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Friedrich Reck — Ein biografisches Nachwort       

Von Christine Zeile  (Google Autorin)

1 Bewertung   2 Person   3 Schriften   

4 Fassade    5 Freunde    6 Weltanschauung 

7  Öko    8 Nazihass    9 Ende  

   

  1  Bewertung   

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Recks Tagebuch - postum 1947 veröffentlicht - fand seine eigentliche Resonanz in der Bundesrepublik erst, nachdem diese die erste Phase der Nach­kriegs­zeit hinter sich hatte. 

Trotz seiner offen gezeigten monarch­istischen Orientierung erntete es Lob von linker Seite, etwa von Klaus Harp, der es als »eine Reifeprüfung für den deutschen Leser« bezeichnete; von Peter Härtling, der 1964 in der Hamburger Zeitung <Die Welt> an das vergessene Buch erinnerte und ihm damit zu neuer Publizität verhalf; 1981 von Bernt Engelmann, der Reck eine »konsequent anti-nazistische Grundhaltung« bescheinigte. 

Widerspruch rief das Tagebuch dagegen bei Joachim Fest hervor, der 1967 im <Spiegel> unter dem Titel <Wider einen Widerstand> Recks »Treue zu sozialen Hinterwelten« brandmarkte und das Tagebuch als »Resultat der rückwärts gewandten Fluchtträume eines entfremdeten Intellektuellen in der modernen Welt« wertete. Er warnte sogar davor, den »selbstver­ständlichen Respekt, auf den das Opfer Reck Anspruch besitzt, auszu­dehnen auf den Verfasser dieses Tagebuchs«

Von literaturwissenschaftlicher Seite gab es die klare Einschätzung, daß Recks Tagebuch den Dokumenten der »inneren Emigration« und dem geistigen Widerstand zugeordnet werden müsse. 

Dagegen zählen ihn Politologen zu den Vertretern der »konservativen Revolution«, deren politische Anschauungen lange Zeit mit dem Lager der späteren Nationalsozialisten vereint waren.

   

   2  Zur Person   

 

Friedrich Reck führte den Namen Reck-Malleczewen, unter dem er auch bekannt geworden ist. Das Gut Malleczewen in Ostpreußen, auf dem er am 11. August 1884 geboren wurde, lag in Masuren, unweit der damaligen polnisch-russischen Grenze, 130 km von Königsberg entfernt. Das Gut, das etwa seit 1850 im Besitz der Familie war, trug den Namen eines Vorbesitzers aus dem 16. Jahrhundert, Hieronymus Maletius (daher: »Mallecewo«, soviel wie »Maletius gehörend«), einem Sohn des berühmten Druckers Jan Sandecki.

Reck stammte nicht aus großbürgerlichen Verhältnissen, aber die Familie war gut situiert. Sein Vater Hermann war ein erfolgreicher Gutsherr, der die 166 Hektar Land mit steigendem Gewinn bewirtschaftete. Auch politisch gelangte Hermann Reck, dessen Vater ein einfacher, eingesessener Wirt in Lyck (heute polnisch Elk) war, zu Ansehen. Ab 1900 saß er im preußischen Landtag in Berlin, 1912 wurde er schließlich konservativer Reichstags­abgeordneter, ausgezeichnet mit dem <Roten Adlerorden 4. Klasse>. 

Recks Mutter Emma Pietschmann stammte aus einer katholischen österreichischen Fabrikantenfamilie, die nach Posen gezogen war und ihren Aufstieg schon hinter sich hatte.

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Die Erwartungen in die Kinder waren hoch. Recks ältester Bruder Willy, 1877 geboren, konnte sich mit seiner militärischen Karriere — er brachte es bis zum Rittmeister — nicht arrangieren; er quittierte schließlich den Dienst und wurde Kunstmaler. Im Juli 1945 starb er in Berlin. Seine Schwester Else heiratete einen Juristen, der zuletzt Senatspräsident am Oberlandesgericht in Breslau war. 

Erich, 1881 geboren, überließ sich der damaligen Sucht der höheren Stände: Er spielte, allerdings ohne die beflügelnde Fortune. Seine Wechsel auf das väterliche Erbe ließen ihm in der guten Gesellschaft keinen Ausweg, und er vergiftete sich dreiundzwanzigjährig mit Arsen. 

Dieses Unglück traf die Familie im gleichen Jahr, als Friedrich in Lyck das Abitur abgelegt hatte. Den elterlichen Vorstellungen von Tüchtigkeit dürfte freilich auch er nicht genügt haben. Auf Wunsch des Vaters trat er im April 1904 als Einjährig-Freiwilliger in das 5. Thüringische Infanterie-Regiment in Jena ein, nicht ohne sich gleichzeitig zum Studium der Kameral­wissenschaften zu immatrikulieren.

Reck zählte jedoch zu den vielen, die den harten Drill nicht ertragen konnten. Ausweg bot ihm die Aufnahme des Medizinstudiums. Denn die Hälfte des Militärjahres wurde all denen erlassen, die dieses Fach wählten. Mitte Oktober 1904 immatrikulierte er sich in Königsberg für das erste medizinische Semester. Das folgende Halbjahr studierte er in Innsbruck, kehrte danach aber nach Königsberg zurück.

Zwei Jahre später, 1907, war er wieder in Innsbruck und verlobte sich dort mit der vier Jahre älteren russischen Staatsbürgerin und Tochter des kurländischen Staatsrats Alfred Buettner, Anna. Die beiden Studenten heirateten gegen den Einspruch der Eltern im März 1908 in Riga. Als Student verfügte Friedrich Reck allerdings nicht über ein Einkommen, das ihm ermöglicht hätte, den Unterhalt der Familie zu finanzieren. Sein Vater sprang ein, zumal da im Januar 1909, noch vor Abschluß der ärztlichen Prüfung, Recks erste Tochter Barbara geboren wurde. In Königsberg, wo Reck sein praktisches ärztliches Jahr absolvierte, promovierte er im Juni 1911 mit einem <Beitrag zur Genese der Zylinder des Koma diabeticum>.

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Diabetes war bei ihm selbst diagnostiziert worden, mit der Folge, daß er für jeglichen militärischen Dienst als untauglich erklärt wurde und deshalb auch im Ersten Weltkrieg zu Hause bleiben konnte. Die Grauen dieses Krieges erlebte er nur von fern.

 

Das Verhältnis zu seiner Mutter war und blieb problematisch. Als sie 1923 im Sterben lag, besuchte er sie trotz ihrer wieder­holten Bitten nicht mehr. Sie starb, ohne daß eine Aussöhnung stattgefunden hätte.

 

Seine medizinische Ausbildung hatte Reck zwar 1911 zum Abschluß gebracht, aber zum Arzt fühlte er sich nicht berufen. Nach zwei kurzen ärztlichen Vertretungen hatte sich ihm das weite Feld möglicher Fehldiagnosen erschlossen und ihm die Ausübung des Berufes in einem recht riskanten Licht erscheinen lassen. Aber er war 27 Jahre alt, Familienvater und von seiner Herkunft her zur gesellschaftlichen Bewährung verpflichtet. 

Was konnte er tun?

Sein Vater, der, etwa sechzigjährig, über die Fortführung des Gutes nachdachte, hoffte, nachdem der Älteste die Militärlaufbahn eingeschlagen hatte, darauf, das Gut Friedrich übertragen zu können. Aber in einer für den Sohn wohl demütigenden Form nahm er — nach einigen praktischen Versuchen — von diesem Plan wieder Abstand. Malleczewen wurde 1913 verkauft. Doch der Bruch zwischen Vater und Sohn blieb bestehen. 

Recks Zukunftsaussichten wurden katastrophal, als er seine Stelle als medizinischer Assistent an der Universität Königsberg verlor. Im Jähzorn, der ihm noch öfters schaden sollte, zerstritt er sich mit dem ihm bis dahin wohlgesonnenen Professor, und zwar so gründlich, daß jede Wiederannäherung aussichts­los schien.  

Was ihm blieb, war das Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Stellung und die Hoffnung auf ein Erbe, das ihm nach den damaligen Gegebenheiten ein sorgenfreies Leben als Privatier gesichert hätte. Doch daraus wurde nichts. Die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, in der längst die Zertrümmerung der alten Junkerwelt eingesetzt hatte, begrub auch seine Träume. Den Lebensstil, den Reck und seine Generation noch ungebrochen fortzuführen gedachten, gestand ihnen die Geschichte nicht mehr zu. 

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Auf den Rat seiner Frau hin hatte Reck zu schreiben begonnen. Im Juli 1911 veröffentlichte er in der <Ostpreußischen Zeitung> einen Nachruf auf den Dirigenten Felix Mottl, der in München gestorben war. Es war seine erste Veröffentlichung. Seine Frau überredete ihren Schwiegervater, dem journal­istischen Neuanfang seines Sohnes eine finanzielle Grundlage zu geben: Friedrich erhielt einen Teil des Erbes als Vorschuß ausgehändigt. Im Rückblick, zwanzig Jahre später und nach der Scheidung von seiner Frau, schrieb er über die Erfahrung dieser Ehe: »Mich band eine tiefe Dankbarkeit, tiefe persönliche Verpflichtung an sie. Es waren schwere persönliche Krisen, in denen sie — vor vielen Jahren — heroisch und selbstlos zu mir gestanden hatte.«

Im Frühjahr 1912 zog die Schwiegermutter in die Königsberger Wohnung. Seine Frau war wieder schwanger. Reck bewarb sich auf die Stelle eines Schiffs­arztes und verließ im August 1912 Königsberg in Richtung London, wo er sich kurz danach auf dem Passagierdampfer Assuan nach Südamerika einschiffte. Er hatte gerade noch die Geburt seiner zweiten Tochter Susanne in Königsberg miterlebt. Aber auch seine Frau Anna verließ unmittelbar nach seiner Abreise die Stadt. Seit Oktober 1912 war sie in Pasing bei München gemeldet.

Reck reiste nach Südamerika, fuhr die Westküste entlang nach Norden und dann über Land, bis er etwa Anfang Dezember in New York eintraf. In der Stadt konnte er sich nur kurz aufgehalten haben, denn am Weihnachtstag 1912 war er wieder bei seiner Familie, nun in Bayern.

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Bis 1914 arbeitete er für die in Stuttgart neu gegründete <Süddeutsche Zeitung>; dann siedelte auch er endgültig nach Pasing in die Mussinanstraße 10 zu seiner Frau über. In dieser Wohnung sollte er bis 1933 wohnen. 1917 wurde seine dritte Tochter Juliane, 1925 der Sohn Thomas (im Zweiten Weltkrieg vermißt) geboren.

Seine Reiseberichte hatten erheblichen Anklang gefunden. In seinen Paß, der ihm im März 1924 ausgestellt worden war, ließ er als Beruf »Schriftsteller und Gutsbesitzer« eintragen. Tatsächlich hatte er 1920 das Schloß Schnaittach (das sogenannte Velhorn-Schlößchen) in Mittelfranken gekauft und, nachdem es dort spukte und der Unterhalt zu aufwendig wurde, 1925 gegen das elf Hektar große Gut Poing bei Truchtlaching im Chiemgau vertauscht, in dem die Geister sich jedenfalls zurückhaltender gebärdeten. Hier wohnte er von 1933 bis zu seiner Verhaftung 1944.

Nachdem seine Frau schon etliche Jahre von ihm getrennt gelebt hatte, wurde seine Ehe 1930 geschieden. 1933 konvertierte er zum katholischen Glauben. Fünf Jahre später, Reck war inzwischen 51 Jahre alt geworden, heiratete er erneut, und zwar die 26 Jahre alte Adoptivtochter eines Jugendfreundes, Irmgard von Borcke. Auch aus dieser Ehe gingen drei Töchter hervor. 

Im Oktober 1944 wurde er zum ersten Mal verhaftet. Über die Vorwürfe hat er in seinem Tagebuch (vgl. Seite 240) berichtet. Im Vordergrund stand wohl, daß er seiner Einberufung als vermeintlicher Offizier nicht Folge geleistet hatte. Nach kurzer Haftzeit wieder entlassen, ließ ihn die Gestapo in München Ende Dezember 1944 auf Grund einer Denunziation wegen »Verunglimpfung der deutschen Währung« erneut verhaften. Am 9. Januar 1945 wurde Reck ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Dort ist er mit sechzig Jahren, am 16. Februar, an Flecktyphus gestorben. Zweieinhalb Monate nach seinem Tod wurde Dachau von den Amerikanern befreit. 

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   3  Schriften   

 

Recks erste Schriften waren, wie er sie selbst im Untertitel nannte, <Erzählungen für die Jugend>. 1915 erschien <Mit Admiral Spee>, ein Buch über den Seekrieg 1914/15, das besonders erfolgreich war. Es folgten <Aus Tsingtau entkommen> sowie <Der Admiral der roten Flagge>, beides kaum weniger beliebte Militärschmöker für Jugendliche; das letztere wurde noch in den 50er und 60er Jahren neu aufgelegt. 

Danach verfaßte Reck Abenteuerromane für Erwachsene, die Kritiker an Courths-Mahler erinnerten. Auch wenn er selbst meinte, mit seinen Abenteuer­geschichten direkt an Stevenson, sein großes Vorbild, anzuknüpfen, befand er sich eher in Gesellschaft von Autoren wie Friedrich Gerstäcker und Ernst Löhndorff

Beide im übrigen auch Erzähler, die wie er von den 20er Jahren bis heute in einer wechselhaften politischen Zuordnung ihre Verleger und ihre Leser fanden; Löhndorff etwa, dessen Buch <Der Indio: Kampf und Ende eines Volkes> im Jahr 1940 als <Dr.-Goebbels-Spende für die deutsche Wehrmacht> verwendet wurde, hatte seine Blüte in den 50er und 60er Jahren. 

1918 erschien, zunächst als Vorabdruck in dem auflagenstarken <Berliner Tageblatt>, sein Roman <Frau Übersee>, ein Werk, das ihn endgültig als Abenteuer- und Historienschreiber der leichteren Sorte bekannt machen und das die weiteste Verbreitung unter seinen Büchern finden sollte. Bald darauf veröffentlichte er den Roman <Die Dame aus New York>, der ähnlich populär wurde wie sein Vorgänger.

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1921 wurde Reck Autor des Verlags August Scherl, der zum Hugenberg-Konzern gehörte und selbst über viele Zeitungen und Zeitschriften verfügte. In den kommenden zwei Jahrzehnten erschienen hier allein neun Romane von ihm. Inzwischen hatte er auch gelernt, seine Werke zu verwerten. Fast alle seine Romane verkaufte er als Vorabdruck, und zahlreiche Artikel und Rezensionen ließ er nebeneinander in verschiedenen Organen erscheinen.

Darüber hinaus war er ein Meister der Variation, und zu seinen schriftstellerischen Tugenden rechnete, daß er es verstand, einem und demselben Gedanken in immer neuer Form Ausdruck zu verleihen.

Seine Rolle im literarischen Leben Münchens störte das nicht. Im Gegenteil, auch unter diesem Aspekt gab es dort genügend Gleichgesinnte. Er beteiligte sich aktiv an der Gründung von Zirkeln und Dichtervereinigungen, etwa des noch heute existierenden Tukan-Kreises, dessen Stiftung 25 Jahre später so geschildert wurde: 

»Anfang 1930 kam im Hause von Fritz Reck-Malleczewen zu dessen Leibgetränk, einem ostpreußischen Rotspon, die Simpl-Runde zusammen, um diesen Verlag [für junge Dichter] auf einen Namen zu taufen. Nach vielen mehr oder (meist) weniger witzigen Vorschlägen einigte man sich auf den von Horst Biernath angegebenen Namen Tukan.« 

Zunächst eher als Verlag beabsichtigt, gliederte sich dem Tukan ein Vortrags-Kreis an, da der federführende Verleger Schmitt-Sulzthal zu der Erkenntnis gelangt war, daß es weniger aufwendig wäre, Autoren vorlesen zu lassen, als sie zu drucken. Dem Tukan gehörten unter anderen Peter Paul Althaus, Leonhard Frank und Karl Ude an.

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Selbst ein wohlgesonnener Gratulant schrieb anläßlich Recks 50. Geburtstag, seine Bücher könnten »keinen Anspruch auf literarische Wertung« erheben«. Andere weniger zimperlich, so Walter Harich*, nannten seine Arbeiten »Dichtung im Kitschgewande«. Wieder andere ließen sich dadurch nicht irritieren und lobten »die starke Gegenwarts­verbundenheit seines Schaffens«

Dennoch ist es kein Zufall, daß Recks Name in geläufigen Literatur­geschichten zur Weimarer Republik nicht erscheint. So viel er auch geschrieben hatte und so viel man ihn auch las, die seriöse Literaturkritik beachtete ihn kaum. Er zählte bis dahin zu Recht ausschließlich zu den Unterhaltungsschriftstellern.

Ihn selbst dürfte dies damals am wenigsten überrascht haben, denn er schrieb, um Geld zu verdienen. Seine Arbeiten waren für den Tagesbedarf kalkuliert und in erster Linie an dem orientiert, was Verlage wie Mosse, Scherl oder Ullstein glaubten an ein größeres Publikum verkaufen zu können. Doch seine Unzufriedenheit wuchs mit dem Fortgang der ihm auferlegten Serienproduktion: »Ich kann nicht mehr«, zog er 1931 das Resümee, »wie bislang, die besten Dinge, die ich zu sagen habe, für mich behalten und Romane für Dienstmädchen und Droschkenkutscher schreiben. Ich kann nicht an meinem Leben, wie Telegraphen­stangen an einer Chaussee, Zeitungsromane aufreihen und Werke, die nur ich schreiben kann, als Torsi liegen lassen.«

Gleichzeitig verstärkte sich allerdings der Zwang zum ökonomischen Erfolg und vertiefte sein Dilemma. Schon die Inflation 1923 hatte ihn schwer getroffen und die Substanz seines Besitzes aufgezehrt. 1927 schrieb er zwar an Leo Perutz, daß es nun, »nach drei Jahren eines verbissenen Gefechtes mit der wirtschaftlichen Baisse (mein Gut verschlang Unsummen und alle meine Freunde staken tief in Schulden)« wieder aufwärts gehe. Aber diese Hoffnung sollte ihn als unerfüllbare bis zum Ende begleiten.

*  (d-2013:)    wikipedia / Walther_Harich  (1888-1931)  - der Vater von Wolfgang Harich (1923-1995)

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Je übler sich die Misere seiner Finanzen ausnahm, desto zweifelhafter wurden seine Methoden, ihr zu entrinnen. So setzte er 1928 darauf, daß ihm der Verlag seines Freundes Hans Reiser, Grethlein in Leipzig, ein jährliches Fixum von 6000 Mark aussetzen würde. Aber das gute Einvernehmen mit diesem Verlag schlug rasch um. Reck wurde von dem »Hochstapler-Verlag« (wie er den Spieß umdrehte) erfolgreich auf Rückzahlung eines Vorschusses verklagt.

Erschwerend kam hinzu, daß seine Frau mit den vier Kindern getrennt von ihm lebte und einen eigenen Haushalt unterhielt, den er ebenfalls zu finanzieren hatte. Vor allem aber war er selbst es, der völlig irreale Ansprüche auf ein »standesgemäßes Leben« erhob. Wie schlimm es auch immer um ihn bestellt war, es mußten die besten Schneider sein. Skifahren in St. Moritz war obligatorisch. Hausbedienstete inklusive Sekretärin konnten nicht fehlen, und ohne aufwendige Tafelrunden ging es bei ihm nicht ab. Reck kopierte nicht nur häufig seine eigenen Gedanken, sondern auch ein Bild von sich selbst aus einer verlorenen, wirtschaftlich sorgenlosen Zeit.

»Man war bis zum Jahre 1924 der reiche Jüngling aus dem Märchen. Das Jahr 1924, das einen vor die Tatsache radikalen Vermögens­verlustes stellte, stellte mich vor die Entscheidung, ob ich durch Abstoßen meines Landbesitzes meine Familie <städtisch> machen und meiner Frau ihre landwirtschaftliche Passion sabotieren sollte.« 

Die Folgen der Inflation auf den Lebensstil Recks kann man sich schwerlich drastisch genug vorstellen. Er, dem die Muße und der gesellschaftliche Glanz eines wohlhabenden Mitgliedes der alten, höheren Stände so unersetzlich schienen, war entweder zum schmählichen Abstieg oder aber zur andauernden Maskerade gezwungen. Er wählte, weil ihm die Kränkung durch den Vermögensverlust und sein Naturell keine andere Option ließen, die letztere Alternative.

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Die Inflation, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte, hatte ihn seines finanziellen Spielraums beraubt. Danach war das Mithalten nur noch fingiert oder für wenige Momente mühselig erkämpft. War der Schock der Einkommens- und Substanzvernichtung schon für die meisten Deutschen eine traumatisierende Erfahrung, dann erst recht für ihn, dem Lässigkeit und Großspurigkeit wenn nicht auf den Leib, dann doch auf die Seele geschneidert schienen. Dabei war es ihm kein Trost, daß es vielen Leidensgenossen nicht besser ging.

Mit dem Krieg, der Inflation und den unmittelbar nachfolgenden Nöten verlor ein großer Teil der Deutschen seine Ersparnisse, seine finanzielle Sicherheit und das Vertrauen in die wirtschaftliche und politische Zukunft. Wie felsenfester Besitz sich über Nacht auflöste und ein kleiner Schieber die Fabrikanten­villa bezog — das war unbegreiflich und warf alle sozialen Maßstäbe über den Haufen. 

Kaum einer erfaßte den Zusammenhang, daß die Deutschen und die Nachkriegsrepublik mit der Inflation nachträglich die Rechnung für den skrupellos auf Pump finanzierten Krieg des Kaiserreichs zahlten. Im Gegenteil, die Entwertung des Ersparten, der Verlust der Anstellung und des ererbten Vermögens wurden nicht den historischen Verursachern, sondern, bedingt durch die zeitliche Verzögerung des eintretenden Effekts und die zu leistenden Reparationen, der neu etablierten bürgerlich-demokratischen Regierung angelastet.

»Nichts hat das deutsche Volk — dies muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden — so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation«, schrieb Stefan Zweig 1939 in seinen autobiographischen Erinnerungen. 

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Das im Krieg verpulverte Realvermögen wurde nun nachträglich mit der Inflation auch in seinen Geldspuren getilgt, allerdings, wie so oft, vor allem bei denen, die bereits im Krieg die militärische Zeche bezahlt hatten. Zugleich spülte die Inflation, schleichend seit Kriegsende, galoppierend seit 1922, uneinholbar selbst für die Notenpresse seit Sommer 1923, bei ihrem überaus gründlichen Werk der Entwertung auch Gewinner einer ganz anderen Sorte in die Höhe: Devisenspekulanten, Exporteure, Schwarzmarkthändler und Gewissenlose aller Art.

Hugenberg wurde erst durch die Inflation zum großen Presse- und Filmzaren. Selbständige, die zu ihrer Alterssicherung Jahr für Jahr ihr Geld zurückgelegt hatten, fanden sich mit einem Schlag als Fürsorge­empfänger auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter. Hervorstechendstes sozialökonomisches Ergebnis der Inflation war die Nivellierung der Einkommen. Verdienten vor dem Krieg höhere Beamte noch ein Vielfaches vom Lohn eines Arbeiters, so reduzierte sich dieser Einkommensunterschied nach der Inflation drastisch, auch wenn noch nicht das heutige Niveau der Egalisierung erreicht wurde. Für Reck und alle diejenigen, die der alten Standeshierarchie nachtrauerten, war dieser Abbau der sozialen Differenzierung eine der schlimmsten Begleit­erscheinungen.

Neben diesen ökonomischen Konsequenzen erwies sich die Zerrüttung der geordnet geglaubten Verhältnisse als mindestens ebenso folgenreich. »Erbittert mußten die Lohn- und Gehaltsempfänger erleben, wie die Notenpresse ihre traditionellen Tugenden der Arbeit, der Sparsamkeit und der Ehrlichkeit zur Dummheit stempelte.« 

Eine moralische Verwirrung und soziale Existenzangst machte sich breit, die später durch die Weltwirtschaftskrise 1929 noch einmal verstärkt wurde.

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Das hoch verschuldete Deutschland war — aus dieser Sicht nicht nur bitter, sondern demütigend zugleich — nicht in der Lage, die vom Ausland gewährten Kredite zurück­zuzahlen. Und Brünings radikale Deflationspolitik schuf nur wenige Jahre nach dem Schock der Inflation den neuen Schock der Massenarbeitslosigkeit. Von Anfang 1930 bis Herbst 1931 verdreifachten sich die Arbeitslosenzahlen. Dem Krieg, der die Gleichheit der sinnlosen militärischen Aufopferung gezeigt hatte, war die Gleichheit der wirtschaftlichen Nutzlosigkeit gefolgt. 

Eine der dauerhaften Folgen der Inflation war darum bei Reck wie bei allen anderen Verarmten (und wahrscheinlich auch bei den Gewinnlern) die tiefe Skepsis hinsichtlich der Solidität der Gesellschaft. Mit einem Schlag war bewiesen, daß die Früchte der eigenen Arbeit und der Rechtschaffenheit ohne Gewalt, ja ohne daß es eines legitimierenden Eingriffs bedurft hätte, enteignet werden konnten. Selbst das klassische Feindbild der »Ausbeutung« paßte auf die nicht mehr, die jetzt von der Krise profitierten. 

Jeder sollte nun für sich seines Glückes Schmied sein. Der gute Ruf war nur noch so viel wert, wie man dafür kaufen konnte.

  

   4 Fassade   

 

Reck gab sich in dieser »Zeit der Kasinoleidenschaften« alle Mühe, anderen nicht als einer der vielen zu erscheinen, die bei dem großen Würfelspiel zu den Verlierern rechneten. Gehörte es unter dem wilhelminischen Adel noch fast zum guten Ton, über seine Verhältnisse zu leben und sich Auftreten, Ausstattung und gesellschaftlichen Umgang nicht von den zufälligen Grenzen seiner Grundrente diktieren zu lassen, so kehrte sich jetzt die Selbststilisierung als souveräner Ausgabenspender bei Reck und vielen anderen - die die beleidigende Realität nicht anerkennen wollten - zum existentiellen Bedürfnis um.

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Was für Reck zählte, war die selbstgeschaffene Gestalt seines Lebens, die Erzeugung eines extravaganten Lebensbildes, von dem er sich selbst hinreißen ließ, von dem er aber besonders die anderen zu überzeugen wußte — meistens.

Zuweilen nahm diese Selbststilisierung skurrile Züge an. Es wird berichtet, daß Reck im Tropenanzug die Ludwigstraße durcheilte; ansonsten war die Fliege obligatorisch. Wenn er auch immer wieder die gesellschaftlichen Normen torpedierte — daß er zur Elite zählte, wußte er in den verschiedensten Varianten zur Geltung zu bringen. Häufig gab er sich als reicher aristokratischer Offizier und unabhängiger Weitreisender.

1929 konnte man über ihn in den <Münchner Neuesten Nachrichten> lesen, daß »dem Nachkommen altpreußischer Landjunker, dem ehemaligen Kavallerie­offizier und abenteuernden Weltenbummler ... das kraftvolle Selbstbewußtsein, der Stolz, mit der Welt aus eigener Kraft fertig zu werden, im Blute« lag.

An Perutz schrieb er über sich selbst, »preußischer aktiver Offizier war ich 1901-1907«, ja er forderte Perutz für die künftige Anrede kokettierend auf, ihn zu »rittmeistern«. Viele nannten ihn Baron oder schrieben an »Percyval von Reck-Malleczewen«.

Diese Sucht nach einem altpreußischen Standesnimbus ist mit Nostalgie, dem üblichen Geltungsdrang oder auch der Kompensation für den unentrinnbaren finanziellen Abstieg allein nicht zu erklären. Es war das Bedürfnis, seine Individualität, seine Erhabenheit über die Unterschiedslosigkeit des »Massen­menschen«, seine ästhetische und moralische Besonderheit noch im alltäglichsten Habitus zum Ausdruck zu bringen. 

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»Ich beschwor ihn, so zu gehen, zu schauen, sich zu geben wie alle anderen Menschen. Ich flehte ihn an, sich nur einmal zu vergessen, sich nicht immer zu beobachten und auf seine Wirkung bedacht zu sein. Wissen Sie, was er darauf sagte? Gehen, Stehen, Sitzen, Sprechen und Liegen wie andere Menschen sei ein Zeichen von Stillosigkeit. Alle Zeiten, die in Form gewesen seien, haben ihren Lebensäußerungen eine Form aufgezwungen. Es gebe kein natürliches Stehen und Gehen, Sitzen und Sprechen. Er lebe nach seinem Rhythmus und mir sei, weil ich kaum oder gar nicht lebe, jeder Rhythmus zuwider. ... 

Er wollte in einem Stil leben, den es nicht mehr gab. Er will ein Adelsleben leben, obwohl er nicht adelig ist, er, der kein Landwirt ist, will wie ein Gutsherr leben, er, der kein Soldat ist, weil er nicht gehorchen kann, spielt den Offizier, er, der aus Preußen geflohen ist, weil es ihm zu streng war, spielt, wenn er mit Bayern zusammenkommt, den Preußen und macht arglosen Preußen den Bayern vor, er will immer etwas anderes sein, weil er das, was er ist, nicht ehrlich ist. 

Wissen Sie, daß solche Menschen nicht nur sich, daß sie auch ihre ganze Umgebung zerstören?«

So beschreibt der österreichische Schriftsteller Bruno Brehm in seinem zwielichtigen Schlüsselroman über Reck, <Der Lügner>, die Einstellung von Anna, Recks erster Frau, zu ihm und seiner Eigenheit, dem wirklichen Leben auszuweichen. Brehm wurde später ein strammer Nationalsozialist und durch seine und seiner Frau Intrigen gegen Reck zu dessen verhaßtem Feind. 

Es war überaus anstrengend, die Fassade einer spielerischen und wohlhabenden Existenz aufrechtzu­erhalten. Reck hat die Täuschung und sogar die Selbst­täuschung gesucht, aber sich dennoch über das Resultat nichts vorgemacht: »Tiefe, tiefe Müdigkeit ist gekommen nach sieben Jahren grimmigen und bitterlichen Gefechts«, schrieb er 1931. Und weiter im gleichen Brief an Leo Perutz: »Alle diese hinter den Kulissen erlebten Dinge, sie bewirkten vor den Kulissen ein Theater, das man aus Scham, Scheu vor anderen der Mitwelt vorspielte, um seine Seele zu verbergen.«

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Dennoch projizierte er das Bedürfnis, sein Inneres den Blicken der anderen zu entziehen, in seine Umwelt, der er vorwarf, »daß man mit dem Rasiermesser Kartonein geschrapt und immer mich gezwungen hat, auf den Strich zu gehn und immer einen zu spielen, der mich anekelt, und daß man mir nie erlaubte, der zu sein, der ich ureigentlich bin«. 

Neben der tragisch-verkehrten Bitterkeit dieser Worte fand Reck jedoch immer wieder, zumindest auf der Oberfläche, zu seiner spielerischen Betrachtung des Lebens zurück und hielt es darin mit seinem Wiener Zeitgenossen Egon Friedell (der sich bei dem Einmarsch der Nazis in Österreich davor, daß diese auf ihre Weise Ernst machen würden, in den Tod rettete): 

»Ich verstehe unter dem ernsten Menschen den Menschen, der in der Realität befangen ist, den praktischen Menschen; und unter dem unernsten Menschen ganz einfach den geistigen Menschen, den souveränen Menschen, der imstande ist, das Leben von oben herab zu betrachten, indem er es bald humoristisch, bald tragisch nimmt, aber niemals ernst.« 

Diese Lebenshaltung und die daraus resultierende subjektive Komposition selbst elementarer Fakten war damals durchaus verbreitet, wenn nicht sogar anerkannt. In seiner Rolle wußte sich Reck daher nicht allein. Der Übergang vom mehr oder weniger zweckfreien Fabulieren und Erzählen zur gezielten Manipulation der Tatsachen im Dienste der Selbststilisierung oder einer Mission war fließend — selbst in der historischen Publizistik. 1934 etwa erschien Carl J. Burckhardts Biographie <Richelieu>, der schon die zeitgenössischen Kritiker vorwarfen, sie würde den »Boden der wissenschaftlichen Geschichts­schreibung um breiter Publikumswirkung willen« verlassen. 

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So wenig allerdings Burckhardt und andere seiner Zunftkollegen die Grenzen der wissenschaftlichen Darstellung wegen billiger Publikumseffekte überschritten, so wenig stand auch bei Recks zahlreichen Arbeiten zu historischen Themen bloße Anbiederung an den Publikums­geschmack im Vordergrund. Die Anordnung der geschichtlichen Fakten geschah nicht opportunistisch, sondern strategisch — es galt, dem Publikum die Einsicht in epochale Wahrheiten zu vermitteln, selbst um den Preis der historischen Genauigkeit und Richtigkeit. Die Wahrheiten, um deren Verbreitung es ging, waren sowieso nicht mit empirisch-wissenschaft­lichen Methoden zu verifizieren. Die Allegorie, die treffende Metapher, das geschichtliche Exempel, das die Augen öffnet, war diesen Autoren wichtiger als die historische Buchhaltung.

Recks einflußreichste Aufklärungsfibel in diesem Sinne dürfte sein Werk <Bockelson — Geschichte eines Massenwahns> sein, das 1937 erschien und auch in seinem Tagebuch erwähnt wird. Er schildert darin die Machtergreifung der Wiedertäufer in Münster und die rund zwanzig Monate andauernde, in immer grausamere Exzesse treibende Herrschaft Bockelsons, die mit der Einnahme der Stadt und der Exekution der Hauptverantwortlichen im Juni 1535 endete. Tatsächlich benutzte Reck das Regiment der Wiedertäufer nur als Vexierbild, in dem der kundige Leser mühelos die paradigmatischen Elemente und Entwicklungs­gesetze der totalitären Herrschaft seiner, der nationalsozialistischen Zeit, entdecken konnte.

Wer daher Recks <Bockelson> an der historischen Figur des 16. Jahrhunderts mißt, verfehlt die Aussage und erst recht den agitatorischen Zweck des Werks vollkommen. Wie auch in der Inszenierung seines eigenen Lebens war die Mischung von Wahrheit und Fiktion nicht nur legitim, sondern aus Gründen der Abwehr einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt sogar geboten.

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Die falsche Welt nötigt zur Umdeutung ihrer Faktizität. So war auch das Bild, das er anderen von sich vorzumachen versuchte, keine simple Angeberei, keine Lüge, sondern, in seinen Augen, die angemessene Verhüllung einer unangemessenen Wahrheit. 

»Nach meiner Theorie wird jede Täuschung, der keinerlei höhere Wahrheit zugrunde liegt und die nichts ist als bare Lüge, plump, unvollkommen und für den erstbesten durchschaubar sein. Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg und lebensvolle Wirkung unter den Menschen, der den Namen des Betrugs nicht durchaus verdient, sondern nichts ist als die Ausstattung einer lebendigen, aber nicht völlig ins Reich des Wirklichen eingetretenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, deren sie bedarf, um von der Welt erkannt und gewürdigt zu werden.« 

Dieses Leitmotiv Felix Krulls war zwar frivoler gemeint, als es Reck für sich reklamiert hätte, aber es trifft den Punkt, um den sich Recks Schreiben und seine Selbstdarstellung gedreht haben.

   

    5  Freunde    

 

In dem politischen Milieu, in dem Reck sich bewegte und in dem der Antisemitismus beinahe von Tag zu Tag aggressiver wurde, war es fast schon ein Akt der Solidarität und Unerschrockenheit, an jüdischen Freunden festzuhalten. Zu Recks Bekannten und Freunden gehörten nicht wenige von jüdischer Herkunft. Die antisemitische Einstellung seiner konservativen Gesinnungsgenossen hat er nie geteilt; judenfeindliche Äußerungen von ihm gibt es nicht.

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Er hat allerdings, soweit ersichtlich, an keiner Stelle seiner Kritik der Nationalsozialisten eine grundsätzliche Verurteilung ihres Judenhasses und ihrer Judenverfolgung einbezogen. Auf dieser prinzipiellen Ebene schien er vielmehr, wie die Passage seines Tagebuchs über die Kristallnacht zeigt (Seite 80f.), zu schwanken zwischen dem bloßen Vorwurf falschen taktischen Verhaltens (Hitler provoziere durch das Pogrom unnötig das Ausland) und der erschütterten Teilnahme an dem Elend und dem Grauen, das die tödliche Hetze für die Opfer bedeutete.

Einer seiner Bekannten war der Mathematiker und Schriftsteller Leo Perutz. Wenn es nach Reck gegangen wäre, hätte er ihn gerne als Freund gewonnen; seit 1926 hatte er sich darum bemüht, doch das Verhältnis von Perutz zu ihm blieb, so freundlich dieser ihm auch begegnete, eher distanziert. Recks wiederholten Einladungen zur Faltbootfahrt mit Biwak oder zum Skifahren in St. Moritz widerstand er hartnäckig, doch man traf sich regelmäßig, in München, in Wien oder am Wolfgangsee, und mit Unterbrechungen blieb der briefliche Kontakt bis kurz vor Perutz' erzwungener Emigration im Jahre 1938 bestehen. Daß Perutz Jude war, wurde in dem Briefwechsel niemals thematisiert.

Befreundet war Reck mit Max Mohr, Arzt und Schriftsteller wie er, Bekannter auch von Thomas Mann. Mohrs Komödie <Improvisationen im Juni> wurde seit 1922 an fast allen wichtigen deutschen Bühnen, selbst im Ausland, aufgeführt, sein Theaterstück <Ramper> mit Paul Wegener verfilmt. Seine Honorare jedoch, die ihn zu einem reichen Mann gemacht hätten, fielen der Entwertungsmaschine der Inflation zum Opfer. 

Vor allem aber hatte er mit Reck die radikale Ablehnung der Moderne gemein, auch wenn er die Akzente völlig anders setzte.

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Nicht zufällig war D.H. Lawrence das große Vorbild Mohrs, den er selbst noch 1929 ärztlich betreut hatte (vergeblich, wie beide wußten). »Genau wie D. H. Lawrence«, charakterisierte ihn später ein anderer Freund, »war er fest davon überzeugt, daß die westliche Zivilisation des 20. Jahrhunderts das Ursprüngliche abtöte, und er sagte sich so weit von ihr los, wie es jemand kann, der kein Vermögen geerbt hat und für sich selbst, seine Frau und ein Kind sorgen muß.« 

Doch im Unterschied zu Reck hat Mohr daraus keine politische Lehre abgeleitet und verkündet. »Es gebe keine Lösung«, zitierte ihn jemand, »die Welt gehe zur Hölle, das wolle sie auch, und es sei ganz sinnlos, den Versuch zu machen, sie daran zu hindern.« - 1934 floh er ohne seine Familie nach Shanghai, dem Exilort vieler österreichischer Juden. Er arbeitete dort als Arzt und starb 1937 an einem Herzanfall. Die Verbindung Recks zu ihm war - wie aus dem Tagebuch hervorgeht - schon vorher abgebrochen.

 

Eine seltsam symbiotische, intrikate und zuletzt verhängnisvolle Beziehung unterhielt Reck über viele Jahre zu seiner ersten Sekretärin, Irma Glaser. Sie war ebenfalls »mosaischen Glaubens«, zwei Jahre jünger als er, 1913 aus Ungarn über Wien nach München gekommen und seit 1917 in den Haushalt der Familie eingegliedert. Die gelernte Buchhändlerin war Reck bald unentbehrlich durch ihre Kenntnisse, ihre Schreibarbeiten, dann aber auch durch ihr organisatorisches Geschick in Finanz­angelegenheiten und schließlich durch ihre intime Vertrautheit mit seinem »wahren« Leben, seinem Rollenspiel und seinen Absichten. 

Alle Anzeichen sprechen dafür, daß Irma Glaser ihm aufrichtig zugetan war. Ob er die Zuneigung ebenso loyal erwiderte, ist zweifelhaft. Jedenfalls war sie nach allem, was berichtet wurde, emsig bestrebt, die Schwierigkeiten seines Charakters im Umgang mit anderen Menschen auszugleichen.

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»Eine höhere Hand stellte mich alten Egoisten an die Seite eines Wesens, das eine Heilige und nicht von dieser Welt war«, schüttete er drei Jahre nach ihrem Tod gegenüber Leo Perutz sein Herz aus:

»Ich habe ahnungslos, kraft einer virtuosen Verhüllungstechnik der Toten, über manchem Abgrund gelebt, von dem ich nicht wußte; ich habe manche persönliche Rechnung bitterlich bezahlen müssen, die sie hinterlassen hatte — niemals werde ich, wenn nicht anders ein Wunder geschieht — erfahren, wer sie so finanziell ausgenützt hat, daß sie, der sauberste, selbstloseste und uneigennützigste Mensch sich gezwungen sah, meine reichen, überreichen Mittel immer wieder zu vertun. Ich weiß heute, daß ein großer Teil — vielleicht aus Schuldgefühl — an meine mit 1000 Mark im Monat wahrhaft reich dotierte erste Frau wanderte, ich fürchte, sie hat (im Besitze notarieller Vollmacht, die ich arglos gab) die also gerissenen Löcher dadurch zu stopfen versucht, daß sie hinter meinem Rücken mit meinen Mitteln spekulierte und sie verspekulierte. ... 

Nicht ein bitterlicher Gedanke, nur unendliche Segenswünsche sind ihr von meinem Herzen aus gefolgt, und gesegnet sei jeder Tag, an dem ich sie sah. Gesegnet sei selbst das bitterlich Schwere, das sie mir antat — wie hätte ich, der ich bei ihrem Kommen ein dummer Junge war, ohne sie ein Mensch werden können? Sie führte mich auf Schritt und Tritt hinters Licht, im Ehrengericht fiel aus dem Munde eines nahen Bekannten, der ihr sehr wohl will, das Wort <Reck war der bestbelogenste Mensch, den ich kenne, ich habe, solange ich ihn kenne, ihn ahnungslos eingesponnen gesehn in ein Netz von Lüge und Intrigue.>  - Ja, so mag es wohl gewesen sein, und ich zweifle nicht, daß ich auch heute noch nicht alles weiß. Sehn Sie, und was wiegt das alles? Es wiegt nur Segen, Dank und diesen einen Willen <Ach könnte ich doch werden, wie Du gewesen bist>.« 

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Irma Glaser starb im April 1933. »Tod durch Erstickung« lautet der Eintrag im Polizei-Meldebogen. Reck selbst ging davon aus, daß Irma Glaser Selbst­mord begangen hatte. In seinem Nachruf »Vale, carissima« schrieb er: 

»Du aber, mein fremdes Mädchen, bist fortgegangen. Du bist gegangen und hast hinter Dir die Tür zugeschlagen, hinter der die großen Geheimnisse wohnen. Weißt Du, daß man eifersüchtig sein kann auf den Tod, wie auf einen fremden Mann, der einem die Geliebte fortgenommen hat?« 

Ihr Tod versetzte ihm einen schweren Schlag. Und zu allem andern beschuldigte man ihn auch noch, für ihr Schicksal und ihren Tod verantwortlich zu sein. Irma Glaser hatte eine außergewöhnlich hohe Lebensversicherung abgeschlossen; es scheint, daß er der Begünstigte war. »Die trübste Erfahrung, die ich im Jahre 1933 habe machen müssen, war die, daß von zehn Freunden keine fünf Stich gehalten haben und daß sich an dieser — um Vergebung — Schweinerei alles beteiligt hat, was sich einmal mit der Bitte um Gefälligkeiten an mich gewandt hat.« 

Er, der schon lange mit dem Argwohn der Leute konfrontiert war, mußte nun damit fertig werden, daß sie ihn nicht nur der Unehrlichkeit und Verstellung, sondern sogar der lebenszerstörenden Gemeinheit für fähig hielten:

 »... daß Chadrachallas [Kosename Irma Glasers] Tod mir schließlich den einzigen Menschen auf Gottes Welt nahm, daß er unter Umständen erfolgte, die für mich nach wie vor ein großes Loch voller Nebel sind, daß ihm Dinge folgten, die auf einen feigen, niederträchtigen Anschlag auf mein Leben, meinen Besitz, meine persönliche Ehre und meine Freiheit hinausliefen ...« 

Die näheren Umstände ihres Todes wurden nie geklärt. 

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    6  Weltanschauung   

 

Recks Weltanschauung könnte man als eine »Biologie des weißen Niggers« beschreiben. Mit irgendeinem Rassismus hatte seine Einstellung jedoch nichts zu tun; eine politische Naturkunde hatte er nicht im Sinn. Für ihn, den elitären Einzelgänger, war der »weiße Nigger« vielmehr das verachtenswerte Erscheinungsbild des modernen menschlichen Daseins schlechthin, der durchtypisierte Massenmensch, der »selbst nur noch Serienarbeit und Fabrikware« ist. 

»Masse ist«, definierte Ortega y Gasset in seinem für Reck außerordentlich wichtigen Buch <Der Aufstand der Massen> (das 1930 erschienen war), »jeder, der sich nicht selbst aus besonderen Gründen — im Guten oder im Bösen — einen besonderen Wert beimißt, sondern sich schlechtweg für Durchschnitt hält, und dem doch nicht schaudert, der sich in seiner Haut wohl fühlt, wenn er merkt, daß er ist wie alle.« Der Massenmensch begnügt sich mit sich, der Angehörige der Elite fordert sich und stellt sich in den Dienst einer höheren Norm. 

Solche höheren Gebote waren für Reck die Grundlage der Kultur. Wo sie fehlen, sei menschliche Kultur nicht möglich. 

»Es herrscht im genauesten Sinn des Wortes Barbarei. Und Barbarei ist es, geben wir uns keinen Täuschungen hin, die dank der zunehmenden Aufsässigkeit der Massen in Europa anzubrechen droht. Der Reisende, der in ein barbarisches Land kommt, weiß, daß dort keine Bindungen gelten, auf die er sich verlassen kann. Barbarei ist die Abwesenheit von Normen und Berufungs­instanzen.«

Als Heimat des weißen Niggers sah er in erster Linie England und Nordamerika — die angelsächsische Welt. Der niedrige Lebensstil dieser von ihm erkannten sozialen Spezies....

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».... hätte morgen wie die Pest auch für Deutschland kommen können, wenn das Tempo unserer Verwestlichung angedauert und wenn der letzte Rest der chaotischen deutschen Seele sich aufgelöst hätte in Kanal­schwimmerei, Weekendfreuden und Weiber-Regime. Wohl mögen die Signa angelsächsischen Lebensgefühls, Hebung des Lebensstandards, horizontale Verteilung der Kulturgüter, die scheinbare Überbrückung sozialer Gegensätze durch Propagierung <Smokings für alle> ..., wohl mag das alles Köder sein für den europäischen Großstadtpöbel ...«

Wie alle Kulturkonservativen seiner Zeit hatte er dabei durchaus nicht nur den Niedergang menschlicher Würde und die Auflösung der alten Rangordnungen vor Augen, sondern vor allem das eine Subjekt, dessen innere Größe und Souveränität ihnen wichtiger war als alles andere, nämlich den Staat — etwa entsprechend Mussolinis Motto: »Alles für den Staat; nichts außer dem Staat; nichts gegen den Staat«. 

Doch im Unterschied zu dem oberflächlichen Optimismus Mussolinis und der Faschisten war es für Reck seit langem die Frage, ob der Staat, um den es ihm ging, überhaupt noch existierte: 

»Was aber sind Staaten? Doch nicht wirtschaftliche Zweckverbände und Amüsierbureaus für weiße Nigger! Geschichte kann gar nicht >gut< ausgehen ... weder die von Einzelmenschen, noch die von Familien, noch die von Staaten. Weil Tragik aus dem Erdendasein des Menschen nicht wegzudenken ist, und ein Leben ohne Leid auch ohne Tiefgang wäre und ohne Heldentum.«

Voller Geringschätzung apostrophierte er deshalb die Weimarer Demokratie und den modernen Steuerungs- und Sozialstaat als »Firma«, dessen banale, in Mark und Pfennig zu bewertende Verteilungspolitik ihm nur der augenfällige Beweis der Auflösung von historischer Autorität und Staatshoheit war. 

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In einem ganz anderen Sinn, als der Begriff der posthistoire heute gebraucht wird, bedeutete dieser Verfall für ihn wie für die übrigen Untergangspropheten um Oswald Spengler, mit dem sich Reck über viele Jahre auseinandersetzte, das Ende der Geschichte, zumindest der abendländischen. Denn menschliche Geschichte war für sie nicht die Summe der Schicksale von Individuen, sondern »die Geschichte politischer Mächte«, deren einzige legitime Gestalt und handlungsfähige Einheit, wie es Spengler in seinem Spätwerk <Jahre der Entscheidung> 1933 noch einmal beschwörend proklamierte, der Staat sei.

Dabei identifizierten sie den Staat, dem sie nachtrauerten und der ihnen als der wahre Akteur der heroischen Kämpfe und Dramen der Geschichte erschien, nicht mit dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts, sondern mit jenem, der spätestens mit dem (monarchistischen) Staat des 18. Jahrhunderts untergegangen ist. Die Traditionslinien, auf die sich die Nationalsozialisten einerseits und die Kulturkritiker wie Reck und Spengler andererseits beriefen, trennten sich daher an dieser historischen Wasserscheide mit unüberbrückbarer Deutlichkeit. Ein Nationalismus, noch dazu einer, der als Massenbewegung organisiert ist und von hier seine aggressive Energie gewinnt, hatte in ihrem Weltgebäude keinen Platz. Nation, das war die Masse, formlos und ohne inneren Aufbau, herrenlos und ohne Ziel — der Staat hingegen war »reiche innere Gliederung« und Form, in der sich Geschichte allein auf achtbare Weise verwirklicht.

 

Der Sündenfall, der den endgültigen Verfall des Staates manifestiert, drückte sich in ihrer Sicht vor allem darin aus, daß in der Demokratie dem wirt­schaft­lichen System (dem schon an sich verhaßten Kapitalismus) der Primat vor dem politischen System eingeräumt wurde. Damit war den »weißen Niggern« unweigerlich Tür und Tor geöffnet, staatliches Handeln notwendig zu einem Tummelplatz für politischen Dilettantismus verkommen und das ehemalige, hehre Subjekt der Geschichte ausgeliefert an »Gruppen von Geschäftspolitikern zweifelhafter Moral: Journalisten, Advokaten, Börsianer, Literaten, Parteifunktionäre« (Spengler).

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Und Amerika war dafür das schlimme, das negative Vorbild. Graf Hermann Keyserling hatte ebenfalls 1930 seine Studie <Amerika. Der Aufgang einer neuen Welt> herausgebracht. Auch er kritisierte — und darin ist er, nicht anders als Reck, nur ein Beispiel für den in Deutschland schon lange verbreiteten Antiamerikanismus — den »Dollarkult« und die Gefahr, »daß Amerika so etwas wie ein riesiger Ameisenhaufen werden könnte«. Doch im Gegensatz zu Keyserling, der neben dieser von ihm vorausgesehenen Dekadenz immerhin auch besondere Vorzüge des amerikanischen Lebens hervorhob und am Ende gar zu dem Schluß kam, daß auch die umgekehrte Möglichkeit bestehe und »die Vereinigten Staaten dermaleinst eines der größten historischen Vorbilder sozialer und ökonomischer Ordnung darstellen« könnten, symbolisierte Amerika für Reck ausschließlich die gesellschaftliche, jeglichen Individualismus bedrohende Nivellierung und die gleichmäßige Unterwerfung aller unter das »technisch-mechanistische Zeitbild«.

Für kurze Zeit sah er im Nationalsozialismus die Kraft, die die überwältigende Gefahr der Verniggerung bannen würde (so wie Heidegger seinen Kultur­pessimismus zunächst als endgültiges Urteil begründet hatte, dann aber — vorübergehend — dem Dritten Reich doch die große geschichtliche Wende zutraute). Diese Hoffnung zerbrach jedoch schon bald. 

1934 rief er in seiner Denkschrift <Acht Kapitel für die Deutschen> zur Eile auf, weil Europa keinen Grund mehr zur Überheblichkeit habe:

»Noch zehn Jahre Amerikanisierung, noch zehn Jahre Verniggerung, noch zehn Jahre Weiberregiment, und wir wären bei genau den gleichen Zuständen [wie in Amerika] angelangt.« 

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1936, als er mit dem Tagebuch begann, war die erste Hoffnung dann längst in Enttäuschung, ja in einen abgrundtiefen Haß umgeschlagen. Kaum einer der anderen Staats- und Kulturkonservativen, die auf das Dritte Reich gesetzt hatten, entwickelte nachher einen derartigen beispiellosen Haß auf die neuen Machthaber wie er.

Der Ausdruck »Weiberregiment«, den er regelmäßig zur Erläuterung der <Nigger>-Herrschaft heranzog, stand natürlich nicht für eine empirische Beobachtung. Er griff das alte antidemokratische Ressentiment auf, das seit dem 19. Jahrhundert unter den Gegnern republikanischer Ziele fest verankert war und noch in Thomas Manns <Betrachtungen eines Unpolitischen> seinen Niederschlag gefunden hatte (»man versteht sich kaum auf Demokratie, wenn man sich auf ihren femininen Einschlag nicht versteht«) und das die Demokratie als eine weibische Regierungsform zu denunzieren pflegte. 

Die »Vaterordnung« (Mitscherlich) des Kaiserreichs wurde durch eine demokratisch-permissive Gesellschafts­ordnung abgelöst, die — so belegt es auch die zeitgenössische Literatur, Wedekind, Hesse etwa — mit einem Herrschaftsverlust des Mannes assoziiert wurde, der kollektive Ängste und Sehnsüchte nach der »Großen Mutter« freisetzte. Der »Führer« mit seinen repressiven Herrschaftssystemen beendete diese »Amerikanisierung« mit einem »Weltfest des Todes«. 

Schon früh war die Gleichung angefügt, weibisch »und daher Undeutsch«. Auch sie wurde, wie etwa durch den Philosophen und späteren national-sozialist­ischen Anhänger Alfred Baeumler, Anfang der 30er Jahre zum herrschenden Stereotyp.

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Mit ihr wurde nicht nur auf den alten Gegensatz von männlich-heroischer Entschlossenheit und weiblich-feiger Hysterie angespielt, sondern auch auf die traditionelle Dichotomie von deutscher romantischer Persönlichkeit und pragmatisch-demokratischem Individuum, von tiefer germanischer Kulturidee und flacher französischer Zivilisation, von westlicher Gesellschaft und deutschromantischer Gemeinschaft.

 

Es war deshalb kein Wunder, daß Reck wie viele dieser Denkungsart das Ende von Weimar und die »gegenwärtige Abkehr vom liberalistischen Zeitalter und vom Kapitalismus« zunächst begrüßt hatte. Doch ebenso verbreitet war es unter seinesgleichen, daß das anfängliche Wohlwollen für das national­sozialistische Regime rasch einer gewaltigen Ernüchterung wich. Spengler, der im National­sozialismus anfangs ebenfalls ein »mächtiges Phänomen« erblickt hatte, verlor sehr bald jegliche Illusion und kritisierte öffentlich den gewalttätigen Antisemitismus Hitlers und seiner Partei. Keiner der Prominenten wie Jünger, Schmitt oder Heidegger stand zwar nachher offen gegen die nationalsozialistische Herrschaft auf, aber keiner von ihnen zählte von einem bestimmten Zeitpunkt an zu ihren bedingungs­losen Parteigängern.

Reck war insofern keine Ausnahme; allenfalls in seiner rabiaten Abrechnung mit den kurzfristigen Hoffnungs­trägern stand er allein. Schon sehr bald wähnte er sich und die Deutschen als Gefangene einer »Herde böser Affen«. Statt der erhofften Abkehr vom degradierten Massenmenschen maßte sich ein besonders lächerliches Exemplar an, sie erst recht zu kümmerlichen Lakaien seiner Geltungssucht herabzuwürdigen. 

»Die Deutschen, wie sie sind, benötigen des Herrn. Freilich, er muß anders aussehen als dieser <Allergnädigste Zigeunerprimas>, den uns das Schicksal in unserer kritischsten Stunde bescherte.«

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Die Nazis setzten, noch dazu auf demütigendere Weise denn je, die ökonomische und politische Nivellierung fort, zu deren Aufhebung sie von vielen auf den Schild gehoben worden waren. Das Hitlerregime erwies sich »durchaus als gewaltsamer Versuch zur Lebensfristung des Massenmenschen« (Tagebuch Seite 57).

Das Grundübel - die Entwicklung zum entmündigten Massenmenschen - hatte nach Reck bereits im Spätmittel­alter eingesetzt. Dort fand der große historische Bruch, die Vertreibung aus dem Paradies statt. Damals entstand das technisch-mechanistische Zeitalter, »als der homo religiosus des Mittelalters ausstarb und ersetzt wurde durch den sachlichen Menschen der Renaissance. Erst dieser <sachliche> Mensch interessierte sich für die <Verbesserung> seiner Lebensumstände.« 

Das faustische Streben nach Fortschritt konnte nur zu der alles verderbenden Materialisierung des Lebens führen. Bis zu dieser historischen Zäsur war selbst das Abendland nach Reck noch mit der »Placenta des Magischen« verbunden, doch mit dem selbstherrlichen Akt der Abnabelung von seiner Herkunft begann jene die westliche Zivilisation hervorbringende scheinbare Neuerschaffung, in Wahrheit aber verhängnisvolle Selbstauslieferung des Menschen an seine niedrigen instrumentellen und kommerziellen Triebe.

»Aus der in der Renaissance erfolgten Lockerung des gotischen Weltbildes ergibt sich der Enzyklopädismus, aus dem Enzyklopädismus die französische Revolution mit ihren beiden Kindern Liberalismus und Plutokratie«, schrieb er in Ernst Niekischs Zeitschrift <Widerstand> im Jahre 1933. 

Niekischs Position hat er sehr geschätzt und mehrfach für dessen Zeitschrift gearbeitet. Auch die eigenwillige politische Sympathie Niekischs für die Entwicklung in Rußland kam seiner eigenen Schwärmerei für die historischen Erneuerungskräfte, die er in der russischen Kultur auszumachen glaubte, entgegen, auch wenn er den prosowjetischen Nationalbolschewismus von Niekisch nicht teilte.

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Die gegenseitige Wertschätzung wurde dadurch untermauert, daß Niekisch auch mit Ernst und Friedrich Georg Jünger gut bekannt war, die ebenfalls an seiner Zeitschrift mitwirkten; außerdem kannte er Carl Schmitt, von dem er sich allerdings bald distanzieren sollte. (Niekischs Zeitung wurde 1934 verboten, sein Versuch, Widerstandszellen aufzubauen, scheiterte, und er kam 1937 in Haft, die er jedoch überstehen konnte. Nach dem Ende des Krieges lebte Niekisch in Ost-Berlin, das er nach dem 17. Juni 1953 verließ.)

Mit seiner Geschichtstheorie und der Identifizierung des ersten Übels mit dem Aufkommen der Renaissance war Reck daher keineswegs isoliert. Sie war vielmehr über den Kreis um Niekisch hinaus Gemeingut der »konservativen Revolution«. 

Mit hoher Wahrscheinlichkeit kannte Reck den Vortrag von Hugo von Hofmannsthal, den dieser im Münchner Auditorium Maximum 1927 über das <Schrifttum als geistiger Raum der Nation> gehalten hatte. Hofmannsthal unternahm es, die geradezu herkulische Aufgabe der konservativen Revolution zu beschreiben, die sich noch über die Notwendigkeit hinaus, nur eine Gegenaufklärung zu bewirken, vor das Problem gestellt sah, das Rad der Geschichte um gute vierhundert Jahre zurückzudrehen, da der einzuleitende restaurative Prozeß...

»...eigentlich anhebt als eine innere Gegenbewegung gegen jene Geistesumwälzung des 16. Jahrhunderts, die wir in ihren zwei Aspekten Renaissance und Reformation zu nennen pflegen«.

Aber auch viele andere, Edgar Julius Jung etwa, glaubten sich an dem gigantischen Werk beteiligen zu müssen, eine Epoche zu beenden, die seit Jahr­hunderten fatale Folgen für das Abendland gebracht habe: 

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»Aus dem demütigen Geschöpfe Gottes wird der Herr der Schöpfung. Mit faustischem Drange durchpflügt er die Weltmeere, entdeckt neues Land, hebt die Schätze der Erde, findet Naturgesetze, macht sich die Naturkräfte Untertan. In rasendem Zeitmaße verändert die Erdoberfläche besonders in den letzten 150 Jahren ihr Aussehen, ein neuer technischer Zustand hebt an, grundverschieden von dem, wie er mehrere Jahrtausende hindurch bestand. Der Sinn des Lebens tritt zurück hinter der Suche nach den letzten Ursachen allen Lebens . . . Das geht so lange, bis die letzten metaphysischen Stützen, Erbstücke des christlichen Mittelalters, im sozialen Gebäude der abendländischen Menschheit morsch werden und zerbrechen . .. Zwei Revolutionen laufen deshalb in Deutschland nebeneinander her: eine, die den letzten Rest bester europäischer Tradition vernichten möchte in einem formlosen Kollektivismus; und eine andere, die nichts ist als Auf« stand des Blutes gegen das Geld, des Menschen gegen den Apparat, der Würde gegen die Sklaverei.«

Jung war es dann auch, der die Grunddefinition der anstehenden Revolution geben wollte: 

»Konservative Revolution nennen wir die Wiederinachtsetzung all jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammen­hang mit der Natur und Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. An Stelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, an Stelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft, an Stelle der mechanischen Wahl das organische Führerwachstum, an Stelle bürokratischen Zwangs die innere Verantwortung echter Selbstverwaltung, an Stelle des Massenglücks das Recht der Volkspersönlichkeit.«

Auf die Unterscheidung zwischen »Volkspersönlichkeit« und »Nation« kam es ihnen an. Es verträgt sich darum durchaus mit dieser Definition, daß Jung, Reck, Spengler und andere Befürworter der Revolution jeglichen Nationalismus ablehnten. Volkspersönlichkeit war der alte Bezugspunkt für Schicksal und Aufopferung, Nationalstaat hingegen eine Ausgeburt der Aufklärung und der Französischen Revolution.

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»Noch einmal«, betonte Reck mit aller Vehemenz, 

»sei hier gesagt, was heute in Deutschland nicht laut genug gesagt werden kann: daß man <Vive la nation> zum ersten Male bei den französischen September­morden schrie, als Frankreich Asphalt wurde und als es sich abnabelte von seiner Landschaft: Noch einmal sei gesagt, daß ... nicht die Vaterlandsliebe, wohl aber der Nationalismus zum großen Bezirk des französischen Liberalismus gehört, daß er auf die Dauer für sich allein einen Staat nicht tragen kann, weil alle wirklich staatstragenden Ideen ungreifbar und unfaßbar und niemals <von dieser Welt> sind.«

   

    7  Öko-Fundamentalist   

 

Die Ausbreitung und Diktatur des Massenmenschen, des weißen Niggers, schien Reck ohne die Entwicklung der Technik undenkbar. Deshalb waren Technikkritik und Insistieren auf einem »ursprünglichen« Leben für ihn zentral. Vielleicht das aus heutiger Sicht markanteste Element des sich ins Spätmittelalter zurücksehnenden »Verzweifelten« und seines Unbehagens, wenn nicht Ekels vor der gesamten neuzeitlichen »Modernität« ist seine Haltung zur Natur. 

Mit jetzigem Vokabular würde man ihn - ließe man seine Ablehnung der Demokratie einmal außer Betracht - als <fundamentalistischen Ökologen> bezeichnen. Reck stellte nicht nur die inzwischen übliche Frage nach dem Überleben der Natur, sondern spitzte sie in der ihm eigentümlichen Radikalität zu, indem er bezweifelte, ob »diese Technik sich darauf beschränkt, das Antlitz der Erde sichtbarlich zu verändern, Tierrassen und Teile der Flora auszurotten«, da sie offenbar längst darauf ausgelegt ist, sich auch ihres Urhebers zu bemächtigen:

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»Widerspruchslos hat sich bislang der Mensch um seine natürlichen Instinkte bringen lassen (wie viele Menschen haben draußen, in freier Natur, noch die natürliche Witterung für Änderungen der Umgebung, für Wetterumschläge, für frühen oder späten Winterbeginn, für das Nahen eines unsichtbaren Wanderers?) — widerspruchslos also hat sich der Mensch um die Periodizität seines körperlichen Lebens, seine natürlichen Ruhepunkte bringen lassen und scheinbar widerspruchslos sieht er zu, wie seine Physis verkümmert und er jenem unausbleiblichen Stadium entgegengeführt wird, wo er, in der Hyperbel gesprochen, statt der Beine nur noch kümmerliche Auswüchse zum Bedienen einer Automobilkuppelung wird vorweisen können. Das alles hat die Menschheit willig über sich ergehen lassen und duldet heute noch, daß die Technik für das verlorene Paradies sie durch Surrogate entschädigt.«  

Der Widerspruch zwischen Natursymbolik und biologischer Romantik auf der einen Seite, auf der anderen die gleichzeitige Verherrlichung des modernen technologischen Fortschritts, der die Essenz der faschistischen Ideologie bildete, war für Reck einer der unerträglichen Makel der nationalsozialistischen Politik und nur ein weiteres Zeichen ihrer Verlogenheit. Die Anbetung der neuen Götter, der omnipotenten Energien, der Maschinenkräfte und der Motoren, ohne deren Verehrung weder die zunehmende politische Bedeutung der Industrie noch die Weimarer Republik oder das Dritte Reich vorstellbar waren, haßte er ebenso wie die daraus folgende »Ubiquität des uns heute zur Verfügung stehenden Verkehrsmittels, die Überwertigkeit des vom Verbrennungs­motor vermittelten ständigen Ortswechsels samt der aus Radio, illustrierten Magazinen und modernem Schulbetrieb resultierenden Scheinbildung«. 

Sein Pamphlet <Das Ende der Termiten>, das wie das Tagebuch erst postum veröffentlicht wurde, ist eine einzige Streitschrift wider diese Kommunikations­mittel.

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Aber seinen Abscheu vor der Suprematie von Wirtschaft und Technik und ihren destruktiven Konsequenzen begründete er nicht nur mit einem nebulösen Naturbegriff, sondern auf der Grundlage einer Art politischer Geographie im elementarsten Sinn des Wortes. Menschliche Politik, war seine Ansicht, müsse sich aus der Landschaft ableiten, auf deren Bewohner sie sich auswirke.

»Konservativ sein aber heißt nichts anderes, als Geschichte als Funktion einer gegebenen Landschaft auffassen. Da nun aber die Landschaft das heute Verfolgte, das Vernachlässigte und Unterdrückte ist und da das heute legitime Manchestertum nichts so haßt wie die Landschaft, so heißt unter den heutigen Umständen konservativ sein nichts anderes als revolutionär sein.«

Landschaften, besonders die der Masuren, hat er deshalb, anders als bloße Heimatdichter und frömmlerische Naturliebhaber, mit einer ganz besonderen Affinität beschrieben. Zwischen Pathos, Sentimentalität und Verklärung, die auch er nicht vermied, suchte er in seinen Darstellungen offenbar etwas von dem festzuhalten, was nach seiner Auffassung womöglich der Urgrund aller politischen Entscheidung sein müßte: 

Es....

»brannten dort vor den geschnitzten Giebeln masurischer Bauernhäuser die Geranien, kletterten derbe Bauernblumen hinauf bis zu den Pferdeköpfen der Firste, trieb in die freundlichen Gassen der Herbstwind den süßen Duft reifender Kartoffelfelder und mit ihm ... immer die Lust zu fröhlicher Rebhuhnsuche hinter der wehmütig-goldenen Pracht unseres Herbsthimmels .... Hinter dem Hügel liegt ein kleiner See, abgrundtief. Einer von unseren tausend. Unter den Buchen ringsum liegen riesige Steine. <Opfersteine> sagt der Volksmund, <Götterhain> flüstert eine uralte Sage. ... Das nächste Dorf, eingebettet in weite, weite Torffelder, versinkend unter dem Horizont der Riesenebene ... Kinder spielen und über das Feld ... brennen die roten Farbtupfen der Weiberröcke.«

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Und über das Festhalten wehmütiger Erinnerungen hinaus trug er in die jeweilige Natur ein eigenes politisches Programm. 

»Die deutsche Landschaft aber war nie die einer Parlamentsherrschaft und einer Herrschaft des juste milieu. Sie ist es nicht einmal dort, wo sie, wie in gewissen Strichen Sachsens, verschandelt und verfälscht ist durch den Wirtschafts­liberalismus. Sie wird es auch nie werden — mit ihren weit hinausgeschobenen Horizonten wird sie sich immer wieder ihre formal unzulänglichen und zum Hunger der Seele geborenen Menschen gebären.« 

Der ewige Hunger der Seele sei es auch gewesen, der »in dieser Landschaft die unabänderliche Grundlage abgibt für das deutsche Königtum«.

Die Verknüpfung von heimatlicher Landschaft und politischer Sehnsucht war allerdings keine Erfindung Recks, sondern ein überkommener deutscher Mythos, dessen angeblich germanischen Ursprung man stets begründen wollte. Weniger das »Blut«, aber doch den »Boden« teilte Reck daher mit der aus denselben Quellen schöpfenden nationalsozialistischen Ideologie, auch wenn sie für seine subtilere politische Geographie keinen Sinn entwickelte und nicht die geringsten Hemmungen besaß, den geheiligten Boden mit Autobahnen, stählernen Werken, Raffinerien und Akkordbändern ihrer technologischen Modernisierungs- und Autarkievisionen zuzudecken.

285


Alle die, die sich wie Reck zur »unverdorbenen« Natur hinwendeten oder die, wie der Wandervogel, gar die »ethische Erneuerung in der Natur« propagierten oder die einfach, wie etwa zunächst Hermann Löns und seine Anhänger, die noch vorhandene Natur schützen wollten, standen in heftiger und grundsätzlicher Opposition zur industrialisierten Gesellschaft und ihrem sozialen und ökonomischen Strukturwandel. Keiner dieser Gegner erzielte deshalb einen nennenswerten Einfluß auf die herrschende Politik — nicht nur der Weimarer Republik, sondern auch, wie man weiß, danach bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts. Vor allem die Nationalsozialisten dachten gar nicht daran, ihrem Bekenntnis zur »deutschen Natur« Taten folgen zu lassen und dem Naturschutz wirkliche Geltung zu verschaffen.

 

Recks Position verfiel im Dritten Reich zwangsläufig der haltlosen Idylle. Sein 1925 erworbener Hof im Chiemgau wurde darum für ihn nicht nur zum Refugium, sondern zugleich zur Verkörperung der Unverdorbenheit von Landschaft und Natur und damit zur Kompensation für seine Hilflosigkeit angesichts des rasend um sich greifenden technologischen »Fortschritts«: 

»Ein Feldweg, vielfach gewunden und nicht unbeschwerlich, stellt vom nahen Chiemsee her die einzige Zufahrtsstraße dar, ein uraltes Steinkreuz aus Nagelfluh, halb versunken im Erdboden und höchst eindrucksvoll, steht am Feldrain und bezeichnet die Stelle, wo anno 1640 einer der Vorbesitzer, ein Herr von Ruestorf, von Unbekannten erschlagen wurde. >Poing / ein alt Gemäuer in großer Einsamkeit< heißt in einem bayerischen Wanderbuch dieser Edelsitz. Die Einsamkeit kann gern bestätigt werden, die Düsterkeit, die sich mit >alt< und >Gemäuer< verbindet, keineswegs. Umgeben von dem atlasblauen Geschmeide des Alzstromes liegt der Hof mit den bunten Mauerwappen und dem satten Rot des herbstlichen Weines wie ein kleines. Juwel. 
>Poing< heißt es heute, >Peugen< ...

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Strombeuge oder Alzstromknie heißt er in den mittelalterlichen Urkunden, weil die Alz einen weiten Mäander um ihn gelegt hat. 
Die Grafen von Truchtlaching, die ihn vor sechshundert Jahren bauten, schlafen unter ihren gotischen Grabsteinen . . . Ein kleiner Hof tut sich auf, eine Köstlichkeit für sich zwischen den alten ockerfarbenen Mauern mit der mächtigen Zypresse im Mittelpunkt, Zypressen grüßten uns bei der Anfahrt, Zypressen bewachen im Hintergrund dieses Hofes den Ausgang zum blanken Fluß, der, unmittelbar am Haus vorbei, über bunte Kiesel fließt. Zypressen sind die dunklen, schweren Akzente dieser schon ein wenig an Oberitalien gemahnenden Architektur. Der Süden, bewacht von der blauenden Alpenmauer, ist nahe genug.... 
Draußen vor der Haustür ist in die Mauer eingelassen ein großes buntes Eichenholzrelief der späten Renaissance, da pikt unter seinem federgeschmückten Damenhut der heilige Georg mit seiner Lanze in einen Drachen, der, wie der Hausherr zu sagen beliebt, >eigentlich wie ein Teller Königsberger Rinderfleck< aussieht. >Wer Got liebt gut Wirk übt< steht darunter, und große, vom Hausherrn zärtlich gepflegte Lorbeeren schmiegen sich an. Fernes Mittagsläuten klingt herüber von dem nächsten Hof, der sich weit versteckt hinter Fluß und Busch.«

 

Unterdessen wurde - so verfolgte es Reck ohnmächtig mit - die »ehemals blühende deutsche Wissenschaft« in den Dienst der Feind-Bekämpfung gestellt. Die Nationalsozialisten wollten sich mit Hilfe technologischer Vorsprünge, nicht zuletzt in der Kernphysik, zu den Herren der Welt aufschwingen. Nur Natur­romantiker wie Reck wünschten den Geist in die Flasche zurück, zumal er die Beherrschbarkeit der Technik grundsätzlich bezweifelte. 

Könne man....

»die satanische Kraft der Maschinen etwa durch pazifistische Ideologien und durch, internationale Verträge bannen und auf den explodierenden Dampfkessel des Maschinenwahns hübsche kleine Papierchen mit den Unterschriften von siebenundzwanzig Minister­präsidenten kleben?« 

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Selbst den Nutzen jedes Produktivitätszuwachses bestritt er: 

»Und wenn heute ein Setzerstuhl mit dreifacher Leistung erfunden wird, so wird damit nicht etwa ein menschliches Zugtier entlastet: es wird vielmehr das dreifache Tempo von der zugehörigen menschlichen Apparatur, von Redakteuren, technischen Arbeitern und — Lesern verlangt werden.« 

Auch diese Einsicht gehört inzwischen zum grünen Standardrepertoire. 

   

 

   8  Nazihass    

 

Die großen Hoffnungen, die Reck in die »deutsche Revolution« gesetzt hatte, erfüllten sich nicht. Die historische Chance zur Abkehr vom mechanistischen Zeitalter, von der sittlichen Verrohung und erbärmlichen Nivellierung schien ihm mit den National­sozialisten gründlich vertan. Vielleicht liegt in der Enttäuschung darüber, daß nicht nur eine politische Gelegenheit verstrichen, sondern eine epochale, wenn nicht sogar — nach der jahrhundertelangen Durststrecke der verabscheuten Neuzeit — die geschichtlich allerletzte Möglichkeit vergeben worden war, das Steuer herumzureißen, einer der Schlüssel zu dem unerhörten Haß, mit dem Reck buchstäblich Tag und Nacht Hitler und seine Gefolgsleute verfolgte. 

»Selten ist so eifernd, mit einem so wütenden Haß, Gericht über eine Zeit gehalten worden wie auf diesen Seiten [des Tagebuchs]« (Joachim Fest).

Und Hitler hatte für Reck die Chance nicht nur vertan, er hatte sie verraten. Mag sein, daß der Jazz im Deutschland des Dritten Reichs nicht Fuß fassen durfte und daß sich auch keine amerikanischen Weekendfreuden verbreiten mochten.

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Aber die Verherrlichung eines selbsternannten Anführers primitiver Massenaufmärsche und Jubeldeutscher, die kollektiven Rauschzustände der elenden verzückten Parteisoldaten, die ordinären Pöbeleien der gleichgeschalteten Medien, der Verlust an Selbstachtung von Hitlers Anhängerschaft, der kleinbürgerliche Machiavellismus und der grauenhafte Rassenwahn, von der Steigerung der technologischen Drehzahl, der Geschwindigkeit der Akkordbänder und der Arbeitermarionetten ganz zu schweigen, all dies war nichts als die übelste Zukunft, die im Universum Recks denkbar war.

Damit war ganz offensichtlich nicht nur eine politische Überzeugung, sondern eine Person im Innersten getroffen worden. Auch vorher hatte Reck seine Fähigkeit, heftig zu polemisieren, unter Beweis gestellt. Aber diese Wut, die ihn von nun an nie wieder verließ, der »bis zum literarischen Erbrechen« (Fest) potenzierte Abscheu vor allem, was jeder Tag an politischen Ereignissen mit sich brachte, ja die zunehmende Unfähigkeit, seinen abgrundtiefen Pessimismus nicht auf alles auszudehnen, was ihm widerfuhr, und seien es schließlich die harmlosesten Gespräche, Erfahrungen und Reize, das alles zeigt, daß Reck nicht mit üblichen politischen Widersachern, sondern mit dem endgültigen Verlust eines Lebensgefühls haderte, daß er offenbar eine letzte Verbindung zu dem »Magischen« der großen, heldenhaften Zeiten, zu dem »Herz dieser Welt« verloren hatte.

Nicht nur war seine erhabene Rolle als Grandseigneur, als elitärer Junker, als unabhängiger Herr und Spätmonarchist dahin, lächerlich und unmöglich geworden angesichts der uniformierten Massen und des aberwitzigen Kults um eine Pappfigur mit Mordgelüsten.

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Aber selbst alle diese Momente abgerechnet: den Abscheu eines Romantikers, eines spätmittelalterlichen Aristokraten, eines altpreußischen Pflichtmenschen und Verehrers Friedrichs II., eines Moralisten und eines altmodischen Bildungsbürgers, eines germano- und russophilen Autoritätsfanatikers — so bleibt immer noch ein rätselhafter Rest, nämlich die beispiellose Tiefe seines Hasses. 

Durch die Machtergreifung und die falsche Wende, die das Dritte Reich in seinen Augen genommen hatte, muß er psychisch in eine für die Außenwelt unerreichbare Einsamkeit verfallen sein.

Eine Folge jedenfalls hat die Bodenlosigkeit dieses Hasses gehabt. Für den Widerstand, der sich am 20. Juli 1944 gegen Hitler und seine Schergen offenbarte, war Reck nicht zu haben. Im Gegenteil, er haßte den Kreis um diese Attentäter schließlich kaum weniger als die, denen der Widerstand galt. Da sich der Widerstandskreis des 20. Juli vor allem aus Personen rekrutierte, die sich der Tradition des kulturellen und nationalen Konservativismus zurechneten, war dies alles andere als selbstverständlich. 

Für viele Konservative, Monarchisten und Deutschnationale war es in den frühen 30er Jahren völlig offen, ob die Nationalsozialisten die ersehnte Erlösung und Erneuerung bringen würden oder nicht. Sie schwankten zwischen euphorischer, ihre Bedenken verdrängender Begeisterung und abwartender Skepsis.

»Man kann der Auffassung sein, es müsse gelingen, den Nationalsozialismus mit der geistigen Renaissance, die das letzte Jahrzehnt Deutschland geschenkt hat, zu durchdringen. Es ist aber auch die Auffassung erlaubt, dem National­sozialismus eine begrenzte historische Aufgabe zuzuweisen; der Zertrümmerung einer morschen Welt, der Bereitung der großen Brache, auf der die neue Saat aufgehen soll. Soviel steht fest:

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die Sehnsucht all der Massen, die heute für den Nationalsozialismus opfern, entspringt dem großen konservativen Erbbilde, das in ihnen ruht und sie so zu handeln zwingt. Ob — um bei diesem rassehygienischen Bilde zu bleiben — das Erscheinungsbild dieser Sehnsucht, das heute Nationalsozialismus heißt, vorwiegend die Züge der konservativen Revolution oder der liberalen Liquidation trägt, soll an dieser Stelle unbeantwortet bleiben.«

Wie viele ähnlich Denkende hatte sich Jung in fataler Weise über den Charakter des Nationalsozialismus geirrt. Viele Männer des 20. Juli hatten vor der Machtergreifung mit den Nationalsozialisten sympathisiert, etliche — wie Graf Schulenburg — wurden Parteimitglieder. Graf Stauffenberg hatte früh dem Kreis um Stefan George angehört, Brücklmeier trat ebenfalls der NSDAP bei und ließ sich auf Veranlassung Ribbentrops zum SS-Obersturmführer ernennen.

Dennoch entschlossen sich bekanntlich nur wenige, die von den Nationalsozialisten und ihrer Form der »nationalen Erhebung« enttäuscht waren, zum Widerstand. Bei der Bewegung des 20. Juli war es vor allem das Verantwortungsbewußtsein der alten, noch vom Kaiserreich geprägten Elite, der ehemaligen adligen Führungsschichten, die den endgültigen Untergang Deutschlands aufhalten wollten. Nur bei einem Teil standen christlich-moralische Motive im Vordergrund, die anderen aber schlossen mit ihren Beweggründen direkt an vordemokratische, wilhelminische Ordnungs- und Staatsvorstellungen an.

Die Pläne dieser Widerstands-Gruppe, die für die Zeit nach dem Nationalsozialismus entworfen wurden, haben daher mit der nach dem Krieg etablierten republikanisch-rechtsstaatlichen Verfassung, ja mit »Modernität und Liberalität« wenig gemein.

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Die außen- und innenpolitischen Konzepte etwa Carl Friedrich Goerdelers, der wie Reck 1884 geboren ist, oder die Vorstellungen Albrecht von Kessels liest man heute eher mit einem Gefühl der Erleichterung darüber, daß ihnen jede Realisierung versagt blieb:

»Zwei Erwägungen möchte ich allen weiteren Erörterungen vorangestellt sehen und zwar einmal die Tatsache, daß die Umgestaltung sich zu einem Zeitpunkt vollziehen wird, wo die Welt noch in das Chaos des Krieges getaucht ist und in Deutschland in jahrelang systematischer Destruktion alle Bindungen aufgelöst wurden, zum anderen die Tatsache, daß das XX. Jahrh. ein Zeitalter der Massen ist in einem Umfang, wie es uns erst im letzten Jahrzehnt mit erschreckender Deutlichkeit zu Bewußtsein gekommen ist.

Der Umstand, daß einerseits der Krieg noch fortdauern wird, wir andererseits innenpolitisch der von einer Tyrannis mit dämonischer Meisterschaft verwirklichten steppenartigen Nivellierung gegenüberstehen, schließt jeden Gedanken an eine Rückkehr zu einem konstitution. Regime alter Prägung aus, dem es in außen- und innenpolitischer Beziehung an d. erforderl. Schlagkraft fehlen würde und das innenpol. mit lauter Unbekannten rechnen müßte. ... 

Es ist demnach eine autoritäre Staatsführung milit. Charakters eine unabdingbare Forderung, der allerdings der Beweis obliegen würde, daß sie berufen ist, im Namen des ganzen Volkes zu handeln, die von vornherein ein Mindestmaß an Rechts­sicherheit verwirklichen und den organischen Aufbau einer Mitbeteiligung und Mitverantwortung der Massen an der Regierung in Angriff nehmen müßte« (von Kessel).

Oder: »Der diktatorische oder tyrannische Führerstaat ist ebenso unmöglich wie der entfesselte überdemokratische Parlamentarismus« (Goerdeler in der Denkschrift <Das Ziel>).

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Im Gegensatz zu Reck, der längst alle Hoffnung fallengelassen hatte, knüpften die, die sich die Beseitigung Hitlers nicht nur erträumt, sondern zum aktiven Vorhaben gemacht haben, an jene politischen Programme an, die sie von den Nationalsozialisten erhofft und schließlich verraten gesehen hatten.

Doch gerade ihr langes Abwarten, um nicht zu sagen ihr Steigbügelhalten für den Führer und ihren späten Schwenk machte Reck ihnen zum Vorwurf. Für ihn war der Widerstand des 20. Juli vor allem »ein Putsch der Generäle«, die er verachtete: 

»Ein wenig spät, Ihr Herren, die Ihr diesen Erzzerstörer Deutschlands gemacht habt, die Ihr ihm nachliefet, solange alles gut zu gehen schien, die Ihr, alle Offiziere der Monarchie, unbedenklich jeden von Euch gerade verlangten Treueid schwort, die Ihr Euch zu armseligen Mamelucken des mit hunderttausend Morden, mit dem Jammer und dem Fluch der Welt belasteten Verbrechers erniedrigt habt und ihn jetzt verratet, wie Ihr vorgestern die Monarchie und gestern die Republik verraten habt. ... Ich denke in den Bahnen eines in Deutschland verschollenen Konservativismus, ich bin monarchisch gezeugt, monarchisch erzogen, die Existenz des Königtums gehört zu meinem physischen Wohlbefinden. Und nicht trotzdem, sondern eben deswegen hasse ich Euch!« 

Und er setzte sogar noch eins drauf: »Sie verraten jetzt, wo der Bankrott nicht mehr verheimlicht werden kann, die pleitegehende Firma, um sich ein politisches Alibi zu schaffen ..., sie, die als platteste Machiavellisten noch alles verraten haben, was ihren Machtanspruch belastete« (Tagebuch Seite 223 bis Seite 225).

Die Sympathien Recks galten allein den Geschwistern Scholl und ihren Freunden: 

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»Auf ihrem Grabe mag jener Spruch leuchten, vor dem einst dieses ganze, seit zehn Jahren in tiefer Schande lebende Volk erröten mag: >Cogi non potest quisquis mori seit ... Wer zu sterben versteht, den kann man nicht bezwingend.<  Werden wir es nicht alle sein, die einst beschämt zu ihren Gräbern wall­fahrten müssen? So verhält es sich mit diesen jungen Menschenkindern — den letzten und, so Gott will, den ersten Deutschen einer großen Wiedergeburt« (Tagebuch Seite 208f.).

Nach der bereits von Jung 1932 prognostizierten »Brache« kamen im Nachkriegsdeutschland viele der scheinbar unbelasteten Konservativen ans Ruder, die den Widerstand zwar nicht selbst gewagt hatten, in ihren Gesinnungen womöglich sogar mit ihm sympathisiert, in jedem Fall aber dem antidemokratischen, antipluralistischen Denken verpflichtet blieben und in den Schlüssel­positionen als Chefredakteure, ordentliche Professoren, Juristen, Mediziner ungehindert, sozusagen mit besseren Arbeitsbedingungen, die nachher verleugnete, aber unbestreitbare Kontinuität von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die zweite transponieren konnten.

Reck hat mit seltener Hellsichtigkeit das notwendige Scheitern des Nationalsozialismus in Deutschland vorausgesehen, vielleicht deshalb, weil er dem Ende des verhaßten Spuks wie einer Erlösung entgegenfieberte. Offenbar kann manchmal das Wunschdenken, entgegen der Alltagsmeinung, auch zur unbestechlichen Klarsicht verhelfen. 

Bei aller trüben Verkennung des Sinns von Demokratie war er, was seinen politischen Todfeind betraf, nicht blind vor Ärger, sondern scharfsinnig vor Wut, eine wahrhaft paradoxe Konstellation. Da er den Fluchtpunkt seiner verbissenen Zentral­perspektive nicht in der Gegenwart, sondern in einer uralten, fernen Vergangenheit festmachte, blickte er nicht mit dem Mikroskop, sondern wie durch ein Fernrohr auf Hitler und seine Gefolgschaft und erreichte so eine Tiefenschärfe, die den sich in der Nähe aufhaltenden teilnehmenden Beobachtern gewöhnlich abgeht.

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Mag sein, daß ihm dabei seine Vertrautheit mit der eigenen Kunst der Verstellung zu Hilfe kam. Kaum einer dürfte wie er die falsch aufgetragenen Farben, die Verdrehungen, Maskierungen und Lügen des Dritten Reichs und des gesamten Mitläufertums so gnadenlos durchschaut haben wie der, der selbst sein Leben gegen die Fakten lebte. »Bisweilen steigert sich sein Dichtertum ... zu Fernblicken in die Zukunft von geradezu religiöser Überzeugtheit und seherischer Kraft«, schrieb Herbert Saeckel bereits 1929 über seine Arbeiten. Wenige hatten bereits bei Kriegsausbruch die Gewißheit, daß an diesem Tag »der große Verbrecher sein eigenes Todesurteil unterschrieben hat« (Tagebuch Seite 97). 

Die Genugtuung, das Ende dieses Regimes zu sehen, hat er nicht mehr erlebt.

 

  

 

    9  Das Ende    

 

Recks Verhaftung Ende 1944 ging mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Denunziation zurück. Seine politische Einstellung war im Dorf Truchtlaching und darüber hinaus bekannt. Aber er war geachtet, und keiner hätte ihn in seiner ländlichen Umgebung angezeigt. Seine Denunzianten kamen aus anderen Kreisen. War es allein der später zur Rechenschaft gezogene Alfred Salat, oder wirkten noch andere Feindschaften wie die Brehms dabei mit? Alfred Salat wurde die Denunziation von Freunden Recks nach 1945 vorgeworfen; in einem Entnazifizierungs­verfahren hatte er sich nicht zuletzt wegen dieses Falles zu verantworten.

Reck wurde zunächst nach München in das Gestapogefängnis am Wittelsbacherplatz gebracht. Nach einem Luftangriff wurde er am 9. Januar 1945 in das Konzentrations­lager Dachau verlegt. Dort erkrankte er bald, so daß man ihn im Krankenblock unterbringen mußte. 

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Bei seiner Entlassung vom Krankenlager begegnete er dem niederländischen Häftling Nico Rost, der ihn in seinem Buch <Goethe in Dachau> als »sehr mager, äußerst nervös und völlig erschöpft« schildert. 

»Er zitterte und wankte auf seinen Beinen und sprach so verworren, daß ich erst nicht wußte, was er wollte. Nach und nach begriff ich dann, daß er Patient gewesen war, aber nun wieder zurück in seinen Block mußte. Er fürchtete, dort zu sterben ... Wahrscheinlich hat er damit auch recht, denn er muß zurück in seinen alten Block ... und in dem herrscht Flecktyphus.«

Die Wahrscheinlichkeit, an Flecktyphus zu sterben, war hoch. Nico Rost hatte sich kundig gemacht:

 »Ich habe mich bei fast allen Ärzten nach der Sterblichkeitsziffer bei Flecktyphus informiert: Unter fünfunddreißig Jahren rechnet man mit vierzig Prozent, über fünfundvierzig — und vor allem unter den hiesigen Verhältnissen — mit achtzig Prozent. Außerdem kommen in den meisten Fällen auch noch Komplikationen hinzu, Thrombosen, Ohrenentzündungen, Lähmungen. Nicht gerade sehr ermutigend.« 

Tatsächlich sollte Reck am 16. Februar 1945 an dieser Krankheit sterben. Die Begegnung mit Reck hat Nico Rost ausführlich festgehalten. Dieses letzte direkte Zeugnis erzählt von dem Zweifel an seiner Person, den er so oft in seinem Leben provoziert hatte und der ihn jetzt am Ende seines Lebens in makabrer Weise einholen sollte, an einem Ort, wo er ihn zuallerletzt erwarten mußte: 

 

»Ob ich ihm nicht helfen könne, im Revier zu bleiben? Nein, das konnte ich nun leider nicht. Dann begann er von sich und seinem Leben zu erzählen, und dabei stellte sich heraus, daß er Mediziner war, obwohl er schon seit dreißig Jahren keine Praxis mehr ausgeübt hatte.

Ich könnte also versuchen, mit dem Kapo zu sprechen; Ärzte werden immer gebraucht, vielleicht kann er dann hierher kommen ... vielleicht.

Ich werde das versuchen, selbstverständlich. Aber erst muß er in seinen Block zurück, daran ist nichts zu ändern. Später, vielleicht morgen schon, könnte er dann — wenn der Revierkapo ihn akzeptiert — wieder herausgeholt und hier Arzt werden. Ich frage ihn nach seinem Namen, um ihn in der Schreibstube angeben zu können. 

<Friedrich Reck-Malleczewen.> - <Doch nicht der Schriftsteller Reck-Malleczewen?> fragte ich sofort.

Er sah, daß ich mich plötzlich noch mehr für ihn interessierte. <Jawohl, der bin ich, kennen Sie meine Bücher?>

<Einige wohl>, erzählte ich ihm, <unter anderem einen historischen Roman über Jan Bockelson, ein sehr gut geschriebenes, technisch vortreff­liches Buch, äußerst spannend, jedoch ohne Tiefe, ferner eine Studie über Charlotte Corday, auch Frau Übersee und, natürlich, Bomben auf Monte Carlo.>

Ich habe wahrscheinlich noch mehr von ihm gelesen, doch es fielen mir gerade diese Titel ein, als er mich danach fragte. Ich weiß auch, daß sie damals fast alle schon große Auflagen hatten, und, wenn ich mich nicht irre, bei Mosse und Scherl erschienen sind. Ich erinnerte mich aber auch — doch das sagte ich ihm nicht —, daß seine Studie über Charlotte Corday ein absolut konter­revolutionäres Buch war und seinerzeit der Reaktion in die Hand spielte.

Er redete inzwischen unaufhörlich weiter: über seine Besitzungen in Bayern, wo er ein großes Gut hatte — nicht einmal sehr weit von Dachau entfernt —, über seine Laufbahn als Kavallerieoffizier und über seine große Verehrung für das bayerische Königshaus. Dafür — er hatte nämlich geheime Kurierdienste für die Wittelsbacher geleistet — säße er nun hier! 

Es war beklagenswert, wie er so vor mir stand — vom Hunger geschwächt und zitternd vor Nervosität, in einer viel zu kurzen, grauen Leinenhose, in einer grünen italienischen Militärjacke, an der ein Ärmel fehlte ... ein sehr armer, alter Mann, der zwar aus den Ereignissen der letzten Jahre nichts gelernt hatte — doch darum nicht weniger mitleiderregend. 

Als dann gerufen wurde: <Abgänge heraus> und er mit den anderen nach seinem Block mußte, habe ich ihm nochmals versprochen, mit dem Kapo zu sprechen. Eine Stunde später: War beim Revierkapo. Er hat den Namen notiert und will R.-M. morgen holen lassen. 

Wenn ich über meine heutige Begegnung nochmals gut nachdenke, tauchen mir Zweifel auf. Dieser Mann heißt zwar sicher Reck-Malleczewen, aber ist er wirklich mit dem Schriftsteller identisch? Hat er vielleicht nur sofort <Ja> gesagt, als ich ihn danach fragte, weil er einen rettenden Strohhalm zu erblicken meinte, an dem er sich festklammern konnte? Ich verzeihe es ihm gern, wenn er mich betrogen haben sollte. Hoffentlich ist er wenigstens Arzt ...« 

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 E n d e 

 

 

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