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Marion Reinhold
Unverheilte
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1994 300 Seiten detopia |
Inhalt Literatur-hinweise (298)
Gewidmet Sexueller Mißbrauch ist trotz zunehmender Aufklärung in den Medien bis heute ein gesellschaftliches Tabuthema. Die Häufigkeit und die Folgen sexueller Gewalt werden noch immer oft unterschätzt und verleugnet. Welche Gefahren diese Tabuisierung in der Öffentlichkeit für die Opfer sexuellen Mißbrauchs nach sich zieht, macht die Psychotherapeutin Marion Reinhold, die seit Jahren psychische Folgen sexueller Gewalt untersucht, in diesem Buch bewußt. Deutlich wird aber auch, daß es sehr davon abhängt, welchen Belastungen ein Kind neben den traumatischen Erfahrungen des sexuellen Mißbrauchs ausgesetzt war, wieviel Quellen der Selbstbestätigung ihm als Ausgleich zur Verfügung standen — und daß es Auswege aus der grausamen Erfahrungswelt sexueller Gewaltanwendung gibt.
2006
Von Sabine G. bei Amazon: Marion
Reinhold nimmt sich des Themas an. Sie macht bewusst, dass sexueller
Missbrauch noch immer ein Tabuthema ist. Die Häufigkeit und auch die
Folgen werden noch immer unterschätzt. Doch die Tabuisierung birgt
Gefahren. Missbrauchte zeigen häufig Depressionen, Angststörungen,
Suchtprobleme, Ess-Störungen oder Psychosen. |
1 Was alle über sexuellen Mißbrauch wissen sollten (13) 2 Was sind das für Männer? (26) 3 Das Elternhaus sexuell mißbrauchter Kinder (45) 4 Inzest — und wie die Familie damit umgeht (64) 5 Sexueller Mißbrauch — ein gesellschaftliches Tabuthema (77) 6 Wann macht sexueller Mißbrauch krank ? (97) 7 Die Vorstufen psychischer Erkrankungen (116) 8 Beziehungsprobleme (136) 9 Angelika — ein typisches Beispiel aus der Psychotherapie (170) 10 Depressionen (194) 11 Aggressive Störungsformen (205) 12 Sexuelle Probleme und Störungen (214) 13 Angststörungen (234) 14 Psychosomatische Erkrankungen (247) 15 Eßstörungen (255) 16 Suchtprobleme (261) 17 Psychotische und andere Störungsformen (268) 18 Sexueller Mißbrauch an Jungen und seine Folgen (278) 19 Was kann ich tun? (290) |
Warum dieses Buch?
9-12
Seit mehreren Jahren befasse ich mich mit den psychischen Folgen sexueller Gewalt und arbeite als Psychotherapeutin mit Betroffenen. Meine Hilfe wird vor allem von Frauen in Anspruch genommen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden. Ab und zu kommen auch einmal Frauen zur Psychotherapie, die unter den Auswirkungen einer Vergewaltigung leiden. Männer mit diesen Problemen sehe ich so gut wie nie, obwohl viel mehr Männer sexuelle Gewalt erlebt haben, als man bisher allgemein annahm.
Bisher berichteten mir nur drei Männer, daß sie als Kind sexuell mißbraucht wurden. Alle drei verloren nach einem ersten kurzen Gespräch wieder den Mut und meldeten sich nicht mehr, weil es sie zuviel Kraft kostete, darüber zu reden. Der erste, ein Mann mittleren Alters, war von seinem Vater als Kind sexuell mißbraucht worden. Der zweite, ein Jugendlicher, erklärte am Telefon ganz verzweifelt und beschämt, daß ihn seine Mutter zum Geschlechtsverkehr zwinge. Der dritte Mann war bereits in Psychotherapie, traute sich aber nicht, dort über seine traumatischen sexuellen Erlebnisse und die Konflikte, die diese bis heute in ihm hervorrufen, zu sprechen.
Was ich in diesem Buch beschreibe, beruht also in erster Linie auf meinen Erfahrungen mit Frauen, die in die Psychotherapie kommen, weil sie als Kind sexuell mißbraucht wurden. Vieles davon läßt sich vermutlich auch auf Männer übertragen. Trotzdem ist die Situation von Jungen, die sexuell mißbraucht wurden, anders als die von Mädchen. Sie entwickeln daher teilweise auch etwas andere Probleme. Diese werden in einem gesonderten Kapitel am Ende des Buches beschrieben.
Seit die Medien über das Ausmaß und die Folgen sexuellen Mißbrauchs berichten, haben immer mehr Frauen den Mut, ihre sexuellen Mißbrauchserfahrungen in der Psychotherapie offen anzusprechen. Leider wird dieser Mut nicht immer belohnt, denn oftmals stoßen die Betroffenen auch heute noch auf schlecht informierte Psychotherapeutinnen, wie der folgende Brief zeigt:
Die Frau, die mir diesen Brief schickte, ist bewundernswert selbstbewußt: Sie traut sich, die Ansichten ihres Psychotherapeuten offen anzuzweifeln und sich anderswo zu informieren. Und sie hat recht, denn Vaginismus (= Verkrampfung der Scheide, sobald etwas in sie eingeführt werden soll) ist ein häufig auftretendes Problem nach sexuellem Mißbrauch.
Nachdem ich diese Frau in ihrer Meinung bestätigt hatte, konnte sie ihren Therapeuten dazu bewegen, seine bisherigen Vorstellungen über sexuellen Mißbrauch in Frage zu stellen und sich über dieses Thema besser zu informieren.
An diesem Beispiel wird deutlich, wie groß der Bedarf und wie notwendig die Aufklärung zu diesem Thema selbst in Fachkreisen heute noch ist. Eine Studie in den USA vor wenigen Jahren ergab, daß die meisten Fachleute im Gesundheitsbereich, also Psychiaterinnen, Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen u.a., die Häufigkeit sexuellen Mißbrauchs unterschätzen. Die meisten können sich als Folge sexuellen Mißbrauchs gerade noch Minderwertigkeitsgefühle ausmalen, nicht aber die Entwicklung psychischer Probleme und Erkrankungen.
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Das Ausmaß und die Folgen sexuellen Kindesmißbrauchs werden erst seit wenigen Jahren wissenschaftlich erforscht. Weder in den Lehrbüchern noch in der Ausbildung zum Psychologen, Psychiater oder Psychotherapeuten tauchte dieses Thema bisher auf angemessene Weise auf. Bisher hielt man den sexuellen Mißbrauch für eine seltene Ausnahmeerscheinung. Das kam auch daher, daß die Betroffenen kaum über ihren sexuellen Mißbrauch in der Psychotherapie sprachen, was sich nun aber allmählich verändert. Aufgrund verschiedener wissenschaftlicher Studien schätzen wir heute, daß fast die Hälfte aller Frauen und Mädchen, die eine Psychotherapie machen, als Kind sexuell mißbraucht wurden.
Daß nur so wenige Menschen über diese einschneidenden Erlebnisse sprechen, hat verschiedene Gründe: Fachleute schätzen, daß etwa die Hälfte der betroffenen Frauen und Männer <vergessen> haben, daß sie als Kind sexuell mißbraucht wurden. Selbst wenn sich die Betroffenen daran erinnern, bringen doch viele diese nicht in Zusammenhang mit ihren körperlichen und seelischen Erkrankungen, unter denen sie heute als Erwachsene leiden.
Nur relativ wenige Psychotherapeutinnen sind heute auf sexuellen Mißbrauch als Ursprung verschiedenster psychischer Störungen und auf den besonderen Umgang mit diesen Patientinnen vorbereitet. Daher fürchten viele Betroffene mit Recht, daß ihre Therapeutinnen ihnen nicht glauben und verletzend oder hilflos reagieren werden, wenn sie von dem sexuellen Mißbrauch erfahren. Um über diese intimen und beschämenden Erlebnisse sprechen zu können, brauchen die Betroffenen eine sehr vertrauensvolle Atmosphäre.
Auch dann ist das Sprechen aber für viele noch derart anstrengend und aufwühlend, daß sie es vorziehen zu schweigen. Manche hoffen, die Psychotherapie werde ihre Beschwerden und psychischen Störungen beseitigen, ohne daß sie sich mit ihrem sexuellen Mißbrauch befassen müssen. Viele Betroffene aber spüren, daß das Weglaufen vor der eigenen Vergangenheit die Lösung der gegenwärtigen psychischen Probleme verhindert und suchen Hilfe und Anleitung zur aktiven Verarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen.
Zum sexuellen Mißbrauch an Kindern gehören außer den sexuellen Übergriffen oft noch eine Reihe anderer kränkender Erfahrungen. Um verstehen zu können, warum Frauen und Männer aufgrund sexuellen Mißbrauchs psychische Beeinträchtigungen und Störungen entwickeln, müssen wir uns in die Lage der betroffenen Kinder versetzen. Dazu ist es notwendig, die Lebensumstände und die Familie des Kindes genauer unter die Lupe zu nehmen und die Frage zu klären, warum Männer sich sexuell an Kindern vergreifen. Nur so lassen sich die ganze Situation, in der der sexuelle Mißbrauch geschieht, und die Reaktionen aller Beteiligten nach vollziehen.
Dies ist das Ziel dieses Buches. Es richtet sich in erster Linie an Betroffene und ihre Angehörigen. Es soll den Betroffenen helfen, sich selbst besser zu verstehen und sich mit den eigenen Schwierigkeiten leichter annehmen zu können, denn dies ist der erste wichtige Schritt in Richtung Verarbeitung und Heilung.
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