3. Das Elternhaus sexuell mißbrauchter Kinder Reinhold-1994
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Oft sind die Eltern und Großeltern sexuell mißbrauchter Kinder ebenfalls als Kind sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen. Es scheint, wie wenn sich sexueller Mißbrauch wie ein Bazillus von einer Generation auf die nächste überträgt.
Die Erklärung dafür ist einfach: Als Kinder übernehmen wir unbemerkt viele Umgangsformen und unausgesprochene Verhaltensregeln unseres Elternhauses. Als Erwachsene suchen wir uns dann meist instinktiv einen Partner, der ähnliche Umgangsweisen und Regeln von seinen Eltern gelernt hat wie wir. Mit ihm bilden wir eine Familie, in der ein ähnliches Gefühlsklima herrscht wie bei unseren Eltern.
Kommen wir z.B. aus einer Familie, in der der Vater sehr bestimmend war und in der die Kinder viel geschlagen oder sexuell mißbraucht wurden, so bilden wir mit unserem Partner ungewollt eine ähnliche Familienstruktur heraus, in der es leicht zur Mißhandlung unserer Kinder kommen kann.
Nun sind sich die Familien sexuell mißbrauchter Kinder in bestimmten Merkmalen sehr ähnlich. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen ist und ob der Mißbrauch inner- oder außerhalb der Familie passiert. Bestimmte Strukturen und Umgangsformen in Familien erhöhen das Risiko der Kinder, sexuell mißbraucht zu werden, auf folgende Weise:
Sie bewirken, daß Kinder gegen die sexuellen Übergriffe weniger Widerstand leisten können, weil sie sich zu besonders eingeschüchterten, liebesbedürftigen oder hilfsbereiten Personen entwickelt haben.
Sie führen dazu, daß Kinder, die sexuell mißbraucht wurden, bei ihren Eltern keine Hilfe erwarten oder bekommen, so daß die sexuellen Übergriffe jahrelang weitergehen können.
Sie begünstigen den sexuellen Mißbrauch in der eigenen Familie.
Fehlende Fürsorge im Elternhaus
Es gibt viele Hinweise darauf, daß die Eltern sexuell mißbrauchter Kinder in ihrer Elternfunktion versagen, weil sie viel zu sehr mit sich selbst und ihren Problemen beschäftigt sind, als daß sie sich noch ausreichend um ihre Kinder kümmern könnten. In 2/3 der Familien sexuell mißbrauchter Kinder gibt es massive Ehekonflikte zwischen den Eltern. Dies ist oft mit Entfremdung und Trennung der Eltern verbunden. Beide Ehepartner machen sich auf die Suche nach neuen Partnern. Dadurch leben viele Kinder in ständiger Angst, von wichtigen Bezugspersonen verlassen zu werden, u. a. weil die Menschen, die mit ihnen leben, relativ häufig wechseln.
Andere Kinder haben keine Person, zu der sie eine enge, vertrauensvolle Beziehung aufbauen können, da sich ihre häufig abwesenden Väter oder gefühlskalten oder psychisch kranken Eltern nicht als Bezugspersonen eignen. Diese zu kurz gekommenen Kinder suchen dann die fehlende Nestwärme außerhalb der Familie und kommen so leichter in die Gefahr, sexuell mißbraucht zu werden. Meist hat sich niemand die Mühe gemacht, sie sexuell aufzuklären.
Männer, die sich an Kindern vergehen, spüren diese Bedürftigkeit der Kinder und suchen sich genau diese für ihr Vorhaben aus, weil sie instinktiv ahnen, daß die Eltern ihre Kinder auf solche Situationen nicht vorbereitet haben und sie auch nicht davor schützen werden. Da Kinder besonders stark auf die Zuwendung und Liebe eines Erwachsenen angewiesen sind, kommt es auch vor, daß Kinder von sich aus die sexuelle Beziehung zum Mißbraucher intensivieren um sich so die fehlende Gefühlsbindung zu verschaffen, die sie für ihre psychische Entwicklung brauchen.
Der tyrannische Vater
In vielen Familien herrscht die Vorstellung, ein Mann sei einer Frau überlegen und habe darum das Recht, in der Familie allein zu bestimmen. In einer Studie fand man, daß etwa die Hälfte der Väter von sexuell mißbrauchten Kindern sehr reizbar, aufbrausend und gewalttätig sind. Ein solcher Mann tyrannisiert und mißhandelt oftmals seine Frau und seine Kinder.
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Er verschafft sich die absolute Macht und Kontrolle über die Familie, indem er alle einschüchtert, bedroht oder unter Druck setzt. Seine Frau und seine Kinder betrachtet er in der Regel als sein Eigentum und fordert von ihnen die absolute Unterordnung. Widerspruch kann er nicht ertragen.
So sagte ein Vater aufgebracht zu seiner Tochter, als sie ihm einmal nicht gehorchen wollte: »Ich bin dein Vater und dein Gott. Ich habe dich gezeugt, also kann ich dich auch jederzeit umbringen, wenn ich das will.« Wenn er angetrunken nach Hause kam, holte er sie als Kind mitten in der Nacht aus dem Bett, damit sie ihm einen Kaffee machte und ihm Gesellschaft leistete. Er demonstrierte seine Macht, indem er sie stundenlang am Schlafen hinderte und ihr unsinnige Vorwürfe wegen erfundener Versäumnisse machte.
Kinder, die in solch einem Klima der Mißachtung und Gewalt aufwachsen, können kaum ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Durch solche Erlebnisse eingeschüchtert glauben viele Kinder, sie müßten jedem Mann gehorchen, auch wenn er Dinge tut, die sie als falsch und quälend empfinden. Auf diese Weise können sie leichter zu Opfern sexuellen Mißbrauchs werden. Aber auch der Vater selbst kann in solchen Familien ungestraft zum sexuellen Mißbraucher an seinen Kindern werden, da die Mutter zuviel Angst hat, als daß sie es wagt einzugreifen. So kann ein Mann vor seiner Frau ungestraft eingestehen: »Ich sehe nicht ein, warum ich jedes Mal Geld für eine Nutte aus dem Fenster werfen soll, wenn ich es bei ihr (der Tochter) umsonst haben kann.« Meistens sucht sich ein tyrannischer Mann eine selbstunsichere und leicht einzuschüchternde Partnerin aus, die sich widerstandslos seinen Wünschen fügt.
Viele Mütter sexuell mißbrauchter Kinder fühlen sich ihrem Mann unterlegen, sind leicht zu unterdrücken und viel zu unselbständig oder mutlos, als daß sie sich von ihm trennen könnten. Oft wurden sie selbst als Kind sexuell mißbraucht oder ihr Vater verhielt sich ähnlich tyrannisch und gewalttätig wie ihr Partner, so daß viele die Hoffnung aufgegeben haben, an diesen Lebensumständen etwas verändern zu können.
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Die Familie als goldener Käfig
Einige Familien, in denen Kinder sexuell mißbraucht werden, leben sehr zurückgezogen und haben kaum Freunde oder Bekannte. Die Eltern mißtrauen fremden Menschen. Die ganze Außenwelt wird als feindlich und bedrohlich erlebt und die Familie als einzig sicherer Zufluchtsort angesehen. In diesen Familien ist der Familienzusammenhalt für die Eltern sehr wichtig und wird daher von ihnen besonders betont und verteidigt. Die Versuche der Kinder, Freundschaften außerhalb ihrer Familie aufzubauen, werden offen oder versteckt sabotiert.
Beispielsweise wird ein <Eindringling> durch abwertende Bemerkungen und mißtrauische Unterstellungen so lange schlecht gemacht, bis das Kind diesen Kontakt aufgibt. Besucher sind grundsätzlich nicht willkommen und die Besuche der Kinder bei anderen Leuten werden ebenfalls unterbunden. Man möchte ganz für sich bleiben, weil man sich doch untereinander so gut versteht. Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, daß in der Familie alle das gleiche zu wollen und zu denken haben, damit keine Spannungen und keine Streitereien entstehen. Interessen- und Meinungsverschiedenheiten stören den Familienfrieden und müssen darum verhindert werden. Auf diese Weise können Kinder nicht lernen, wie man sich abgrenzt, weil sie nicht erfahren, daß Zuneigung und Harmonie trotz gegensätzlicher Bedürfnisse der Familienmitglieder möglich ist.
Indem die Eltern die außerfamiliären Kontakte ihrer Kinder erschweren, binden sie diese gefühlsmäßig eng an sich und bremsen ihre Entwicklung zur Selbständigkeit und zum Erwachsenwerden. Oft werden die Kinder geradezu als Eigentum ihrer Eltern betrachtet, d.h. sie haben kein Anrecht auf ein Eigenleben oder eine Privatsphäre. In manchen Familien wird erwartet, daß persönliche Briefe in der Familie vorgelesen, Telefonate und Begegnungen mit Menschen sehr genau erzählt werden. Wer sich weigert, wird mit Liebesentzug und schlechtem Gewissen bestraft. Diese Familienform begünstigt den sexuellen Mißbrauch in der Familie, da sie zum einen die Möglichkeit für Kontakte und sexuelle Begegnungen außerhalb der Familie einschränkt und zum anderen die Familienmitglieder veranlaßt, sämtliche zwischenmenschlichen Bedürfnisse nach Anerkennung, Zuneigung, Zärtlichkeit und Sexualität in der Familie zu befriedigen. Gleichzeitig kann sich die Familie, da sie von anderen isoliert lebt, dem forschenden Blick und der Einmischung von außen leichter entziehen.
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Unklare Grenzen in der Familie
In gesunden Familien gibt es klare Grenzen zwischen Eltern und ihren Kindern. Diese Grenzen entstehen durch eindeutige Regeln für das Zusammenleben in der Familie und durch die Festlegung, welche Pflichten und Rechte die Eltern und welche die Kinder haben. Kinder haben das Recht, von ihren Eltern versorgt und beschützt zu werden.
Damit dies möglich ist, müssen sie sich von ihren Eltern führen und beraten lassen. Dies sollte für alle Kinder in gleicher Weise gelten.
Eltern haben das Recht und die Pflicht, Entscheidungen für ihre Kinder zu fällen, z.B. wann sie ins Bett gehen sollen, was sie zu essen bekommen und was nicht, wo sie schon allein hingehen dürfen, wie lange sie von zu Hause wegbleiben dürfen, was alles für sie zum Anziehen gekauft werden muß usw. Sie müssen ihren Kindern dabei helfen, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Es ist Aufgabe der Eltern, ihre Kinder zu trösten und zu unterstützen, ihre Wünsche bei Entscheidungen mitzuberücksichtigen und sie vor Schaden zu bewahren. Diese Rechte und Pflichten haben beide Eltern zu gleichen Teilen.
Viele Frauen, die wegen den Folgen sexuellen Mißbrauchs zu mir in die Psychotherapie kommen, stammen aus Familien, in denen diese Grenze zwischen Eltern und Kindern sehr unklar oder ganz verschwunden war: Sie wuchsen mit Eltern auf, die ihre Aufgaben und Pflichten ihren Kindern gegenüber vernachlässigten und Rechte für sich in Anspruch nahmen, die ihnen nicht zustanden. In diesen Familien war es zu einem Tausch der Eltern-Kind-Rollen gekommen, so daß ein Kind die Verantwortung für die Familie übernehmen mußte, weil einer seiner Elternteile oder beide dazu nicht in der Lage waren. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen:
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Abb 21
Überlegener Vater / unreife oder kranke Mutter
Der Vater trifft hier alle Entscheidungen allein. Er kann dabei fürsorglich oder aber gewalttätig sein. Die Mutter wird von ihm wie ein weiteres Kind behandelt und ist oft psychisch oder körperlich krank. Eine der älteren Töchter übernimmt teilweise die Aufgaben der Mutter, z.B. erledigt sie viele Hausarbeiten, kümmert sich um ihre Geschwister, regelt die familiären Finanzen und befriedigt die gefühlsmäßigen Bedürfnisse der Familienmitglieder nach Trost, Lob, Aufmunterung, Liebe, einschließlich der sexuellen Wünsche ihres Vaters. Die übrige Familie erwartet von ihr immer selbstverständlicher, daß sie ihre eigenen Interessen hintanstellt, um sich vorrangig um das Wohlergehen der Familie zu kümmern.
Ist der Vater vom Typ her fürsorglich, stützt und hilft die Tochter dem Vater und bemuttert die Mutter. Ist der Vater von seiner Art her jähzornig und tyrannisch, hat die Tochter oft die Aufgabe, ihn zu besänftigen und sich beschützend vor ihre Geschwister und ihre Mutter zu stellen. So wird sie letztlich von allen Familienmitgliedern mißbraucht: Der Vater benutzt sie für seine sexuellen, die Mutter und die Geschwister für ihre gefühlsmäßigen Bedürfnisse. Hier gibt es keine klaren Grenzen mehr, weil Tochter und Mutter ihre Aufgabenbereiche vertauscht haben.
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Abbildung 3
CHRISTINE
Christines Vater ist ein treues und geachtetes Mitglied seiner Kirchengemeinde. In seiner Familie ist er der absolute Alleinherrscher: Was er sagt, muß gemacht werden. Und diese Rechte leitet er aus der Bibel her: »Das Weib sei dem Manne Untertan« und »die Kinder sollen ihre Eltern ehren«. Seine Frau ist in diesen Dingen der gleichen Meinung; um eine gute Ehefrau zu sein, muß sie sich nach den Wünschen ihres Mannes richten. Einfluß auf ihren Mann hat sie nur, wenn sie so diplomatisch vorgeht, daß er davon nichts merkt. Aus Angst vor seinem Jähzorn versucht sie dies aber nur sehr selten. Er allein bestimmt die Regeln in der Familie. Dies tut er sehr willkürlich und zu seinem eigenen Vorteil, wobei er sich selbst nicht an seine Regeln gebunden fühlt. Er droht mit Prügeln, sobald ihm jemand aus der Familie widerspricht.
Ärger und Haß auf den Vater sind den Familienmitgliedern gemäß den christlichen Wertvorstellungen nicht erlaubt. Aufgrund seines aufbrausenden Wesens und seiner Rechthaberei hat er keine Freunde. Er ist darum gefühlsmäßig sehr an seine Frau und seine Kinder gebunden, die er allerdings wie sein Eigentum behandelt. So verfügt er über ihren Kopf hinweg, wen sie zu besuchen oder wem sie zu helfen haben. Als seine Tochter Christine in die Pubertät kommt, faßt er ihr ganz selbstverständlich an die Brust, um zu fühlen, wie diese inzwischen gewachsen ist. Wenn Christine sich dagegen sträubt, wird der Vater so gereizt, daß die ganze Familie unter seiner schlechten Laune zu leiden hat.
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Die Mutter übersieht diese Übergriffe und beruhigt sich und Christine damit, dies sei eine normale väterliche Geste und er wolle ihr nur zeigen, daß er sie als Tochter gern habe. Als ihr Christine eines Tages allerdings von dem erzwungenen Geschlechtsverkehr durch ihren Vater erzählt, ist die Mutter schockiert und stellt ihren Mann zur Rede. Dieser zeigt sich vom schlechten Gewissen geplagt und denkt an Selbstmord. Die Schuld für seine Vergehen schiebt er auf seine Tochter, sie habe ihn verführt. Die Mutter ist zwischen ihrer Tochter und ihrem Mann hin- und hergerissen, sie weiß nicht, wem sie die Schuld geben soll. Sie nimmt ihrem Mann das Versprechen ab, dies nie wieder zu tun, und fordert Christine auf, ihrem Vater zu verzeihen und nicht mehr so widerborstig auf ihn zu reagieren. Sie übersieht aber weiterhin, wenn ihr Mann seiner Tochter an den Busen faßt oder vor den Augen aller an seinen Geschlechtsteilen spielt.
Obwohl Christine inzwischen eine eigene Wohnung hat und finanziell unabhängig von ihren Eltern ist, stellt sie ihre wöchentlichen Pflichtbesuche bei ihren Eltern nicht ein. Sie traut sich nicht, sich den Anordnungen ihrer Eltern zu widersetzen und möchte auch ihre Mutter nicht mit dem Vater alleinlassen. Sie glaubt, es sei ihre christliche Pflicht, auch diese Eltern noch zu ehren und zu achten. Es ist aber mehr als nur reines Pflichtgefühl, das sie jedes Wochenende nach Hause treibt: Sie kann den Kontakt zu ihren Eltern nicht abbrechen, well sie die Illusion eines schützenden Zuhauses braucht, auch wenn es dieses Zuhause in Wirklichkeit gar nicht gibt. So wie bei Ihren Eltern fällt es Christine auch bei ihren Kollegen und Freunden sehr schwer, die Erwartungen anderer zu enttäuschen und ihren eigenen Bedürfnissen zu folgen. Dies ist für sie mit dem Gebot der Nächstenliebe schwer zu vereinbaren.
In diesem Beispiel wird deutlich, wie gut der Vater die christlichen Werte dazu zu nutzen versteht, seine ganze Familie zu terrorisieren. Gut und Böse liegen hier sehr nah beieinander. Der Vater zeigt neben seinen tyrannischen auch fürsorgliche Selten, und das macht die Ablösung vom Elternhaus für Christine so schwer. Auf diese Weise ist sie weiterhin den sexuellen Anzüglichkeiten und Übergriffen ihres Vaters ausgesetzt, gegen die auch die Mutter nichts unternimmt.
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Überlegene Mutter / unreifer oder kranker Vater
Hier trägt die Mutter die Verantwortung für die gesamte Familie allein, weil sich der Vater seinen Pflichten als Elternteil und Ehepartner entzieht. Als Kind entweder vernachlässigt und mißhandelt oder aber maßlos verwöhnt und mit Aufmerksamkeit überschüttet, konnte der Vater nicht genügend Selbständigkeit und Reife entwickeln, die zum Erwachsensein notwendig ist. Er wählte sich eine starke, selbstbewußte Partnerin, an die er sich anlehnen kann und die, wie vorher seine Mutter, den Alltag für ihn regelt.
Auf seinen Nachwuchs reagiert er oft gereizt und eifersüchtig, weil er jetzt die Aufmerksamkeit seiner Frau mit jemandem teilen muß. Manche Väter benutzen ihr Kind als Vorzeigeobjekt, verlangen besondere Leistungen von ihren Kindern oder brüsten sich mit ihrer Vaterschaft, ohne eine wirkliche Gefühlsbindung zu dem Kind aufzubauen und sich für sein Wohlergehen verantwortlich zu fühlen. In diesem psychischen Klima kann es leicht zum sexuellen Mißbrauch kommen, weil der Vater sein Kind in erster Linie als Quelle für seine Selbstbestätigung betrachtet. Manche Kinder spüren die psychische Unreife und gefühlsmäßige Bedürftigkeit ihres Vaters und haben Mitleid mit ihm, vor allem, wenn er von der Mutter zurückgewiesen wird. Das Kind bemüht sich dann, den Vater aufzumuntern, was dieser leicht zu sexuellen Übergriffen mißbrauchen kann.
Abb 4
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SABINE
Sabines Mutter ist eine recht selbstbewußte Frau, die weiß, was sie will und sich von anderen nicht gern bevormunden läßt. Als Partner kam für sie nur ein Mann in Frage, der ihre Wünsche respektiert und ihr keine Vorschriften macht. Einen solchen Mann hat sie geheiratet, und kurz darauf kommt auch Sabine auf die Welt. Am Anfang ihrer Ehe genießt es Sabines Mutter noch, daß ihr Mann alle Entscheidungen ihr überläßt. Bald aber merkt sie, daß es auf Dauer anstrengend und ungerecht ist, für alles allein die Verantwortung tragen zu müssen. Auch die Zuwendungsbedürftigkeit ihres Mannes, die ihr anfangs noch so gut gefiel, wird ihr schließlich mehr und mehr zur Last. Wenn sie Trost und Unterstützung brauchte, findet sie bei ihrem Mann keinen Halt. Er zieht sich dann meist ratlos von seiner Frau zurück und wartet darauf, daß es ihr von selbst wieder besser geht.
Damit verhält er sich kaum wie ein Partner, sondern eher wie ein weiteres Kind, um das sich Sabines Mutter kümmern muß. Obwohl sie mit ihrem Mann über ihr Unbehagen spricht, verändert sich nichts. Er versteht gar nicht, was seine Frau von ihm will. Enttäuscht zieht sich Sabines Mutter zurück. Da ihr Mann nicht begreift, wo das Problem liegt, und daher die ehelichen Spannungen auch nicht auflösen kann, bleibt ihm als Ausweg nur noch Flucht. Er verbringt immer weniger Zelt mit seiner Familie, macht im Beruf Überstunden, übernimmt ein Ehrenamt im Sportverein, betrinkt sich mit seinen Vereinskameraden und geht gelegentlich fremd. Dies aber macht Sabines Mutter noch enttäuschter und wütender, weil sie sich von ihrem Mann alleingelassen und vernachlässigt fühlt.
Sie überhäuft ihren Mann mit Vorwürfen und weigert sich, unter diesen Umständen mit ihm zu schlafen. Ihre Gereiztheit bekommt auch Sabine zu spüren, die sich von ihrer Mutter oft ungerecht behandelt und abgelehnt fühlt. Sabine versucht die fehlende Zuwendung bei ihrem Vater zu bekommen. Dieser fühlt sich durch die bewundernde Aufmerksamkeit seiner Tochter geschmeichelt. Er erzählt ihr, welche Probleme er mit ihrer Mutter hat. Sabine empfindet Mitleid mit Ihrem Vater und bemüht sich ihn aufzumuntern. Sabines Mutter bemerkt dies voller Eifersucht und reagiert jetzt auf ihre Tochter noch stärker mit Feindseligkeit.
Damit treibt sie Sabine immer mehr in die Arme ihres Vaters, der die gefühlsmäßige Bedürftigkeit seiner Tochter als sexuelles Interesse mißversteht und anfängt, sie sexuell zu mißbrauchen. Da sich Sabine mit ihrer Mutter nicht besonders gut versteht, traut sie sich nicht, mit ihr über diese Dinge zu sprechen. Als Sabines Mutter den sexuellen Mißbrauch nach einiger Zeit entdeckt, beschimpft sie ihre Tochter als Hure. Sie glaubt, Sabine müsse damit einverstanden gewesen sein, denn schließlich hatte sie selbst nie Schwierigkeiten damit gehabt, sich ihrem Mann sexuell zu verweigern.
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Auch bei Sabine versagen die Eltern in ihrer elterlichen Funktion: der Vater ist von Anfang an nicht in der Lage, Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen. Er scheint sich nur nach seinen eigenen Bedürfnissen zu orientieren und hat nicht gelernt, daß man Zuwendung auch zurückgeben muß, wenn man weiterhin welche bekommen will. Die Mutter läßt ihre Unzufriedenheit mit ihrem Mann auch an Sabine aus, reagiert gereizt und ungerecht, so daß Sabine auch in der Mutter keine verläßliche Stütze mehr hat. Aus Mangel an Zuwendung ist Sabine an ihren Vater gebunden, der diese gefühlsmäßige Abhängigkeit ausnützt.
Unreife Eltern
In diesen Familien scheint keiner zu führen oder die Verantwortung für die Familie zu tragen. Die Grenze zwischen Eltern und Kindern fehlt. Die Eltern haben nicht das Gefühl, Vater bzw. Mutter ihrer Kinder zu sein. Sie stellen sich mit ihren Kindern auf die gleiche Stufe, fühlen sich für sie nicht zuständig und bieten ihnen keinen Schutz.
Manchmal sind die Beziehungen in diesen Familien sexualisiert, d. h. die Kinder werden von ihren Eltern dazu aufgefordert, mit ihren Geschwistern sexuell aktiv zu sein. Innerhalb dieser Familien kommt es dann leicht zu sexuellen Übergriffen.
Abb 5
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EDITH
Die Eltern von Edith sind beide Alkoholiker und nicht in der Lage, sich ausreichend um ihre Tochter zu kümmern. Sie sind so mit sich selbst und ihren Problemen beschäftigt, daß sie Edith völlig verwahrlosen lassen. Die Nachbarn wenden sich schließlich an das Jugendamt, das den Eltern das Fürsorgerecht entzieht und Edith im Heim und später bei Pflegeeltern unterbringt. Trotzdem hängt Edith sehr an ihren Eltern und wünscht sich mit ihnen ein harmonisches Familienleben. Aber Ediths Eltern sind nicht in der Lage, für ihre Tochter dazusein. Statt dessen ist es genau umgekehrt: Edith hört sich die Sorgen ihrer Eltern an, kümmert sich aufopfernd um sie und versucht sie vom Alkohol wegzubringen. Ohne Erfolg, denn wenn sie ihre Eltern an den Wochenenden besucht, muß sie zuerst ihre Mutter in verschiedenen Kneipen suchen und nach Hause bringen, manchmal das Erbrochene wegwischen oder ihr das Bett neu beziehen.
Ihr Vater ist ihr dabei keine Hilfe, da er meist auch betrunken ist. Er hat sich daran gewöhnt, die Verantwortung für seine Frau seiner Tochter zuzuschieben. Die Ehe der Eltern ist völlig zerrüttet. Die Mutter wendet sich mit ihren Eheproblemen und persönlichen Sorgen an Edith, weil diese ihre einzige Vertrauensperson ist. Edith fühlt sich jedes Mal verzweifelt und hilflos, wenn ihre Mutter sie betrunken anruft und von ihren Problemen erzählt. Edith macht nach außen hin einen ausgesprochen selbständigen und reifen Eindruck. Sie fühlt sich in einem ungewöhnlichen Maß für ihre Eltern verantwortlich und kann doch keinen Einfluß auf deren Leben nehmen. Diese Ohnmacht macht Edith depressiv. Die Eltern versuchen ihr Versagen als Eltern durch großzügige Geldgeschenke an Edith auszugleichen, aber das Ist kein Ersatz.
Edith hat ihnen nie erzählt, daß sie als Kind mehrfach von den Freunden der Eltern sexuell mißbraucht worden ist. Sie möchte ihren Eltern diese bittere Wahrheit ersparen, da sie Fehlreaktionen befürchtet: Ihre Mutter würde sich sinnlos betrinken und ihr Vater würde in seiner aufbrausenden Art die Männer zur Rede stellen, sich mit ihnen prügeln und dabei möglicherweise sich oder sein Gegenüber ernsthaft verletzen, vielleicht sogar umbringen und dann ins Gefängnis müssen. Edith will kein Aufsehen in der Öffentlichkeit erregen. Sie hat sich schon oft genug wegen ihrer alkoholkranken Eltern schämen müssen. Sie möchte den Leuten nicht noch mehr Gelegenheit bieten, über sie und ihre Eltern zu reden. Außerdem ahnt sie, daß sie von ihren Eltern keine Hilfe erwarten kann. Darum schweigt sie lieber und versucht allein mit dem Problem fertig zu werden. Wegen ihrer auftauenden Hilfsbereitschaft und ihrem Mitgefühl ist sie bei vielen Menschen sehr beliebt.
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Da ihre Eltern immer viel gestritten haben, hat Edith einen großen Widerwillen gegen Streit entwickelt. Sie hat sich angewöhnt, den Wünschen anderer immer nachzugeben, um mit ihnen in Harmonie leben zu können. Dabei kommen ihre eigenen Wünsche meist zu kurz. Es ist kein Zufall, daß sie sich als erwachsene Frau ausgerechnet in einen Mann verliebt, der alkoholkrank Ist, so daß sie sich um ihn in der gleichen Weise kümmern muß wie um ihre Eltern.
In diesem Beispiel wird ein Muster deutlich, das wir bei vielen Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, finden können: Edith fühlt sich an ihre Eltern gebunden und für sie verantwortlich, obwohl ihr diese Kontakte mehr schaden als nutzen. Mit ihren eigenen Sorgen und Problemen muß sie allein fertigwerden. Was sie an ihre Eltern bindet, ist die ungestillte Sehnsucht nach einem fürsorglichen und beschützenden Elternhaus und die Hoffnung, dies könnte eines Tages Wirklichkeit werden. Sie kümmert sich sehr stark um ihre Eltern, als ob sie glaubte: »Wenn ich nur lieb genug zu ihnen bin, dann werden sie mich eines Tages lieben und sich um mich kümmern.« Sie will nicht wahrhaben, daß ihre Eltern dazu nie in der Lage sein werden, denn sie braucht diese Illusion vom fürsorglichen Elternhaus als gefühlsmäßigen Bückhalt. Durch ihre Eltern hat sie sich so daran gewöhnt, in Beziehungen die Gebende zu sein, daß sie sich einen entsprechenden Partner aussucht, mit dem sich das Leiden ihrer Kindheit fortsetzt.
Stiefväter
Stiefväter vergreifen sich fünfmal so oft an ihren Stieftöchtern wie Väter an ihren leiblichen Töchtern. Da ein Stiefvater das Mädchen nicht von Geburt an kennt, ist seine Gefühlsbindung und sein Verantwortungsgefühl für das Kind oft nur sehr schwach ausgeprägt, so daß er sich nicht im gleichen Maß an das Inzesttabu gebunden fühlt wie ein leiblicher Vater.
In manchen Stieffamilien ist und bleibt der Stiefvater nur der neue Partner der Mutter, der seiner Rolle als Vater nie gerecht wird. Auch die Freunde des Stiefvaters haben weniger Skrupel, seine Stieftochter sexuell zu belästigen, als sie es bei seiner leiblichen Tochter hätten. Sie spüren, daß er sich für das Kind seiner Frau nicht im gleichen Ausmaß zuständig fühlt wie für eine leibliche Tochter.
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Die Kinder von Stiefvätern haben es oft besonders schwer, die sexuellen Übergriffe offenzulegen. Durch die Erfahrung, daß der Vater verschwindet und plötzlich ein anderer Mann den freigewordenen Platz einnimmt, wird häufig das Vertrauen des Kindes erschüttert. Die bestehende Verunsicherung verstärkt sich noch, wenn der verschwundene Vater von anderen als <schlecht> dargestellt wird, so daß das Kind nicht mehr weiß, wem es noch vertrauen kann. Die Mütter neigen in diesen Familien besonders stark dazu, die Andeutungen ihres Kindes über sexuelle Annäherungen des Stiefvaters zu überhören, weil sie froh sind, daß der <neue> Mann sie trotz ihrer Kinder mag. Selten kommt eine Frau auf die Idee, daß es auch Männer gibt, die gezielt nach einer Frau mit Kindern suchen, um sich so ungestörter Kindern sexuell nähern zu können. Solange die Mutter nach einem neuen Partner sucht, sind die Kinder durch die verschiedenen Männerbekanntschaften einem größeren Risiko ausgesetzt, von einem dieser Männer sexuell mißbraucht zu werden.
Wie Kinder durch ein scheinbar <normales> Elternhaus verwundbar gemacht werden
Auch ohne sexuellen Mißbrauch führen Familienhintergründe, wie sie bisher beschrieben wurden, häufig zur Entwicklung psychischer Störungen. Diese Familienformen sind in der Psychotherapie als besonders belastend und krankmachend bekannt.
Weniger bekannt ist, daß das Selbstvertrauen und die Lebenstüchtigkeit von Kindern bereits durch relativ unscheinbare Erziehungsumstände empfindlich gestört werden kann.
Die Regensburger Forscher Karin und Klaus Großmann verfolgten in langjährigen Studien die Entwicklung von Kindern ab ihrem ersten Lebensjahr bis ins Jugendalter hinein. An einjährigen Kindern kann man beobachten, daß sie einerseits ihre Mutter (bzw. die weibliche oder männliche Person, die bei ihnen die Mutterrolle einnimmt) noch sehr brauchen, andererseits aber auch schon viel Zeit damit verbringen, sich von der Mutter zu entfernen und ihre Umgebung zu erforschen. Kinder in diesem Alter wechseln ständig hin und her: mal erkunden sie neugierig irgend etwas aus ihrer Umgebung; dann wieder suchen sie plötzlich die Nähe und Geborgenheit ihrer Mutter, wo sie sich ausruhen und neue Kraft sammeln, weil das Erforschen sehr anstrengend ist und alles Fremde immer auch Angst macht.
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Wenn sich die Kinder dann nach einiger Zeit bei der Mutter erholt haben und die Neugier groß genug ist, wagen sie sich wieder in die unbekannte Welt vor, um sich weiter mit ihr vertraut zu machen. Wenn eine Mutter ihr 12 Monate altes Kind für kurze Zeit verläßt, werden die meisten Kinder unruhig, hören auf zu spielen und suchen ängstlich nach der Mutter. Sobald die Mutter wiederkommt, zeigen die Kinder durch ihr Verhalten sehr deutlich, daß sich die Mutter ihnen zuwenden, sie trösten und beruhigen soll: sie weinen, strecken die Arme nach der Mutter aus, krabbeln zu ihr hin oder zeigen ihr durch ihr Lächeln oder ihren Blick, daß sie sich über ihr Wiederkommen freuen. Sobald sich das Kind durch den Kontakt mit der Mutter wieder beruhigt hat, wird es sich wieder mit seinem Spielzeug befassen oder neugierig seine Umgebung erforschen.
Mütter, die auf diese Komm-zu-mir-Signale ihres Kindes gar nicht oder genervt reagieren, bestrafen ihr Kind für sein trostsuchendes Verhalten. Das Kind lernt so, daß es verboten ist, um die Aufmerksamkeit der Mutter zu betteln und unterdrückt dies in Zukunft. Wenn die Mutter dann ihr Kind allein läßt, tun diese Kinder so, wie wenn ihnen das nichts ausmacht. Auch wenn die Mutter wiederkommt, zeigen die Kinder keinerlei Reaktion. Sie wirken äußerlich ganz selbstsicher, leiden aber versteckt sehr stark unter dieser Situation. Sie möchten dringend getröstet und beruhigt werden, dürfen dies aber nicht zeigen und müssen mit ihren Verlassenheitsängsten allein fertigwerden. Sie brauchen viel länger, um sich innerlich wieder zu beruhigen. Und solange sie sich nicht beruhigt haben, sind sie auch wenig aufnahmefähig für die neuen Erfahrungen beim Spielen und Erforschen.
Das Ehepaar Großmann besuchte die gleichen Kinder im Alter von fünf Jahren wieder und fand, daß die Kinder, die als Baby mit ihrem Zuwendungsbetteln oft abgewiesen wurden, jetzt als Fünfjährige viel zappeliger und unkonzentrierter waren und schlechter lernten als die anderen Kinder. Sie kamen auch schneller unter Streß, wenn sie eine Aufgabe nicht lösen konnten und gaben eher auf. Beim Spielen mit anderen Kindern im Kindergarten konnten sie sich oft nicht damit abfinden, wenn sie etwas nicht bekamen, was sie haben wollten. Sie zogen sich dann beleidigt zurück, gingen petzen oder ließen ihre Wut an schwächeren Kindern aus.
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Oft verhielten sie sich anderen Kindern gegenüber mißtrauisch und zurückhaltend, so daß sie nur wenig gute Freunde finden konnten. Freunde aber könnten ihnen gerade jenes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln können, das sie bei ihren Eltern vermißten. Insgesamt wurden diese Kinder sowohl von Gleichaltrigen wie auch von ihren Erzieherinnen als unsympathischer erlebt.
Als die Kinder im Alter von zehn Jahren nochmals von den Forschern unter die Lupe genommen wurden, zeigte sich, daß sich diese Unterschiede noch weiter verschärft hatten. Nach außen hin hatten die Kinder, die als Baby in ihrem Zuwendungsbetteln so oft zurückgewiesen wurden, ein scheinbar harmonisches Verhältnis zu ihren Eltern. Die Eltern fuhren die Kinder z.B. zum Fußballtraining oder zur Klavierstunde. Trotzdem war es diesen Kindern nicht möglich, ihre gefühlsmäßigen Nöte und persönlichsten Sorgen mit ihren Eltern zu besprechen oder sonst jemandem anzuvertrauen. Sie wußten keine Antwort auf die Frage: »Was tust Du, wenn Du mal traurig bist oder mit den Schularbeiten nicht weiter weißt?«
Die Lektion, die sie als Baby gelernt hatten, saß gut: »Behalte Deine Gefühle und Bedürfnisse nach Trost und Unterstützung für Dich und belästige niemand anderen damit.« Damit Kinder sich psychisch gesund entwickeln können, brauchen sie also besonders als Säuglinge und Kleinkinder eine stabile Bindung zu einer fürsorglichen Bezugsperson, bei der sie zuverlässig Geborgenheit, Wärme, Trost und Unterstützung finden, wann immer sie das brauchen. Wenn diese sichere Bindung fehlt, können Kinder oft nicht genügend Vertrauen zu sich und zu anderen Menschen aufbauen. Das bedeutet auch, daß sie besonders schnell Minderwertigkeitsgefühle und Angst vor Menschen entwickeln können und insgesamt psychischen Belastungssituationen weniger gewachsen sind als andere.
Eine sichere Bindung an eine fürsorgliche Bezugsperson reicht aber für eine gesunde psychische Entwicklung noch nicht aus. Kinder brauchen spielerische Anregungen, um ihre Begabungen zu entfalten und genügend Freiraum, um ihre Umgebung selbständig erforschen zu können. Wenn Eltern ihr Kind etwa aus Überängstlichkeit davon abhalten, unter ihrer Aufsicht mit einer Schere zu hantieren oder auf dem Spielplatz mit Gleichaltrigen zu klettern, verhindern sie, daß ihr Kind ein Gefühl für die eigene Tüchtigkeit bekommen kann.
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Bereits Kleinkinder, die noch nicht sprechen können, können durch ihr Verhalten deutlich machen, ob sie die Nähe ihrer Eltern brauchen oder ob sie lieber in Ruhe spielen und auf Erkundungsgang gehen wollen. Kinder brauchen Eltern, die diese Signale verstehen und prompt und zuverlässig auf diese Wünsche eingehen. Dies vermittelt Kindern das Gefühl der Sicherheit und des Selbstvertrauens, weil sie erleben, daß sie ihre Umwelt weitgehend nach ihren Bedürfnissen gestalten können.
Schließlich brauchen Kinder eine Lebenswelt, die nach möglichst eindeutigen Regeln funktioniert, so daß sie vorhersehen können, für welches Verhalten sie von ihren Eltern belohnt und für welches sie bestraft werden. Dadurch, daß sie mit ihrem eigenen Verhalten steuern können, ob Angenehmes oder Unangenehmes auf sie zukommt, erleben sie ihre Welt als überschaubar und wenig bedrohlich, so daß sie sich sicher fühlen können. Das Verhalten der Eltern entscheidet also bereits ab dem Kleinkindalter darüber, welche Meinung die Kinder über sich selbst bekommen und inwieweit sie sich selbst für liebenswert, tüchtig und einflußreich halten. Betrachten wir nun die Familien sexuell mißbrauchter Kinder, dann wird schnell deutlich, wie sehr dort die für eine gesunde psychische Entwicklung nötigen Bedingungen fehlen. In Familien, in denen die Eltern-Kind-Rollen vertauscht sind oder die Kinder mißhandelt werden, fehlt die elterliche Fürsorge. Diese Kinder haben als Erwachsene oft ein großes Nachholbedürfnis nach Zuwendung und sind bereit, einen hohen Preis dafür zu bezahlen, indem sie sich mißhandeln, kränken und ausnutzen lassen.
In Familien, die von der Außenwelt stark zurückgezogen leben, werden Kinder oft mit unangemessener Fürsorge überschüttet und so eng an die Familie gebunden, daß sie wenig Möglichkeiten haben, ihre Überlebensfähigkeiten außerhalb ihrer Familie zu erproben und dadurch Selbstvertrauen und Selbständigkeit zu entwickeln. Als Erwachsene können sie sich nur schwer von den Eltern lösen und ein eigenes Leben beginnen, da sie Angst vor dem Alleinleben oder Partnerbeziehungen haben.
In Familien mit alkoholkranken, psychisch kranken oder überforderten Elternteilen werden die Kinder nicht nach festen Regeln, sondern nach wechselnder Laune der Eltern belohnt oder bestraft. Diese Kinder können sich oft auch als Erwachsene kaum gegen die Ungerechtigkeiten ihrer Mitmenschen wehren.
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Letztlich lassen sich diese verschiedenen krankmachenden Familienstrukturen auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Die Eltern sind nicht in der Lage, im nötigen Ausmaß auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen und ihre eigenen zurückzustellen. Sie betreiben emotionalen Mißbrauch mit ihren Kindern, weil die Kinder mehr für ihre Eltern dasein müssen als es umgekehrt der Fall ist.
Die Frauen, die seit Jahren unter den Folgen ihres sexuellen Mißbrauchs leiden und zu mir in die Psychotherapie kommen, beschreiben mir genau dieses Erziehungsklima des emotionalen Mißbrauchs. Je mehr ihre Eltern als Eltern versagten, desto weniger konnten sich die Frauen als Kinder hilfesuchend an ihre Eltern wenden und desto weniger waren sie aufgrund ihres mangelnden Selbstvertrauens in der Lage, sich gegen die sexuellen Übergriffe zu wehren. Scheinbar können Kinder aus gesunden Familienverhältnissen sexuellen Mißbrauch aufgrund der Unterstützung und Fürsorge ihrer Familie besser bewältigen, denn sie kommen später selten in die Psychotherapie.
Eine andere wichtige Überlegung möchte ich in diesem Zusammenhang noch anfügen.
Wie wir gesehen haben, ist für eine gesunde psychische Entwicklung nicht allein die Menge an Zuwendung wichtig, die ein Kind erhält, sondern auch, daß diese Zuwendung im richtigen Moment gewährt wird, nämlich genau dann, wenn das Kind diese braucht.
In der frühen Kindheit scheinen Eltern ihren Töchtern und Söhnen gleichviel Zuwendung entgegenzubringen. Zu diesem Ergebnis kamen jedenfalls die amerikanischen Forscher Maccoby und Jacklin bei der Durchsicht verschiedener Studien zu diesem Thema. Im vorherigen Kapitel wurde erwähnt, daß Jungen trotz ihrer körperlichen Unreife und ihrer höheren Krankheits- und Verletzungsanfälligkeit bereits als Neugeborene von ihren Eltern als robuster und kräftiger eingeschätzt werden als Mädchen.
Dies könnte möglicherweise in manchen Familien dazu führen, daß Jungen in Situationen, in denen sie sich ängstigen und die Unterstützung ihrer Eltern brauchten, eher alleingelassen oder abgewiesen werden, als dies bei Mädchen der Fall ist. Studien zeigen, daß Eltern Mädchen für wesentlich hilfsbedürftiger halten als diese sind. Möglicherweise führt dies in manchen Familien dazu, daß Mädchen häufiger als Jungen gerade in den Momenten mit Hilfe und Zuwendung von ihren Eltern bedacht und gestört werden, in denen sie sich in ihrer Tüchtigkeit und Selbständigkeit erproben wollen.
Vielleicht sorgen die Geschlechtsrollen auf diese Weise dafür, daß manche Eltern ihre Töchter unter- und ihre Söhne überfordern und damit die Entwicklung ihrer Kinder behindern. Beides führt letztlich zu einem geschwächten Selbstwertgefühl, so daß die Kinder vermehrt nach Bestätigung und Zuwendung suchen müssen, was sie u.a. auch verwundbarer für sexuelle Übergriffe macht. Je stärker die Eltern den traditionellen Geschlechtsrollen verhaftet sind und je weniger sie auf die Signale ihrer Kinder reagieren, desto ausgeprägter könnten diese ungünstigen Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Kinder werden.
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Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden