5 Sexueller Mißbrauch — ein gesellschaftliches Tabuthema
Reinhold-1994
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Auch der sexuelle Mißbrauch außerhalb der Familie wird selten aufgedeckt. Warum dies so ist, soll im folgenden erläutert werden. Dabei wird deutlich werden, daß sexueller Mißbrauch ein gesellschaftliches Tabuthema darstellt, das bis vor kurzem weitgehend aus verschiedenen Gründen verdrängt wurde.
Warum bleibt sexueller Mißbrauch so oft verborgen?
Im Durchschnitt dauert der sexuelle Mißbrauch an Kindern 5-10 Jahre. Die Hälfte der Übergriffe endet vor dem 14. Lebensjahr, die andere Hälfte später. Warum schweigen die Kinder solange? Warum holen sie sich keine Hilfe bei ihren Eltern oder anderen Erwachsenen?
In einer Studie fand man, daß nur etwa die Hälfte der Kinder ihr Geheimnis lüfteten, bevor sie 17 Jahre alt wurden. Der Rest schwieg weiter. Es gibt viele Gründe, warum der sexuelle Mißbrauch so oft verborgen bleibt: Wenn Kinder gegen den sexuellen Mißbrauch Widerstand leisten und deutlich zeigen, daß sie nicht mehr mitmachen wollen, bekommen sie vom Mißbraucher meist zu hören: »Was hast Du denn auf einmal? Bisher hat es Dir doch auch immer gefallen, sonst hättest Du ja nicht mitgemacht.«
Der Mißbraucher schiebt hier dem Kind eine Mitschuld zu und legt so beim Kind die Grundlage für Schuldgefühle und Selbsthaß. Das Kind fürchtet die Vorwürfe seiner Mitmenschen und schweigt.
»Dir wird sowieso keiner glauben, und ich werde sagen, daß Du lügst.« Damit prophezeit der Mißbraucher dem Kind, wie die Umgebung später tatsächlich oft reagiert, so daß das Kind nach wenigen vorsichtigen Versuchen, jemanden einzuweihen, entmutigt schweigt.
»Wenn Du das jemandem erzählst, komme ich ins Gefängnis und Deine Eltern werden ganz traurig über Dich sein und sich für Dich schämen.« Hier überträgt der Mißbraucher die Verantwortung für das Wohlergehen verschiedener Menschen auf das Kind, das sich unter dieser Last nicht mehr getraut, jemandem von dem sexuellen Mißbrauch zu erzählen. Außerdem nutzt der Mißbraucher die gefühlsmäßige Bindung des Kindes an seine Eltern, seine Angst vor Liebesentzug oder gar dem Verlust wichtiger Bezugspersonen aus. Noch extremer geschieht dies mit folgender Androhung:
»Ich werde sagen, daß Du mitgemacht hast und dann werden alle böse auf Dich sein und Dich in ein Heim stecken.«
Manche Mißbraucher scheuen sich nicht, Kinder durch stark ängstigende Drohungen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen, wie z.B.:
»Laß Dir bloß nicht einfallen, das jemandem zu erzählen. Wenn Du das tust, schlag ich Dich tot.«
Diese Androhungen, was passieren wird, wenn das Kind sein Schweigen bricht, haben einen starken Einfluß auf das Verhalten der Kinder. Sie halten den sexuellen Mißbrauch geheim, weil sie Angst haben, daß man ihnen nicht glaubt, ihnen Vorwürfe macht, die Mutter wütend reagiert oder sie deswegen ins Heim gesteckt werden. Manche Kinder haben Angst vor körperlichen Gewalttätigkeiten und anderen Racheakten des mißbrauchenden Mannes. Sie fürchten, daß er jemand anderem wehtun könnte, z.B. die Mutter verprügelt oder die kleine Schwester oder den kleinen Bruder sexuell mißbraucht.
Andere Kinder wollen ihre Eltern schonen, die Familie vor dem Auseinanderbrechen bewahren oder sie fürchten, die Mutter und die Geschwister könnten mit diesen Dingen nicht fertigwerden. Sie schweigen aus überstarker Fürsorge und Verantwortungsgefühl für ihre Angehörigen. Manche brechen ihr Schweigen nur, um damit anderen zu helfen.
GERDA war die älteste von vier Schwestern. Sie wurde von ihrem Vater sexuell mißbraucht und schwieg wie ihre beiden jüngeren Schwestern. Als sie aber entdeckte, daß sich der Vater auch an ihrer kleinsten und wehrlosesten Schwester vergreifen wollte, gab sie ihr Geheimnis preis, um diese Schwester zu schützen. Wie sie es vorhergesehen hatte, erntete sie dafür von ihrer Mutter zwar wüste Beschimpfungen (»Du verdorbenes kleines Biest, was hast Du Dir da wieder ausgedacht?«), sie erreichte aber, daß die sexuellen Übergriffe auf ihre jüngste Schwester aufhörten.
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Die meisten Kinder sind unaufgeklärt in den sexuellen Mißbrauch hineingerutscht und fühlen sich später oft mitschuldig, weil sie sich nicht von Anfang an dagegen gewehrt haben, was oft gar nicht möglich war. Besonders verwirrend ist für etwa die Hälfte der Kinder, daß sie bei den sexuellen Übergriffen trotzdem auch angenehme Erlebnisse hatten: Die Aufmerksamkeit des Mißbrauchers, sein Streicheln und die manchmal auftretende sexuelle Erregung kann von Kindern als schön empfunden werden. Dies bringt Kinder oft auf die Idee, die sexuellen Kontakte insgeheim gewollt und dies dem Mann vielleicht unbemerkt vermittelt zu haben, also letztlich selbst schuld an dem Ganzen zu sein. Aus Angst, andere könnten dies erfahren, schweigen Kinder über den sexuellen Mißbrauch.
Vielen Erwachsenen fällt es schwer, über Sex zu sprechen und die meisten Eltern scheinen sich auch heute nicht darum zu reißen, ihre Kinder sexuell aufzuklären. Kinder merken sehr schnell, daß Sex ein Thema ist, das Erwachsenen peinlich ist. Die Befangenheit der Erwachsenen, über sexuelle Dinge zu sprechen, überträgt sich auch auf die Kinder. Das ist einer der Gründe, warum sexueller Mißbrauch so oft im dunkeln bleibt: Es ist Kindern peinlich, über Sex reden zu müssen. Dazu kommt, daß die sexuelle Aufklärung oft erst im allerletzten Moment, d. h. kurz vor der Pubertät geschieht. Da sexueller Mißbrauch aber zum größten Teil vor dem 10. Lebensjahr passiert, fehlen diesen Kindern oft die richtigen Worte, um das eindeutig zu benennen, was ihnen passierte. Ein Kind sagt nicht: »Ich wurde sexuell mißbraucht«, sondern vielleicht: »Ich kann den Onkel Peter gar nicht mehr leiden. Der ist immer so komisch zu mir und faßt mich immer so an.« Den Hilferuf in dieser Bemerkung kann man leicht überhören. Statt nachzufragen: »Was meinst Du denn mit komisch? Wie faßt er Dich an?« usw. passiert es schnell, daß man darauf antwortet: »Na und, was ist denn dabei? Der hat Dich halt sehr lieb.« Dies reicht oft schon, um ein Kind zum Schweigen zu bringen.
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Nach diesem gescheiterten Versuch, sich Hilfe zu holen, ziehen sich viele Kinder resigniert in sich zurück mit dem Gedanken: »Mir glaubt ja eh keiner.« Das ist oft auch genau das, was Kinder schon von vornherein fürchten, denn so hat es der Täter ihnen prophezeit.
Aber selbst wenn ein Kind sich sehr deutlich und unmißverständlich ausdrücken kann oder der sexuelle Mißbrauch bereits öffentlich bekannt geworden ist, wollen einige Eltern dies nicht wahrhaben. Sie verharmlosen den sexuellen Mißbrauch entweder, weil sie keine besonders fürsorglichen Eltern sind oder weil sie so betroffen sind, daß sie diese Geschehnisse sehr belasten. Wenn der Mißbraucher ein Freund oder Verwandter der Familie ist oder gar eine angesehene Persönlichkeit (Lehrer, Pfarrer usw.), tun sie sich schwer, ihrem Kind zu glauben, weil dies auch heißt, daß sie etwas gegen diesen Mann unternehmen müssen.
Manche Eltern fühlen sich einer solchen Situation nicht gewachsen. Auf der Suche nach einer Erklärung für die sexuellen Übergriffe suchen Eltern auch nach einer möglichen Mitschuld ihrer Kinder. Sie finden oft, daß ihre Kinder, vor allem ihre Söhne, falsch reagiert und sich nicht genug gewehrt haben. Das bringt sie auf die Idee, ihr Kind könnte dies vielleicht selbst gewollt haben. Eltern fürchten, ihr Sohn sei oder werde durch dieses Erlebnis homosexuell, ihre Tochter sei oder werde eine Hure. Sie haben Angst vor dem Vorwurf, nicht richtig auf ihr Kind aufgepaßt oder es nicht richtig erzogen zu haben, und sie haben Angst vor dem Gerede der Leute.
Sexueller Mißbrauch hinterläßt bei den Kindern teilweise auch sichtbare körperliche Spuren, wie z.B. blaue Flecken, Bißwunden an erogenen Zonen, Verletzungen, Entzündungen oder Fremdkörper in Scheide oder After usw., die zumindest dem Hausarzt auffallen müßten. In einer neueren Studie in Australien fand man aber, daß dreiviertel aller befragten Hausärzte zögerten, beim Verdacht auf sexuellen Mißbrauch etwas zu unternehmen, weil sie an ihrem Eindruck zweifelten. Die meisten wollten die Familie nicht zerstören, andere glaubten den Aussagen des Kindes nicht. Ein kleiner Teil schwieg wegen den schlechten Erfahrungen, die er/sie in der Vergangenheit gemacht hatte oder aus Angst, mit ihrem Verhalten dem Kind zu schaden.
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Die Verdrängung des Themas in unserer Gesellschaft
Frauen und Männer, die als Kinder sexuell mißbraucht wurden, leiden nicht nur unter den sexuellen Übergriffen, sie leiden auch darunter, daß sie sich bisher kaum jemandem anvertrauen konnten, weil sie von ihren Mitmenschen kränkende Reaktionen befürchten mußten.
Warum aber hat man in unserer Gesellschaft das Ausmaß des sexuellen Mißbrauchs so viele Jahre nicht bemerkt und warum tauchte dieses Thema auch in der Psychologie und Psychotherapie bisher nicht auf?
Bereits Sigmund FREUD (1893-1936) vermutete, daß viele seiner Patientinnen >hysterische Erkrankungen< entwickeln, weil sie als Kind innerhalb ihrer Familie sexuell mißbraucht wurden. Er belegte seine Theorie mit den Fallgeschichten von zwölf Frauen und sechs Männern, die bei ihm in Behandlung gewesen waren. Bald darauf erklärte er aber, die Berichte seiner Patientinnen über ihren sexuellen Mißbrauch dürfe man nicht so wörtlich nehmen, das seien nur sexuelle Wunschphantasien von Kranken, hinter denen eigentlich etwas ganz anderes stecke.
Heute fragt man sich, warum er von seiner ersten Theorie so schnell wieder Abstand nahm. Es wird vermutet, daß Freud die Entdeckung nicht aushalten konnte, daß so viele Kinder von ihren Angehörigen sexuell mißbraucht werden. Andere meinen, er habe sexuellen Mißbrauch auch in seiner eigenen Familie entdeckt. Vermutlich hatte er auch Angst vor einer gesellschaftlichen Anfeindung und ihren Folgen für seine berufliche Karriere.
Freud lebte in einer Zeit, in der Sexualität ein absolutes Tabuthema war, über das nicht gesprochen wurde und das darum vielen Menschen Probleme bereitete. Mit seinen Theorien über den Sexualtrieb hatte er seine Kollegen und die Öffentlichkeit bereits ziemlich schockiert.
Selbst wenn er damals bei seiner ursprünglichen Theorie geblieben wäre, daß hysterische Erkrankungen oftmals durch sexuellen Mißbrauch verursacht werden, ist sehr fraglich, ob die Fachwelt und die Öffentlichkeit damals diese Erkenntnisse hätten annehmen können. Viel lieber war ihnen da sicher schon Freuds Theorie, daß die sexuellen Mißbrauchsberichte von Patientinnen nur krankhafte Wunschphantasien wären, die man nicht weiter ernst zu nehmen brauche.
Mit dieser Theorie wurden bis heute viele der Betroffenen in der Psychotherapie zum Schweigen gebracht.
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Bis vor kurzem hatten die Menschen in unserer Gesellschaft noch relativ harmlose Vorstellungen über den sexuellen Kindesmißbrauch. Man glaubte, es würden nur ganz wenige Kinder sexuell mißbraucht, die Täter seien fremde Kriminelle aus der Unterschicht oder psychisch kranke Triebtäter, und die Kinder würden dieses eine Erlebnis schnell wieder vergessen.
Das Wissen über sexuellen Mißbrauch war damals mit einem Eisberg vergleichbar: nur etwa ein Zehntel davon ragte aus dem Wasser und ist sichtbar, während der größere übrige Teil des Eisberges unter Wasser und damit im Verborgenen bleibt. Der sichtbare Teil unseres Eisberges entspricht dem Anteil des sexuellen Kindesmißbrauchs, der angezeigt und öffentlich bekannt wurde, weil er durch einen fremden oder kranken Mann begangen wurde. Der unsichtbare Teil des Eisberges entspricht eher dem sexuellen Mißbrauch im Verwandten- und Bekanntenkreis, der kaum angezeigt wird, uns allen aber große Probleme und Ängste bereitet, wenn er zutage tritt. Er setzt massive Verdrängungsprozesse in unserer Gesellschaft in Gang, nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Hier treffen wir auf dieselben Formen der Verleugnung, die wir beim sexuellen Mißbrauch in der Familie schon kennengelernt haben.
Leugnen der Tatsachen
Wenn Kinder über sexuelle Übergriffe durch Vertrauenspersonen berichteten, sagte man ihnen oft, daß sie sich das nur eingebildet oder geträumt hätten. Schließlich weiß ja jeder, daß Kinder eine lebhafte Phantasie haben. Inzwischen wissen Fachleute, daß die Aussagen, die Kinder über sexuellen Mißbrauch machen, fast immer wahr sind. Indem man die Kinder bisher jahrelang zum Schweigen brachte, blieben auch die vielen falschen und verharmlosenden Vorstellungen über sexuellen Kindesmißbrauch erhalten und sorgten dafür, daß auch die späteren Generationen nicht glauben konnten, was Kinder über ihren sexuellen Mißbrauch erzählten.
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Diese falschen Vorstellungen über sexuellen Mißbrauch führten aber auch dazu, daß die meisten Kinder von vornherein schwiegen, weil sie ahnten, daß man ihnen nicht glauben würde. Das wiederholte sich, wenn die Betroffenen in der Psychotherapie über ihren sexuellen Mißbrauch sprechen wollten. Durch Freuds Theorie hatten sie oft kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen.
Abbildung 6:
Wie die falschen Vorstellungen über den sexuellen Mißbrauch in der Bevölkerung so lange erhalten bleiben konnten
Leugnen der Schuld des Täters
Bei den wenigen Fällen, die bisher trotzdem noch an die Öffentlichkeit drangen, wurde versucht, das Vergehen des Täters zu entschuldigen: »Er tat es angeblich, weil er psychisch gestört ist, betrunken war, sexuellen Notstand hatte und seinen Trieb nicht mehr unter Kontrolle halten konnte.«
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Die <Lolita-Theorie> wurde erfunden, mit der man dem Mädchen eine Mitschuld am sexuellen Mißbrauch zuschieben konnte. Unter einer <Lolita> versteht man eine Kindfrau, also »ein Mädchen, das noch fast ein Kind, körperlich aber schon entwickelt ist und zugleich unschuldig und raffiniert, naiv und verführerisch wirkt« (Duden Universalwörterbuch). Mit dieser Vorstellung, daß frühreife Mädchen unschuldige Familienväter verführen, versuchte man sich zu erklären, warum sich die Mädchen so selten gegen die Übergriffe wehrten oder darüber sprachen. Man unterstellte ihnen, daß sie alles selbst gewollt und angezettelt hätten.
Auf diese Theorie ist man vielleicht deshalb verfallen, weil sich manche Kinder nach sexuellen Mißbrauchserfahrungen auffallend verführerisch und sexualisiert benehmen. Dies ist aber eher eine Folge und weniger die Ursache der sexuellen Übergriffe. Rufen wir uns in Erinnerung: sexueller Mißbrauch beginnt bei etwa der Hälfte der Mädchen bereits unter sechs Jahren und bei den anderen zwischen sechs und zehn Jahren. Wie sollen Kinder in diesem Alter sexuell verführerisch sein? Außerdem sind ein Viertel der betroffenen Kinder Jungen. Die Theorie von der verführerischen Lolita entpuppt sich damit als ein weiterer Verdrängungsmechanismus unserer Gesellschaft.
Leugnen der Folgen sexuellen Mißbrauchs
Viele Erwachsene glauben: »Wenn das Kind groß ist, hat es das alles vergessen.« Die psychotherapeutische Praxis zeigt etwas anderes. Sexuelle Mißbrauchserfahrungen können die psychische Entwicklung eines Kindes entscheidend prägen und seelische Probleme verursachen. Viele Menschen leiden unter den Folgen sexuellen Mißbrauchs, obwohl sie sich an die Übergriffe selbst gar nicht mehr erinnern können. Bis heute werden die Folgen sexuellen Mißbrauchs unterschätzt.
Besonders gut lassen sich diese Verdrängungsmechanismen in unserer Gesellschaft beobachten, seit die Medien damit begonnen haben, die Bevölkerung über die Häufigkeit und die Folgen sexuellen Mißbrauchs aufzuklären. Seit ich mich mit dem Thema der sexuellen Gewalt beschäftige, werde ich im beruflichen wie im privaten Kreis mit Literaturhinweisen zu diesem Thema eingedeckt.
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Während mich Frauen auf Berichte verweisen, die das Ausmaß und die Folge sexuellen Mißbrauchs beschreiben, erhalte ich von Männern fast ausschließlich nur Berichte, die dies in Frage stellen. Bei meinen Vorträgen zu diesem Thema bekomme ich aus dem Publikum neben Zustimmung immer auch Bemerkungen zu hören wie: »Das gibt es doch nicht, daß wir so lange nicht gemerkt haben sollen, daß so viele Kinder sexuell mißbraucht werden. Das ganze Thema wird total übertrieben und die Medien bauschen es auf, weil sich damit gerade Geld verdienen läßt. Das Ganze ist eine reine Modeerscheinung.«
Daß diese Äußerungen eher von Männern als von Frauen kommen ist kein Zufall, denn viele Männer fühlen sich durch dieses Thema persönlich angegriffen und in die Enge getrieben. Daher reagieren viele mit heftigen Gefühlen und aggressiver Abwehr: »Plötzlich behauptet jede Frau, sie sei sexuell mißbraucht oder belästigt worden. Die wollen sich nur wichtig machen, sind überempfindlich und reagieren hysterisch. Außerdem sind Frauen auch nicht die reinsten Unschuldslämmer. Es gibt doch auch viele Mütter, die ihre Kinder mißhandeln. Und wahrscheinlich gibt es viel mehr Mütter, die sich sexuell an ihren Söhnen vergreifen, als wir wissen. Überhaupt sollte endlich auch einmal über die Gewalttätigkeit von Frauen an Männern berichtet werden.«
Es lohnt sich, über diese Bemerkungen nachzudenken. Die Tendenz der Verharmlosung, Verleugnung und Schuldverschiebung ist dabei aber nicht zu übersehen. Auch wenn Frauen dies nach außen hin oft nicht zeigen, sind doch viele über solch eine Argumentation empört, weil sie sich in ihrer Not, wie so oft, von Männern nicht ernst genommen fühlen. An dieser Stelle wird sehr deutlich, wie groß der Unterschied zwischen der Welt der Männer und der Welt der Frauen auch in unserer Kultur noch sein muß, wenn sich die Geschlechter zu diesem Thema so schwer verständigen können.
Die Ursachen der Verdrängung bei Männern und Frauen
Die Häufigkeit und die Folgen sexuellen Mißbrauchs werden nicht nur von Männern, sondern auch von vielen Frauen unterschätzt und verleugnet. Die Gründe für die Verdrängung dieses Tabuthemas sind bei Männern und Frauen zum Teil unterschiedlich und sollen im folgenden erläutert werden.
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Zunächst aber möchte ich erklären, was ich unter Verdrängung verstehe und wie sie wirkt. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Wünsche, Erlebnisse oder zukünftige Ereignisse, die ihm sehr unangenehm sind oder ihn ängstigen und gegen die er nichts tun kann, aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Dies passiert automatisch, d.h. ohne unser Zutun, und oft ohne daß wir es selbst merken. Auf diese Weise verhindert unser psychisches System, daß wir durch intensive Gefühle überflutet und handlungsunfähig gemacht werden. Verdrängung ist also ein psychischer Schutzmechanismus, der Menschen hilft, auch gefühlsmäßig sehr belastende Lebenssituationen zu überstehen.
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Hier ein paar Beispiele: Stellen Sie sich einmal vor, Sie erfahren nach einer ärztlichen Untersuchung, daß Sie eine unheilbare Krankheit haben und nicht mehr lange leben werden. Wie würden Sie reagieren?
Die meisten Menschen bekommen in dieser Situation starke Angst und werden unruhig oder sie sind vor Schreck wie gelähmt. Manche reagieren so, wie wenn sie die Bedeutung der Worte nicht verstanden hätten und machen Witze, d.h. sie verdrängen sofort ihre Angst. Frau Kübler-Ross, die sich viel mit Sterbenden befaßt hat, beschreibt, daß die meisten Menschen nicht glauben wollen, daß sie bald sterben und dieses Wissen manchmal bis zu ihrem Tode verleugnen. Viele fangen an, ihr Krankheitsbild zu studieren, stellen viele Fragen an die Ärzte oder suchen andere Fachleute auf, in der Hoffnung, Anhaltspunkte dafür zu finden, daß die Ärzte sich geirrt haben. Auf diese Weise können sie ihre Angst vor dem bevorstehenden Tod soweit abschwächen, daß sie damit leben können. Menschen, denen dies nicht gelingt, nehmen sich in solch einer Situation oft das Leben.
Ähnliche Verdrängungsmechanismen treten auf, wenn Menschen erfahren, daß eine geliebte und für sie sehr wichtige Person gestorben ist. Zuerst wollen sie es gar nicht glauben; manche suchen immer wieder Trost in der Phantasie, der Verstorbene werde jeden Augenblick zur Tür hereinkommen und alles werde sich als Irrtum herausstellen. Auch dies lindert die Angst davor, daß man sich jetzt ohne diesen geliebten Menschen im Leben zurechtfinden muß.
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Andere Anlässe für Verdrängung sind z.B. bevorstehende Kriege, atomare Unfälle oder Naturkatastrophen wie die ständige Erdbebengefahr in San Francisco, die von den dortigen Bewohnern soweit verharmlost werden muß, daß sie weiterhin dort leben können. Auch die lebensbedrohlichen Gefahren, die von einer fortschreitenden Umweltverschmutzung ausgehen, müssen von den meisten Menschen zumindest zeitweise verdrängt werden, weil sie sonst vor lauter Angst in ihrem Alltag nicht mehr funktionieren könnten.
Auch wenn Verdrängung ursprünglich ein psychischer Schutzmechanismus ist, der uns beim Überleben helfen soll, scheint er manchmal gesunden Entwicklungen im Weg zu stehen. Beispielsweise verdrängen unsichere Frauen, die davor zurückschrecken, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann zu trennen, oft viele Jahre lang die Schwere der Mißhandlungen, die ihr Mann ihnen und ihren Kindern zufügt. Nur so ist es ihnen möglich, die Ehe fortzusetzen. Erst wenn der Leidensdruck größer ist als die Angst vor dem Alleinleben, sind sie in der Lage, sich von ihrem Mann zu trennen.
Dann erkennen sie auch das Unrecht und Leid, das ihnen in ihrer Ehe widerfahren ist. Aus ganz ähnlichen Motiven verdrängen viele Mütter, daß ihre Kinder von ihrem Mann sexuell mißbraucht werden. Hier endet die Verdrängung oft erst dann, wenn die Frauen beschlossen haben, sich von ihrem Mann zu trennen. Auch das betroffene Kind wird bei einer anstehenden Trennung seiner Eltern eher in der Lage sein, über die sexuellen Übergriffe des Vaters zu sprechen, weil es jetzt sicher sein kann, daß die Mutter ihm glauben und sich auf seine Seite stellen wird. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der sexuelle Mißbrauch oft erstmals bei einer Scheidung zur Sprache gebracht wird. Daß seit kurzer Zeit so viele Frauen ihre Männer bei einer Trennung des sexuellen Kindesmißbrauchs beschuldigen, wurde in der Öffentlichkeit wiederholt damit erklärt, daß sich Frauen mit dieser böswilligen Erfindung bei einer Scheidung Vorteile verschaffen und sich an dem Mann rächen wollten.
Solche Fälle gibt es sicherlich. Trotzdem glaube ich, daß diese Deutung eher zu den vielfältigen Spielarten gehört, durch die das Problem der sexuellen Gewalt in der öffentlichen Meinung ausgeblendet wird.
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Was aber hat unsere Gesellschaft für Gründe, das Thema des sexuellen Mißbrauchs zu verdrängen? Welches Interesse haben wir alle daran, das Problem der sexuellen Gewalt zu verharmlosen, auch wenn wir selbst davon nicht direkt betroffen sind?
Ein Grund ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Menschen sind von Natur aus so geschaffen, daß sie die Gemeinschaft mit anderen suchen. In der Gemeinschaft lassen sich schwierige Lebensphasen, wie sie durch Naturkatastrophen oder Schicksalsschläge ausgelöst werden, besser überstehen. Das Zusammensein mit anderen Menschen gibt uns ein Gefühl der Sicherheit, das wir in unserer unüberschaubaren und manchmal bedrohlichen Welt brauchen. Um uns sicher fühlen zu können, müssen wir an das Gute in anderen Menschen glauben können, müssen wir anderen vertrauen.
Wenn wir davon hören, daß viele sexuelle Gewalttaten im engsten Freundes- und Familienkreis geschehen, dann bringt uns dieses Wissen in seelische Nöte: Was diesen Kindern geschieht, kann uns auch geschehen. Wir wollen uns nicht vorstellen, daß Menschen, denen wir vertrauen und die wir lieben, uns derart kränken und schaden können. Das Wissen, daß dies Tag für Tag passiert, müssen wir beiseite schieben, um weiterhin bei anderen Menschen Zuflucht und Unterstützung suchen zu können. Die falschen Vorstellungen, die wir uns jahrzehntelang über sexuellen Kindesmißbrauch machten, helfen uns auch heute noch dabei. Indem wir den Kindern nicht glauben, die Täter zu fremden Triebtätern machen, die Übergriffe der Väter mit Alkohol, psychischen Störungen oder sexuellem Notstand zu erklären versuchen oder Kindern und Müttern eine Mitschuld zuschreiben, verharmlosen wir sexuellen Mißbrauch derart, daß er uns nicht mehr belastet.
Ein weiterer Grund für die Verdrängung sexueller Gewalt ist das Bedürfnis von Menschen, ihre vertrauten Geschlechterrollen zu bewahren. Täter beim sexuellen Mißbrauch sind überwiegend Männer, die sich bevorzugt an Mädchen vergehen. Damit wird deutlich, daß es hier um ein typisches Geschlechterproblem geht. Wer sich viel mit sexuellem Mißbrauch und anderen sexuellen Gewalttaten befaßt, wird zwangsläufig auch anfangen, die traditionellen Geschlechterrollen zu hinterfragen und zu verändern versuchen.
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Vielen Menschen macht dies Angst, denn die Geschlechtsrollen geben Frauen und Männern eine wichtige Orientierung für ihr Verhalten und machen den Umgang mit Menschen berechenbarer. So kann eine Frau davon ausgehen, daß sich eine Frau ihr gegenüber weiblich, d.h. eher abwartend, nachgiebig und gefühlsbetont, ein Mann dagegen männlich, d.h. eher die Führung übernehmend, fordern und betont sachlich verhalten wird und sich innerlich entsprechend darauf einstellen. Würden sich Frauen und Männer plötzlich nicht mehr gemäß ihrer Geschlechtsrolle verhalten, würden die Begegnungen mit fremden Menschen unberechenbarer, komplizierter und anstrengender werden.
Ein anderer Grund, warum Menschen an ihren Geschlechtsrollen festhalten und deren Nachteile häufig verdrängen, ist, daß die Geschlechtszugehörigkeit ein ganz wichtiger Bestandteil der Identität eines Menschen ist und praktisch seine gesamte Persönlichkeit zusammenhält. Die ersten Stadien der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen muß man sich folgendermaßen vorstellen: Etwa nach Ende des zweiten Lebensjahrs entdecken und verstehen Kinder sich erstmals in ihrem Leben als Person und damit als etwas, das nicht zur Mutter oder zu einer anderen Person gehört. Sie merken das daran, daß sie allein durch ihr Tun etwas bewirken können, z.B. wenn sie ihr Spielzeug fallenlassen, können sie damit ein Geräusch machen. Sie erkennen sich selbst im Spiegel, weil sie entdecken, daß sich ihr Spiegelbild immer nur dann bewegt, wenn sie sich bewegen.
Das erste Wissen, das ein Kleinkind über sich selbst hat, richtet sich auf seine äußerlich sichtbaren Merkmale, wie die Haarfarbe, die Größe, die Kleidung und das Geschlecht. Sobald ein Kind weiß, daß es selbst ein Mädchen bzw. ein Junge ist, sammelt es aus seiner Umgebung Informationen darüber, wodurch sich ein Mädchen von einem Jungen unterscheidet, was ein Mädchen bzw. ein Junge genau tut und was nicht und verhält sich entsprechend dieser Regeln.
Dies tut es zum Teil deshalb, weil es stolz darauf ist, ein Mädchen bzw. Junge zu sein, und zum Teil, weil es für sein weibliches bzw. männliches Verhalten von anderen belohnt wird. Die Geschlechtszugehörigkeit ist also die erste bedeutsame Information, die ein Mensch über sich selbst hat und dient dem Kleinkind als erstes grobes Orientierungs- und Ordnungssystem in einer undurchschaubaren Welt.
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Alle weiteren Erfahrungen und Informationen über sich und die Welt werden später in dieses Ordnungssystem passend einsortiert. Damit ist die Geschlechtszugehörigkeit der wichtigste Grundbaustein in der Persönlichkeit eines Menschen. Das kann man auch daran erkennen, daß die meisten Erwachsenen zutiefst verletzt oder verunsichert reagieren, wenn man ihnen sagt, daß sie sich nicht wie ein richtiger Mann oder eine richtige Frau verhalten, denn dies stellt praktisch ihre ganze Person in Frage.
Aus diesen Gründen lassen sich die traditionellen Geschlechtsrollen nicht einfach von heute auf morgen verändern oder gar aufheben, denn das würde die Menschen in eine beängstigende Orientierungslosigkeit stürzen. Um sich davor zu schützen, verdrängen die meisten Frauen und Männer die vielen Hinweise darauf, daß die gegenwärtigen Geschlechtsrollen eine Menge Nachteile für beide Geschlechter und für das Zusammenleben der Menschen mit sich bringen. Deshalb sagen einige Frauen, sie wollten gar nicht emanzipiert sein, und manche Männer behaupten, die Gleichstellung der Frau sei doch inzwischen längst erreicht.
Die Tatsache, daß mit den Geschlechtsrollen doch etwas nicht in Ordnung sein kann, wenn sie unter anderem dazu führen, daß die Gefängnisse zu über 90% von Männern gefüllt sind, wird genauso verdrängt wie die vielen alltäglichen Beispiele von Frauenfeindlichkeit und Menschenverachtung, die im männlichen Verhalten von Männern zum Ausdruck kommt. Dabei stellen Vergewaltigungen, sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit, entwürdigende und dümmliche Darstellungen von Frauen in Werbung, Spiel- und Pornofilmen, Sextourismus und Menschenhandel mit Frauen, Mißhandlungen an Mädchen nur wieder die oberste Spitze eines Eisberges dar — ein Unrecht, das wir inzwischen ganz offensichtlich als solches erkennen, während die meisten Menschen für die subtileren Formen der Frauenverachtung, die Männer durch betont männliches Auftreten zeigen, weiterhin blind sind.
Aufgrund ihrer Geschlechtsrolle entwickeln Männer mehr oder weniger ausgeprägt die Vorstellung, daß sie als Mann vieles besser wissen und können als eine Frau und glauben sich von Natur aus dem weiblichen Geschlecht überlegen. Dies aber führt dazu, daß viele das, was Frauen sagen, wie z.B. ein Nein zum Sex, nicht mehr ernst nehmen. Einen Menschen nicht ernst nehmen aber bedeutet Verachtung und Gewalt.
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Da wir aber aufgrund unserer Geschlechtsrollen daran gewöhnt sind, daß Männer die Führung übernehmen und Frauen sich den Wünschen der Männer unterordnen, fallen uns diese frauenfeindlichen Umgangsformen meist gar nicht auf. Sie gelten als normal. Auffällig sind nur die offensichtlicheren Gewalttätigkeiten von Männern, die sich bevorzugt gegen Frauen richten. Aber auch diese Geschehnisse werden verleugnet, verharmlost oder bevorzugt einer ungeliebten Minderheit zugeschrieben: »So was passiert nur bei Asozialen.« Wir verdrängen, daß unsere heutigen Geschlechtsrollen wesentlich dazu beitragen, daß Männer vermehrt gegen Frauen und Mädchen gewalttätig werden können, weil wir unsere Geschlechtsrollen nicht von heute auf morgen verändern können.
Ich möchte jetzt diesen Verdrängungsmechanismus etwas genauer am Beispiel der Vergewaltigung erklären, weil sich hier einiges leichter beschreiben läßt, was beim sexuellen Kindesmißbrauch ähnlich abläuft.
In der Bevölkerung sind eine Menge falscher Vorstellungen über Vergewaltigung verbreitet, wie zum Beispiel:
Die Täter sind immer Fremde, Kriminelle oder Triebtäter.
Eine Frau kann nicht gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden.
Die Frau ist selbst schuld, wenn sie vergewaltigt wird, weil sie durch ihr Verhalten und ihre Kleidung die Vergewaltigung herausgefordert hat.
Manche Frauen legen es darauf an, vergewaltigt zu werden, weil sie masochistisch veranlagt sind.
Manche Anzeigen bei der Polizei wegen Vergewaltigung sind in Wirklichkeit falsche Anschuldigungen, die die Frau macht, um sich an dem Mann zu rächen, weil sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken will oder weil sie fürchtet, schwanger zu sein oder aus einem anderen Grund ihre unerlaubte sexuelle Beziehung vor ihrem Partner oder ihren Eltern vertuschen will.
Eine Vergewaltigung ist für eine Prostituierte oder eine Frau, die häufig ihre Partner wechselt, weniger schlimm als für eine Frau mit festem Partner.
Eine Vergewaltigung kann für eine Frau, die lange keinen Partner hatte, ein angenehmes Erlebnis sein.
Frauen können bei der Vergewaltigung einen Orgasmus bekommen.
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Alle diese Vorstellungen sind falsch und dienen ganz deutlich der Verharmlosung und Verdrängung dieses Problems. Vergleichen wir diese Vorstellungen über Vergewaltigung mit denen über sexuellen Kindesmißbrauch, finden wir viele Gemeinsamkeiten: Der Täter ist ein fremder Krimineller oder Triebtäter, das Opfer ist selbst schuld und hat es darauf angelegt, die Folgen sind nicht so schlimm.
Nun haben Männer und Frauen unterschiedliche Gründe, warum sie einen Vergewaltiger in Schutz nehmen und die Schuld auf die vergewaltigte Frau schieben.
MÄNNER neigen dazu, die Tat eines Vergewaltigers zu entschuldigen, weil sie verdrängen müssen, welchen Schaden >männliches< Verhalten bei anderen Menschen anrichten kann. Viele Männer fühlen sich oft zwischen zwei Idealbildern hin- und hergerissen. Sie sollen und wollen ein >guter Mensch< sein und gleichzeitig ein >richtiger Mann< bleiben. Das läßt sich aber oft nicht unter einen Hut bringen. Seit Frauen für ein gerechteres Zusammenleben der Geschlechter kämpfen, geraten Männer immer mehr unter den Druck sehr widersprüchlicher Botschaften und Erwartungen ihrer Mitmenschen.
Wenn Männer sich einfühlsam und nachgiebig verhalten, werden sie von ihren Geschlechtsgenossen nicht ernstgenommen, aber auch von manchen Frauen als Schwächlinge verachtet. Verhalten sich Männer betont geltungsbedürftig, risikobreit und durchsetzungsfähig, werden sie von anderen Frauen als Machos kritisiert. Männer leiden darunter, daß sie diesen Widerspruch ihrer Geschlechtsrolle nicht auflösen können und bleiben bisher noch weitgehend bei dem, was ihnen ursprünglich beigebracht wurde.
Viele stellen also weiterhin ihre Männlichkeit zur Schau, indem sie z.B. viel Sex haben und so tun, als ob sie vieles besser wüßten und könnten als Frauen und sie beanspruchen im Umgang mit Frauen eine Führungsposition. Immer mehr Frauen aber fühlen sich von diesem <männlichen Verhalten> überrumpelt, mißachtet und gekränkt und bringen dies deutlich zum Ausdruck.
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Indem sich Frauen zunehmend über die Gewalttätigkeit von Männern beklagen, stellen sie die traditionelle Männerrolle in Frage, so daß die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit bei den Männern immer mehr zunimmt. Es gibt zwar erste Anzeichen für ein allmähliches Umdenken mancher Männer, diese sind aber noch lange nicht befriedigend. Viele Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, fühlen sich durch das betont männliche Verhalten so vieler Männer erneut an ihre sexuellen Gewalterfahrungen erinnert und reagieren daher besonders verletzt, wenn ein Mann ihnen z.B. nicht zuhört, sie unterbricht, sie nicht ausreden läßt, sie überschreit oder stur bei seinen Wünschen bleibt und sich weigert, auf die Gefühle und Bedürfnisse der Frau Rücksicht zu nehmen.
Damit zeigen heute viele >normale< Männer das gleiche frauenverachtende und kränkende Verhalten wie die Vergewaltiger oder die Mißbraucher: Ein Vergewaltiger demütigt eine Frau, indem er ihr nicht zuhört und ihr Nein zum Sex mißachtet; ein >normaler< Mann demütigt eine Frau, indem er ihr nicht zuhört und ihre Berichte über sexuelle Gewalterfahrungen als übertriebene Darstellung und die Frau als überempfindlich oder hysterisch abtut. Damit nimmt er die Frau ebensowenig ernst, wie es der Vergewaltiger oder Mißbraucher vor ihm tat. Der Verdrängungsmechanismus, den viele Männer zur Verteidigung ihrer Männerrolle und ihres Selbstwertgefühls an den Tag legen, sobald Frauen von ihren sexuellen Gewalterfahrungen berichten, stellt aus diesem Grund für Frauen eine weitere tiefe Kränkung dar, die ihre Angst und ihre Ablehnung Männern gegenüber weiter schürt.
Wer würde denken, daß FRAUEN einer betroffenen Frau noch stärker eine Mitschuld an ihrer Vergewaltigung zuschreiben als dies Männer tun? Wie läßt sich so etwas erklären? Frauen leben mit dem beständigen Wissen von der Gefahr, vergewaltigt zu werden und müssen sich deshalb besonders stark an dem Gedanken festhalten, daß ihnen das selbst nicht passieren kann, weil sie sich ja ganz anders verhalten. Frauen glauben, vergewaltigte Frauen seien selber schuld an ihrer Vergewaltigung, weil sie sich mit diesem Gedanken selbst beruhigen und in Sicherheit wiegen können. Sie sagen sich: »Mir kann das nicht passieren, weil ich nie so aufreizend herumlaufe, nachts nicht allein durch dunkle Straßen oder den Park gehe und nicht zu fremden Männern ins Auto steige.«
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Dabei übersehen sie, daß jede Frau, egal ob sie alt, jung, behindert, schön oder häßlich ist, von jedem Mann, egal ob er ihr fremd, flüchtig oder näher bekannt, mit ihr befreundet oder verheiratet ist, vergewaltigt werden kann.
Von 200 Psychologiestudentinnen im Alter von 19 Jahren berichteten über die Hälfte, daß sie schon einmal einen Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen erlebt haben. Das geschah meist durch einen Freund oder Partner, den sie zuvor schon mindestens ein halbes Jahr kannten.
Die meisten Frauen waren durch dieses Erlebnis derart getroffen, daß sie den Kontakt zu dem Mann abbrachen. Kaum eine erkannte das, was da geschehen war, als Vergewaltigung und keine zeigte den Mann an.
Verschiedene Studien bestätigen dieses Ergebnis: Sobald Frauen den Mann kennen, z.B. mit ihm verabredet, befreundet oder verheiratet sind, erkennen sie einen Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen häufig nicht mehr als Vergewaltigung. Sie glauben wie die Allgemeinheit, Vergewaltiger seien vorwiegend fremde Männer. Durch ihre Frauenrolle, die ihnen nahelegt, sich einem Mann unterzuordnen und sich nach seinen Wünschen zu verhalten, sind viele Frauen so an diese Ungleichheit gewöhnt, daß sie Vergewaltigungen oder Mißhandlungen durch ihre Partner eher als normal hinnehmen und weniger als Straftat einschätzen. Das bedeutet aber nicht, daß sie deshalb weniger leiden. Ganz im Gegenteil, es macht sie wehrlos und nimmt ihnen die Möglichkeit, wütend auf den Mann zu werden, so daß sie ihre Verletztheit oft lebenslang mit sich herumtragen.
MARTHA
erlebte seit ihrer Kindheit eine Vielzahl von sexuellen Übergriffen durch Männer. Trotzdem verteidigt sie die Männer, sobald in ihrem Freundeskreis über das Fehlverhalten von Männern diskutiert wird. Auf den ersten Blick ist es völlig unverständlich, warum Martha sich so verhält. Obwohl sie so viel Schlechtes mit Männern erlebt hat, möchte Martha ihre Hoffnung nicht verlieren, eines Tages einen Mann zu finden, der sie doch noch respektvoll behandelt. Wenn sie Männer verteidigt, orientiert sie sich mehr an ihren Hoffnungen und Sehnsüchten und nicht so sehr an ihren Erfahrungen. Sie möchte nicht wahrhaben, daß jeder Mann sie durch sein männliches Verhalten kränken und mißachten könnte, weil sie damit auch ihre Hoffnung auf eine befriedigende Partnerschaft verlieren würde. Auch hier dient die Verdrängung der Wirklichkeit letztlich dazu, Marthas psychisches Gleichgewicht zu schützen.
Fassen wir zusammen:
Wie wir sehen, haben Frauen und Männer auch heute noch gute Gründe, sexuelle Gewalt und die ungleichen Lebensmöglichkeiten der Geschlechter zu verleugnen. Dieses Geschlechterproblem spielt auch beim sexuellen Kindesmißbrauch eine große Rolle und bedingt dessen starke Tabuisierung und Verleugnung bis zum heutigen Tag. Daher erlebten bisher viele betroffene Kinder nicht nur bei ihren Angehörigen, sondern auch bei anderen Menschen, bei denen sie Hilfe suchen wie z. B. bei Polizei, Jugendamt, Gericht, Arzt, Lehrer, Pfarrer oder Psychotherapeut, daß man ihre Berichte anzweifelt oder daß man ihnen eine Mitschuld unterstellt. Diese Erfahrungen können größere Schäden anrichten als der sexuelle Mißbrauch selbst.
Darum wäre der erste Schritt der, daß wir alle nach Kräften versuchen, uns der Wirklichkeit zu stellen, statt uns in eine Traumwelt zu flüchten, wo es den sexuellen Kindesmißbrauch oder die Frauenverachtung nicht gibt.
Ein weiterer Schritt bestände darin, Frauen und Männern die gleichen Möglichkeiten der Selbstbestätigung und der Lebensgestaltung zu verschaffen, um die Machtunterschiede zwischen den Geschlechtern aufzuheben. Wenn sowohl Frauen als auch Männer ihre Zeit und Energie zur Hälfte für den Beruf und zur Hälfte für ihre Kinder und den Haushalt aufteilen könnten, gäbe es diese krasse Aufspaltung in eine Welt der Männer und eine Welt der Frauen nicht.
Wenn Männer sich Frauen nicht mehr überlegen fühlen, nur weil sie Männer sind, und Frauen sich Männern nicht mehr unterlegen fühlen, nur weil sie Frauen sind, könnten beide Geschlechter ihre Kräfte und Fähigkeit für die Lösung der lebensbedrohlichen Probleme dieser Welt nutzen, statt sie in einem Geschlechterkampf zu verschwenden.
Wenn sich solch ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Geschlechter in unserer Gesellschaft verwirklichen ließe, würde es vielleicht kaum noch zu sexuellen Übergriffen und Mißhandlungen auf Frauen und Kinder kommen. Erst durch den intensiven täglichen Umgang mit ihren eigenen Kindern, aber auch durch den ständigen Kontakt mit gleichartig qualifizierten Frauen im Berufsleben werden Männer die Chance haben, eine tiefere Gefühlsbindung und ein besseres Verständnis für Frauen und Kinder zu entwickeln. Umgekehrt werden Frauen durch ihre Berufstätigkeit mehr Selbstbewußtsein und Durchsetzungsvermögen entwickeln, aber auch Männer besser verstehen können.
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Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden