Start    Weiter

4 - Die Arbeiter- und Bauernmacht oder Das undankbare Volk

Reich-1992

 

   Intelligentsia und «Volk» 

50-67

Die soziale Analyse des administrativen Kommandosystems der Spätzeit ist schwierig, weil unverfälschte Daten selten sind. Sie ist aber andererseits einfach, weil die Sozialstruktur im Vergleich etwa zu den westlichen Gesell­schaften sehr homogen, nahezu amorph ist und weil es einen Bereich gibt, in dem Gesellschaft und Wirtschaft fest gebündelt sind: die Politik. Vom politischen Verhalten läßt sich ganz anders als im Westen die Sozial­struktur ablesen.

Politisch, das heißt in ihrem Verhältnis zur existierenden Machtstruktur, war die Intelligenz in mehrere unterschiedlich starke Gruppen gespalten.

Ein erheblicher Teil waren natürlich überzeugte Anhänger des Systems. Hierzu gehörten zahlreiche Mitglieder der Partei und des «höheren» Machtapparates.

Ein weiterer Teil verhielt sich «überzeugt», stand aber zur «Umkristallisation» (Bahro) bereit.

Eine dritte, wahrscheinlich die größte Gruppe verhielt sich angepaßt bis unpolitisch. Sie hatte Angst vor den existierenden Machtstrukturen, in den späten Jahren sogar mehr Angst, als dem tatsächlichen Gewaltpotential angemessen war, konnte aber erheblichen politischen Druck entfalten, wenn vitale materielle und geistige Interessen tangiert waren. Die von Zeit zu Zeit anschwellende Ausreisebewegung in der DDR wurde von dieser Gruppe stark mitbestimmt und war für die Machthaber äußerst unbequem.

Die vierte, kleinste Gruppe bestand aus aktiven «Dissidenten» und «Reformern», die energisch Änderungen verlangten, während die anderen dagegen waren oder zumindest zu äußerster Vorsicht rieten. Es gab da allerdings eine Unschärferelation: Das mathematische Produkt sozusagen aus politischer Deutlichkeit und Radikalität der angemahnten Reformen konnte einen gewissen Grenzwert nicht überschreiten.

Man durfte zum Beispiel nicht laut und energisch eine Abschaffung des ganzen sozialistischen Systems fordern, weil das sofort die Abwehr mobilisierte und auch motivierte.

Wer so vernehmlich wie Wolf Biermann oder Robert Havemann protestierte, mußte notwendig sozialistischer Reformer bleiben. Das ist nicht taktisch gemeint, denn nur so hatte man eine politische Überlebens­chance, die Systemradikaleren wurden einfach weggeräumt.

Havemann und Biermann bekamen Hausarrest, weil sich die Entscheidungs­träger in Hagers ZK-Sekretariat genierten, ganz brutal auf Marxisten einzuschlagen.

Trotz dieser Spaltung stimmten die Vertreter der Intelligenzschicht in der Lebensweise, den Ansprüchen und Wünschen weitgehend überein, wie auch in ihrem Verständnis von dem, was «die da oben» wollten. Natürlich gab es auch intensive persönliche Kontakte über die politischen Meinungsgrenzen hinweg. Für alle hatten zum Beispiel berufliche Kontakte ins Ausland, Zugang zu westlicher Literatur einen hohen Stellenwert, was für andere soziale Schichten von geringerer Bedeutung war. Diese Übereinstimmungen in der Lebensauffassung erleichterten in der kritischen Phase einen «verhandelten» Zusammen­bruch des Systems, zum Beispiel in Ungarn. Wo diese Differenzierung der Intelligenz nicht vorhanden war, wie in Rumänien, gelang der Übergang nicht. Er wurde blutig und blieb unvollständig.

51


Auch die übrige Bevölkerung, «das Volk», verhielt sich selbstverständlich nicht politisch homogen. In Polen ergriff die Arbeiter­schaft sehr nachdrücklich die Initiative und ging auf ein Bündnis mit «Beratern» zu. Als dieses Bündnis stand, wurde die Bewegung in dem Sinne konstruktiv, daß Verhandlungs­ergebnisse und Kompromisse möglich wurden, die die Stellung der Herrschenden unterminierten.

In den übrigen Ländern verhielt sich die Bevölkerung recht passiv. Die Charta 77 etwa war jahrelang total isoliert, die Dissidenten­bewegung in der Sowjetunion wurde von der Mehrheit der Bevölkerung ausdrücklich abgelehnt, sogar gehaßt. Das gilt auch für die «eigenen» Leute: Sacharow und Solschenizyn waren alles andere als Idole für breite Kreise der Intelligenz.

«Das Volk»: Dieser Begriff ist bei der Beschreibung der sozialistischen Gesellschaft eher anzuwenden als bei den differenz­ierteren Gesellschaften außerhalb. Es gibt nicht die scharf klassifizierende Eigentumsordnung. Nahezu alle Einwohner, einschließlich der Frauen, waren abhängig berufstätig. Dabei bestanden keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten der unteren Ränge. Die politische Führung war oder gab vor, monolithisch zu sein, nicht pluralistisch. Deshalb war ein so einfaches demoskopisches Merkmal wie: «Ich bin für (oder gegen) die da oben!» eine gute Richtschnur, was im Westen eine rein emotionale, unpräzise Anfrage wäre. Diese Erkenntnis leitete auch das närrische Interesse der Herrschenden, genau mit dieser Frage bei den Wahlen mit allen Mitteln 100,1prozentige Zustimmung anzustreben. Eine geduldete Minderheit von ursprünglich auch nur drei Prozent hätte augenblicklich einen Schneeballeffekt ausgelöst und wäre zur zeitweiligen Mehrheit angewachsen. Der temporäre Massenzulauf zu den Bürger­bewegungen in der DDR und der CSSR hat dieses Urteil bestätigt.

52


Das Volk verhielt sich im Gegensatz zur politisch engagierten Intelligenzschicht politisch nahezu vollständig neutral. Genau gesprochen: Es wartete auf Wortführer. Davor gab es passiven Widerstand und gelegentlich ein murrendes Donnergrollen, wenn es ums Eingemachte ging. Das Eingemachte waren in der DDR offenbar Bettwäsche- und Kaffeepreis, über die es fast zu Aufständen gekommen wäre. Auch Reisevisa und Valuta­umtauschsätze waren sensible Größen. In Polen rief der Fleischpreis einige Male Unruhen hervor (1976, 1980).

Das Volk wartete also. Dabei verteilte es mit erstaunlichem taktischem Geschick seine Sympathie auf einer zeitlich gleitenden Skala. In Ungarn war das sehr deutlich sichtbar, wo die Sympathien von patriotischen Kommunisten wie Kádár über Reformkommunisten (Pozsgay) langsam über sozialistische, sozialdemokratische, liberale bis zu konservativ-marktwirt­schaftlichen Parteien glitten. Die furchtbare Erfahrung des Herbstes 1956 hat eine stets wache Vorsicht hervorgebracht, die «Schmerzschwelle» der Moskauer Dogmatiker nicht zu überschreiten.

Nach allem, was ich selbst über viele Jahre in den Ländern des Realsozialismus beobachtet habe, war – mit Ausnahme der Sowjetunion – die Bevölkerung überall mehrheitlich zur «Umkristallisation», zur Abschaffung des Systems bereit. Aber die Umstände erlaubten es nicht. Und man wollte, mit den Erfahrungen von 1953 (DDR), 1956 (Ungarn und Polen), 1968 (CSSR und Polen), 1970 (Polen), 1981 (Polen) im Hinterkopf, daß dies taktisch gewandt erfolgen sollte.

53


Man erwartete das von liberalen Änderungen in der Sowjetunion und von geschicktem Taktieren eigener Führer. Gorbatschow, Kádár, Modrow und andere «Gemäßigte» verdanken ihre zeitweilig hohe Akzeptanz diesem Erwartungsfeld.

Das Warten auf die geistige Führung war durchaus ambivalent. Man sieht das am besten am Beispiel Böhmens. Die nationale Wiedergeburt im 19. Jahr­hundert war dort ebenfalls eine katalytische Leistung der Intelligenz, vom Dorfschullehrer und Dorfgeistlichen bis zum patriotischen Kleinbürger, Verwaltungsbeamten, Geistlichen in den Städten. Das Volk hob 1918 einen Philosophen, Tomás Garrigue Masaryk, auf den Präsidententhron. Das war die Tradition, die dort der Intelligenz eine ganz andere Rolle zuwies als etwa in der DDR.

Das Volk war auch 1989 bereit, Václav Havel zum Helden des gelungenen Aufstandes zu machen und wiederum, Vorbild 1918, einen Intellektuellen auf den Präsidentenstuhl zu setzen. Sogar Alexander Dubcek, bei aller Reserve vor seiner kommunistischen Gesinnung, wurde Parlamentspräsident, als Lohn für seinen Versuch, 1968 die Änderung der Verhältnisse einzuleiten.

In scharfem Kontrast dazu steht das Verhalten vor 1989. Havel und die Intellektuellen der Charta 77 waren isoliert und weithin unbeachtet. Sie waren erbärmliche Tagträumer ohne Unterstützung in der Bevölkerung. Der moralische Heros der Befreiung ist vorher mehrere Male als Krimineller ins Gefängnis gegangen, auch noch zu Zeiten, als ein hörbares Murren in der Bevölkerung längst Wirkung bei der verunsicherten Führung gezeigt hätte.

Ich fühle mich, bitte mutatis mutandis, mit aller Reserve und allen Einschränkungen, an das Verhalten von Weibchen mancher Tierarten erinnert, die dem Kampf der Männchen gleichmütig zusehen und dann ebenso gleichmütig den Sieger zum Partner wählen.

54/55

Bevölkerung also in schweigender Mehrheit, die auf Vorschläge und Angebote wartet. Sie will fundamentale Änderungen, aber auf vorsichtig konservativem Wege. Solange die in den Büroetagen ruhig bleiben, bleibt sie es auch, vorausgesetzt, die Herrschenden trampeln nicht unerträglich auf Hühneraugen herum.

Das Volk im Dauerregen von wohlgedrechselten Sätzen. In den Zeitungen liest es nur die Sport- und die Lokalseite. Auf den übrigen Seiten prasselt Wortregen. Man muß sich klarmachen, daß jemand, der diese Seiten überblättert und der die Ohren zuklappt, wenn er «die Intis» mit «den Bonzen» debattieren hört, zwischen beiden nicht unterscheiden wird.

Es ist so schwierig, als wolle man in einer fremden Sprache, die man nicht bis in die Wurzeln kennt, Dialekte unterscheiden und deren Merkmale sortieren.

Daraus läßt sich ableiten, wie die Rede eines Pastors wirken muß, der nach der Wende eine Partei gegründet hat. Wenn er nicht ganz unmißverständliche Signale setzt und nicht den Bundeskanzler neben sich stehen hat, sondern von Verfassungsdemokratie und ziviler Gesellschaft spricht, dann muß der am abstrakten Wort uninteressierte Mensch den Eindruck bekommen, daß schon «wieder so ein Schwätzer das Wort hat, wie schon seit vierzig Jahren».

 

55


 

   A kto ty, jevrej, shto li? - Also was bist du, ein Jude vielleicht?  

 

Er war einer von den «Schwarzen», den tchornye, aus der Unterstadt. Dafür, daß sie schwarz heißen, gibt es mehrere mögliche Erklärungen. Vielleicht die dunkle Hautfarbe, die Einmischung von nichtrussischen Völkerschaften des Südens oder Mittelasiens verrät. Oder der finster abweisende Blick des Proletariers (in Rußland ist ohnehin der durchschnittliche Gesichtszug verschlossener, brummiger als in Deutschland: um so überraschender, wenn sie dann den etwas beklommenen Erwartungen bei näherem Kennenlernen so gar nicht entsprechen). 

Schließlich auch der unvermeidliche dunkle Anzug mit weißem Hemd, offenbar nach der Revolution zur Erhöhung der Kultur der Städtermassen eingeführt. Er wird auch vom völlig heruntergekommenen Alkoholiker getragen.

Ich war also Jude. Mit meiner hellen Haut, den hellen Augen, der Brille, vor allem jedoch mit meinem Russisch, das so gar nichts mit ihrer Sprache zu tun hatte. Es war nicht die Aussprache, der Akzent, der ihn zu seiner Vermutung brachte. Quere Akzente sind in dem Vielvölkerstaat mit ständiger Bevölkerungs­bewegung und Verkehrssprache Russisch so häufig, daß die Einheimischen sie gar nicht richtig wahrnehmen, jedenfalls nur selten daraus Herkunfts­diagnosen ableiten können.

Der Verdacht kam wohl auf, weil ich Russisch, als gelehriger Schüler von Pawel Iwanowitsch Lehmann, als diskursive und nicht als agglutinierend-interjektionelle Sprache verwende. Meine Sätze haben Subjekt, Prädikat, Objekt, Attribut, Adverbial­bestimmungen. Es sind die literarischen Sätze des Ausländers, mit gestelzter Konjugation und Deklination, sozusagen Cicero-Latein auf russisch.

56


Zum Verdacht führte auch, daß ich ein Bücherwurm bin. Ich hatte meinen Langenscheidt verloren, das einzige Wörterbuch, das mit einem einigermaßen übersichtlichen Nummernsystem Beugung und Betonung der russischen Wörter direkt im Verzeichnis klarstellt, so daß man sofort weiß, wie es zu verwenden ist, wenn man es aufsucht. Als Ausländer, versteht sich. Denn kein Russe hat diese analytische Vorstellung. Besonders die Betonung ist eine Meisterleistung des Sprachgefühls, unzugänglich jedem, der nicht als Kind in diesem Lande aufgewachsen ist.

Den Langenscheidt also hatte ich verloren und war verzweifelt. Auf Anraten von Anna Ignatjewna hatte ich einen Aushang am Eingang des Kaufhauses «Sputnik» angebracht. Nach Tagen kam ein Telefonanruf, der so unartikuliert gebellt war, daß ich nur verstand, ich solle mich neben der Schnapsverkaufs­stelle des «Sputnik» einfinden. Dort traf ich auf ihn, Wasja (wie er sich vorstellte). Er fragte umständlich, ob ich etwas vermisse, und zog nach längerem Palaver das Wörterbuch aus der Jackentasche und fragte, als ob er es mir zum Kauf anböte: «Wieviel willst du anlegen?» 

Und nachdem wir handelseinig geworden waren, ich für fünf Rubel mein kostbares Wörterbuch wiederhatte, stellte er die Frage «nach der Nationalität». Jude also, so nah sind wir Deutschen den Juden, die wir vor fünf Jahrhunderten aus unseren mittelalterlichen Städten in den Osten verjagt haben, wo sie neben der deutschen Sprache (Jiddisch) auch Kleidungsgewohnheiten und andere Sitten und Verhaltensweisen so sehr bewahrten, daß der Russe mich augenblicklich als Juden einreihte.

Aber es muß nicht mein mittelalterliches Restaussehen allein gewesen sein. Es ist einfach der Gesichtsausdruck des «Intelligent», der Juden und alle anderen «Gebüldeten« augenblicklich taxierbar macht.

57


Jude und Intelligenz geht für viele synonym, und die rationale Abneigung gegen die Spinner in der Verwaltungsetage, die schön warm sitzen und alles besser wissen oder mit den Achseln zucken, weil sie auch nichts für die blödsinnigen Kommandos von oben können, findet ihr irrationales Widerlager in der Abneigung gegen den Juden, den ewigen Wucherer, Geldwechsler und Advokaten, der jeden warmen Posten für seine Sippe besetzt hält und keinen Einheimischen darauf läßt. 

Der Judenhaß der einfachen Leute ist für die Herrschenden bequem, weil es von ihnen selbst ablenkt. Die Juden haben Rußland verdorben, das gute alte, heilige Rußland, so behaupten die Pamjat-Leute, sie haben die Revolution gemacht, sie haben ihren Davidsstern in die heilige Fahne Rußlands gepflanzt. Alle Revolutionäre waren Juden, alle diese Zederbaum, Apfelbaum und Bronstein mit den ganzen gut russisch klingenden Decknamen; selbst Lenin war, wenn nicht zur Hälfte Deutscher und zur anderen Hälfte Kalmücke, wer kann das schon genau prüfen, vielleicht auch noch Jude.

Ich habe unter den Russen gelernt, wie Haß auf Intelligenz und Haß auf Juden sich gegenseitig vertreten können. Ich habe auch gesehen, mit wieviel realem Unterfutter das irreale Vorurteil gepolstert ist. Bei den Zulassungen zur Universität tobt der Kampf. Da gibt es jüdische Institute und lupenrein russische. Weil die einen die ihren bevorzugt aufnehmen, polemisieren die anderen gegen sie. Findest du als Jude beim Aufnahmeexamen trotz vieler «Bälle» (Punkte) keinen Zulaß, dann muß dein Verwandter in einem anderen Institut aushelfen, wo sie die Benachteiligung wieder umbiegen. Und umgekehrt.

58


Vor einigen Jahren führte ein russischer Mathematiker (ein hochbedeutender, weltbekannter) einen offenen Feldzug gegen die «verjudete» Mafia auf den Universitäten. Das ging mit Hieb und Gegenhieb in den führenden Fachzeitschriften. Aber viel häufiger ist die stillschweigende Diskriminierung oder Bevorzugung. An den Vatersnamen erkennen sie den Juden, auch wenn Familienname und Vorname «getarnt» sind (Grigorjewitsch soll so ein Vatersname sein, obwohl Gregor eigentlich ein normaler christlicher Name ist); umgekehrt erkennen sie an den patriotischen Vornamen (Gleb etwa, oder Kirill) den fanatischen Großrussen und wissen ihn augenzwinkernd auszusondern.

Es gibt im konservativen Apparat ein Interesse daran, die Volkswut auf die Juden umzulenken. Sogar Sacharow sei einer, ließen Parteileute in den siebziger Jahren durchblicken. Je schwieriger es ist, die Nationalität Jude nach Jahrzehnten der Vermischung und nachdem die Umtaufe auf russische Namen in den zwanziger und dreißiger Jahren geduldet und sogar gefördert wurde, aus dem «fünften Punkt» des Passes zu rekonstruieren, so leicht ist es, den Verdacht auszusprechen, denn auch ein Nikolai Petrowitsch Iwanow kann ein «reinrassiger» Jude sein.

In der DDR war der diskriminierende Antisemitismus weniger entwickelt, einfach mangels Juden. Aber es gab ihn. Gerade in Berlin hatte ich viel mit Juden zu tun, heimgekehrten Emigranten und ihren Nachkömmlingen, und ich habe erfahren, daß die Vergabe von leitenden Stellen in eine andere Richtung beeinflußt wurde, «wegen zionistischer Tendenzen» des aussichtsreichsten Kandidaten, wie es genannt wurde. Auch in Polen ist das alles unterschwellig vorhanden, in Ungarn, in Rumänien.

Juden und Russen, Apparat und Nomenklatur, Intelligenz und Arbeiter: Spielmarken, die im politischen Untergürtellinienkampf eingesetzt werden.

59


   Das ideologisch-politische Dilemma 

 

Ihrer überkommenen Beschreibung bei den Marxisten nach sind sie Zwischenschicht. Ein Teil Lohnempfänger, ein Teil freier Unternehmer, Kleinstunternehmer, mit der eigenen Arbeitskraft spekulierend. Dieser kapitalistisch arbeitende Teil – Schriftsteller zum Beispiel, Theaterleute – ist bockig, systemkritisch. Der proletarische Teil verkauft mit der Arbeitskraft auch seine Gesinnung und wird systemstabilisierend: Beamte, Juristen, Lehrer. So gehen soziale Stellung und Gesinnung quer durcheinander. Auf Intelligenz ist kein Verlaß.

Was immer auch zutrifft oder nicht zutrifft an dieser Analyse: Zwischenschicht auf beiden Seiten der Barrikade waren sie auch im Sozialismus.

Ihre soziale Stellung konnte den Kopf nicht festlegen. Im gleichen Institut, in der gleichen Forschungsabteilung, zwei gleichaltrige Mitarbeiter, Physiker meinetwegen oder Elektronikingenieure: Einer geht auf den Parcours, nimmt die Karriere, tritt in die Partei ein, wird befördert; der andere verweigert sich, gräbt sich in die Arbeit ein, verachtet die Bonzen, freut sich, daß er nicht ständig zur Versammlung gerufen wird, mit den Jahren allerdings entwickelt er eine feste Ablehnungsstruktur und wird dabeisein, wenn im Winter 1990 die neuen Gruppen sich formieren, Bürgerbewegungen, SPD, DSU, Liberale. Wie in der Retorte: Rote Socke, Wendehals, Regimegegner — alle aus der gleichen Brut. Politische Entscheidung, von individuellen Präferenzen determinierte und nicht durch die ökonomisch-soziale Lage. Bewußtsein formiert sich selbst und bestimmt das gesellschaftliche Sein.

60


Das funktionierte reibungslos. Nur hatte jeder zwar kleine, aber unentfernbare Widerhaken im ideologischen Gebälk. Der Karriere machte, würde in zehn oder zwanzig Jahren, wenn der glanzvolle Jugendschmelz abgeschabt ist und der Wind den mittleren Jahren ins Gesicht bläst, feststellen: Irgend etwas fehlt mir. Der Stallgeruch. Sie halten und schieben mich stets in wichtige Positionen, aber immer subaltern. Selbst als Staatssekretär. Selbst als Mitarbeiter des ZK-Abteilungsleiters, ein Posten, der alle Kollegen draußen im Land ausnahmslos zum Katzbuckeln zwingt, aber trotzdem immer nur einen Sitzplatz zu Füßen des Throns einbringen wird. In der Nähe des Fußes, der auch einmal einen Tritt austeilen kann.

Der Widerhaken also: Der Hegemon, der Apparatschik, obwohl sich gern mit akademischen Ehren schmückend, verteidigt seine Stellung als Hochadel durch Selbstreproduktion. Sein Sohn macht die Karriere, über die Kreisparteileitung, in endlosen Rauchsitzungen, abends gemeinsames Bier. Ins Machtzentrum kam nur der passende Typ, nicht jeder hergelaufene Intelligenzler.

Der Widerhaken des anderen ist struktureller Natur: Intelligenz als Stand definiert sich durch berufliche Qualifikation. Und die kann man nur erwerben, wenn man in ein funktionierendes System eingebettet ist. Auch die Kinder werden den Studienplatz nur erhalten, wenn die Eltern unauffällig funktionieren. Unausweichlich erzwingt das alles Kompromisse oder Zuflucht zu Protektion. Regimekritisch darf man nur nach Feierabend sein, wenn man das ARD-Programm anschaut, oder in der Staatsbibliothek, wenn man das westliche Computermagazin oder «bild der Wissenschaft» liest. Sobald man das in die Berufssphäre einbringt, wird man (nach einer gewissen Schonfrist, auch hier spielt Jugendschmelz eine Rolle) ausgewiesen, an den Rand gesetzt.

61


Der anfängliche Vorteil, daß ich mich mit Differentialgleichungen befassen darf, während der karriere­springende Studienfreund zur FDJ-Bezirksleitungssitzung fährt, verwandelt sich unmerklich in einen Rückstand. Mein aktuelles Wissen ist abstrakt, angelesen, nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Er aber ist Reisekader und fahrt auf die Westkongresse, wo er beim Smalltalk erfährt, daß jene technologische Linie, die noch alle Journale füllt, bereits auf dem Abstieg ist, weil nämlich ... und daß diese wissen­schaftliche Gruppe voraussichtlich groß im Kommen ist. Er sammelt Kontakte, tauscht Informationen aus, lädt den kommenden Nobelpreiskandidaten in die DDR ein, wo er ihm zwar keine umwerfenden Forschungs- oder Fertigungslabors vorweisen kann, aber eine wunderbare Rundreise durch die alternative Welt der DDR. Damit er ihn empfangen darf, braucht er eine Genehmigung und eine bestätigte Besucherdirektive, und das zwingt ihn früher oder später dazu, sein Verhältnis zu «Horch und Guck» auf eine sachliche Zusammenarbeitsbasis zu stellen ...

Mit einem Wort, man könnte seitenlang so fortfahren: Intelligenz, besonders die naturwissenschaftlich-technische, gedeiht nicht auf Dauer in Oppositionsstellung, weil ihr Arbeitsgegenstand, ihr Definitionsgrund, auf stabilisierende Wechselwirkung mit der umgebenden politischen Struktur angewiesen ist. Das ist das Dilemma jedes Intelligenzlers in einer rational konstruierten Gesellschaftsordnung (rational heißt nicht effizient, bitte keine Mißverständnisse!). Ein Dilemma, von dem die Putzkraft im gleichen Betrieb meilenweit entfernt ist. Ohne mit ihrem Dasein als Reinigungskraft in Widerspruch zu geraten, kann sie «kontra» sein, kann ebensogut neutral bis gleichgültig sein, kann sich «wegen der sozialen Vergünstigungen» sogar einen Kopfsozialismus leisten (allerdings instabil, wenn sie nämlich etwas auf dem Kasten hat, wird sie bald über die Branchengewerkschaft, FDJ-Gruppe oder Parteigruppe aufsteigen und aufhören, unten zu sein).

62


Die Putzkraft hat nur ihre Arbeitskraft (eben die Putzkraft) zu verkaufen, während der Ingenieur «von der Arbeiterklasse zum Studium delegiert werden muß», bevor er Ingenieur wird, entsprechend dankbar zu sein hat und als undankbar eingestuft wird, wenn er das nicht einsieht, und auch noch auf die Arbeiter­klasse angewiesen ist, wenn er ein Ingenieur bleiben will, der diese Bezeichnung verdient.

So sagt sich der Diplom-Ingenieur: Ein System, in dem ich fünfzehn Jahre auf ein veraltetes kleines Auto warten muß und am Computer immer zwei Generationen hinterher bin – das ist nicht mein System. Was immer dort an Schwierigkeiten wartet, es ist besser da drüben, und deshalb bin ich hier dagegen. Komparativ. Ich bin das Volk. Ich bin für Marktwirtschaft.

Das ist sein gutes Recht. Aber «zum Volk» gehört er nicht nach freiem Entschluß. Diese Mitgliedschaft muß er sich erst hart erarbeiten. Den Lohn dafür wird er aber nicht erhalten, weil er mittlerweile den Berufsstand (das Berufswissen) eingebüßt hat. Also ist Frust programmiert.

In der rational konstruierten sozialistischen Gesellschaft

• wird die Macht sich als Intelligenz verkleiden,
• wird die Macht sich wissenschaftlich geben, das heißt vorgeben, im Besitz der Wahrheit und der Methode, besser als die Arbeiter und Bauern zu wissen, wie die Arbeiter- und Bauernmacht zu gestalten ist,
• wird die Intelligenz zum Pakt mit der Macht genötigt,
• wird der widerstrebende Intelligenzler tendenziell deprofessionalisiert, abgewickelt. Übersteht er die Wende, so wird er tendenziell nachabgewickelt. Natürlich gelingt es vielen,
durch die Reuse ins neue Becken zu kommen, hinreichend geschickt sind viele von ihnen. Dann sind sie daheim bei der West-Intelligenz.

63


    Die Grundlüge des Kommandosystems    

 

Die Lebenslüge des Kommandosystems ist nicht so sehr, daß es angeblich kein Kommandosystem sei. Damit könnte man leben; das ist eine direkte Lüge. Ein Satz wird negiert, na und? Die Lüge ist viel komplizierter. Sie ist in sich verwrungen. 

Die Konstruktion ist schon von Marx vorgedacht worden, allerdings ohne Einzelheiten, summarisch, Diktatur des Proletariats. Sie besteht darin, daß die Beherrschten die Herrschenden sind und die Machthaber die Diener. Vorgeblich.

Jeder gelernte DDR-Bürger kennt den Scherz: Man legt die drei mittleren Finger auf den Tisch, Daumen und Kleinfinger stecken fest anliegend unter der Kante. Dann sagt man mit gehobener Stimme: «Arbeite mit, plane mit, regiere mit!» und hebt bei jedem Teilsatz einen Finger. Zuerst den Zeigefinger, dann den Mittelfinger und beim Regieren den Ringfinger ...

So stand schon im ersten Satz der Verfassung eine Lüge: Die Deutsche Demokratische Republik ist ein Staat der Arbeiter und Bauern.
Das wäre ja vielleicht noch gutgegangen, wenn alles andere auch gelogen wäre. Orwell.
Orwells Reich funktionierte aber nur, solange die Grenze zu den Bösen, den anderen, absolut dicht war. 

64


Es hätte vielleicht in der Sowjetunion gelingen können, wenn Hitler sie nicht aus der autistischen Selbst­isolation herausgerissen hätte. Ostmitteleuropa zu schlucken — das war Stalins fundamentaler Fehler. Das hat den Untergang zu einer Springfalle gemacht, die irgendwann einmal zuschnappen würde. Die Isolierung gelang nicht mehr.

So mußte man sich damit einrichten, daß der eine Satz normal wahr und der andere dialektisch wahr war und daß die einander auslöschenden Wahrheiten nebeneinander koexistierten.

Die Grundlügen über die Macht der Arbeiter und Bauern verlangte sofort eine verkleisternde Ideologie. Sie zwang auch dazu, einen bedeutenden Teil der praktischen Alltagspolitik danach zu gestalten. 

So mußten Restfreiheiten belassen werden, etwa für das Proletariat die Freizügigkeit der Arbeitssuche in der ganzen riesigen Sowjetunion. Alle Versuche, dies irgendwie über «innere Pässe», Meldebögen oder Arbeitsplatzbindung zu beseitigen, scheiterten letzten Endes. Man mußte den aufmüpfigen Arbeiter losziehen lassen, in den hohen Norden, in die Zelina (Neulandgewinnung), in die Armee, zur BAM und nach Tjumen ins eisverpackte Erdöl. Weg war er, aber das war erträglicher, als wenn er Streiks organisiert hätte. 

Die Wanderschaft großer Teile der männlichen Bevölkerung war ein Mentalitätserbteil aus dem Zarenreich, das über Jahrhunderte mit den Herumziehenden (den «Stranniki») zu kämpfen hatte und nie obsiegte: Der Georgstag im November, an dem sie abhauen durften, nicht aber vorher, in der Entezeit, dieses Datum ist das Vorbild der Kompromißlinie, die auch die Nomenklatura nicht verlassen durfte.

65


Im Spannungsfeld von Welt A (enthält normal wahre Sätze) und Welt B (enthält deklariert wahre Sätze) befand sich auch der ganze Firlefanz mit der Rolle der Gewerkschaften, Transmissionsriemen und gleichzeitig Auffangbecken für Unmutsausbrüche (elastische Reaktion, Lohnerhöhungen, anschließend Rädelsführer unter vorbereiteten Vorwänden einbuchten), der Kult des sozialistischen Wettbewerbs. Die Frage eines rational optimierungssüchtigen Kopfes war stets: Warum treiben sie den ganzen unsinnigen Aufwand? Daß da irgendwo die Arbeitswut der Massen stimuliert wird, ist doch offensichtlicher Humbug! Hier ist die Antwort: Es war alles Fugenkitt an einer kritischen Rißstelle zwischen Welt A und Welt B.

So ist auch verständlich, weshalb kleine Wahrheiten dem Bestand der Ordnung so gefährlich werden konnten. 

Orwell hat das auch beschrieben, anhand einer menschlichen Beziehung, die per Definition ausgeschlossen war und doch stattfand. Kleine Wahrheiten waren systemsprengend, wenn sie den Widerspruch zwischen den beiden Welten klarstellten. Ebenso kleine Proteste, wenn jemand sich der Konstruktion verweigerte. 

Havels Aufruf, im Alltag ganz einfach «in der Wahrheit zu leben», in Welt A also, und Welt B sich selbst zu überlassen, war ein revolutionäres Kurzprogramm. Ohne es auszusprechen, verwies es auf die Grundlüge. Eine kleine Novelle, ein Gedicht, ein Film konnte diese Wirkung entfalten.

Ein ungedecktes Treffen beider Wahrheiten führte stets zu einem zischenden Kurzschluß.

Immer war es ein Intelligenzler, der den Kurzschluß im Getriebe auslöste. Weil sich diese Berufsgruppe mit abstrakten Propositionen befaßte und ständig auf den Widerspruch in der abstrakten Welt stieß. Welt C, die konkrete Alltagswelt, ist nämlich wenig empfindlich gegen Wahrheiten, sie ist Realität, ohne Urteilswert einfach vorhanden. Die These von der Arbeiter- und Bauernmacht kollidierte nicht mit Sonne und Gestirnen oder damit, daß die Spinne seltsamerweise acht Beine hat. Wo es knirschte, das war in der abstrakten «Widerspiegelung» (marxistischer Grundterminus) der Realität; dort stießen nämlich Welt A und Welt B aufeinander und negierten sich kontradiktorisch.

Der Technokrat ist in Welt A verhakt, der Bonze in Welt B, die Verkäuferin und der Transportarbeiter bleiben in Welt C. Gleicht man A und B einander an, indem man die völlig inkompatiblen Lebenslügen zurückzieht, dann brechen neue Rißstellen auf.

66-67

#

 

 

www.detopia.de       ^^^^