERTEN: Und nur verbot'ne Früchte schmecken lieblich beim vernaschen

HÜBCHEN: Soll'n sich die Spießer an die Ordnung halten
Den Tag fein säuberlich verwalten

ALLE AUE DER STRAßE: Kein einz'ges
Laster wird versäumt
Solang' der deutsche Rechtsstaat träumt

KALLE: Juchei, der heiße Tag war lang genug
PETER: Er dampft noch aus den Mauern und
Asphalten
KALLE: Berauscht beginnt der trunk'ne
Höhenflug
PETER: Der Zombies und der finsteren Gestalten

DIE PROSTITUIERTEN: Ihr
lichtentwöhnten Untertanen
Heraus mit euch, begeht
Die strafrechtlich verbot'nen Taten
Damit auch morgen wieder was Verruchtes in
der Presse steht

- 30


HÜBCHEN: Soll'n sich die Spießer in den Betten wälzen
Um ausgeschlafen ins Büro zu stelzen

ALLE AUF DER STRAßE: Ein jedes
Laster das ihr kennt
Wird ausgeführt solang' der Rechtsstaat pennt

JANA: Juchei, der Liebe schönste Seiten
Offenbaren sich im lauen Mondenschein

HÜBCHEN: Man kann die Liebste durch die Nacht

begleiten
Und unverschämt ein Turtelpärchen sein

DER ENGEL: (Welcher mit dem Märchenprinz am Arm vorüber schlendert.) Ach ja, der Sexus hat schon was

DER MÄRCHENPRINZ: Er macht so ausgeflippt
DER ENGEL: Und obendrein 'nen Heidenspaß
DER MÄRCHENPRINZ: Man kann es nicht mehr lassen,
hat man davon genippt

 

ERSTE PROSTITUIERTE: Soll'n sich die
Spießer auf dem Amt vermählen

ZWEITE PROSTITUIERTE: Und sich dann
Jahrelang durch's Kamasutra quälen

 

ALLE AUF DER STRAßE: Er wird
verscheißert, wird verarscht
Der deutsche Staat, sobald er schnarcht

PETER: (Streckt sich.) Ach, das hat gut getan.
Nach so 'ner Nachtmusik ist man doch gleich
'n andrer Mensch. Komm, meine süße Schnecke,
wir verduften.

ZWEITE PROSTITUIERTE: Na, wer sagt's denn. Wenn
das keine Berufserfahrung ist.

- 31


ERSTE PROSTITUIERTE: Da kann doch wirklich keiner behaupten, wir hätten keine Ahnung von der männlichen Psychologie. (Zweite Prostituierte mit Peter ab. Zu Kalle.) Nicht wahr, Schnuckel, du machst mir jetzt die Klapperschlange.

KALLE: Ha, den stieräugigen Ochsenfrosch werd' ich dir machen, den Ochsenfrosch. Das ist ja überhaupt der geilste Trip. 
(Beide ab. Mit ihnen leert sich die Straße. Nur der Alte aus der ersten Friedhofsszene bleibt schlafend, mit einer Pulle im Arm, an eine Hauswand gelehnt, sitzen. Langsam beginnt der Morgen zu dämmern.)

HÜBCHEN: Wie still es auf einmal in den Straßen ist.

JANA: Schau sie dir an, die große Stadt. Ihr grauer Schlaf birgt Millionen Träume.

HÜBCHEN: Die vergehen in Lärm und Gestank, wenn sie erwacht.

JANA: (Ihn neckend.) Der Pessimismus steht dir nicht. Oder stinkt dir etwa unsere Liebe schon? Ich hab' sie mir erträumt, bevor sie wirklich wurde.

HÜBCHEN: Dann laß uns diese Wirklichkeit leben und pfeifen auf den Rest.

JANA: Ach, komm Thomas. Du willst mir doch nicht erzählen, daß resignierte Leute glücklich sind. Soll ich mit dir so dumpf dahinleben, ziellos und angeödet, wie diese immer braven Steuerzahler und Müllsortierer? Thomas, du bist nicht der erste Mann in meinem Leben. Der Traum vom Märchenschloß verging mit meiner Jugendliebe. Und irgendeine nächste Beziehung nahm die Illusion vom Glück auf ländlichen Gehöften mit sich fort. Laß uns von was anderem reden. Es war ein so wunderschöner Abend. (Küßt ihn.)

- 32


HÜBCHEN: (Sich von ihr losmachend.) Es ist absolut verrückt, was ihr vorhabt.

JANA: Du hast Kalle und Peter hundert überzeugende Gründe genannt, die diese Verrücktheit rechtfertigen. Und du hast es dich ordentlich was kosten lassen.

HÜBCHEN: Ach, was interessieren mich Kalle und Peter. Um dich habe ich Angst. Dich will ich nicht verlieren.

JANA: Willst du's nicht dann wirst du's nicht.
Drück mich mal. (Hübchen nimmt sie in die
Arme.) Kommst du mit zu mir?

HÜBCHEN: Ich muß zur Arbeit.

JANA: Dann sehen wir uns heute abend?

HÜBCHEN: Ja, bis heute abend.

JANA: (Löst sich aus seinen Armen.) Ich liebe dich. (Geht ab.)

HÜBCHEN: (Lehnt sich an eine Laterne.) 

Was tu' ich da
Bin ich des Wahnsinns fette Beute?
Was reitet mich

Ist mein Verstand geflüchtet?
Seit sie mich liebt

Gab's keinen Tag den ich bereute
Warum sorg' ich dafür

Das sich dies Glück mit Zwang vernichtet
Mit ihr verläßt mich

Doch auch dies ungeheu're Sehnen
Das mir zuvor ganz unbekannt

Nach etwas großem, weiten, schönen...

- 33


VON SCHRAMM: (Der während des letzten Verses, vom grauen Morgenlicht beleuchtet, am Himmel erschienen ist.)

Christus, Kanzler, Vaterland!
Hübchen höre, das sind wahre Werte
Woran du laborierst, das sind Marotten

HÜBCHEN: (Schaut kurz zu der Erscheinung auf und wendet sich dann wieder ab.) Ach, wär'n doch die Gedanken an dich unbeschwerte

VON SCHRAMM: Und alle Menschen
   pflichtvergess'ne Hottentotten
   Das könnte dir so passen, uns paßt's nicht

HÜBCHEN: Was hat der Mond heut' für'n Gesicht?
Und wie seltsam spricht der Wind 

VON SCHRAMM: Hübchen! 
   Der Irrsinn packt nicht nur das Rind
   Du bist erregt, bedarfst der Ruhe

HÜBCHEN: Will das
Gespenst, daß ich ihm muhe?

VON SCHRAMM: Mühen sollst
Du dich, das sagt dir dein Gewissen

HÜBCHEN: Erst Ruh' dann
Müh', du bist nicht g'rad gerissen

VON SCHRAMM: Es genügt
durchaus, daß ich dich plage

HÜBCHEN: Mit hin und her, und her und hin

VON SCHRAMM: Schluß,
Hübchen! Höre was ich sage
Des Lebens Sinn ist Disziplin
Darum verschwinde aus dem Morgenlicht
Geh' ins Büro und schreib' Bericht
(Die Erscheinung verblaßt und verschwindet. Hübchen geduckt ab.)

DER MÄRCHENPRINZ: (Betritt die Szene, geht zu dem schlafenden Alten, nimmt ihm die Schnapspulle aus dem Arm und trinkt einen kräftigen Schluck.)

- 34


Was kann ein Märchenprinz aus euren Träumen
Euren Zwischenzeiten, Zwischenräumen
Anderes sein, als nicht sehr viel
Er taugt nur für ein Zwischenspiel
Drum zwischendurch gesagt, was hier
geschieht
Ist das immer gleiche Lied
Von Wandel und Veränderung
Geht's nicht so, geht's eben andersrum
Nach jedem Rausch gibt's Katzenjammer
Erst kommt das Glück, dann kommt der Hammer
Kurz, sind die Umstände beschissen
Die Verhältnisse fatal
Ist auch der Mensch in sich zerrissen
Und wird darüber radikal

(Nimmt noch einen Schluck aus der Flasche, legt sie dem Alten wieder in den Arm und geht ab. Zwei Polizisten betreten schlendernd die Szene.)

 

ERSTER POLIZIST: (Den zweiten freundlich anrempelnd.) Kiek mal den da.

ZWEITER POLIZIST: (Setzt seine Lautsprechertüte an die Lippen und brüllt dem Alten ins Ohr.)
Bürger, aufstehn! (Der Alte schrickt hoch.)

 

Vierte Szene

(Die Straße, Tag. Arbeiter zimmern an einer Rednertribüne herum. Unter ihnen der Vorarbeiter, der polnische Gastarbeiter, Peter und Kalle sowie der letzte Agitator.)

- 35


DER VORARBEITER: (Schaut auf seine Uhr.) 
Pause, Männer. Frühstück. 
(Alle, bis auf den polnischen Arbeiter, legen ihre Werkzeuge weg, setzen sich auf einen Bretterstapel und beginnen zu frühstücken. Der polnische Arbeiter hämmert weiter. Der Vorarbeiter steht auf, geht zu ihm und macht Zeichen des Essens.) 

Mampf, mampf. Happa, happa. Stullenbeißerzeit. Kapito?

 

DER POLNISCHE ARBEITER: (Legt sein Werkzeug beiseite.) 
Tak, tak. (Setzt sich abseits und packt seine Stullen aus.)

DER VORARBEITER: (Zu den anderen.) Pole. Außer "Ich nicht verstehn" kann er kein Wort deutsch. Zum heulen, sowas.

DER LETZTE AGITATOR: Da hast du recht, Bruder.

DER VORARBEITER: Bruder? Du lieber Himmel, beherbergt dieses Land nur noch Schwule und Ausländer? Bin ich überhaupt noch in Deutschland? Wo soll das bloß hinführen? (Setzt sich und beginnt zu essen.)

DER LETZTE AGITATOR: Es verhält sich etwas anders, als du denkst, Bruder.

DER VORARBEITER: Hör' zu, Kumpel. Ich kenne weder deine Mutter noch deinen Vater. Folglich können wir keine Brüder sein. Also mach' mich nicht kirre. Such' dir deine Verwandtschaft woanders. (Um sich vom letzten Agitator abzulenken zu Peter und Kalle.) Von welcher Firma kommt ihr eigentlich?

KALLE: Vom Arbeitsamt. Verordnete Mucke für's soziale Wohlbefinden.

PETER: Damit wir uns nicht ständig ausgeschossen fühlen und am Ende neurotisch werden.

DER LETZTE AGITATOR: Na, so ganz ohne Arbeit verblödet der Mensch doch wirklich.

- 36


PETER: Kollege, zu dieser These könnte ich dir Theorien entwickeln..... aber scheiß drauf.

DER LETZTE AGITATOR: Wollt ihr nicht wissen woher ich komme, Brüder?

EIN ARBEITER: Das merkt man doch. Vom anderen Ufer.

DER LETZTE AGITATOR: Ganz recht. Ich bin über den großen Teich zu euch gekommen.

EIN ZWEITER ARBEITER: Ich schätze, da drüben gab's 'ne Menge Krankenschwestern.

DER LETZTE AGITATOR: Du hältst dich wohl für witzig? Wisse, daß ich älter bin, als du glaubst. Und außerdem gebildet. (Erhebt sich.) Brüder! Ich möchte euch jetzt über eure Lage aufklären.

KALLE: Na toll. Der hält sich für Jesus.

DER LETZTE AGITATOR: Quatsch, Bruder. Ich bin der letzte Agitator.

DER VORARBEITER: Das hat mir gerade noch gefehlt. Warum verirren sich die Verrückten immer in meine Brigade? (Weinerlich.) Ich habe Frau und Kinder. Also bitte Männer, eßt eure Stullen und haltet den Mund.

DER LETZTE AGITATOR: (Hat sein Stichwort erhalten.) 
Oh, meine Brüder! Da habt ihr sie gehört, die Stimme der Unterdrücker, die euch den Mund verbieten will. Ja beißt nur in eure Halbfettmargarinebrote und denkt nicht darüber nach, daß die Haltbarkeitsgrenzen eurer Nahrungsmittel mittlerweile die Einsteinschen Vorstellungen von Raum und Zeit in den Schatten stellen. Stopft euch voll mit der garantierten Unendlichkeit imperialistischer Produktionsverhältnisse! 

- 37


Kaut weiter dümmlich eure Wurst, die so gekünstelt schmeckt, wie es ihr Preis von neunundneunzig Pfennig ist, aber glaubt bloß nicht, ihr Unersättlichen, daß mich euer Verhalten davon abhalten könnte, euch nun ein Stück historischer Arbeiterkultur darzubieten. 

(singt)

Es speist die high society
Die allerfeinsten Sorten
Von Wildbret, Obst und Sellerie
Von Kuchen und von Torten
Der Adel und die Hochfinanz
Verdau'n novelle cuisine
Jeder Bonze mampft first class
Wo geht der Reichtum hin?

Er wandert abwärts, keine Frage
Zu jenem Ort wo alles gleich
Wo's stinkt und dunkel ist, in die Kloake
Dies einzig wahre Himmelreich

 

ALLE: (Bis auf den Vorarbeiter, der sich die Ohren zu hält, und den polnischen Arbeiter, der vom letzten Agitator zum Tanz aufgefordert wird.)

Schnipps mit dem Finger
Mach' 'nen Zungenschnalzer
Die Zeit vergeht
Der Tag ist nicht mehr fern
Da bitten wir
Zum letzten Walzer
Die fettgefress'nen
Aufgeblähten Herrn

 

DER LETZTE AGITATOR: (singt)

Es sagen selbst die Millionäre
Das dieser Zustand ewig ist
Weshalb es sehr vermessen wäre
Wenn irgendwer die Regeln bricht

- 38


Denn die da oben sind zum denken da
Wir hier unten keinesfalls
Dafür sind wir dem Himmel nah
Steht uns die Scheiße bis zum Hals
Es kocht für uns die Heilsarmee
'ne warme Suppe für den Bauch
Und lobt den Herrn über den grünen Klee
Der reiche Arsch, er spendet auch

ALLE: (Bis auf die Vorigen.)

Schnipps mit dem Finger
Mach' 'nen Zungenschnalzer
Die Zeit vergeht
Der Tag ist nicht mehr fern
Da bitten wir
Zum letzten Walzer
Die fettgefress'nen
Aufgeblähten Herrn

 

DER VORARBEITER: (Singend hinein in eine gospelinspirierte Reprise des Refrains.)

Oh, Brüder laßt das Denken sein
Stattdessen arbeitet mit Dampf
Es bringt ja doch nur Schererei'n
Wozu noch Klassenkampf?

DER POLNISCHE ARBEITER: (Schaut sich freundlichlächelnd in der verstummten Runde um.) Przepraszam 2). Ich nichts verstehn.

DER VORARBEITER: Das will ich auch hoffen.
DER LETZTE AGITATOR: (Zum polnischen Arbeiter.)
Ich werde dich agitieren. 

 

2) Zu deutsch: Entschuldigung (ausgesprochen: pscheprascham, mit Betonung auf der zweiten Silbe.)

- 39


DER VORARBEITER: Aber nicht hier. Ich hab', weiß Gott, genug Ärger am Hals. Du bist gefeuert.

DER LETZTE AGITATOR: Nenn' mir den Grund, du widerlicher Wicht.

DER VORARBEITER: Störung des Betriebsfriedens.

DER LETZTE AGITATOR: Sehr gut. Noch was?

DER VORARBEITER: Mobben des Vorgesetzten.

DER LETZTE AGITATOR: Wurm! Knechtsfresse! Fossiles Kriechtier! Schwanzlutscher deines Herrn!

DER VORARBEITER: (Während er mit den Füßen aufstampft.) Fort! Fort! Fort mit dir! Hol' dir deinen Lohn und verschwinde.

DER LETZTE AGITATOR: (Schnürt sein Bündel.) Mein Lohn ist der Aufruhr, den ich in den Köpfen gesät. Behalt die Penunze. (Zu den anderen.)
Tja, Kumpels, so läuft das. Ich erwarte keine Solidaritätsbeweise von euch. Schon lange nicht mehr. Lebt wohl Brüder. Wir sehen uns wieder, in einer besseren Welt. (Geht ab.)

DER VORARBEITER: (Erleichtert.) Puh. So, Männer. Laßt uns noch fünf Minuten verschnaufen und dann geht's weiter. (Sie sitzen herum, frühstücken zu Ende oder rauchen Zigaretten.)

JANA: (Betritt die Baustelle in großer Garderobe und mit einer Umhängetasche über der Schulter. Die Arbeiter pfeifen und johlen. Der letzte Agitator ist vergessen. Zu Kalle und Peter.) Hallo Jungs. Ich bringe euch das Mittagessen. (Zieht einen Thermosbehälter aus der Tasche.)

PETER: Jana, du bist ein Schatz.

JANA: Was macht ihr hier eigentlich? Ich wurde nacheinander von drei Sicherheitsbeamten durchsucht und mußte mich einmal bis auf die Unterwäsche ausziehen, bevor ich zu euch durfte.

- 40


KALLE: Ach, weißt du, wir brettern einfach was zusammen, (öffnet den Thermosbehälter und schnuppert hinein.)

JANA: Die Beamten, die den Eintopf aus sicherheitstechnischen Erwägungen gekostet haben, lobten sein verführerisches Aroma und musterten mich dabei mit geilen Blicken.

KALLE: Riecht genauso wie du aussiehst, bombastisch.

PETER: Ist alles drin, was reingehört?

JANA: Worauf du dich verlassen kannst.

DER VORARBEITER: (Nachdem er auf die Uhr gesehen hat.) Also los Männer. Wir machen weiter. Ist noch viel zu tun. (Alle, bis auf den polnischen Arbeiter erheben sich und sammeln ihre Werkzeuge ein.)

JANA: Na, gut. Dann werd' ich mal wieder. Bis später, Jungs. (Geht ab.)

DIE ARBEITER: Alter Schwede, gehört die wirklich zu euch? - So'n steiler Zahn. - Ist die noch zu haben? - Geile Braut, (etc.)

DER VORARBEITER: (Bemerkt den polnischen Arbeiter, der sich langgelegt hat.) Mann, Mann, Mann. Was ist hier heute bloß los? Liegt der da rum wie'n Brückenpenner. (Direkt zu ihm.)
Hoch mit dir! Pause vorbei. Koniec. Rabota, rabota.

DER POLNISCHE ARBEITER: Tak, tak.

 

- 41


Fünfte Szene

 

(Der selbe Ort. Die Rednertribüne ist fertig. Über ihr ist ein Spruchband mit der Aufschrift SOZIALE ERWECKUNGSPARTEI DEUTSCHLANDS - SED - FÜR NETTES MITEINANDER LEBEN gespannt. Sicherheitsbeamte vor der Tribüne, Publikum drumherum.) 

 

DER ANSAGER: So, meine Damen und Herren. Begrüßen sie nun mit mir den Kandidaten der Sozialen Erweckungspartei und vergessen sie nicht: Gleich im Anschluß an den politischen Teil der Veranstaltung verlosen wir eine Reise zu den exotischen Schönheiten Thailands, gestiftet von der Peter Kreuselwand Smoke & Joke Cooperation. Applaus für unseren Kandidaten! (Verläßt die Tribüne, vereinzeltes Klatschen.)

DER REDNER: (Besteigt die Tribüne, vereinzeltes Klatschen.) 
Meine verehrten Damen und Herren,
liebe Parteifreunde! 
Der diesjährige Wahlkampf und insbesondere meine erstmalige Kandidatur für den Landesvorsitz in diesem, geben mir die Gelegenheit, ihnen endlich einmal ganz direkt zu sagen, was ich schon immer sagen wollte.... (Die Tribüne ist explodiert.)

DIE LAUTSPRECHERSTIMME: Keine Panik. Bewahren sie Ruhe. Niemand verläßt den Platz.

- 42


Sechste Szene 

(Der Friedhof, Tag.)

 

VON SCHRAMM: (Zitiert aus einer Zeitung.)

"Weil er die Luft verpestete mit geist'gen Exkrementen, Flog er in dieselbe, um darin zu verenden." Das ist ausgesprochen lyrisch, Hübchen. Es liegt ein Hauch Intellektualität darin. (Blickt noch einmal in die, Zeitung.) Unterzeichnet: Der Fäkalien Radikalo. Da spricht der Name für's Produkt. Beschissene Attentäter. Hübchen, wie sind sie nur darauf gekommen?

HÜBCHEN: (Mit einem großen Trauerkranz über dein Arm.) Mein Beitrag zu den Ereignissen war eher bescheiden.

VON SCHRAMM: Untertreiben sie nicht. Hübchen, ich bin ausgesprochen zufrieden mit ihnen. Der alte Reibach hat mich nach Erscheinen der ersten Zeitungsmeldungen zu sich gerufen, und wissen sie was er tat? Er nahm mich in die Arme und drückte bebend meinen Kopf an seine Brust. Hübchen, ich prophezeie ihnen eine glänzende Karriere.

HÜBCHEN: Ach, daß Dumme ist nur: Ich fühle mich nicht glücklich bei alldem.

VON SCHRAMM: (lang) 
Glücklich? Hübchen, pupertieren sie? Spukt es ihnen, an diesem Ort? Wenn sie glücklich sein wollen, dann hauen sie sich mit einem Hammer auf den Kopf, schlagen sie sich das Hirn aus dem Schädel, schicken sie ihr Bewußtsein ins Nirwana, und danach, Hübchen, gehen sie meinetwegen Zwiebeln ziehen in der Wallachei. Dort ist man
vielleicht glücklich. Aber doch nicht hier. Kommen sie mir bloß nicht mit irgendeinem Glücksanspruch, solange sie ihre fünf Sinne beieinander haben.

- 43


HÜBCHEN: In der letzten Zeit dacht' ich mitunter, jetzt ist's soweit. Jetzt verlierst du den Verstand, Alles verwirrte sich, stürzte durcheinander und dann, plötzlich, formte sich aus diesem Chaos eine Ahnung, von etwas neuem, einfachen, sinnvollen.

VON SCHRAMM: Ich sehe förmlich den Flaum über ihren Lippen, die Akne auf ihren Wangen und die Elfen in ihrem Kopf. Hübchen, wachen sie auf! Das haben sie seit zwanzig Jahren hinter sich. Akzeptieren sie die Verhältnisse, wie sie sind. Nehmen sie Tabletten gegen ihre Ahnungen und verscherzen sie sich nicht ihre Zukunft.

HÜBCHEN: Gerade wenn ich an die Zukunft denke, frage ich mich oft, wozu das Ganze überhaupt?

VON SCHRAMM: Wozu, Hübchen? Was soll die Frage? Wollen sie Phrasen hören? Entwicklung? Fortschritt? Menschheit? Wozu, wozu, wozu? Was weiß denn ich, zum Himmelarsch? Spielen sie Lotto, wenn sie Visionen brauchen. Schluß jetzt. Ich höre Musik. Dort naht der Trauerzug für den bedauernswerten Abgeordneten.
(Der Trauerzug heran. Ein Pfaffe, zwei Chorknaben. Die Witwe und Verwandte in Schwarz. Des weiteren die Damen aus dem Bordell, insbesondere die zwei Dominas, Freunde und Kollegen, unter ihnen von Kohlen Reibach. Erstes Finale.)

- 44


EIN JUNGER KOLLEGE: Da rackert
Man als junger Mensch wie blöde
Für einen kleinen Posten im Senat
Man spielt das Spiel mit und mit fünfzig
Hat man 'ne gute Position im Staat

EIN ÄLTERER KOLLEGE: Doch kaum
Stehst du in allerhöchsten Ämtern
Gelobt wird dein politischer Instinkt
Da streckt ein Schlaganfall dich nieder

BEIDE: Bums, da liegt 'ne Leiche
Die nach vierzehn Tagen stinkt

ALLE: Bums, da liegt 'ne Leiche
Die nach vierzehn Tagen stinkt

DIE WITWE: Angenommen es kommt anders
Man ist ein hohes Tier und mit von der Partie
Dann reicht einem das Amt bei weitem auch
nicht
Man will 'nen Posten in der Industrie

 

VON KOHLEN REIBACH: Doch kaum
Sitzt du im Aufsichtsrat, perdauz
Die Aktie deiner Firma sinkt
Mechanisch greifst du zum Revolver

BEIDE: Und Peng, da liegt 'ne Leiche
Die nach vierzehn Tagen stinkt

ALLE: Peng, da liegt 'ne Leiche
Die nach vierzehn Tagen stinkt

VON SCHRAMM: (Der von von Kohlen Reibach freundlich in den Arm genommen wird.) Gesetzt den Fall, die Aktie fällt nicht

VON KOHLEN REIBACH: Nein ganz im Gegenteil Es ist famos, wie sie nach oben geht

VON SCHRAMM: Dann hast Du sicher einen kranken Magen

- 45


VON KOHLEN REIBACH: Verdienst' 
Millionen und lebst doch Diät

ERSTE DOMINA: Neidisch. 
Siehst du Penner Fusel schlucken

ZWEITE DOMINA: Für dich 
Ist Blasen-Tee der einz'ge Trank

ALLE PROSTITUIERTEN: Und
Nüchtern wie Geschäftsbilanzen
Gehst du hopps und machst Gestank

ALLE: Attentäter, Meuchelmörder, Terroristen
Lauern allerorts

DER PFAFFE: Die Kirche spricht es heilig
Dieses Opfer eines Mords

ALLE: Erpresser, Denunzianten, Journalisten
Woll'n dich observieren

DER PFAFFE: Der Herrgott soll sie strafen
Und der Staat sie malträtieren

ALLE: Denn das ist wirklich nicht die feine Art
Das wer dem Staat die nöt'ge Schuldigkeit
erspart
Das geht nicht an, das darf nicht sein
Wer sich nicht fügt ist selber Schuld daran
allein

- 46


 

DRITTER AKT

 

Erste Szene

(Die Straße, Tag. Sicherheitsbeamte durchsuchen dunkle Winkel, Mülltonnen und Passanten. Über der Szenerie die Stimme eines Radioreporters.)

DIE STIMME DES RADIOREPORTERS; Zum dritten Mal in diesem Monat hat der Fäkalien Radikalo zugeschlagen. Nach zwei Anschlägen auf öffentliche Einrichtungen, über die wir ausführlich berichteten, fiel den Terroristen heute morgen der Chef der neugegründeten Spezialeinheit zur Bekämpfung des Terrorismus, Alfons Überzwinger, zum Opfer. Überzwinger erlitt in seinem Büro einen Herzinfarkt, als eine, im Papierkorb versteckte, Stinkbombe ferngezündet zur Explosion gebracht wurde. Der Chef der Terroristenbekämpfung verstarb noch am Tatort. Trotz Überzwingers tragischem Ausfall, so sein Stellvertreter, läuft die Fahndung nach den Tätern auf Hochtouren.

 

HÜBCHEN: (Betritt gehetzt die Szene, singt.)

Ach, renne, renne, renne mein Herz
Halte durch noch ein Stück
Renne, renne, renne mein Herz
Ich kehr nie mehr zurück
Renne,
   renne, renne mein Herz
Flieh'
   vor der Meute die dich hetzt
Renne,
   renne, renne mein Herz
Brich'
   mir nicht gerade jetzt

Renne, renne, renne mein Herz
Gib den Beinen den Schwung

Brenne, brenne, brenne oh Schmerz
Ich kehr' nie wieder um (Geht ab.)

- 47


Zweite Szene
(Das Badezimmer.) 

 

KALLE: (Bastelt mit Peter an einer imposanten Bombe.)

JANA: (Herein mit Hübchen.) Hört auf, Jungs. Es ist vorbei mit der Anarchie. Wir sind aufgeflogen.

KALLE: Na, toll. (Öffnet das Eenster.) Schade um das Meisterwerk.

PETER: (Schmeißt die Bombe hinaus, ein kurzer Knall, Rauch steigt auf.) Schöne Scheiße.

HÜBCHEN: Weil ihm die Ausrottung der Politiker durch eure Anschläge zu langsam voranschreitet, hat von Kohlen Reibach beschlossen selbst in die Politik zu wechseln. Er entzieht euch seine still duldende Unterstützung. Gleich nach seiner Ernennung will er euch, als seinen ersten politischen Erfolg, der Polizei ausliefern.

KALLE: Warum haben wir den eigentlich nicht in die Luft gejagt?

PETER: Pure Senilität. Wir sind alt geworden, Kalle. (Geht zum Waschbecken, steckt den Stöpsel in den Abfluß und dreht den Wasserhahn auf. Im weiteren Verlauf der Szene läuft das Waschbecken über und flutet allmählich das Zimmer.)

KALLE: Naja, da kann man nichts machen. (Geht ab.)

- 48


HÜBCHEN: Wenn ich euch einen Tip geben darf, haut schleunigst ab.

PETER: Sind schon dabei.

KALLE: (Kehrt mit Konserven und Bierflaschen beladen zurück.) Na, dann woll'n wir mal. (Rüstet gemeinsam mit Peter die Badewanne mit einem Segel und Proviant aus.)

JANA: (Zu Hübchen.) Und was ist mit dir? Kommst du mit uns?

HÜBCHEN: Noch auf dem Weg hierher war ich mir sicher, daß ich mit euch gehen werde. Doch nun, da ich es nur zu tun brauchte, kann ich's nicht.

JANA: Warum nicht Thomas? Du liebst mich doch.
Das ist doch nicht vorbei.

HüBCHEN: (In Gedanken weit weg.) Als ich ein Kind war, versteckte ich mich oft in einem stillen Winkel vor der Wirklichkeit. Dort las ich dann die Bücher voller Heldentaten und fühlte selbst mich wie ein Held. Bis man mich fand.... und mich zurückzerrte in jenes mir unbegreifliche Leben, so schrecklich nüchtern und immer nur Notwendigkeit. Ich wurde was ich bin, weil ich mich in mir selbst verkroch, so tief, daß ich mich heute selber nicht mehr finden kann. Das ist's. Egal, was ich in meinem Leben tat, an mir selbst war's stets Verrat.

JANA: Und ich liebe dich trotzdem, Thomas, oder gerade deswegen. Weil ich keinen Helden brauche, sondern einen ganz normalen Mann.

HüBCHEN: Du lebst mit zweien zusammen, die mir normaler erscheinen, als ich es je war.

JANA: Du meinst Kalle? Du meinst Peter? (Betrachtet die beiden.)

- 49


KALLE: (Der mittlerweile in der Wanne fläzt und einen Joint raucht.) Ist was nicht in Ordnung?

PETER: (Der zufrieden die Marxbüste betrachtet, die er soeben am Bug der Wanne angebracht hat.) Fertig. Von mir aus kann's losgehen.

HÜBCHEN: (Derweil das Wasser im Zimmer auf Kniehöhe gestiegen ist.) Ich habe nasse Füße.

JANA: Von den Tränen, die ich um dich weinen werde, wirst du trocken bleiben.

HÜBCHEN: (Steigt auf den Toilettendeckel.) Ich kann nicht heraus aus meiner Haut. Sorge dich nicht um mich. Mir wird nichts passieren.

JANA: Irgendwann passiert jedem einmal etwas.
Ich zum Beispiel stolperte vor gar nicht
langer Zeit durch diese Tür. Damit fing es
an. (Leise flehend.) Thomas, sag ja.

HÜBCHEN: Nein.

JANA: (Steigt in die Wanne zu Kalle und Peter.
Die Wanne setzt sich in Bewegung. Zeitgleich
erklingt eine Melodie, zu der ein Chor, sich
stetig steigernd, die Tonsilbe "HA" singt.)
Adieu, Thomas.

HÜBCHEN: Adieu, Jana.

DIE ZWEI POLIZISTEN: (Stürmen das Zimmer durch das Fenster und stoßen Hübchen von der Toilette ins Wasser.) Bürger, Deckung! (Sie nehmen schwimmend die Verfolgung auf. Als sie die Wanne erreichen, bekommen sie von Peter eine sehr große Ausgabe des "Anti-Dühring" auf die Mütze gehauen und gehen unter. Die Musik endet abrupt.)

KALLE: Und wer je behauptet, daß dies kein geiler Abgang war, der lügt.

- 50


Dritte Szene

(Der Friedhof, Nacht. Etwas abseits, auf einem Grabstein vor einem Spiegel, der Engel, der versunken verschiedene Frisuren ausprobiert. In der Mitte die Wanne, darin Jana, Kalle und Peter.)

PETER: Tja. Sieht so aus, als wären wir am Ziel.

JANA: Endstation.

KALLE: Hm. Weit haben wir es nicht gebracht.

DER ENGEL: (Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden.) Immerhin. Ihr habt es versucht. (Jana, Peter und Kalle schauen zu ihr.)

PETER: (Zu Kalle.) Kneif mich mal.

DER ENGEL: (Wendet sich ihnen zu und winkt mit einer Haarbürste.) Hi, ihr. Willkommen im Club.

KALLE: (Nachdem er Peter gekniffen hat.) Zwecklos. Die Kniffe von Kiffern befördern einen nicht in die Realität zurück.

JANA: Es scheint, die Eitelkeit plagt mich noch immer.

DER ENGEL: Aber klar doch. So mitten auf der Schwelle zwischen hier und dort, kannst du dir das ruhig eingestehen. Übrigens: Schön dich wieder zu sehen.

JANA: Hallo. Wie geht's dem Märchenprinz?

DER ENGEL: Ach, weißt du, in den transzendenten Sphären wimmelt es nur so von den Brüdern. Da wär's Quatsch sich festzulegen. Hast du deinen da drüben gefunden?

JANA: Das ist doch jetzt egal.

DER ENGEL: Na, na. Spuck's aus.

JANA: Ich fand ihn und es ging vorbei.

DER ENGEL: Und?

- 51


JANA: Obwohl ich es nicht wahrhaben will, denke ich immer noch nur an ihn. Kannst du mir erklären warum?

DER ENGEL: Drüsen, Säfte, Nervensynapsen. Auch wenn du die wissenschaftliche Erklärung wüßtest, würde dich das nicht trösten. Gefühle sprechen kein Latein. (Zu Peter und Kalle.) He, ihr zwei! Hört auf mich anzuglotzen. Erzählt der Frau mal was romantisches.

KALLE: (Während der Mond über der Szene aufgeht.) Was romantisches? (Räuspert sich.)
Der Mond scheint auf zwei Liebende
Sie schau'n auf ihn zurück
Und können's gar nicht fassen
So sehr romantisch ist ihr Glück

PETER: Doch ist der Mond ein kalter Stein
Mit Kraternarben im Gesicht

KALLE: Und trostlos aus der Nähe
Geröll im fahlen Sonnenlicht

PETER: Er ist ein Massepunkt im Erdenjoch

JANA: Aber schön, schön ist er doch.

PETER: Siehst du der Sterne leuchten
In klarer, wolkenloser Nacht
Scheint dir die Ewigkeit gesichert
Die Welt von einem Gott gemacht

KALLE: Ja, sehr romantisch scheint dir auf den Kopf das All

PETER: Doch ist's nicht ewig
Es begann mit einem Knall

KALLE: Und enden tut's in einem Schwarzen Loch

JANA: Aber schön, schön ist es doch. (Während
der letzten Verse sind im Hintergrund die
Sterne erstrahlt. Sie beleuchten die Dächer
der großen Stadt und auf einem von diesen
Hübchen an seinem Schreibtisch.)

- 52


HÜBCHEN: Schenkt ein Mensch sein Herz 'nem anderen
Dann tut es meistens weh
Ist der Beschenkte fortgegangen
Und nicht mehr in der Näh'
Jana ist im Grunde nur ein Name
Doch kaum fällt er mir ein 
Wünsch' ich mir, ach so sehr, sie wäre hier
Das könnte so .....

JANA: (Gemeinsam mit Peter, Kalle und dem Engel.) Romantisch.

HÜBCHEN: ... so könnt's sein
Ich weiß dies sind Gedanken
Die nicht besonders wesentlich
Doch falls du öfters Schluckauf hattest
Dann war das meistens ich
Und bin es manchmal immer noch

JANA: Dann war es schön. Schön war es doch?

DIE ZWEI DOMINAS: (Über die Dächer heran. Vorneweg von Schramm auf allen Vieren, an zwei Leinen geführt von den Damen.) Such, Schrämmchen, such. Wo ist der dicke Knochen? Such, such.

VON SCHRAMM: Hübchen, hören sie! Ich bin am Ende. Ich brauche einen Freund. Einen Retter. Der alte Reibach will etwas gänzlich Neues. Etwas nie Dagewesenes. Eine Sensation! Nur weiß er selbst nicht was. Hübchen, ich bin ein alter Mann. Ich hasse Neuerungen. Haben sie gefälligst eine Idee. Hübchen! Flüstern sie mir was. (Hübchen beugt sich zu ihm und flüstert ihm etwas ins Ohr. Von Schramm erhebt sich.) Das ist ja ausgezeichnet, Hübchen. Famos! Mich überkommt eine Vision. Ich sehe eine neue kulturelle Ära heranbrechen.

Ich höre Stimmen.

- 53


DIE STIMME DES RADIOREPORTERS: (Während Trichter mit Schläuchen in den verschiedensten Farben und Größen am Himmel erscheinen.) Aufrecht
stehend, ohne Spritzer
Kann es der moderne Mann
Nur mit einem Trichterpinkulator
Patentiert auf Herrn von Schramm.
Erhältlich in allen Modefarben und natürlich
mit sechs Monaten Garantie.

JANA: (Resigniert.) Ach, verdammt noch mal. Es
ist immer das Selbe. (Besinnt sich, wütend.)
Leckt mich am Arsch, Gespenster der Vergan-
genheit! Wenn eure ewigen Wahrheiten so au-
genblicklich endlich, so offensichtlich eu-
ren Launen unterlegen sind, dann soll auch
der Schluß von diesem Stück ein konsequenter
sein. Ich scheiße auf das Happy End!

DER ENGEL: Schade, daß mein momentaner Liebhaber nicht hier ist. Der wüßte garantiert, was nun konkret zu tun ist. Er ist unheimlich gebildet .

DER LETZTE AGITATOR: (Betritt die Szene.) Hallo, hallo, Brüder und Schwestern.

DER ENGEL: Hallo, Schatz. Du kommst wie gerufen.

DER LETZTE AGITATOR: Eine innere Stimme sagte mir, daß ich gebraucht werde. Möchtet ihr agitiert werden?

DER ENGEL: Eher nicht. Sag' mal, wie ging doch gleich der Zaubertrick für aussichtslose Fälle?

DER LETZTE AGITATOR: Du meinst den zwiegespaltenen, dreigeteilten?

DER ENGEL: Genau den.

- 54


DER LETZTE AGITATOR: Nun, der ist sehr einfach. Als erstes zitiere aus dem Stegreif Henry Miller.

DER ENGEL: (Stellt sich in Positur und zitiert mit viel Pathos.) 

"Wie wär's, wenn im letzten Augenblick, da die Pesttafel gedeckt ist und die Zimbel erschallen, plötzlich und ganz ohne Tarnung eine silberne Platte erschiene, auf der, wie sogar der Blinde erkennen könnte, nicht mehr und nicht weniger liegen als zwei riesige Klumpen Scheiße. Das, glaube ich, wäre wunderbarer als alles, was der Mensch erwartet hat." 3)

 

DER LETZTE AGITATOR: Sehr schön. Als zweites schnippst du mit dem Finger ..... (Der Engel tut es.) ..... jetzt noch ein Zungenschnalzer ..... (Der Engel tut es. Es beginnt aus den Trichtern Scheiße zu regnen.) ..... und siehe da, es hat geklappt.

KALLE: Irgendwie hatte ich mir das Jenseits ernsthafter vorgestellt.

ERSTE DOMINA: Mist, ich habe meinen Schirm vergessen.

ZWEITE DOMINA: Puh, das riecht ja.

VON SCHRAMM: Herrgott nochmal, Hübchen, was ist nun schon wieder los?

HÜBCHEN: Es regnet.

VON SCHRAMM: Was sie nicht sagen, Hübchen. Aber das ist doch kein gewöhnlicher Regen.

ERSTE DOMINA: Nö, das ist Scheiße.

HÜBCHEN: Mir ist, als hätte ich dieses Wort in letzter Zeit häufiger gehört.

 

3) Henry Miller "Wendekreis des Krebses", Berlin 1989, Seite 103

- 55


VON SCHRAMM: Na, wunderbar. Es regnet Scheiße. Hübchen! Es regnet Scheiße!

ZWEITE DOMINA: Und Natursekt.

VON SCHRAMM: Verschonen sie mich mit fachlichen Details.

PETER: Zwar spüre ich, daß sich endlich der Sinn des Ganzen erfüllt, aber irgendwie geht es mir am Arsch vorbei.

KALLE: Wundert's dich? Es kann das Glück die Toten
Selbst vom Himmel her nicht mehr bekoten.
(Betrachtet den Joint, den er gerade raucht.)
Lebt wohl, berauschende Gräser und Pollen.
Ihr Kräuter des Vergessens dröhnt nicht mehr
in meinem Kopf. Der Traum ist aus. (Wirft den
Joint hinter sich.) Man reiche mir Mana und
Ambrosia! (Die zwei Prostituierten aus der
Straßenszene servieren das Gewünschte.)

ERSTE PROSTITUIERTE: Bitte schön.

ZWEITE PROSTITUIERTE: Wohl bekomm's. (Beide bleiben auf dem Wannenrand sitzen.)

VON SCHRAMM: Ich möchte wirklich wissen, was das Alles zu bedeuten hat.

HüBCHEN: Es bedeutet, daß der Kosmos auf die Menschheit kackt.

VON SCHRAMM: Jetzt werden sie bloß nicht philosophisch. Schließlich ist mir das Universum mindestens genauso schnuppe, wie ich ihm. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? (In einem Anfall von Verzweiflung.) Hübchen! Bedenken sie unsere Pläne, unsere Zukunft, die blühenden Landschaften!

HÜBCHEN: Den Bach hinunter und vorbei.

VON SCHRAMM: Aber zum Himmelarsch, das kann doch nicht das Ende sein!

HÜBCHEN: Es ist das Ende.

JANA: Nein, der Anfang.

- 56


 

Letzte Szene

(Der selbe Ort, der Regen hat aufgehört.)

 

JANA: (Zu den Zuschauern.) 

Chaos lag getaucht in Finsternis
Wißt ihr noch wie es begann?
Mit einem Punkt, dem Ding an sich
Fing die Geschichte an 

Doch meint ihr jetzt, daß sie von vorn beginnt
So irrt ihr euch, sie tut es nicht
Bevor dereinst die Zeit zum Traum gerinnt
Strahlt jeder Tag in neuem Licht

(Zu Mond und Sternen gesellt sich die Sonne, heller Tag. Während des folgenden zweiten Finales erscheinen nach und nach alle Beteiligten auf der Bühne.)

 

ERSTE PROSTITUIERTE: (singt)

Seht, der Himmel war nicht immer blau
In dichten Hebeln hat die Erde sich gedreht
Und auf ihr war es öd' und grau
Blitze zuckten durch das Dunkel, früh bis
spät

ZWEITE PROSTITUIERTE: 

Und gerochen hat es damals, pfui, igitt!
Mit Gestank begann das feine Leben
Das machte wirklich keine Nase mit
Drum hat es Nasen damals auch noch nicht
gegeben

- 57


DER LETZTE AGITATOR:

Doch wie man sieht, die Zeiten ändern sich
Was lehrt der Blick zurück?

DER ENGEL: Scheint auch die Lage anfangs fürchterlich
Entwickelt sie sich doch zu unserm Glück

DIE ZWEI POLIZISTEN:
Betrachtet Paris und die schöne Helena
Ist's nicht ein Bild, sich darin zu ver-
gaffen?

DIE ZWEI DOMINAS:
Nur fragt nicht nach der Oma und dem Urpapa
Denn die war'n stark behaarte Affen

DIE SICHERHEITSBEAMTEN: (Während sie den politischen Redner exhumieren.)

Schlagt nach im Leben der Justizia
Wie hat die blinde Dame einst begonnen
Warum, muß sie noch heute wägen was geschah
Aus welchem Wunsch heraus ward sie ersonnen?

PETER: Es war des ersten Klägers Herzensschrei
Der sie erfand heraus aus dem Bestreben

DER POLITISCHE REDNER: (Gemeinsam mit Peter.)
Die gegnerische Rechtspartei
Mit einer Keule flachzulegen

VON KOHLEN REIBACH:
Lest Shakespeare, Dante.....

VON SCHRAMM:              .....Hölderlin!

 

VON KOHLEN REIBACH:
All die Verse, Dramen und Sonette
Lauscht der Musik und laßt die Zeit vorüberziehn

- 58


BEIDE: Die ersten der Tenöre grunzten im Urwald
um die Wette

DER MÄRCHENPRINZ: (Am Himmel fliegend heran.)
Ja, als der Mensch noch in den Bäumen
Zusammen mit den Vögeln saß
Begann er manches mal zu träumen
Er flöge auf wie diese und fiel hinab ins
Gras

DER PFAFFE: Der Himmel blieb ein ferner Ort
Der Mensch auf Jahre ein Besiegter
Heut' fährt er mit dem Taxi zum Aeroport
Kauft sich ein Ticket - und dann fliegt er!

HÜBCHEN: Wieviele V/und er auch die Erde birgt
Sie alle fingen an mit diesem einen

JANA: Das stets das alte, abgelebte stirbt
Damit ein neues kann erscheinen

DER SCHLAFENDE ALTE: (Jetzt munter.)
Ob Pilsner Bier, ob Weingebrände
Ein jedes Ding hat seine Zeit 
Dies Schauspiel ist zu Ende

KALLE: Da draußen lauert eure Wirklichkeit

ALLE: Die ist noch lange nicht
So richtig durchweg angenehm
Vielleicht für einen Augenblick
Könnt ihr sie jetzt mit andren Augen sehn

Der Mensch hat seinen Kopf
Das er durch ihn die Welt erfasse
Kommt aus der Geschichte
Und geht auf die Straße 

- 59

 

Finis

 

 

(d-2006:)

  Danke Olaf für deine Belehrung, nun habe ich dein Stück doch gelesen, das du mir vor zehn Jahren geschenkt hast. Ruhe in Frieden. Wir alle gönnen es dir.

 

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