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1  Abrissunternehmen Sozialismus oder Abschied von den Lebenslügen

Reich-1992

Unser Schiff zieht seinen Kurs fest und stolz dahin — bis zum Sieg!
Günter Mittag (Politbüro) Rede am 20.9.1989

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   Die Geprellten    

Der Exitus des bürokratischen Kommandosystems in Osteuropa, das den "Decknamen" Sozialismus führte, hinterläßt viele Enttäuschte und Deprimierte. Unter ihnen ist auch eine soziale Schicht, die es in dieser Ausprägung nur im Ostblock gab: die Intelligenz.

Das Motiv der Enttäuschung ist individuell durchaus unterschiedlich. Intelligenz ist keine homogene Schicht. Verkürzt gesagt, es gibt die ehemaligen Aktivisten, die trauern, daß sie aus dem Sattel geworfen wurden, die Dissidenten und Reformer, die enttäuscht sind, weil sie nicht in den Sattel gelangten, und die Mitläufer, die bestraft werden für eine Entwicklung, an der sie keine Schuld tragen, wie sie meinen.

In allen Ländern, in denen das historische Erdbeben stattfand, haben die couragiertesten Vertreter der Intelligenz an der Über­windung des Systems mitgewirkt. Um den Lohn für ihren Einsatz fühlen sie sich betrogen. Sie wurden entweder gar nicht auf die Kommando­brücke gelassen (die Bürgerbewegungen der DDR) oder nach kurzer Gastrolle von dort verdrängt (Polen, Ungarn), oder in den Kompromissen der Macht auf der Brücke gespalten und verschlissen (UdSSR, CSFR). Die Intelligenz — das Opferlamm der Revolutionen? Ihre abgebrannte Zündschnur — zu Asche zerfallen?

   Komplizenschaft 

Die anklagende Beschreibung vom Unrecht an den Helden der Revolution verdrängt, daß die gleiche Schicht Gehilfe und Komplize des alten Systems war und dafür jetzt die Quittung erhält. Ein widerwilliger Gehilfe, ein Komplize mit Skrupeln, in einer Rolle wie Leporello, der im Abseits ständig aufmuckt und doch seine Pflicht erfüllen muß, wenn Don Giovanni nach ihm ruft.

Alle drei Begriffe: Gehilfe, Komplize und Quittung, sind nicht moralisch gemeint. Sie unterstellen auch nicht, daß ein klares Bewußtsein von dieser Funktion bestand. Auch ist eine solche globale These ein «grand total» der Beschreibung und keine genaue Analyse des individuellen Verhaltens und noch weniger des subjektiven Erlebens. Zumal die Inhomogenität der sozialen Schicht (nicht nur dieser) sich einer statistisch zusammenfassenden Beschreibung entzieht.

Schon bei einer Verteilung mit zwei Gipfeln liegt der Mittelwert in dem Tal dazwischen und ist deshalb inhaltlich eine Fiktion — um wieviel mehr bei einer komplexen Merkmals- und Eigenschafts­«landschaft».

Ich will darauf hinaus, daß Intelligenz strukturell-sozial das System stützte, sich aber benachteiligt, entmündigt, marginalisiert sah. Abbild und Spiegelbild widersprachen einander. Die Demarkationslinie zwischen Machthabern und Untergebenen war illusionär verschoben. 

Sie lag nicht zwischen befehlendem Apparatschik und kompetenten Spezialisten, sondern fiel wie eh und je mit der Grenzlinie zwischen konkreter und abstrakter Tätigkeit, zwischen produktiver und nichtproduktiver Arbeit zusammen. Auf jeden Fall sah es die große Menge so, und sie war es, die «den Intelligenzlern» den erwarteten Lohn für ihren Einsatz versagte. Dem Arbeiter war klar, wo die Werkhalle war und wo das Büro, während ihm der Unterschied zwischen technisch-wissenschaftlich-künstlerischem «Intelligenzler» und Bonzen nicht so deutlich war.

Das Paradoxon ist, daß genau die wahnhafte Verkennung der objektiven sozialen Funktion die Intelligenz befähigte, Auslöser und Subjekt der Revolution zu werden. Nur eine Selbstabwicklung konnte friedlich ablaufen. Nur eine Selbstabwicklung des Systems konnte überhaupt gelingen. Das wird weiter unten zu beschreiben sein.

Es ist nützlich, über diese Zusammenhänge nachzudenken, um aus der Larmoyanz des Geprellten herauszufinden. Die Intelligentsia des Ostblocks hat ihre historische Rolle noch nicht ausgespielt; sie hat die Aufgabe, sich auf die Herausforderungen der nachsozialistischen Zukunft einzustellen. Dazu allerdings müssen Illusionen abgewickelt werden.

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   Meine eigene Buffopartie      wikipedia Buffo  eine Art Partitur/Karrikatur in der Operette

Der Verfasser dieser Schrift gehörte dreißig Jahre lang zur «sozialistischen Intelligenz», einer gesellschaft­lichen Schicht, die «im Bündnis mit den Klassen der Arbeiter und Genossenschaftsbauern ihre ganze schöpferische Kraft für den Aufbau und die Vervollkommnung des Sozialismus einsetzte».

Ich befand mich die ganze Zeit über in schweigender, verdrossener Opposition gegenüber dieser zugewiesenen Rolle. Ich wählte mir meine engere Umgebung und den Freundeskreis so, daß ich mich auch im privaten Umfeld in dieser Art von Opposition befand, auf Einverständnis bei der Wahrung von Distanz rechnen konnte. Andererseits kannte ich natürlich zahlreiche Vertreter der Intelligenz, vor allem Kollegen, die sich bedeutend näher an der Machtzentrale hielten.

Bei aller Kritik und Reserve nahmen sie zumindest in Anspruch, daß dieses Gesellschaftssystem trotz seiner Geburtsfehler und Schwächen «eine Epoche weiter sei», sich letztendlich im Weltmaßstab durchsetzen würde.

Als ich aus der schweigenden Opposition ausschied und zur offenen überging, wurde ich wie ein Aussätziger von der Seite gemustert. Die nichts Näheres über meine Aktivitäten wußten, gaben Desinteresse vor und nahmen Abstand. Die mehr wußten, warteten offenbar darauf, daß sich eine Falltür öffnen, mich verschlingen und eventuell im Westen wieder ausspeien würde, wie es in den späten Jahren die Regel wurde. 

Da war auch der Verdacht, daß ich mit meiner Aufsässigkeit Pluspunkte sammeln wollte, um den Start im Westen zu begünstigen. Ich selbst hatte diesen merkwürdigen Verdacht, daß sich jemand in die vorderste Schlachtlinie wirft, um leichter desertieren zu können, auch schon gegen andere gehegt und mich entsprechend reserviert verhalten. Ich konnte mich also einfühlen. 

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 Undankbares Volk 

Der Herbst 1989 in der DDR war eine Protestbewegung der Intelligenz. Ihre Vertreter waren es, die das Führungspersonal stellten und die Proklamationen formulierten. Der Höhepunkt der Bewegung war die Theaterveranstaltung vom 4. November, ihr langer, langer Nachklang waren die endlosen Debatten am Runden Tisch.

Später, als die ganze radikaldemokratisch-ökologisch-freiheitlich-freizügig-reformerische Tarnung breiten Kreisen der Bevölkerung abwegig und überflüssig erschien, als es erkennbar nicht mehr gefährlich war, mehr zu verlangen, da wurden wir abgewählt, abgewickelt, als Spinner verlacht und zur Seite geschoben. Unsere systemübergreifende Fachkompetenz wurde von Evaluatoren als total veraltet eingestuft. Wir waren plötzlich überzählig. Tiefe Gekränktheit war die Reaktion: Denen, die die Revolution gemacht hatten, die «Wir bleiben hier!» skandiert hatten, verweigerte das undankbare Volk die Belohnung.

Mir kamen zunehmend Zweifel, ob die Belohnung denn wirklich so verdient gewesen wäre, ob ihre Verweigerung denn wirklich ein Ausdruck der Undank­barkeit war. In mir kam immer mehr der Verdacht auf, daß die Intelligenz sich lediglich unterdrückt wähnte, es aber nicht war, daß ihre tatsächliche Rolle in der Struktur der Gesellschaft eine ganz andere war als in der Einbildung. Daß also subjektive Empfindung und objektive Lage auseinanderklafften. Solche Sinnestäuschung kennen wir aus der dinglichen Welt, warum nicht auch in der Welt der Begriffe?

Merkwürdig nur, daß eine Täuschung des intellektuellen Sinnes realitätsbildend werden und ein ganzes System zum Einsturz bringen kann. Es kam mir vor, als hätten wir zum Volk gesagt: «Los, nehmt uns als Rammbock und drückt das Tor ein — es ist morsch!»

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Wie morsch es war, wußten wir durch Einfühlung. Und sie nahmen uns als Ramme, holten aus, drückten das Tor ein, warfen uns danach achtlos zur Seite und stürmten hinein. Hätten wir uns getäuscht, wäre das Tor noch stabil und fest gewesen, dann wäre das Rammholz zersplittert, und die Rammenden hätten sich die Arme verstaucht. Ende des Aufstandes.

Mir liegt daran, dieser realitätsbildenden Selbsttäuschung, dieser Illusion gedanklich nachzugehen. Klare Erkenntnis ist wichtig, um aus der Resignation heraus­zukommen. Sie ist auch wichtig, weil die zukünftige Rolle der Intelligenz davon abhängt. Daß eine Täuschung uns befähigt, geschichtswirksam zu werden, wird sich wohl nicht wiederholen.

Es geht mir um die geschichtliche Funktion der Intelligentsia des Ostblocks im zukünftigen Osteuropa. Nicht nur um die Intelligenz der DDR im geeinten Deutschland. Die Intelligentsia, eine die nationalen Grenzen übergreifende Schicht, die durch zwei Generationen gemeinsamer Ideale, Ideologeme, Phrasen und Abwehrstrategien geprägt ist, steht an einer Wegscheide: Entweder wird sie einfach durch die berufsständisch verwandte Schicht im Westen aufgesogen und abgewickelt, oder sie bringt ihre geschichtliche Erfahrung in eigenständige, originelle Beiträge zur Gestaltung der Zukunft ein.

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Absturz

Macher haben den Wortdrechslern das Steuer entrissen. Es findet eine Umstrukturierung der kollabierenden Gesellschaften statt, in denen die Intelligenz ihre traditionelle Rolle als schöpferische, moralische, pädagogische und naturwissenschaftlich-technische Elite nicht mehr zu spielen imstande ist. Unerwartet wird uns ein ganzer Cocktail von verschiedenen Defekten in individuell verschiedener Mixtur zugeschrieben: fachliche Inkompetenz, soziale Entwurzelung, moralischer Kreditverlust, politisches Versagen, und vor allem sind wir plötzlich viel zu viele.

Ein Massenheer von frustrierten «Intelligenzlern» entsteht durch Entlassung in die Arbeitslosigkeit, mit sanftem Druck erzwungenen Übergang in den Vorruhestand, durch Umstrukturierung, Schließung, Warteschleife und Abwicklung bevorzugt derjenigen Einrichtungen, in denen ein hoher Anteil an Hoch- und Fachschulabsolventen arbeitete: Universitäten, Akademie der Wissenschaften, Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in Betrieben und Kombinaten, Schulen, im öffentlichen Dienst.

Viele Institutionen und Tätigkeiten werden erst einmal beseitigt, auch wenn ein gesellschaftlicher Bedarf besteht. Da die im Westen vorherrschende private oder gemeinnützige Trägerschaft in den Ostländern nicht funktioniert — aus historischen Gründen und wegen der Mentalität —, droht Verarmung in den wichtigen nichtproduktiven und nichtprofitablen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. In einigen Ländern erfolgt dieser Übergang als Schock, in anderen gedämpft und quälend langwierig.

Daß berufliche Kompetenz eine Sache ist, die bei einem typischen Intelligenzberuf etwas mit dem politischen System zu tun hat, ist jedem unmittelbar einleuchtend. Brötchen verkaufen kann man im Realsozialismus wie in der realen Marktwirtschaft: eine kurze Marketing-Anleitung genügt. Auch bei den intellektuell höher greifenden Berufen gibt es solche Fälle. So wird die Tätigkeit eines Computer­spezialisten oder Mathematikers in West und Ost sich nicht grundsätzlich unterscheiden; folglich ist die Berufskompetenz recht leicht erneuerungs- und ergänzungsfähig.

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Die meisten intellektuellen Berufe sind jedoch in ihrem Erfahrungs- und Kompetenzprofil vom geltenden System beeinflußt. Sie sind bei Marx «Überbau» einer Gesellschaftsordnung. Bei einem Lehrstuhlinhaber «Wissenschaftlicher Kommunismus» liegt das auf der Hand; bei einem Universitätsdozenten für Innere Medizin ist dieser Zusammenhang subtiler.

Daß der Kompetenzabsturz für viele Vertreter der Intelligenz trotzdem wie ein Schock kam, lag daran, daß sie glaubten, der Übergang würde ein Neuanfang mit Umstellungszeit sein, in der Schonfrist gewährt wird, zumal wenn keine ummittelbaren Konkurrenten vorhanden sind.

Im Polen der Nachkriegszeit dürfte die Qualifizierung von akademischen Berufen für den Neuanfang gesellschaftlich allgemein akzeptiert gewesen sein; nicht so in der Krisenzeit 1991. Die offene Ausschreibung von Stellen auf dem bundesrepublikanischen und internationalen Markt bedeutet, die Chancen selbst gut qualifizierter und politisch unbelasteter Wissenschaftler oder Ingenieure aus der vormaligen DDR auf null zu reduzieren.

Individuell sehen die Betroffenen das als unverschuldet und unverdient an und fühlen sich benachteiligt, betrogen, kolonialisiert. Manche verharren in starrsinnigem Stolz, andere reagieren mit tiefer Depression, wieder andere mit opportunistischer Anpassung.

Daß dieser Zustand die Quittung für die lange Komplizenschaft mit dem Kommandosystem sein könnte, wird als Möglichkeit nicht in Betracht gezogen, sondern mit hohem Emotionsaufwand entrüstet zurückgewiesen.

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Die soziale Entwurzelung des Intelligenzstandes verläuft im Gleichschritt mit der beruflichen Involution und dem politischen Kollaps. Betroffen sind hier von allem Menschen im mittleren und gehobenen Alter, besonders Frauen. Es ist vielsagend, daß gerade Privilegien, die die Intelligenz als «systemnah» auswiesen, ihr jetzt zum Nachteil ausschlagen, zum Beispiel, daß ihre Altersversorgung nur teilweise beitragsbezogen mit Generationenvertrag gestaltet wurde, überwiegend dagegen als Staatsrente aus dem öffentlichen Haushalt.

Die moralische Diskreditierung ist eine Angelegenheit, die besonderer Analyse bedarf. Wenn eine ganze Gesellschaft den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus vollzieht, dann sind genau die gleichen Berufsbilder unterschiedslos diskreditiert, die es bei dem vormaligen umgekehrten Übergang auch schon waren. Lenin rief dazu auf, die alte bürgerliche Klasse und ihren Beamtenapparat zu zerschlagen — wen darf es da verwundern, wenn jetzt die neue, altgewordene Schicht, die an ihre Stelle trat, ebenfalls zerschlagen wird? Weiterhin sind Hunderttausende diskreditiert, deren Berufe zwar systemneutral sind, die aber ihre individuelle Karriere einem mehr oder weniger energischen Bekenntnis oder Lippendienst für das alte System verdankten. Schließlich sind auch diejenigen belastet, die mit dem System zum Nachteil anderer informativ zusammengearbeitet haben.

Aufschlußreich ist, daß sich die öffentliche Jagd auf Informanten in Deutschland hauptsächlich auf die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit konzentriert, obwohl Anschwärzen und Zuträgerei im «harmlos-zivilen» Bereich viel häufiger und meist auch wirksamer waren: Die Stasi sammelte Informationen, der Parteisekretär hingegen konnte direkt die Genehmigung zur Westreise oder die Berufung in eine Position beeinflussen. Selbst bei der Staatssicherheit ist die Beweislage so dürftig, daß sehr formale Kriterien herhalten müssen.

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Wer sich als Pastor aus missionarischer Naivität auf Gespräche mit der Stasi eingelassen hat, um seinen Schäfchen zu helfen, hat kaum noch die Chance der Rechtfertigung, wenn seine Mitarbeit öffentlich bekannt wird. Das formale Kennzeichen für moralische Mittäterschaft ist der Status des inoffiziellen Informanten; eine genaue Analyse der Zusammenarbeit zwischen Informanten und Staatssicherheit ist oft nicht möglich und offenbar auch gar nicht erwünscht. Als Beweismittel dienen meist nur die Akten der Staatssicherheit selbst, wobei die Berichte oft von Führungsoffizieren als Aktennotiz (und nicht vom Informanten selbst) verfaßt sind, so daß sich — abgesehen vom Wahrheitsgehalt — nicht einmal klären läßt, ob der Bericht so überhaupt gegeben wurde oder ob die Erfindungs- und Interpretationsgabe des Berichtenden zur Aufwertung seiner eigenen Arbeit eingesetzt wurde. Überdies: Wer so prominent war, daß sich die Staatssicherheit genierte oder es ihr untersagt war, eine Verpflichtungs­erklärung unterschreiben zu lassen, hat jetzt nichts zu fürchten.

Der Defekt politisches Versagen schließlich disqualifiziert alle, die im alten System als Berufspolitiker, Funktionär usw. tätig waren. Er betrifft das, was man im Westen «politische Verantwortung» für eine Pleite nennt. Man tritt zurück, auch wenn man weder strafrechtlich schuldig noch moralisch belastet ist. Du hast vergeigt, also fliegst du, ganz einfach.

Es ist merkwürdig, wie selten dieser einfache Abgang akzeptiert wird. Und wie wenige sich darauf berufen. Wenn es geschieht, wie bei Egon Krenz in zahllosen Talkshows, dann wird man das Empfinden nicht los, hier mime der Mafiaboss den Biedermann — wobei man sich allerorten weniger darüber aufregt, daß Krenz et alii sich an Menschen versündigt und Unschuldige ins Gefängnis gebracht haben, sondern daß sie geprunkt und gepraßt, Sonderversorgung und Jagdhütten genossen haben. Als ob nicht jeder Apotheker im Westen reicher und luxuriöser lebte.

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Der Zorn über den relativen Luxus und Machtmißbrauch der Nomenklatura gehörte zu den stärksten Motiven für die Volkserhebung, die Anfang Dezember 1989 zum Sturz von Krenz führte. Nach meiner Beobachtung war er viel weiter verbreitet, «volksnäher» und sehr viel energischer und handlungsbereiter als die friedlichen Demonstrationen gegen das undemokratische Regime im September und Oktober. Anfang Dezember drohte tatsächlich ein Volksaufstand, drohte Generalstreik, und die Installation des Runden Tisches war eine Beruhigungspille. Die Intelligenz, ihre alten Kader wie die neuen Kräfte, vereinigte sich zu einem unausgesprochenen Bündnis, um den Palavercharakter der Selbstabwicklung des Systems zu bewahren. Es gelang. Zumal Helmut Kohl assistierte: Er beruhigte das aufgeregte Volk mit dem Versprechen schneller Vereinigung, schneller sogar, als seine eigenen zehn Punkte ursprünglich vorsahen.

Meine Feststellung ist nüchtern. Ich weiß nicht, ob wir recht gehandelt hätten, hätten wir uns dazu entschlossen, uns an die Spitze zu stellen, die Macht zu fordern und den Aufstand zu «thermidorisieren». Ich selbst habe am Runden Tisch nicht teilgenommen, weil ich im Zwiespalt war und die kalmierende Funktion der Schwatzbude voraussah, ohne den Mut zu haben, den Tiger zu reiten. Es war nicht einfach körperliche Feigheit, sondern die Feigheit, die moralische Unversehrtheit zu verlieren, die unser Handeln bis dahin begleitete.

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Im politischen Erdreich lagern Blindgänger. Der Aufstand gegen die Privilegien schleifte die armselige Luxusfestung Wandlitz, setzte aber auch den Wohlstand der Arrivierten im Marktsystem deutlich ins Bewußtsein. Nicht mehr schwarze Citroens rauschen über die gesperrte Kreuzung der «Protokoll­strecke», sondern der erfolgreiche Nachbar vom Nebenaufgang hat das Luxusauto, während der Prolet arbeitslos ist. Die Ungleichheit wird dargeboten, ist ostentativ geworden. Die unterdrückte Wut über «das Arschloch in dem fetten Audi» macht sich Luft in der Ersatzhandlung «Aufklatschen von Fidschis». Ebenso leicht wie gegen Fidschis kann die Wut sich gegen die Brillenheinis wenden, die immer auf die Füße fallen. Das Gelände ist vermint.

Der Niedergang der Ost-Intelligenz hat auch ganz rationale Gründe in der Hypertrophie dieses Standes. Sie üben zumeist gutbezahlte, subventions- oder haushaltsfinanzierte Berufe aus. In einer Krise sind sie dann zu zahlreich. Das gilt im Osten wie im Westen. Obwohl es in den sozialistischen Ländern Zulassungsziffern für Ausbildungsplätze und ein strenges Planstellenregime gab, konnte ein stetiger Zuwachs an «Intelligenz» nicht verhindert werden. Der gesellschaftliche Druck, in Berufe mit hohem Prestige und relativ leichten Arbeitsbedingungen zu gelangen, war zu groß. Niemals ist irgendwo der Abbau von Bürokratie und Überbesetzung gelungen — der Apparat war immer zäher. Jetzt kommt die Rechnung: Es sind zu viele Institutionen und in diesen zu viele Angestellte und unter diesen zuwenig Qualifizierte.

 

Ungebetene Gäste

Zu den Enttäuschungen der Intelligentsia trägt auch bei, daß die Neuankömmlinge nach vollzogener Revolution nicht als die tapferen Streiter gegen die Knebelung des Geistes begrüßt, sondern als Mitkonkurrenten um die schmaler gewordene Subventions- und Fördermittelbörse angesehen werden. Das ist besonders in Ostdeutschland spürbar, wo der Zusammen­bruch des ganzen Staates die Intelligenz als heimatlose Gesellen freigesetzt hat, Asylbewerber sozusagen an der Mutterbrust der Wissenschaft und Technik. 

Da gibt es den Intellektuellen, der früher als Schriftsteller, obwohl systemnah, durch ironische Feindistanzierung schmunzelnde Achtung erntete, oder den Professor, vom Mitstreiter in der Internationalen Historikerkommission zum Kaderschinder avanciert, der für seine Mitschuld an geköpften Wissenschaftler­laufbahnen geschmäht wird. Früher ließ er die Vasallen springen und organisierte für den Westgast eine ehrenvolle Rundreise durchs Land. Da gibt es den Ingenieur, dessen Betrieb bis Anfang 1990 zum begehrten Kooperationspartner bei der Leipziger Messe gehörte, jetzt aber die Kreditbonität verloren hat und als lästiger Konkurrent niedergemacht wird. Wie doch die Zollgrenze den Habitus verändern kann!

 

Legenden

Vom Abrißunternehmen Sozialismus übriggeblieben sind zahlreiche Ideologeme, geborstene Säulen, Ausreden und Fehlurteile, die noch heute fortwirken, zumal sie im Westen oft unbefragt hingenommen wurden. Allen voran das Leitbild von der anti­faschistischen Urzeugung des deutschen sozialistischen Staates, das zur Lüge über den «antifaschistischen Schutzwall» verkam und damit den Widerstand gegen Hitler, an dem auch Sozialisten maßgeblich beteiligt waren, nachträglich verriet. 

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Oder das bürokratisch entartete Ideal der Völkerfreundschaft, das letztlich als Tarnkappe für den Export von Stasi-Strukturen in den Nahen Osten herhalten mußte.

Oder die Wahnvorstellung von der außerordentlichen sozialen Wärme und inneren Solidarität der sozialistischen Menschengemeinschaft.

Oder die Legende über das Erziehungs- und Gesund­heits­wesen, das angeblich gleich und gerecht und für jeden offen war, während doch gleichzeitig Spezial­krankenhäuser eingerichtet wurden und der Zugang zum Abitur durch politische Kriterien reglementiert war.

Auch heute noch gibt es verklärte Bilder.

Von der tüchtigen Wissenschaft, die angeblich Widerstand leistete gegen die büro­kratische Zumutung. Von der aufmüpfigen Kirche, die angeblich mutig dem Staat trotzte — während es in Wahrheit doch nur wenige couragierte Pastoren waren, die sich ungeachtet der Mißbilligung durch Mitbrüder und Gemeinden exponierten.

Und als Sündenbock für alles die Staatssicherheit: angeblich ein Staat im Staate, der alles mit seinem teuflischen Netz umgarnte und alle zu Opfern machte.

Die Stasi war eine Höllenmaschine, ohne Zweifel. Gegenwärtig aber spielt sie auch die Rolle des Universaltäters, als sei der Alltag des Sozialismus nicht auch auf ganz anderen Schienen — Partei und Apparat — gerollt. Die Fixierung auf den Neben­kriegs­schauplatz Staatssicherheit verhindert eher eine Auseinander­setzung mit den Grundfesten des Systems.

Die vom Kutschbock des sozialistischen Rumpelgefährts abgesprungene Intelligenz hat jetzt die Aufgabe, sich in das neue System zu integrieren. Das wird vielen gelingen. Der Computer­programmierer wird auf längere Sicht seinen Job, ein paar Tarifgruppen tiefer eingestuft, wiederfinden, wenn nicht sein Alter den Verdacht nahelegt, daß kristalline über flüssige Intelligenz dominiert und den Umlernprozeß behindern könnte. 

Allerdings werden wir den moralischen Anspruch, das Prestige als Systemdissident, an der Bürotür abgeben müssen. Der Abschied vom Selbstbild sollte leichtfallen, wenn man es als Illusion erkannt hat.

Jeder Stand hat seine Lebenslüge. Auch im Westen ist das nicht anders. Das Proletariat der realsozialist­ischen Länder — mit der Ausnahme der streikenden polnischen Arbeiter, die auch entsprechend als faule Nichtstuer ins kollektive Unterbewußtsein eingingen — kann nicht behaupten, energisch den Untergang des Sozialismus betrieben zu haben.  

Auch hier waren die privaten Nischen und der Dienst nach Vorschrift die passive Strategie. Auch hier ist das Erwachen aus der Illusion schmerzhaft. Die Rolle der Intelligenz im Sozialismus war jedoch besonders zwiespältig. 

Ihr Verdienst ist, daß sie das Regime an seiner Lügenhaftigkeit scheitern ließ. 

Ihr Versagen ist, daß sie nicht zu solidarischem Widerstand fand, daß Robert Havemann, Andrej Sacharow und Václav Havel allein blieben

Die Intelligenz war feige, sagt Rolf Henrich, auch <einer von diesen Galiläern>. Er hat recht.

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