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1   Was alle über sexuellen Mißbrauch wissen sollten 

Reinhold-1994

 

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Bisher gibt es noch eine ganze Menge falscher Vorstellungen über die Situation, das Ausmaß und die Folgen sexuellen Mißbrauchs. Nachdem die Medien vor kurzem begannen, über dieses Thema ausführlich zu berichten, konnten es die meisten Menschen gar nicht glauben: »Das kann doch nicht wahr sein, daß das so oft passiert. Wieso haben wir denn das früher nicht gemerkt?« Das ist eine gute Frage, die uns später noch beschäftigen wird. Jetzt aber zunächst einmal zu dem, was man bis jetzt über sexuellen Mißbrauch weiß.

    Wie verbreitet ist sexueller Mißbrauch?  

Den meisten Menschen ist es peinlich darüber zu sprechen, daß sie sexuell mißbraucht wurden. Deshalb haben wir für Deutschland bisher auch noch keine genauen Zahlen, wie oft und in welcher Form sexueller Mißbrauch bei uns eigentlich vorkommt. Nach einer Schätzung von 1984 werden in der BRD (ohne die neuen Bundes­länder) jährlich ungefähr 250.000 Mädchen und etwa 50.000 Jungen sexuell mißbraucht (Kavemann u. Lohstöter). In den USA, wo man sich schon etwas länger mit dem Thema beschäftigt, gibt es seit einigen Jahren großangelegte Studien, die tieferen Einblick in das Problem geben.

Die Zeitung <Los Angeles Times> machte im Juli 1985 eine Telefonumfrage bei ca. 2500 zufällig aus der Bevölkerung ausgewählten Erwachsenen. 27% aller befragten Frauen und 16% aller befragten Männer berichteten über sexuellen Mißbrauch in der Kindheit. Die Täter waren zu 93% Männer. Nur ganz wenige dieser Vorfälle wurden bekannt. Ein Drittel der Betroffenen schwieg über diese Erlebnisse, solange sie nicht direkt danach gefragt wurden.

Von den übrigen Betroffenen, die über ihren sexuellen Mißbrauch von sich aus erzählt hatten, bekamen 70% keinerlei Hilfe. Nur 3% dieser Fälle wurden schließlich bei der Polizei angezeigt.

Die Forscherin Diana Russell ist bekannt für ihre sehr sorgfältigen Studien. Sie befragte 930 Frauen in San Francisco (1983). Dabei nahm sie sich für jede Frau Zeit für ein ausgiebiges Gespräch, weil sie weiß, daß die meisten Frauen erst ein gewisses Vertrauen entwickeln müssen, bevor sie über ihre Mißbrauchs­erlebnisse sprechen können. Fast die Hälfte der Frauen berichteten ihr über sexuellen Mißbrauch: 16% aller befragten Frauen wurden innerhalb der eigenen Familie und 31% außerhalb der Familie sexuell mißbraucht.

Es gibt eine ganze Menge solcher Studien, die jeweils ein bißchen anders bei ihren Forschungen vorgehen und darum auch etwas andere Zahlen finden. Faßt man die bisherigen Studien zusammen, dann ergibt sich, daß etwa jedes zweite bis vierte Mädchen und jeder sechste bis zehnte Junge unter achtzehn Jahren sexuell mißbraucht wird. Das bedeutet, daß etwa dreiviertel der betroffenen Kinder Mädchen und ein Viertel Jungen sind.

 

   Wer sind die Täter?   

Die Mehrheit der Täter sind Männer: Mädchen werden zu 99% und Jungen zu 80% von Männern sexuell mißbraucht. Der sexuelle Mißbrauch wird in der Regel von Männern verübt, die völlig unauffällig und normal wirken, die als angesehene und treusorgende Familienväter gelten und denen niemand diese Vergehen zutraut. Sie kommen aus jeder Altersgruppe, allen sozialen Schichten und aus jedem Bildungs­stand. In der Mehrzahl sind es auch bei Jungen heterosexuell veranlagte Männer, die sich trotz ihrer sexuellen Kontakte mit erwachsenen Frauen an Kindern vergehen. Einige dieser Männer sind in der Öffentlichkeit sehr angesehen und haben einflußreiche >Freunde<, die ihnen im Notfall helfen, ihre Vergehen zu vertuschen.

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So wurde mir z.B. der Fall eines Schulrektors bekannt, der verschiedene Schülerinnen sexuell mißbraucht und eine sogar geschwängert hatte. Er brachte einen jungen Mann dazu, vor dem Jugendamt offiziell die Vaterschaft zu übernehmen. Selbst nachdem eine mutige Lehrerin ihren Verdacht der Polizei meldete, konnte gegen den Mann kaum etwas unternommen werden. Der Staatsanwalt, ein Parteifreund des Mannes, setzte die Lehrerin beim Verhör unter Druck und stellte die Untersuchungen schließlich ein. Da sich niemand die Finger verbrennen wollte, fand die Frau auch bei anderen Institutionen keine Unterstützung. Die betroff­enen Mädchen selbst waren so beschämt und eingeschüchtert, daß aus ihnen kaum etwas heraus­zubringen war. Sogar die Elternschaft stellte keine Gefahr für den Schulrektor dar, da die meisten als Gastarbeiter mit den Behörden nichts zu tun haben wollten.

 

Es kommt auch vor, daß Frauen Kinder sexuell mißbrauchen. In einer Studie fand man, daß in der Hälfte aller aufgedeckten Fälle die Frauen von einem Mann angestiftet wurden.

Da Jungen seltener als Mädchen über erlebte sexuelle Übergriffe sprechen, unterschätzen wir zur Zeit vielleicht auch die Anzahl von Frauen, die sich sexuell an Jungen vergehen. Jungen und Männern fällt es sehr schwer zuzugeben, daß sie zum Opfer gemacht wurden. Sie betrachten Sex oft als eine Möglichkeit, Macht über Frauen auszuüben. Wenn ein zwölfjähriger Junge seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Frau macht, die dreimal so alt ist wie er, wird er sich selbst eher als Glückspilz und weniger als Opfer betrachten und blind dafür sein, daß er ausgenutzt wurde.

Mütter können ihre sexuellen Übergriffe vermutlich viel leichter hinter Pflegeaufgaben wie dem Baden und dem Anziehen des Kindes verstecken als Väter. Außerdem ist die Mutter oft die wichtigste Bezugsperson für ihr Kind, während der berufstätige Vater als ausgleichender und beschützender Elternteil oft viel zu wenig verfügbar ist. Diese Umstände machen es für Jungen wahrscheinlich zusätzlich schwer, über eine sexuell mißbrauchende Mutter zu sprechen, denn damit käme der Junge in die Gefahr, den einzigen Elternteil zu verlieren, der sich noch um ihn kümmert. Trotz all dieser Überlegungen kann man bisher eines nicht wegdiskutieren: Die Täter beim sexuellen Mißbrauch sind vorwiegend Männer und männliche Jugend­liche, und sie vergreifen sich bevorzugt an Mädchen.

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Meine Mutter hat mir als Kind eingebleut: »Geh nie mit einem fremden Mann mit, auch wenn er lieb zu dir ist, dir Schokolade oder sonst was Schönes gibt oder verspricht.« Diese Warnung vor dem bösen, fremden Mann haben wohl die meisten Kinder gehört, wenn auch oft nicht erklärt wurde, was geschehen würde, wenn man mitginge. Angesichts der Aufdeckungen zum sexuellen Mißbrauch müssen wir feststellen, daß wir damals als Kinder vor den Falschen gewarnt wurden. Heute wissen wir, daß die größte Gefahr nicht von dem fremden Sittlichkeitsverbrecher ausgeht, der den Kindern auf Straßen und Spielplätzen auflauert, sondern von Menschen, die das Kind kennt und denen es arglos vertraut. Nur etwa 10% der Übergriffe geschehen durch Fremde. In 90% der Fälle kennen die Kinder den Mann und haben immer wieder mit ihm zu tun.

Dies hat zur Folge, daß die meisten Mädchen und Jungen nicht nur einmal sexuell mißbraucht werden, sondern diesen drohenden Übergriffen ständig ausgesetzt sind. Der Mißbraucher ist der Lehrer, der Jugendgruppenleiter, der Pfarrer, der Freund der Eltern, der Nachbar oder der Babysitter. Etwa 30% der Kinder werden in der eigenen Familie mißbraucht, und zwar vom Vater, Stiefvater, Onkel, Bruder, Großvater oder Cousin. Bei der Hälfte der betroffenen Kinder wiederholt sich der sexuelle Mißbrauch über zwei bis vier Jahre und bei 20% der Kinder sogar über fünf bis vierzehn Jahre, weil die Kinder keinen Weg finden, wie sie das beenden könnten.

Mir ist sogar der Fall einer fünfundsechzigjährigen Frau bekannt geworden, die sich derart ohnmächtig fühlt, daß sie sich ihrem neunzigjährigen Vater nicht zu widersetzen wagt, der sie seit ihrer Kindheit sexuell mißbraucht. Je mehr man einem Menschen vertraut und ihn gefühlsmäßig braucht, desto weniger kann man sich gegen ein Unrecht von ihm wehren. Auch aus diesem Grund ist die schlimmste Form des sexuellen Mißbrauchs die durch den eigenen Vater. Sexuelle Übergriffe durch Vertrauenspersonen beginnen relativ selten erst im Alter zwischen elf bis achtzehn Jahren. Bei der Hälfte der Kinder beginnt der sexuelle Mißbrauch bereits im Alter unter sechs Jahren, bei den restlichen Kindern zwischen sechs und zehn Jahren.

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Es gibt Säuglinge von sechs Monaten und jünger, die mit eingerissener Scheide und After, mit Blutungen und Bißwunden an erogenen Zonen sowie mit blauen Flecken auf den Innenseiten der Oberschenkel zum Arzt gebracht werden. Teilweise sind sie innerlich zerfetzt, weil Geschlechtsverkehr mit ihnen gemacht wurde. Das kann man sich und will man sich nicht vorstellen. Aber es ist wahr, daß bereits Babys sexuell mißbraucht und gequält werden. Ich habe selbst Photos dazu gesehen, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.

 

   Was ist sexueller Mißbrauch eigentlich genau?  

 

Bevor Sie weiterlesen, versuchen Sie am besten erst einmal in Ihren eigenen Worten zu beschreiben, was Sie sich unter sexuellem Mißbrauch vorstellen. Nehmen Sie sich ruhig etwas Zeit dafür und vielleicht schreiben Sie Ihre Gedanken dazu einfach auf.

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Sie haben sicher gemerkt, daß das gar nicht so einfach ist. Viele Menschen haben bei dem Gedanken an den sexuellen Mißbrauch ein bestimmtes Bild vor Augen: ein erwachsener Mann zwingt ein Kind mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr. Das ist aber nur eine von vielen möglichen Formen sexuellen Mißbrauchs. Kinder sind auch allen anderen Spielarten der Erwachsenensexualität ausgesetzt: sexuell erregendes Streicheln und Stimulieren der Geschlechtsteile und erogenen Zonen des Kindes; Zungenküsse; Schenkelverkehr; mit dem Finger, dem Penis oder Gegenständen wird in die Scheide oder den After des Kindes eingedrungen oder das Kind muß die Geschlechtsteile des Mannes anfassen, stimulieren oder in den Mund nehmen. Dies sind alles Erlebnisse, die jeder als eindeutigen sexuellen Kindesmißbrauch erkennen dürfte.

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Zum sexuellen Mißbrauch können aber auch die folgenden Situationen gehören, bei denen die meisten Menschen noch gar nicht an sexuellen Mißbrauch denken:

 

Wenn Kinder Erwachsene nackt sehen, mit ihren Eltern baden oder viel über Sex sprechen, kann das Ausdruck familiärer Verbundenheit und Teil einer angstfreien Sexualerziehung sein. Genausogut kann das aber auch schon sexueller Mißbrauch sein. Was von beidem im Einzelfall vorliegt, hängt davon ab, welche Absichten der Erwachsene in dieser Situation verfolgt. Hat er die Situation bewußt so herbeigeführt, weil er sexuelle Stimulation sucht oder ist es selbstlose Fürsorge um das Kind? Wenn ein Vater also gezielt nackt herumläuft, um seine Tochter damit sexuell anzumachen, oder wenn er dauernd über Sex redet, obwohl das Kind an dem Thema im Moment gar nicht interessiert ist, wenn er das morgendliche Herum­tollen im Bett aus sexuellem Eigeninteresse für seine Kinder zur Pflichtübung macht, dann beginnt hier bereits ein sexueller Mißbrauch. Zum sexuellen Mißbrauch gehört also alles das, was ein Erwachsener mit einem Kind tut, um sich sexuell zu erregen. Dabei kann man sichtbaren und unsichtbaren Mißbrauch unterscheiden.

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Beim unsichtbaren sexuellen Mißbrauch verhält sich der Erwachsene nach außen hin scheinbar fürsorglich und selbstlos, verfolgt dabei aber innerlich seine eigenen sexuellen Absichten. Beim sichtbaren sexuellen Mißbrauch werden die sexuellen Absichten auch nach außen hin im Verhalten des Erwachsenen deutlich und sind für Außenstehende eindeutig sichtbar.

Es gibt nun drei verschiedene Formen, wie sexueller Mißbrauch ablaufen kann:

 

   Vom unsichtbaren zum sichtbaren sexuellen Mißbrauch   

 

Diese Form des sexuellen Mißbrauchs kommt vermutlich am häufigsten vor. Die Kinder sind noch relativ klein und sexuell unerfahren. Die Täter sind Menschen, denen die Kinder vertrauen. Es beginnt mit harmlosen Dingen wie Schmusen, gemeinsam Baden, miteinander Herumtollen. Der Mißbraucher hat aber bereits Wünsche und Pläne für einen intensiven sexuellen Kontakt mit dem Kind im Hinterkopf. Mit der Zeit wagt sich der Mißbraucher zu immer eindeutigeren sexuellen Berührungen vor, bis er schließlich beim Geschlechtsverkehr oder ähnlich intensiven und für den Mann befriedigenden Sexualformen angekommen ist. Diese allmähliche Steigerung kann sich über Jahre hinziehen. Wenn das Kind irgendwann beginnt, sich gegen die intensiver werdenden Übergriffe zu wehren, bekommt es von dem Mann meist eine Mitschuld zugeschoben: »Was hast Du denn auf einmal? Bisher hat es Dir doch auch immer gefallen.« Gerade diese heimtückische Art, das Kind schleichend immer weiter in den sexuellen Mißbrauch hineinzuführen, löst später bei den Betroffenen oft starke Schuldgefühle aus, weil sie später selbst nicht mehr verstehen, warum sie sich so lange nicht gewehrt haben.

 

   Der direkte Einstieg in den sichtbaren sexuellen Mißbrauch   

 

Mißbraucher, die keinerlei Angst vor den Folgen einer Entdeckung haben müssen, machen sich nicht die Mühe, ein Kind allmählich an die Sexualität der Erwachsenen heranzuführen. Sie steigen sofort beim Geschlechts­verkehr und ähnlichem ein, was mit einer höheren Gewalttätigkeit dem Kind gegenüber verbunden ist.

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Der Mißbraucher ist dabei entweder ein tyrannischer Vater, der von seiner unterwürfigen Frau nichts zu befürchten hat, oder einer der wenigen völlig fremden Täter, die ein Kind in ihre Gewalt bringen, um es einmal zu vergewaltigen und dann wieder laufenzulassen. Diese gewalttätige Form des sexuellen Übergriffs durch einen Fremden, bei dem Wiederholungen nicht vorgesehen sind, scheint allerdings seltener vorzukommen. Aus Angst vor Entdeckung nähern sich die meisten fremden Männer einem Kind mit sehr viel mehr Vorsicht und Behutsamkeit als die Männer, die das Kind bereits kennt.

 

   Der unsichtbare sexuelle Mißbrauch, der nie sichtbare Formen annimmt   

 

Es muß gar nicht erst zu sexuellen Berührungen oder zum Geschlechtsverkehr kommen, damit sexueller Mißbrauch vorliegt. Eine vom Erwachsenen ausgehende sexuell getönte Atmosphäre kann genügen, um die psychische Entwicklung eines Kindes so zu stören, daß es noch als Erwachsener unter Beeinträchtigungen und seelischen Problemen leidet, wie das folgende Beispiel zeigt:

Eine junge Frau hatte seit ihrer Pubertät das Gefühl, daß der Vater sie wie seine Geliebte behandelte. Wenn er sich etwas zum Anziehen kaufte, nahm er sie allein dazu mit. Wenn die Mutter nicht da war, mußte sie sich auf den Stuhl der Mutter setzen. Er rief sie oft heimlich aus seinem Büro zu Hause an. Die junge Frau fühlte sich einerseits durch soviel Aufmerksamkeit des Vaters geschmeichelt. Andererseits war ihr das alles unheimlich, und sie begann, ihrem Vater zu mißtrauen. Sie wollte seine väterliche Zuneigung, fürchtete aber ständig, daß er ihr sexuell zu nahe treten könnte. Auch ihrer Mutter blieb nicht verborgen, welche besonderen Gefühle ihr Mann für ihre Tochter hatte, und sie reagierte entsprechend eifersüchtig und ablehnend auf ihre Tochter. Dadurch war die junge Frau noch mehr auf die Zuneigung ihres Vaters angewiesen, die gleichzeitig so bedrohlich für sie war. Obwohl sie sich nach Geborgenheit und Zuwendung durch ihren Vater sehnte, hatte sie gleichzeitig auch große Angst davor. Dies verursachte ihr später immer wieder Probleme im Kontakt mit Arbeits­kollegen, Freundinnen und Partnern. Es fiel ihr schwer, jemandem zu vertrauen.

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Nur sehr wenige Frauen berichten über diese Form des sexuellen Mißbrauchs. Das besondere Problem dabei ist, daß die Betroffenen diesen unsichtbar bleibenden sexuellen Mißbrauch kaum erkennen und auch nicht anhand eindeutiger Vorfälle nachweisen können. Was bleibt, ist ein gefühlsmäßiger Eindruck, der seine Spuren bei den Betroffenen hinterläßt.

 

Vom Mißbraucher aus gesehen ist sexueller Mißbrauch alles das, was er mit Kindern tut, um sich sexuell zu erregen, seien es nun versteckte oder offensichtliche sexuelle Übergriffe. Man kann den sexuellen Mißbrauch aber auch von den Kindern und Jugendlichen aus betrachten. Zum sexuellen Mißbrauch gehören dann all die sexuellen Erlebnisse und sexuell getönten Begegnungen, die Kinder und Jugendliche nicht haben wollen bzw. gegen die sie sich nicht wehren können. Will man genauer festlegen, was zum sexuellen Mißbrauch zählt, dann muß man zwischen sexuellem Mißbrauch innerhalb und dem außerhalb der Familie sowie zwischen sexuellem Mißbrauch an Kindern und dem an Jugendlichen unterscheiden. Kinder sind den sexuellen Übergriffen Erwachsener viel wehrloser ausgesetzt als Jugendliche, weil sie über Sexualität wenig Bescheid wissen, die Bedeutung sexueller Annäherungen nicht verstehen und diese daher auch nicht ablehnen können.

Findet der sexuelle Mißbrauch innerhalb der eigenen Familie statt, können sich Kinder und Jugendliche schlechter dagegen zur Wehr setzen, weil sie gefühlsmäßig viel abhängiger sind als beim sexuellen Mißbrauch außerhalb der Familie. Aufgrund dieser Überlegungen versteht die Forscherin Diana Russell unter sexuellem Mißbrauch folgendes: Wenn der sexuelle Mißbrauch außerhalb der Familie passiert, gehört dazu bei Kindern bis 14 Jahren jedes sexuelle Erlebnis, das das Kind nicht will, angefangen von Gesprächen über Sex, dem Anschauen von Pornos, dem Erdulden von Berührungen bis hin zum Geschlechts­verkehr. Dagegen zählt die Wissenschaftlerin bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren nur noch jede versuchte oder ausgeführte Vergewaltigung zum sexuellen Mißbrauch, weil sie davon ausgeht, daß sexuell aufgeklärte Jugendliche sich gegen die übrigen sexuellen Übergriffe wehren können.

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Geschieht der sexuelle Mißbrauch aber innerhalb der Familie, dann fällt darunter wieder jede Form von Sex oder sexuell getönter Situation, bei denen die Kinder und Jugendlichen noch unter 18 Jahren und der Täter mindestens 5 Jahre älter ist. In der Familie können sich auch Jugendliche aufgrund ihrer Gefühlsbindungen schwer gegen sexuelle Übergriffe wehren. Sexueller Kontakt zwischen etwa gleichaltrigen Familien­angehörigen, Verwandten oder Bekannten, der von beiden Seiten gewünscht wird, ist dagegen kein sexueller Mißbrauch.

 

     Wie erleben Kinder sexuellen Mißbrauch?   

 

»Ich habe mich ganz elend und schlecht gefühlt« ... »Mir war so schlecht, daß ich dachte, es kommt mir hoch und ich müßte auf das Bett brechen« ... »Ich habe in der Ecke vom Bett gesessen und geweint« ... »Als ich nach Hause ging, habe ich noch gezittert« ... »Ich habe mich jedesmal geekelt, wenn ich Herrn X gesehen habe« ... »Ich habe damals danach noch ziemlich lange Angst gehabt.«

Das sind die Äußerungen von 9- bis 12-jährigen Mädchen kurz nach einem sexuellen Mißbrauch, gesammelt von F. Arntzen. Kinder reagieren auf sexuellen Mißbrauch meistens mit Schuldgefühlen, Scham, Ekel, Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit, aber auch mit Wut, Feindseligkeit und Groll. Dreiviertel der Kinder versuchen dem Mann aus dem Weg zu gehen, etwa die Hälfte widersetzt sich dem Mißbraucher körperlich oder mit Worten. Ein Mädchen zog sich z.B. mehrere Unterhosen und Schlaf­anzüge übereinander an, eine andere wickelte sich immer fest in ihre Bettdecke ein in der Hoffnung, damit den sexuellen Übergriff abwehren zu können. Da dies aber meistens keinen Erfolg hat und die Suche nach einem Beschützer auch oft mißlingt, bleibt Kindern oft nur noch die Möglichkeit, dem Mißbraucher aus dem Weg zu gehen, was manchmal nur durch Weglaufen von zu Hause möglich ist, oder ihre Psyche durch Verleugnung der sexuellen Übergriffe oder Abspaltung und Verdrängung der Erlebnisse aus dem Bewußtsein zu schützen.

Dieses innere Abschalten der Gefühle und Wahrnehmungen erreichen sie, indem sie sich z. B. vorstellen, dies passiere jetzt gar nicht ihnen selbst, sondern jemand anderem, oder sie denken an etwas völlig anderes, malen sich aus, sie wären in einem anderen Körper, an einem anderen Ort oder in einer anderen Zeit, wo keine sexuellen Übergriffe statt­finden.

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Je eindeutiger und intensiver die sexuellen Übergriffe werden, desto größer wird für den Mißbraucher die Gefahr, entdeckt zu werden, wenn das Kind einmal über seine Erlebnisse spricht. Um dies zu verhindern, redet er dem Kind ein, das Ganze sei nur ein Spiel, ein Zeitvertreib oder ein besonderes Geheimnis. Kinder sind oft sehr stolz, mit einem Erwachsenen ein Geheimnis zu haben. Sie können noch nicht zwischen guten und schlechten Geheimnissen unterscheiden, sondern wissen nur, daß man ein Geheimnis nicht weiter­erzählen darf. Manche Mißbraucher erzählen Kindern, sie wollten sie sexuell aufklären, ihnen sexuelle Befriedigung verschaffen oder ihnen ihre tiefe Liebe zeigen. Die Behauptung: »Das machen alle Papis mit ihren kleinen Mädchen, wenn sie sie sehr lieb haben«, sind Versuche, Kindern das Ganze als normal hinzustellen. 

Kinder werden für ihr <Mitmachen> nicht nur mit vermehrter Aufmerk­samkeit, sondern teilweise auch mit besonderen Vorrechten und Geschenken belohnt. Erst wenn Kinder Widerstand leisten, werden sie von den Männern mit Drohungen unter Druck gesetzt. In den meisten Fällen aber ist es nicht nötig, körperliche Gewalt anzuwenden, um das Kind zum Mitmachen und zur Geheimhaltung zu bewegen. Viele Mißbraucher benutzen das Schweigen der Kinder später, wenn sie zur Rechenschaft gezogen werden, für sich als Entschuldigung. Sie sagen, das Kind sei mit allem einverstanden gewesen und habe sich nie gewehrt. Damit machen es sich diese Männer aber zu einfach. 

Der sexuelle Mißbrauch beginnt im Kopf des Mißbrauchers, d.h. bereits hier trägt er die Verantwortung für alles, was noch folgt. Die meisten Kinder merken, daß da irgend etwas komisch und unangenehm ist an dem Verhalten oder dem Blick des Mannes, der sich ihnen mit sexuellem Interesse nähert. Da sie aber die sexuelle Bedeutung noch nicht verstehen können und gelernt haben, Erwachsenen zu gehorchen, sind sie kaum in der Lage, sich dagegen zu wehren. Es ist also völlig gleichgültig, wie sich das Kind verhalten hat, ob es sich gewehrt hat oder nicht. In jedem Fall liegt die alleinige Verantwortung für den sexuellen Mißbrauch beim Erwachsenen.

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Dies gilt auch für die Fälle, wo sich Kinder in den Augen der Erwachsenen sexuell verführerisch verhalten haben sollen. Meistens wissen diese Kinder gar nicht genau, welche Signale sie mit diesem Verhalten aussenden. Sie merken nur, daß Erwachsene mit vermehrter Aufmerk­samkeit darauf reagieren.

Nun werden vielleicht einige einwenden: »Aber Kinder haben doch auch schon eine Sexualität.« Das stimmt. Kinder sind von ihrer Geburt an bereits sexuelle Wesen. Sie haben entsprechende sexuelle Interessen und Bedürfnisse, die sie auf ihre Art und Weise ausleben, wie beispielsweise in Doktorspielen, im Betrachten von Menschen in Unterwäsche in Kaufhauskatalogen oder in medizinischen Büchern und teilweise auch durch ihre Art der Selbstbefriedigung. Es ist wichtig, Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung nicht zu behindern, damit sie sich als Erwachsene nicht mit den gleichen sexuellen Verklemmungen und Ängsten herumplagen müssen wie so viele Generationen vor ihnen. Es gibt nun eine Gruppe von Menschen, die meinen, es sei für Kinder besonders entwicklungsfördernd, wenn sie Sex mit Erwachsenen hätten. Dazu muß man folgendes wissen:

Ein zehnjähriges Mädchen, das ihrem Alter entsprechend sexuell aufgeklärt war, bekam beim Videoschauen mit den Nachbarskindern <zufällig> auch einen Pornofilm der Erwachsenen zu sehen. Sie war daraufhin derart schockiert, daß sie mehrere Tage nicht mehr sprach, das Gesehene mit ihren Puppen nachspielte und sich weigerte, nochmals in die Wohnung der Nachbarskinder zu gehen.

Sexualität ist ein Entwicklungsprozeß. Wenn Kinder mit älteren Kindern oder Erwachsenen Sex haben, kommen sie mit einer sexuellen Entwick­lungsstufe in Berührung, die sie überfordert und sie in ihrer eigenen sexuellen Entwicklung eher stört als fördert. Die sexuellen Bedürfnisse von Kindern können also keine Entschuldigung für sexuellen Mißbrauch sein, denn die sexuellen Begegnungen zwischen Erwachsenen und Kindern sind im wesentlichen von den Wünschen des Erwachsenen geprägt. Dagegen herrscht in sexuellen Kontakten zwischen Gleich­altrigen mit ähnlichem sexuellem Entwicklungsstand ein Kräftegleichgewicht, so daß die Gefahr sexueller Ausbeutung und schädigender Erfahrungen dort relativ gering ist.

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Marion Reinhold (1994)